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Levians Zorn

Der Himmel ist wolkenverhangen, das Meer ruhig. Doch bereits wenige Meter unter der Oberfläche tobt das Leben. Ein Hai zieht seine Bahnen. Jeder seiner Sinne ist darauf ausgerichtet, Beute zu finden. Er ortet einen Schwarm Fische. Sie bewegen sich wie ein Organismus. Gaukeln in der Gemeinschaft vor, riesengroß zu sein. Obwohl sie einzeln kleiner sind als die Rückenflosse des Raubfisches, der sie fressen will. Wie so oft wird er es effizient, zielsicher und ohne Mitleid tun. Das macht ihn weder böse noch gut. Der Hai ist nun mal der Hai.

Die drei Männer auf dem Motorboot, die ihn jagen wollen, fallen da schon in eindeutigere Kategorien. Zumindest für das Wesen namens Levian, das sie und den Hai beobachtet. Denn diese Menschen werden ihre Beute nicht töten, weil sie verhungern. Sondern um ein paar Zähne von ihr zu ergattern. Und andere Körperteile. Sie brauchen den Hai lediglich als Trophäe. Mehr ist er für sie nicht.

Dabei besitzen sie an Land so viel: Familien, die sie lieben, Freunde. Ein Leben ohne Existenzangst. Sie folgen nicht einem alles diktierenden Instinkt wie der Hai. Sie haben eine Wahl. Und entscheiden sich für das sinnlose Töten. Weil sie es können.

Levian weiß das. Obwohl er ein Geschöpf der See ist. Aufgewachsen in den Tiefen. Ist er Tier oder Mensch? Diese und eine Unmenge anderer Fragen kann er sich nicht beantworten. Sicher, er besitzt einen Kopf, Arme und Beine. Aber er kann unter Wasser atmen. Seine Haut ist mit dicken Hornplatten bedeckt. Zwischen Fingern und Zehen spannen sich Schwimmhäute. Und dank seiner extrem ausgebildeten Muskeln schwimmt er schneller als die meisten Meeresbewohner. Einzig sein Verstand ähnelt dem eines Menschen, seine Intelligenz. Und sein Zorn. Den werden die drei Männer gleich zu spüren bekommen.

Gary rülpst laut. Während sich schaumige Reste des Bieres ihren Weg durch seinen braunen, ungepflegten Vollbart bahnen, zerdrückt er die leergetrunkene Dose „Master Ale“ und schmeißt sie über Bord des Motorboots, das er zusammen mit seinen Kumpeln Chuck und Ed gemietet hat.

Etwas berührt die Wasseroberfläche. Es gehört nicht dorthin. Schnell versinkt es in den Fluten, verseucht die Reinheit dieses Lebensraumes. Levian spürt es. Das Metall des Gegenstandes lässt seine Sinne verrückt spielen. Die Männer müssen aufgehalten werden. Jetzt!

„Ich hab keine Lust mehr auf diesen Drecksfisch!“, nuschelt Ed besoffen.

„Dreckshai!“, korrigiert ihn Gary und holt seine Hochseeangel hervor. Er deutet auf den Eimer voller blutiger Fleischbrocken, der bis jetzt nur vor sich hinstinkend auf dem Boden neben ihm gestanden hat. Eine kleine Schaufel steckt darin.

„Einer von euch Pennern sollte mit dem Ködern anfangen“, redet er weiter. „Sonst verlieren wir das Vieh!“

„Na und?“, meldet sich Chuck zu Wort. „Ich find’s auch langweilig. Lass uns umke …!“

Krachend zersplittert der Holzboden des Bootes.

Der Eimer wird hochkatapultiert. Sein blutiger Inhalt regnet auf die drei Männer nieder. Schreie voller Angst und Entsetzen erklingen.

Chuck stolpert und fällt über Bord.

Ed hingegen sackt in sich zusammen, als hätte man ihm die Knochen aus den Beinen gestohlen.

„Was ist das?“, schreit er und zeigt auf eine graugrüne, menschenähnliche Hand mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern. Deren Nägel sind spitz. Wie Nadeln.

Das Loch im Boden wird größer. Die Kreatur, der die Hand gehört, sorgt dafür. Sie gräbt sich durch den Bootsrumpf nach oben wie ein Maulwurf durch Erde. Ein mit Schuppen übersäter Kopf erscheint. Silbern schillernde Augen blicken Ed und Gary an.

Letzterer versucht, seine Angst durch Wut zu überdecken und verpasst dem Wesen einen Tritt gegen das Kinn.

Levian spürt den Schmerz. Aber das hindert ihn nicht daran, weiterzukämpfen. Das Boot besteht zum Großteil aus Holz. Es wird ein Opfer der See werden. Ein Sammelsurium an Trümmern, das mit der Zeit auf den tiefsten Meeresgrund sinken wird.

Die drei Männer jedoch nicht. Levian wird dafür sorgen, dass sie ihre Sünden der See gegenüber abarbeiten.

Das Wesen greift nach Gary und schleudert ihn über Bord.

Ed versucht, seinen Freund festzuhalten. Er bekommt dessen rechten Arm zu fassen und wird mitgerissen.

Alle drei Männer sind im Wasser. In Levians Reich.

Kaum dass er wieder aufgetaucht ist, kann Gary seine beiden Kumpel an der Oberfläche dümpeln sehen. Keinen Meter von ihm entfernt, mit vor Schock bleichen Gesichtern.

Die Männer schwimmen in Levians Zuhause. Bereit, für ihre Sünden zu büßen. Indem sie selbst zu Beschützern des Meeres werden.

Hilflos im Wasser treibend muss Gary mitansehen, wie seine beiden einzigen Freunde nacheinander in die Tiefe gezerrt werden. Von einem Monster.

Ein paar Augenblicke später ist er an der Reihe. Unmenschlich starke Hände packen ihn an der Hüfte und ziehen hinunter. Meerwasser schlägt über seinem Kopf zusammen, drängt sich ihm in den Mund. Es fließt ihm die Kehle herab, in die Lunge. Er muss husten. Und spuckt Blut, das das Wasser rot färbt. Ein stechender Schmerz im Nacken lässt ihn sich wünschen, er wäre nie auf die Idee gekommen, einen Hai zu jagen.

Drei Menschen, drei zerstörerische Kreaturen, die sich nun verwandeln. Levian hat dafür gesorgt. Er hat ihnen das Elixier der Verwandlung verabreicht. Mit den Stacheln in seinen Handflächen. Sie treten nur hervor, wenn sie benötigt werden. So wie heute. Luftatmer und Staubläufer werden zu Meeresbewohnern. Ihre Körper mutieren, bekommen Kiemen und Flossen. Oder Tentakeln.

Aber sie vergessen nie, was sie einmal gewesen waren und verloren haben. Weil sie Levians Zorn erregten. Mit ihnen zusammen könnte er eines Tages das erreichen, was ihn nie ruhen lässt: Frieden und Ordnung im Meer. Ein natürliches Gleichgewicht.

Gary fühlt, wie sich der eigene Körper verändert. Arme und Beine fallen ab. Einfach so. An ihrer Stelle wachsen Flossen. Sein Gesicht prickelt. Besonders die Augen. Die Dunkelheit der See erhellt sich, überrascht ihn mit nie zuvor gesehenen Farben. Seine Gedanken entfernen sich von dem, was früher sein Leben war, und richten sich auf den Ort, den er ab jetzt Heimat nennt.

Das tiefe blaue Meer.

                           

                                                                          ENDE

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Bernd Skorczyk
Bildmaterialien: Bernd Skorczyk
Cover: Bernd Skorczyk
Tag der Veröffentlichung: 26.04.2022

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Irene

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