Vor vierzehn Jahren
15. Juni
Die Hände zitterten. Das machte es nicht gerade einfacher, die verdammten Kontaktlinsen einzusetzen. Trotzdem mussten die Dinger rein.
Die radikal schlechter werdenden Augen waren das eine. Die enorme Gewichtszunahme und die schmerzenden Gelenke beunruhigten David James Savant zusätzlich. Dazu die Albträume, die motorische Unruhe. Er hatte einen Job zu erledigen. Aber Körper und Geist spielten nicht mehr mit.
Würden seine Vorgesetzten erfahren, welche Probleme er mittlerweile hatte, seine Laufbahn bei der Alpha-Section wäre zu Ende. Mit zweiundvierzig Jahren. Ohne etwas anderes in seinem Leben, das ihm wichtig war.
Leider interessierte das bei dieser Unterabteilung der CIA niemanden.
Die Alpha-Section, kurz „AS“ genannt, übernahm Missionen, die für durchschnittliche Einsatzkräfte zu dreckig waren. Offiziell gab es sie nicht. Die Leute, die für sie arbeiteten, firmierten als „normale Mitarbeiter der CIA“, mit einer freierfundenen Vita. Sollten sie im Einsatz enttarnt werden, ließ man sie fallen. Was nicht verwunderlich war, da AS-Agenten meistens Dinge taten, die zu diplomatischen Krisen führen würden, kämen sie heraus. Oder zum Krieg.
David Savant wollte noch eine Weile mitmischen.
Deshalb blieb er jetzt vor dem Badezimmerspiegel seines Apartments in Manhattan so lange stehen, bis die Linsen auf den Pupillen landeten. Der Lidschlussreflex verhinderte es mehrere Male. Dann hatte er endlich Erfolg. Die Welt um ihn herum wurde klarer, schärfer.
Schwachstelle Nummer eins war beseitigt, die fünf Tabletten, die er auf den Waschbeckenrand gelegt hatte, würden sich um die restlichen kümmern. Zumindest für die nächsten dreißig Tage. Dann hieß es entweder „Nachschub“ oder „Leiden“.
Die Entwicklungsabteilung der Alpha-Section in Zusammenarbeit mit der DARPA, der „Defense Advanced Research Projects Agency“, vollbrachte wahre Wunder. Und das nicht nur bei Schusswaffen, technischen Spielereien und Panzerung jeglicher Art. Auch was Medikamente anging, waren die schlauen Köpfe ganz oben auf. Als AS-Agent bekam man monatlich bestimmte „Leckereien“. Die verbesserten die Sauerstoffaufnahme im Blut und regulierten bei drohenden emotionalen Konflikten das Gefühlszentrum im Gehirn. Darüber hinaus unterstützten sie das Immunsystem.
Vor jedem Einsatz gab es zusätzlich speziell angepasste Tabletten. Leistungsverstärker und Schmerzmittel zum Beispiel.
Am Anfang seiner Karriere hatte Savant Skrupel gehabt, den eigenen Körper mit Chemikalien zu überschwemmen. Aber bereits bei seinem ersten Auftrag lernte er zu schätzen, stärker, schneller und ausdauernder als der Gegner zu sein. Von dem Moment an nahm er seine Medizin, ohne Fragen zu stellen. Dass das Zeug oftmals extreme Nebenwirkungen hatte, weil es sich noch in der Testphase befand, wurde als normal dargestellt. Gegen die gab es andere Tabletten. Alles blieb im Gleichgewicht.
Na gut, in den letzten Monaten hatte sich das geändert. Seit Davids Körper an Masse gewann, obwohl er nicht mehr aß als zuvor. Die Schwachsichtigkeit war auch nicht auf natürliche Ursachen zurückzuführen. Genauso wenig wie die entzündeten, steifen Gelenke. Von der geistigen Labilität ganz zu schweigen.
Seine Körperchemie war durcheinander. Höchstwahrscheinlich wegen all der Pillen. Dieser Gedanke verstörte ihn so sehr, dass er sich lieber auf die These konzentrierte, bloß in einem Formtief zu stecken.
Schließlich war seine letzte Mission äußerst dreckig verlaufen. Die Tötung von Ira Cane stand schon lange auf dem Programm. Der Terrorist mit einer Schwäche für biologische Waffen hatte genug Unschuldige auf dem Gewissen. Dazu noch mehrere AS-Agenten.
Vor vier Wochen war es David endlich gelungen, ihn in Kapstadt aufzuspüren.
Er drang in Canes Unterschlupf, einer Villa im Stadtteil „Vredehoek“ ein. Eigentlich musste man an diese Art Mission mit emotionaler Distanz herangehen. Einen Menschen zu töten, es sogar zu genießen, fiel nur Psychopathen leicht. Savant zählte sich nicht zu dieser Gattung. Wenn er jemanden umbrachte, benötigte er überzeugende Gründe. Das Wissen, dass die Welt ohne die Zielperson sicherer war.
Ira Cane war ein Virus, das ausgerottet werden musste. David traf ihn im luxuriös eingerichteten Wohnzimmer an. Zusammen mit zwei Bodyguards. Vier abgefeuerte Kugeln später gab es niemanden mehr, der den Terroristen beschützen konnte. Savant hatte freie Bahn.
Da betrat jemand das Zimmer, mit dem der AS-Agent nicht rechnete. Ein sieben Jahre alter Junge. Canes Sohn Elon. Laut Recherche lebte er eigentlich permanent bei seiner Mutter in Frankreich. David hatte die Villa vierundzwanzig Stunden lang aus unterschiedlichen Blickwinkeln observiert. Das Kind war ihm dabei nicht aufgefallen. Als ob es sich die ganze Zeit über versteckt hatte.
Savant zögerte, Ira Cane nutzte es aus, zog eine Waffe und feuerte. Die Anwesenheit des eigenen Sohnes schien ihm egal zu sein.
David schoss mit seiner Glock-17-Pistole zurück. Das Kind geriet in Panik und lief direkt in die Flugbahn seiner Kugel. In diesem Moment, als es in den Kopf getroffen wurde und umgeben von einer Blutwolke hinfiel, legte sich in Savant ein Schalter um. Die emotionale Distanz wurde von purem Hass aufgefressen. Ekel kam hinzu, unendliche Schuld.
Ira Cane feuerte weiter, traf den AS-Agenten an der linken Schulter. Der spürte es kaum. Genauso wenig wie die schmerzenden Gelenke oder die Müdigkeit, die zu einem ständigen Begleiter geworden war. Er schoss dem Terroristen in die Oberarme, den Unterleib, verwundete ihn schwer, aber nicht so, dass er sofort starb.
Dafür nutzte David Savant die körpereigenen Waffen. Er stürzte sich auf Ira Cane, legte die Hände um den Hals, brach ihm den Kehlkopf, quetschte das Leben aus dem Dreckschwein heraus. Es dauerte fünf Minuten, bis der Tod eintrat.
Danach musste sich der AS-Agent übergeben. Das war keine erfolgreiche Mission. Sondern ein Massaker. Er überwand sich, der Leiche des Kindes die Augen zu schließen, und verließ die Villa.
Savant verfasste einen ausführlichen Bericht. Die Auswertung ergab, dass er in der Situation angemessen gehandelt hatte. „Der Kollateralschaden ist bedauerlich. Aber das Ergebnis rechtfertigt die angewandten Methoden.“ So stand es in der schriftlichen Beurteilung.
An den Bildern des toten Jungen, die seitdem regelmäßig vor Savants innerem Auge auftauchten, änderte das nichts. Zumal sich dazu noch die Gesichter anderer Personen gesellten, die er während der letzten Jahre getötet hatte. Es fühlte sich wie ein immer stärker werdender Wildwasserfluss an. Wenn er nicht aufpasste, riss es ihn von den Füßen. Das Formtief verwandelte sich dann zur Formschlucht.
Um das zu verhindern, war ihm jedes Mittel recht. Deshalb nahm er die Tabletten vom Waschbeckenrand und schluckte sie mit einem Schluck Wasser aus dem Hahn herunter.
Seine Unruhe wurde weniger, die Gedanken klarer.
Du kannst weitermachen!, dachte der AS-Agent trotzig. Er musterte sich im Spiegel und bekam sofort wieder Zweifel.
Das New Yorker Büro der Alpha-Section befand sich im Stadtteil Queens. Genau genommen im ersten Untergeschoss eines zehnstöckigen Bürogebäudes. Offiziell gehörte es zu einem Finanzunternehmen namens „Universal Bonds“. Die Fassade wirkte auf Savant immer noch sehr überzeugend. Es gab Büros mit Angestellten, die tatsächlich den ganzen Tag über Geld von A nach B verschoben und einige US-Firmen berieten. Ziemlich erfolgreich, wie mehrere Urkunden an den Wänden belegten. Dass sie nur Tarnung waren, störte die Mitarbeiter nicht. Als Grund dafür vermutete David eine Mischung aus Patriotismus und Gleichgültigkeit. Die Verschwiegenheitserklärungen, die alle hatten unterschreiben müssen, taten ihr Übriges. Bei Verstoß landete man ganz schnell im Gefängnis. Dann doch lieber Geld verdienen und die Klappe halten. Mit den ein- und ausgehenden AS-Agenten sprach erst recht niemand. Ein kurzer Blickkontakt war da das höchste der Gefühle.
So auch heute, als Savant aus dem Fahrstuhl stieg und zum Raum 1007 ging, dem Büro von Josh Hamada, dem Leiter der Alpha-Section.
Er klopfte, wartete auf das „Herein!“ und öffnete die Tür.
Das Zimmer maß ungefähr dreißig Quadratmeter und war nüchtern eingerichtet. An den graufarbenen Wänden hingen keinerlei Bilder. Dafür war an einer von ihnen ein 30-Zoll-Monitor installiert worden.
Ein Schreibtisch aus Glas und Metall mit mehreren Schubladen stand im Zentrum des Raumes. Dahinter saß auf einem gepolsterten Bürosessel Josh Hamada. Der Amerikaner mit japanischen Wurzeln musterte Savant kurz, als dieser eintrat.
Das Gleiche tat der unbekannte, weißhäutige Mann, der auf einem der zwei Besucherstühle gegenüber vom AS-Leiter Platz genommen hatte. Er war hager, mit dünnen, braunen Haaren und wirkte, als habe er einen Stock verschluckt.
„Setzen Sie sich, Agent Savant“, befahl Hamada.
David tat es.
Sein Vorgesetzter deutete mit einer Hand auf den hageren Mann. „Das ist Gavin Rice. Er arbeitet für die DARPA und braucht unsere Hilfe.“
Savant musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Hamada war kein Freund vieler Worte. Manche hatten damit ein Problem.
Offensichtlich auch dieser Rice, der sichtlich verärgert hinzufügte: „Eigentlich ist es eher eine Gefälligkeit. Als Dank für die großzügige Unterstützung, die meine Abteilung der Alpha-Section während der letzten Jahre zukommen ließ.“
„Das ist unwichtig“, watschte ihn Hamada prompt ab und holte aus einer der Schreibtischschubladen eine Fernbedienung hervor. Damit aktivierte er den Monitor.
Das Foto eines Mannes um die fünfzig erschien. Er hatte einen grauen Haarkranz und Schnurrbart.
„Das ist Dr. Willfried Strossmeyer“, erklärte der Leiter der Alpha-Section. „Geboren in München, Deutschland. Von Beruf Arzt und Biologe. Seit zwei Jahrzehnten amerikanischer Staatsbürger. Vor zehn Jahren von der „Defense Advanced Research Projects Agency“ rekrutiert.“
Strossmeyers Foto verschwand vom Bildschirm. Stattdessen bekam Savant die tonlose Videoaufnahme einer Überwachungskamera zu sehen. Von einem Labor, wie es schien. Zwei Personen in Schutzanzügen arbeiteten dort. Sie bedienten Mikroskope und andere Gerätschaften so konzentriert, als ob nichts auf der Welt sie ablenken konnte. Der Eindruck änderte sich, als ein heller Lichtblitz neben ihnen explodierte. Die beiden stürzten zu Boden und krümmten sich.
Drei dunkel gekleidete Gestalten rannten auf sie zu. Zwei braunhaarige, kurz geschorene Männer und eine weißblonde, langhaarige Frau. Sie waren mit Maschinenpistolen bewaffnet. Savant erkannte sie sofort, denn sie waren nicht vermummt.
„Die French Guard“, murmelte er.
„Wer?“, wollte Rice wissen.
„Latice Chargnier, Yves Monet und Serge Alba“, antwortete David. „Sie nennen sich „French Guard“. Früher haben sie für den französischen Geheimdienst gearbeitet. Dann bekamen sie das Gefühl, auf der falschen Seite zu stehen. Sie radikalisierten sich, sagten jeglichen Staatsformen den Kampf an. Sie wollen die absolute Anarchie. Freiheit für jeden und alles. Seitdem verüben sie wahllos Attentate auf Regierungssitze und Botschaften. Dazu überfallen sie auch noch Banken, Kasernen und, wie es aussieht, ab jetzt Geheimlabore.“
„Sie scheinen nicht besonders intelligent zu sein“, meinte Rice. „Sie verhüllen nicht mal ihr Gesicht.“
Savant schüttelte den Kopf. „Tun sie nie. Brauchen sie nicht. Immerhin ziehen sie ihre Nummer schon seit sechs Jahren durch, ohne dass man sie erwischen kann. Sie wollen erkannt werden. Um allen Staatsdienern zu zeigen, dass niemand vor ihnen sicher ist. Womit sie ziemlich oft recht haben. Ihren Kreuzzug bezahlen sie mit dem, was sie erbeuten.“
„Oh Gott!“, stöhnte Rice.
Die Videoaufnahme lief weiter und zeigte, wie die French Guard die beiden Schutzanzugträger mit mehreren Salven aus den Maschinenpistolen geradezu zerfetzte. Danach näherte sich Latice der Überwachungskamera. Sie lächelte, als wäre sie bloß ein Kind, das gerade den bösen Eltern einen Streich gespielt hatte. Sie zielte auf das Objektiv und schoss.
Josh Hamada schaltete den Monitor aus. „Das wurde vor neunzig Minuten in einem Geheimlabor in Berlin-Kreuzberg aufgenommen. Willfried Strossmeyer hat dort gearbeitet. Zum Zeitpunkt des Anschlags war er anwesend, konnte allerdings entkommen.“
„Was ein Glück für uns alle ist“, kommentierte Gavin Rice.
„Seine beiden Kollegen hätten davon auch etwas gebraucht“, entgegnete ihm Savant trocken. „Wurde was gestohlen?“
Sein Vorgesetzter nickte. „Das genaue Ausmaß ist noch nicht bekannt. Gerade das macht die gesamte Situation äußerst heikel. Besonders wenn man bedenkt, woran in diesem Labor gearbeitet wurde.“
Savant runzelte die Stirn. „Und das wäre?“
„Die Optimierung des menschlichen Organismus“, erklärte Rice. „Sowohl mental als auch physisch. Auf schonendem Weg.“ Der DARPA-Mann lächelte stolz. Jedoch nicht für lang.
Denn David strafte ihn mit dem Kommentar „Klingt wie eine Fernsehwerbung!“ ab.
Das brachte ihm von seinem Sitznachbarn einen ablehnenden Blick ein.
Und eine Retourkutsche. „Sagen Sie, Agent Savant, wie gut vertragen Sie die Medikamente, die Ihnen für Missionen zur Verfügung gestellt werden?“ Rice verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich könnte mir vorstellen, dass Sie sich oftmals sehr elend fühlen. Was kein Wunder ist, angesichts der Wirkstoffe, die Sie Ihrem Organismus zumuten. Was im Berliner Labor entsteht, könnte Ihnen und allen anderen Alpha-Section-Agenten helfen, noch besser zu werden, als Sie sowieso schon sind.“
David schnalzte mit der Zunge. „Wow! Falls die French Guard jetzt ein paar Ihrer Wundermittel erbeutet hat, werden also aus gefährlichen Terroristen wahre Superschurken. Das ist doch mal eine Perspektive.“
„Ich finde Ihren Sarkasmus nicht angebracht, Agent Savant“, protestierte der DARPA-Mann. „Unsere Forschungen sind wichtig. Sie sind wohl kaum qualifiziert ...“
„Vielen Dank für Ihre Ausführungen, Mr. Rice“, redete Josh Hamada dazwischen. „Mit der anstehenden Mission hat das allerdings nichts zu tun.“ Er konzentrierte sich auf Savant. „Willfried Strossmeyer ist in Besitz eines experimentellen Serums. Er konnte es aus dem Labor mitnehmen. Er ist auf der Flucht. Vor einer Stunde hat er sich bei Mr. Rice gemeldet.“
„Über ein spezielles Handy“, ergänzte der DARPA-Mann. „Nur wenige Angestellten haben die Nummer dazu.“
David zuckte mit den Schultern. „Und wie kommt man zu der Ehre, Sie anrufen zu dürfen?“ Er wusste, wie provokant sein Verhalten war, und genoss es.
Gavin Rice troff Arroganz aus jeder Pore. Deswegen überraschte seine Antwort mit all ihrer Überheblichkeit nicht: „Indem man revolutionäre Arbeit leistet. Wissenschaftler wie Willfried Strossmeyer sorgen dafür, dass wir auch in Zukunft immer stärker sind als unsere Gegner. Soldaten können an der Front mit Medikamenten so behandelt werden, dass sie schneller wieder einsatzbereit sind. Ich spreche von Leistungsverstärkern der nächsten Generation. Wundheilungsbeschleunigern. Es gibt eine so breite Palette. Ich habe mich auf die Förderung talentierter Leute spezialisiert. Damit Amerika sicher ist. Für die Zukunft.“
„Wir haben verstanden, worauf Sie hinaus wollen, Mr. Rice“, erklärte Josh Hamada unwirsch und wandte sich David zu. „Sie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Bernd Skorczyk
Bildmaterialien: Bernd Skorczyk
Cover: Bernd Skorczyk
Tag der Veröffentlichung: 22.05.2023
ISBN: 978-3-7554-4286-8
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