Das Haus stand in Berlin. In einer Straße, die so schmal und unbedeutend war, dass sie noch nicht mal einen eigenen Namen hatte. Es war alt. 1901 erbaut, überstand es beide Weltkriege unbeschadet. Es besaß ein Giebeldach mit blutroten Ziegeln und drei Stockwerke mit jeweils vier Wohnungen. Die meisten davon waren leer. Von Zeit zu Zeit wohnten die unterschiedlichsten Menschen darin. Leute, die auf der Flucht waren, die untertauchen mussten. Sie alle entdeckten das Haus zufällig. Zuerst waren sie froh, es gefunden zu haben.
Aber keiner von ihnen kam mit dem zurecht, was er oder sie dort erlebte.
Manche bekamen Albträume, die sie erbarmungslos verfolgten. Andere meinten, ein beständiges Surren in den Wänden zu hören. Es machte sie nervös, wütend, manchmal auch traurig und vertrieb sie schließlich. Wovor sie wegliefen, schien den Leuten in den Momenten weniger schlimm zu sein als das, was das Haus mit ihnen anstellte.
Wem es gehörte, wusste niemand. Es fragte keiner nach.
Bis zum Jahr 1999.
Die Straße, die nicht mal einen eigenen Namen hatte, bekam einen: Mauerweg. Das Haus erhielt eine Nummer: 66. Man versuchte, den Eigentümer zu ermitteln.
Aber die Beamten der Stadtverwaltung fanden nichts heraus. Es gab weder Grundbucheinträge noch Baupläne.
Man wandte sich an den Detektiv Julius Goldmann, der sich auf den Bereich Immobilien spezialisiert hatte. Er sollte in Erfahrung bringen, was es mit dem Gebäude Nummer 66 auf sich hatte. Er machte sich an die Arbeit, befragte Bewohner der umliegenden Häuser, ob sie etwas wüssten. Zu hören bekam er allerhand Gerüchte, die wie Gruselgeschichten klangen. Aber nichts Handfestes.
Goldmann glaubte nicht an Gespenster oder sonstigen Blödsinn. Dennoch fachte das Gehörte seine Neugierde an. Es beschloss, eine Nacht im Haus 66 zu verbringen. Er rüstete sich mit einem Taschenmesser, einem Fotoapparat, einer Taschenlampe und einem Kassettenrekorder aus. Dann begab er sich in eine der Wohnungen im zweiten Stock.
Die Sonne ging unter, Dunkelheit breitete sich aus. Sie drang durch die zersplitterten Fenster, bereit alles und jeden zu umgeben, der sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte.
Julius Goldmann machte die Lampe an.
„Alles in Ordnung“, beruhigte er sich selbst.
Da hörte er etwas. Ein Surren. Zuerst ganz leise, dann lauter. Es drang aus den Wänden. So wie es in den vermeintlichen Gruselgeschichten der Anwohner beschrieben worden war. Dazu fiel dem Detektiv ein eigenartig modriger Geruch auf. Er fühlte sich beklommen. So als ob jemand oder etwas unter seine Haut kroch.
Julius schaltete den Kassettenrekorder an. Zumindest das Surren wollte er dokumentieren. Was den Geruch anging, konnte er nur mit der Taschenlampe nach der Quelle suchen und diese fotografieren.
Er konzentrierte sich, ließ sich von der eigenen Nase leiten. Wo roch es mehr, wo weniger.
Das Haus besaß ein verfallendes Treppenhaus. Dorthin führten Goldmann die modrigen Duftspuren. Er betastete die Wände dort, spürte an bestimmten Stellen eine leichte Vibration. Und Feuchtigkeit.
Er fotografierte die Bereiche.
Dann holte er sein Taschenmesser heraus und kratzte damit den Putz weg. Er fand, was in all den Jahren den Stoff für die Gruselgeschichten geliefert hatte: Regenwasser. Es lief von der Dachrinne durch eine zu schmale Leitung in eine Zisterne im Keller des Gebäudes. Mit der Zeit waren die Rohre gerostet und es hatten sich kleine Löcher gebildet. Durch sie trat Wasser aus und durchtränkte die Wände. Schimmel bildete sich. Dessen Sporen waren von den Bewohnern eingeatmet worden, wodurch sie Halluzinationen bekamen.
Das Surren entstand durch die zu schmalen Wasserrohre. Ab einer bestimmten Wassermenge begannen sie, zu vibrieren. In einer Frequenz, die für das menschliche Gehör nur schwer zu erfassen war.
Als Folge wurde vielen Personen schlecht, sie litten unter Gleichgewichtsstörungen. Julius Goldmann hatte einen solchen Fall schon einmal bearbeitet.
Zufrieden mit den gewonnenen Erkenntnissen wollte er das Haus wieder verlassen. Schließlich gab es ja noch eine entscheidende Frage zu klären: „Wer ist der Erbauer?“
Er packte gerade seinen Kassettenrekorder ein, da gaben mit einem lauten Knacken die Dielenbretter der Wohnung nach, in der er sich für die eine Nacht einquartiert hatte.
Goldmann stürzte in die Dunkelheit und landete auf etwas Weichem, Pelzigem. Es fing ihn ab, so sanft, als würde er auf einem Samtbett zum Liegen kommen.
Er hielt immer noch seine Taschenlampe in der Hand. Deren Glühbirne zerplatzte jedoch, sobald er sie auf die Umgebung richtete.
„Du suchst Erklärungen für das, was dieses Haus macht“, sagte eine tiefe Stimme, die von allen Seiten gleichzeitig zu kommen schien. „Ich habe dir welche geboten. Begnüge dich damit. Wenn du allerdings nach dem Erbauer suchst, werde ich dich besuchen. Und dann werde ich mehr tun, als nur mit dir zu reden.“
„Wer ... bist du?“, brachte Julius stockend hervor.
„Die Antwort darauf kennst du bereits.“
„Ich verstehe nicht. Was willst du? Wofür ist dieses Haus gedacht?“
„Du brauchst nichts zu verstehen.“ Die tiefe Stimme wurde leiser. So als ob sie sich entfernte. „Nur zu akzeptieren, dass nicht alle Fragen eine Antwort bekommen wollen.“
Das Weiche, Pelzige unter Goldmann verschwand.
Stattdessen plumpste er auf einen steinharten Untergrund.
Wie lange er dort blieb, wusste er nicht.
Irgendwann ging außerhalb des Hauses die Sonne auf. Lichtstrahlen gelangten sogar zu dem Ort, an dem er sich aufhielt. Da erkannte er, dass er auf blankpoliertem Gestein lag.
Er kletterte aus dem Loch heraus, in das er gestürzt war, verließ das Haus 66 und schwor sich, nie wieder dorthin zu gehen.
Julius Goldmann reichte seinen Bericht bei der Stadt Berlin ein. Mit den defekten Leitungen für das Regenwasser als offizieller Ursache für die seltsamen Erlebnisse, die es in dem Gebäude gegeben hatte. Den Besitzer deklarierte er als „Unbekannt“. Es hätte ihm sowieso niemand geglaubt, was er erlebt hatte. Und wem immer die tiefe Stimme gehörte, Julius zweifelte nicht daran, dass dieser seine Drohung wahrmachte, sobald der Detektiv nach ihm suchte.
Deswegen ging Goldmann ein halbes Jahr später in Rente. Seitdem fehlt von ihm jede Spur.
ENDE
Texte: Bernd Skorczyk
Bildmaterialien: Bernd Skorczyk
Cover: Bernd Skorczyk
Tag der Veröffentlichung: 29.04.2022
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Irene