Wenn Robert Goldblatt aus dem esstellergroßen, rundlichen Fenster seiner Privatkabine schaute, wollte er nur Sterne sehen. Oder – sanft bestrahlt von der Millionen Kilometer entfernten Sonne im Zentrum – ein paar der Eis- und Gesteinsbrocken der Oortschen Wolke, einer unendlich groß wirkenden Ansammlung astronomischer Objekte, die das gesamte System wie eine Schale umgab. Solange er nur beobachtete und nicht nachdachte, empfand er die Aussicht als wunderschön.
Bis sein Hirn ihm Erinnerungen schickte. An den Krieg. Dann stellte sich die allzu bekannte bleierne Schwere ein. Gedanken, zähflüssig und schwarz wie Teer, ertränkten jeden Genuss. Dabei hatten die Transeuropäische Handelskoalition, TEH, und die Union unabhängiger Staaten, kurz: UuS, bereits vor sechs Jahren Frieden miteinander geschlossen. Die Menschheit sollte „sich endlich vereinen, um mutig mit der Eroberung des Weltraums zu beginnen.“
Markige Worte. Carlotta Moreaux und Boris Mosolow, die Oberhäupter von TEH und UuS, hatten sie zusammen bei der Pressekonferenz am 7.4.2099 gesagt. Und dadurch unbewusst gezeigt, dass sie den Auslöser für den Krieg in den Frieden mitnahmen. Schließlich hatten Streitigkeiten um die Eroberung des eigenen Sonnensystems mitsamt nützlichen Ressourcen zum ersten Gefecht geführt. Dem folgte ein zweites, dann ein drittes. Friedensgespräche wurden nur halbherzig begonnen und zumeist beendet, bevor die Diplomaten auch nur „Hallo!“ sagen konnten. Ehe die Menschen auf der Erde, den Raumstationen, in den Mond- und Marskolonien es begriffen, hatten ihre Regierungen sie in einen Krieg gestürzt.
Anderthalb Jahrzehnte lang tobte er. Im Weltraum, auf Planeten und dazwischen. Er befeuerte die Forschung. Besonders in der Raumfahrttechnik gab es wahre Quantensprünge. Angefangen bei künstlicher Schwerkraft bis hin zu schnelleren, größeren Raumschiffen.
Den Preis zahlten die Leute, die damit in den Kampf zogen.
Robert Goldblatt war einer von ihnen gewesen.
Als der gebürtige Berliner sich in London bei der damals noch existierenden European Space Agency, der ESA, für das Astronautenprogramm bewarb, wollte er einfach nur ins All. Um mit eigenen Augen zu sehen, was dort draußen existierte. Nicht bloß auf Fotos oder Hologrammen. Seine Leidenschaft für Science-Fiction aller Art hatte diese Gier in ihm hervorgerufen. Fatalerweise hatte sie ihn ebenso mit einem extremen Tunnelblick ausgestattet. Es reichte, um die Aufnahmeprüfung zu bestehen und einen der begehrten Plätze in der Förderklasse für Shuttle-Piloten zu ergattern. Zu der Zeit gab es bereits unübersehbare Konflikte zwischen TEH und UuS. Verträge wurden gebrochen, Gespräche beendet, Vorwürfe erhoben, ohne dass man sie mit Fakten belegte.
Goldblatt kümmerte es wenig. Er sah das Offensichtliche nicht kommen. Obwohl sich das Ganze so berechenbar entwickelte wie ein klassischer Genre-Film.
Ehe Robert seinen Abschluss machen konnte, wurde die zivile ESA aufgelöst und alle Mitarbeiter sowie Studenten der Combat Space Force überstellt. Als Streitkräfte. Widerstand war zwecklos. Die CSF rekrutierte nicht, sie verpflichtete. Obwohl er es nicht wollte, lernte Goldblatt innerhalb kürzester Zeit das Handwerk eines Kampfshuttle-Piloten im Dienst für die Transeuropäische Handelskoalition. Er schien wie geschaffen dafür zu sein. Er schwor sich, keinerlei Ehrgeiz zu entwickeln, um in der militärischen Hierarchie aufzusteigen. Er wollte immer noch ins All. Aber nicht, um zu kämpfen.
Bis die Union unabhängiger Staaten von ihrer Basis auf dem Mond aus einen Großangriff auf die irdischen Hauptstädte der TEH startete. Berlin, Paris, London und Kiew wurden durch überschallschnelle Partikelraketen verwüstet.
Robert sah die Zerstörungsorgie von seinem Quartier auf der Foster-Raumstation aus. Sie befand sich in geostationärem Orbit über dem europäischen Kontinent. Er brauchte nur aus dem Fenster zu schauen. Die Explosionen zerfetzten alles im Umkreis von 200 Kilometern. Häuser, Fahrzeuge, Menschen. Sie setzten sogar den Himmel in Brand, färbten die Atmosphäre bei den Einschlagspunkten glühendrot.
In dem Moment starb der ursprüngliche Robert Goldblatt. Er wurde durch einen Mann ersetzt, der sich in Konflikten nicht mehr zurückhielt. Ihm war es egal, warum die UuS angriff, ob sie sich bloß verteidigte, welche armen Schweine sie als Kanonenfutter verbrannte, um einen sinnlosen Krieg zu führen. Dieser neue Goldblatt schaffte es bis zum Captain eines schweren Kampfschiffes mit hundertköpfiger Crew. Nach außen wirkte er gelassen, tatsächlich herrschte in seiner Seele ein rasendes Fieber aus Hass und grenzenloser Wut.
Geheilt wurde er erst wenige Wochen vor dem Waffenstillstand zwischen TEH und UuS. Sein Schiff, die Tiberius, schoss einen leichten Transporter kampfunfähig, der vermeintlich Biowaffen geladen hatte. Robert wollte den Befehl zur Zerstörung geben. Da entdeckten die Sensoren mehrere unregelmäßige Lebenszeichen. Zu viele, als dass sie allein durch den Beschuss zu erklären waren.
Das Fieber in Goldblatts Seele sank, nur ein bisschen. Es reichte jedoch, um ihn verstehen zu lassen: Das andere Schiff transportierte keine Waffen, sondern Verwundete. Dem Kurs nach zur UuS-Lazarettstation im Orbit des Jupitermondes Io.
Zum ersten Mal seit Jahren meldete sich sein Gewissen und brachte ihn dazu, das Feindschiff ziehen zu lassen. Damit verstieß er gegen den zu der Zeit aktuellen Befehl des Oberkommandeurs. Der lautete zusammengefasst: Keine Gnade!
Goldblatt musste sich vor einem Kriegsgericht verantworten. Allein das Waffenstillstandsabkommen und der kurz darauf folgende Friedensvertrag brachten ihm statt der Todes- lediglich eine dreijährige Haftstrafe ein. Mehr noch, man machte ihm ein Angebot. Wie viele andere in Ungnade gefallene Soldaten beider Seiten bekam er die Chance auf „Wiedergutmachung, indem Sie den Frieden im Sonnensystem sichern“. So stand es zumindest auf dem Arbeitsvertrag der von TEH und UuS gegründeten Planetenallianz. Nur ein beliebiger Name für eine weitere Behörde. Als ob das die Vergangenheit weniger beschissen machte. Geschweige denn ungeschehen.
Robert Goldblatt wurde als Pilot eines der vielen Patrouillenschiffe eingesetzt, die im gesamten Sonnensystem herumflogen und Raumstationen sowie zivile Frachter beschützten. Denn ein paar Fanatiker akzeptierten den Frieden natürlich nicht. Für sie war die Sache erst erledigt, wenn alle Feinde unter der Erde waren.
Die TEH-Seite hatte die „Bosses“ hervorgebracht, die UuS die „Drako-Guómíng yínháng“. Der Name war eine absurde russisch-chinesische Wortkombination, wie sie nur Radikalen einfallen konnte. Übersetzt bedeutete sie angeblich „Drachenklaue“. So wurden die Heinis dann auch von allen genannt. Sie und die Bosses verfügten über ein erschreckend großes Sortiment an Raumschiffen. Und das von Beginn an. Dazu verstanden sie es, sich so effektiv im Sonnensystem zu verstecken, dass weder TEH noch UuS sie aufspüren konnten. Blieben die Patrouillenschiffe, um sie abzuschießen, sobald sie eine Attacke starteten. Offiziell.
Die Realität sah für Goldblatt anders aus. Mit seinem Exemplar, einem namenlosen Jäger mit der Kennnummer 701, hatte er bislang nur Meteoriten abgeschossen. Obwohl ihm sogar Spitter-Bordkanonen zur Verfügung standen. Geladen waren sie mit komprimierten Titangeschossen, einer Erfindung aus Kriegszeiten. Sie sahen wie etwas zu groß geratene Golfbälle aus. Harmlos und unauffällig. Trafen sie jedoch ihr Ziel, verwandelten sie sich in glühende Grüße aus der Hölle. Keine Panzerung hielt ihnen stand. Die Bewaffnung war über jeden Zweifel erhaben.
Es fehlten nur die Gegner.
Denn die 701 überwachte nahe der Oortschen Wolke permanent einen Sektor, in den sich garantiert niemals Frachter oder Fanatikerschiffe verirrten. Noch nicht mal die Schürfroboter kamen, um nach versteckten Rohstoffen in den Wolken-Objekten zu suchen. Und die flogen nun wirklich überallhin.
Robert versuchte die Isolation im Nirgendwo zu akzeptieren. Er hatte genug gewütet. Leider gab es diese Stimme in ihm. Hartnäckig erklang sie in seinem Geist und wies ihn darauf hin, dass er noch nicht am Ende war. Sie drängte ihn, wieder in Bewegung zu kommen. Das endlich zu beginnen, was er ursprünglich hatte tun wollen: Den Weltraum bereisen.
Das Ergebnis? Ein Mann, der zwischen zwei sich widersprechenden Extremen hin- und her pendelte. Nicht zu vergessen das elende Selbstmitleid. Es kam oft genug zu Besuch. Goldblatt hätte am liebsten die Atmosphäre aus dem Schiff gelassen, um es zu ersticken.
Dummerweise war er auf der 701 nicht allein. Wie bei allen anderen Patrouillenschiffen bestand auch hier die Crew aus drei Personen. Dem Piloten, einer medizinischen Fachkraft und einem Techniker.
Goldblatts Kollegen waren die Ärztin Dr. Shiyan Chen und der ehemalige Schlachtschiffsingenieur Freddy Byer.
Der vierzigjährige, in Manchester geborene Engländer war ein alter Freund von Robert. Zuerst hatten sie zwei Jahre auf demselben TEH-Schiff, der Coeur de Paris, gedient. Freddy als Techniker, Goldblatt als stellvertretender Captain. Gemeinsam hatten sie genug erlebt, um einander zu vertrauen.
Dann erhielt Robert das Kommando über die TEH-Tiberius. Seine erste Amtshandlung bestand darin, Byer für den Posten des Chefingenieurs anzufordern. Er bekam seinen Willen und bereute es nie. Freddy erwies sich als wahres Genie im Maschinenraum. Dank ihm wurde die Tiberius das schnellste Schiff der Flotte. Schlussendlich sagte er sogar beim Kriegsgerichtsverfahren zu Goldblatts Gunsten aus. Was ihm die Karriere kostete.
Dr. Chen dagegen hatte für die UuS als Chirurgin in einem Krankenhaus auf dem Mars gearbeitet. Dort waren ihr genug durch TEH-Streitkräfte verkrüppelte Soldaten unters Messer gekommen, dass Robert verstand, warum sie sich ihm gegenüber stets distanziert verhielt. Schließlich gehörte er zu den Menschen, die ihre bittere Arbeit erst nötig machten. Nun mit dem ehemaligen Feind zusammenzuarbeiten, kostete sie sichtlich Überwindung. Aber sie schaffte es, jeden Tag aufs Neue. Dafür empfand Goldblatt aufrichtigen Respekt.
Gleichzeitig wünschte er sich, dass sein Freund Freddy ebenso diszipliniert war wie sie. Was wahrscheinlich nie in Erfüllung gehen würde. Meistens verlor der Engländer gegenüber der in Peking geborenen Ärztin kein Wort. Stattdessen bombardierte er sie mit abschätzigen Blicken. Manchmal aber gab er aggressive Sprüche in ihre Richtung ab, die Robert zwangen, den Captain in sich wieder hervorzuholen. Autorität lag ihm, auch wenn er es hasste, sie anzuwenden. Es erinnerte ihn zu sehr an die Kriegszeit. Bei Freddy half es gerade deswegen. Chefingenieur für ein großes Raumschiff, das war die Stellung seines Lebens gewesen. Allein die Hoffnung, irgendwann wieder diesen Posten zu bekommen, ließ seine Augen funkeln. Nur war das unwahrscheinlich. Die 701 mit ihrem veralteten Ionenantrieb hatte keine zukünftigen Legenden als Crew, sondern Außenseiter.
Das sagte Goldblatt seinem Techniker natürlich nicht.
Was brachte es schon, Illusionen zu zerstören, wenn man am Rande des Sonnensystems herumdümpelte? In einem eiförmigen Raumschiff, das gerade mal siebzig Meter lang sowie dreißig Meter hoch war und spärliche zwei Ebenen besaß?
Diese wurden von Weißlichtelementen beleuchtet. Bis in die hinterste Ecke. Der untere Bereich wurde „der Keller“ genannt. Er beherbergte den Maschinenraum und das Waffenmagazin mit den komprimierten Titangeschossen für die Spitter-Bordkanonen. Freddy Byers Reich. Dort fühlte er sich am wohlsten. Egal wie sehr er über ständig versagende Maschinen jammerte.
Die obere Ebene bestand aus der Pilotenkanzel und Dr. Chens Behandlungsraum, der unter anderem einen vollautomatisierten Operationstisch besaß. Zusätzlich gab es noch drei mickrige Privatquartiere. Goldblatt kamen sie eher wie Gefängniszellen vor. Damit kannte er sich ja aus. Die Einrichtung umfasste eine Schlafpritsche, Kleidungsfächer, eine Hygiene-Nische und einen Nahrungsspender. Was man daraus zu essen bekam, schmeckte generell beschissen. Wer immer das Schiff entworfen hatte, schien Raumfahrer zu hassen. Anders ließ sich das alles nicht erklären. Ein schmaler Gang verband die Räumlichkeiten. Wenn die Luftzirkulation ausfiel, roch es darin wie in einem Klo. Oftmals ging auch der Temperaturregler flöten. Dann fror man sich den Hintern ab.
Damit Goldblatt, Dr. Chen und Byer nicht verhungerten, flog die 701 alle vier Wochen zu einem Rendezvouspunkt mit einem Versorgungsshuttle. Dort bekamen sie Lebensmittel, Medikamente und, falls nötig, Munition. Die Übergabe verlief automatisch, durch Roboterarme an der Außenhülle des Shuttles. Sie deponierten die Sachen in einer der beiden Luftschleusen der 701. Verpackt war alles in vakuumversiegelten Kisten. Die dreiköpfige Crew musste sie zum jeweiligen Bestimmungsort tragen und ausräumen. Manchmal genoss Robert diese Momente sogar. Weil man zur Abwechslung mal an einem Strang zog. Etwas tat, was allen zu Gute kam.
Lange hielt dieses Gefühlshoch leider nie an. Zu rasch kamen die immergleichen, ernüchternden Gedankenschleifen und Schuldgefühle zurück, die ihn zu einem passiven Zuschauer des eigenen Lebens machten. Nichts ließ ihn auch nur ahnen, dass sich das jemals änderte.
Bis Robert Goldblatt am 7. Januar des Jahres 2105 eines Besseren belehrt wurde.
Dabei begann der Arbeitstag nur damit, dass er früher als sonst seine Kabine verließ.
Shiyan Chen war vierzig Jahre alt. Zu jung, um auf einem Patrouillenschiff vor sich hinzuvegetieren. Zumindest dachte sie das. Nach dem Krieg, der ihr ein Trauma und einen überflüssigen Orden der UuS-Spitze eingebracht hatte, ging Shiyan davon aus, endlich in einem normalen Krankenhaus arbeiten zu können. Zwar hatte ihr die „Zashchitnaya Stena“, die Militärorganisation der Union, das Medizinstudium finanziert. Dass Chen für den Rest ihres Lebens der ZS zur Verfügung stehen musste, war jedoch nie Teil der Vereinbarung gewesen.
Bis man ihr unmissverständlich klarmachte, dass sie zu gehorchen hatte oder ihre Zulassung verlor. Der mittlerweile zweijährige Dienst auf der 701 mit Goldblatt und Byer hatte sie zermürbt. Sie wollte endlich Zivilisten um sich haben. In Räumen arbeiten, die größer als neun Quadratmeter waren. Gelang es ihr nicht, ihre Vorgesetzten davon zu überzeugen, dass sie woanders nützlicher war, würde sie in der 701 verrecken.
Mit diesen depressiven Gedanken sortierte sie jetzt im Behandlungsraum die Einweg-Luftdruckspritzen. Zum xten Mal während der letzten Standardtage. Als ob irgendjemand das Zeug in nächster Zeit brauchen würde. Für die eigene Crew war es ja gar nicht gedacht. Sondern für diejenigen, die das Patrouillenschiff vor den Angriffen der Extremisten beschützte und hinterher versorgte: Besatzungen von Schürf- oder Forschungsschiffen. Der Pilot schoss den Feind ab. Danach reparierte der Techniker den maschinellen und die medizinische Fachkraft den organischen Schaden der Geretteten. Da die 701 nie Kontakt mit Gegnern oder Forschern bekam, wurde der Inhalt der Luftdruckspritzen eher schlecht als benutzt.
Eine abartige Verschwendung.
Im Krieg hatte Shiyan nicht genug Schmerzmittel gehabt, um Sterbenden die Qualen zu lindern.
Sie hielt inne und starrte für einen Moment kopfschüttelnd auf den Inhalt des Medikamentenschranks. Dann betätigte sie den Schalter daneben und die Schranktür schloss sich mit einem leisen Zischen.
„Guten Morgen, Doktor“, meldete sich Robert Goldblatt hinter ihr zu Wort. Auf Englisch, da es die Standardsprache auf Patrouillenschiffen war. Er stand in der Zugangsöffnung zum Behandlungsraum.
Chen drehte sich zu ihm um. „Gut? Er wird auch nicht besser sein als all die anderen.“ Sie blickte zur Holo-Uhr, die sich über der Öffnung befand und die Bordzeit in grünlichen Ziffern in die Luft projizierte. „0651 Uhr? Sie sind früher wach als sonst.“
Goldblatt lächelte schief. „Schlafprobleme. Nichts Dramatisches.“
„Nicht ungewöhnlich bei Menschen, die im All arbeiten“, kommentierte Shiyan trocken. „Das Fehlen von ausreichend natürlichem Tageslicht. Oder ein gestörter Tag-Nacht-Rhythmus. Manche gewöhnen sich dran, …“
„Die meisten nie“, unterbrach sie der ehemalige Schlachtschiff-Captain bemüht freundlich. „Das haben Sie mir schon öfters gesagt.“
„Sie hatten auch oft genug Schlafprobleme. Früher zum Dienst sind Sie trotzdem nie erschienen.“ Shiyan drehte sich von ihm weg. „Als ob das einen Unterschied macht.“ Sie öffnete den Medikamentenschrank, holte eine der Luftdruckspritzen hervor und reichte sie dem Mann. „Ein leichtes Sedativum. Für acht Stunden Tiefschlaf dürfte es reichen.“
Robert Goldblatt stutzte. Eine milde Gabe war er von Dr. Chen nicht gewöhnt. Hätte er gewusst, dass unberechenbares Verhalten sie freundlicher stimmte, er wäre zum spontansten Menschen der Welt geworden. Die Spritze nahm er dennoch nicht an.
„Heben Sie das Zeug besser auf“, sagte er. „Notfälle sind bei uns unwahrscheinlich. Aber nicht unmöglich.“ Eine Formulierung wie aus dem Lehrbuch für Führungskräfte. Klischeehaft, unpersönlich. Goldblatt hätte sie am liebsten rückgängig gemacht. Wenn Zeitreisen möglich wären. Jetzt brauchte es einen Themenwechsel oder einen diskreten Abgang. Robert wählte Letzteres. „Ich wünsch Ihnen einen guten Tag, Doktor.“
Goldblatt verschwand aus der Zugangsöffnung. Seinen Schrittgeräuschen nach zu urteilen, lief er den Gang in Richtung Cockpit entlang.
Derweil legte Chen die Luftdruckspritze zurück in den Schrank und bekam eine große Portion Schuldgefühle. Sie hatte dem Mann widerrechtlich ein Sedativum angeboten. Warum, konnte sie sich nicht erklären. Es änderte auch nichts am Tatbestand. Wenn der Rest des Tages so weiterging, wurde sie noch zum Schwerverbrecher. Was jedoch, genauer betrachtet, ihre momentanen Lebensumstände nicht wirklich verschlechterte. Dieser Gedanke brachte sie dazu, bitter aufzulachen. Nimm an Spaß, was du kriegen kannst, Frau Doktor!
Das Cockpit besaß zum Verbindungsgang hin keine Tür oder Luke. Und es war eng, gerade mal mannshoch. Auf zwei Quadratmetern Fläche stand ein mit Flexgel gepolsterter Sitz, der sich dem Körper des Piloten so effektiv anpasste und ihn fixierte, dass kein Sicherheitsgurt nötig war. Selbst bei größten Erschütterungen. Rechts davon befand sich eine Instrumentenkonsole. Darüber erhielt Goldblatt Zugriff auf die Langstreckensensoren und Kommunikationsmittel. Die 701 verfügte sowohl über klassischen Funk als auch die schnellere Variante, „Lightray“. Direkt vor dem Sitz existierte eine halbrunde, mit zwei Vertiefungen ausgestattete Metallplatte, das sogenannte „Brett“. Es war mit einem Schwenkarm an der Decke befestigt. Ausgeschaltet wirkte es nicht sonderlich beeindruckend.
Aktivierte man es, leuchtete es kobaltblau. Die Lightshow wurde sogar noch interessanter, sobald Robert seine Hände in die Vertiefungen legte. Kurz blinkten diese grün auf, um danach wieder ins Blau zu wechseln. Das Brett war die Steuerungs- und Waffenkontrollkonsole. Es interagierte mit den Nerven in den Fingern des Piloten. Es zu bedienen war wie Klavierspielen. Nicht jeder hatte Talent dazu und es erforderte viel Übung. Goldblatt besaß beides.
Direkt über dem Brett und der seitlichen Instrumentenkonsole bot das Cockpit ein kuppelartiges Fenster aus Duraglas mit einer 180-Grad-Aussicht aufs All. Anders als das kleinere Exemplar in seiner Kabine verführte das hier den Piloten nie zum Träumen. Sobald er auf dem Sitz hockte, gab es keine Gedankenreisen. Nur die nüchterne Gegenwart.
„Hey, Robert“, erklang Freddy Byers Stimme aus dem Konsolenlautsprecher. „Hab mitgekriegt, dass du heute früher auf Deck bist. Lust auf ein paar technische Probleme?“
Goldblatt betätigte einen kleinen, roten Knopf auf der Konsole und aktivierte so den schiffsinternen Funk. „Womit willst du mir denn den Tag versüßen? Ich hab gerade schlechte Laune.“
„Komm in den Keller, dann zeig ich’s dir.“
Robert seufzte. „Bin auf dem Weg.“ Er schaltete den Schiffsfunk aus und verließ das Cockpit.
Die einzige Zutrittsmöglichkeit zum unteren Geschoss, dem Keller, befand sich im Boden des Verbindungsgangs, keine zwei Meter vom Cockpit entfernt. Sie war mit einer automatischen Luke verschlossen, die sich nur öffnete, wenn eines der drei Crewmitglieder seine rechte Hand auf den Handabdruckscanner im Zentrum legte. Darunter befand sich eine metallene Leiter. Zehn Sprossen tiefer kam man dann im Keller an.
So wie Goldblatt jetzt.
Hier unten roch die Luft stets säuerlich. Sie war mit etwas durchsetzt, das unangenehm auf der freiliegenden Haut prickelte. Laut Freddy Byer war daran der Ionenantrieb schuld. Und die komprimierten Titangeschosse. Das quaderförmige,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Bernd Skorczyk
Bildmaterialien: Bernd Skorczyk
Cover: Bernd Skorczyk
Tag der Veröffentlichung: 29.09.2022
ISBN: 978-3-7554-2185-6
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Irene, meinen Lebenscaptain.