Es gab einmal ein Dorf inmitten eines dichten, düsteren Wald.
Vor langer, langer Zeit.
Dort lebte ein Mann mit seiner kleinen Tochter. Tag ein, Tag aus arbeitete er als Jäger und Sammler, um das Dorf mit Fleisch und Früchten zu versorgen.
Die Einwohner verdankten ihm viel. Aber dennoch mieden sie den Mann. Denn seine Frau, die vor vielen Wintern gestorben war, hatte nicht an die gleichen Götter geglaubt wie der Rest des Dorfes. Sie wurde nur toleriert, weil ihr Gatte wichtig für die Gemeinschaft war.
Dann starb sie.
Anders als den übrigen Einwohnern verwehrte man ihrem Körper die letzte Ruhestätte im großen Hügelbau, in dem die verstorbenen Dörfler die Ewigkeit verbringen durften.
Sie wurde in den Wald gebracht, damit sich die wilden Tiere an ihr gütlich taten und so ihre gottlose Seele verschlangen.
So sehr der Jäger auch protestierte, er konnte nichts daran ändern.
Das Dorf war das einzige Zuhause, das er kannte. Und auch das seiner Tochter.
Bis sie eines Tages weglief. Mitten hinein in den düsteren Wald. Zu sehr schmerzten sie die bösen Blicke der Dörfler, die verächtlichen Bezeichnungen, mit denen sie sie versahen.
Der Jäger bat die übrigen Einwohner, ihm bei der Suche zu helfen.
Aber sie lehnten ab.
"Gottloses Balg!", schimpften sie. "Soll sie doch das gleiche Schicksal ereilen wie ihre Mutter!"
Verzweifelt machte sich der Jäger allein auf die Suche.
Er fand seine Tochter nicht. Jegliche Hoffnung drohte in ihm zu sterben.
Bis er eines Tages kurz vor Sonnenuntergang ein lautes Knacken inmitten der Bäume vernahm. Er nahm Pfeil und Bogen und folgte dem Geräusch, das ihn immer tiefer in den Wald lockte.
Eigentlich sollte der Jäger Angst haben. Aber jegliches Gefühl war in ihm verschwunden, seit seine Tochter verschwunden war.
Schließlich erreichte er eine Lichtung. Auf ihr sah er ein riesiges Wesen stehen. Mit Klauen, einer Schnauze voller spitzer Zähne und glänzend schwarzem Fell.
Direkt neben dem Monster erblickte er eine zweite Gestalt. Viel kleiner. Und menschlich.
Es war die Tochter des Jägers.
Überglücklich näherte er sich ihr. Dabei übersah er beinahe das Monster.
Es stellte sich ihm in den Weg. Und schaute ihn an. Mit Augen, die dem Jäger so vertraut waren wie nichts anderes auf der Welt.
Die Augen seiner Frau.
Seine Tochter meldete sich zu Wort: "Mama will, dass wir mit ihr gehen."
Der Jäger verstand zuerst nicht, was geschah.
Bis ihm die Geschichte einfiel, die er viele Winter zuvor von seiner Frau gehört hatte. Sie handelte von einer hilflosen Menschenseele, die von einem Rudel Wolfsgeister aufgenommen wurde, als die eigene Rasse sie verstoßen hatte.
Der Jäger begriff, dass seine Frau eine neue Heimat gefunden hatte. Nicht nur für sich, sondern auch für ihn und die gemeinsame Tochter.
Alles, was der Jäger und das Mädchen machen mussten, war, sich beißen zu lassen. Und zu warten.
Keiner aus dem Dorf hat den Jäger und seine Tochter je wiedergesehen. Aber in manchen Vollmondnächten kann man noch heute das Heulen dreier Wesen hören, die ihre Ewigkeit zusammen verbringen dürfen
ENDE
Texte: Bernd Skorczyk
Bildmaterialien: Bernd Skorczyk
Cover: Bernd Skorczyk
Tag der Veröffentlichung: 25.04.2022
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Irene