Cover

Vorwort

Eigentlich sollte das Buch, das Sie nun auf Ihrem Reader lesen, „John Dyson: Coldheart RELOADED“ heißen.

Zumindest war es der Arbeitstitel, als ich mich daran machte, meinen eBook-Erstling, eben jenen Thriller mit Science-Fiction-Einschüben „John Dyson: Coldheart“ zu überarbeiten und frisch poliert neu zu veröffentlichen.

Der Wunsch, das zu tun, war in mir entstanden, als ich das ursprüngliche Buch noch einmal selbst durchlas, um festzustellen, dass ich viele kreative Entscheidungen heute so nicht mehr treffen würde.

Auch was den Schreibstil betrifft, habe ich mich weiter entwickelt (zumindest bilde ich mir das ein).

Eigentlich hatte ich nie vor, alte Geschichten zu überarbeiten. Ich vertrat - und zum Großteil vertrete ich immer noch - die Ansicht, dass man ein kreatives Werk im Nachhinein nicht verändern sollte. Es ist die Momentaufnahme eines fantasiebegabten Menschen. Ob er danach besser oder schlechter wird in seinem Schaffen, sollte meiner Meinung nach keine Rolle spielen. Außerdem wird man nie alle Leser gleichermaßen erreichen. Was sich für den einen „holprig geschrieben“ liest, empfindet ein anderer als vollkommen in Ordnung und lobt die „gut durchdachte Handlung“ und den „flüssigen, bildhaften Stil“.

Warum also entschied ich mich bei „John Dyson: Coldheart“ um?

Ganz einfach. Weil Good Old Johnny Boy eigentlich eine Serienfigur werden sollte und „Coldheart“ das erste in einer Reihe von Büchern.

Die kamen aber nie. Und der Grund waren die Entscheidungen, die ich in dem ersten Buch als Schriftsteller traf. Für die aktuelle Geschichte funktionierte das meiner Meinung nach wunderbar.

Nur wie sollte es danach weitergehen?

Da begannen die Probleme. Und zwar richtig. Egal, was ich ausprobierte, welche Richtung die Ideen zur Fortsetzung auch einschlugen, es wurde nichts Rundes daraus.

Ich schrieb andere Bücher, in anderen Genres.

Und John Dyson blieb ein Einzelkind.

Das wollte ich ändern. So sehr, dass ich mich an eine Überarbeitung machte. Jetzt sollte Johnny endlich fortsetzungstauglich gemacht werden. Mit voller, kreativer Kraft.

Bis ich merkte, dass das Buch nicht mehr viel mit „John Dyson: Coldheart“ gemein hatte. Sicher, es gab ein paar Szenen und Charaktere, die ich übernahm. Darüber hinaus jedoch entstand eine neue Geschichte. Und John Dyson wurde zu David James Savant. Ein anderer Name ist kreativ gesehen nicht besonders einfallsreich. Aber er half mir, neu an das ranzugehen, was ich schreiben wollte.

Ich will meine Leser nicht betrügen oder täuschen. Ungeachtet dessen, wie viele sich dieses Buch durchlesen, man soll wissen, dass es aus „John Dyson: Coldheart“ entstanden ist. Dass es gewisse Charaktereigenschaften mit der Geschichte gemein hat und trotzdem nicht dieselbe Handlung erzählt.

David Savant ist gekommen, um zu bleiben. Und das nicht als Einzelkind.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen,

Bernd Skorczyk

Prolog

David James Savant würde gleich sterben. Die Schläge des russischen Agenten prasselten wie Trommelfeuer auf ihn ein. Gegen den Kopf, in den Magen, dazu noch mehrere Leberhaken. Dass er randvoll mit Schmerzmitteln war, half ihm nicht. Das Zeug, gesponsert von der Agency und angeblich hocheffektiv, machte ihn zwar unempfindlicher, aber nicht gefühllos.

Vasily Gregorov hieß das Aas, das ihm gerade die Hölle heißmachte. Seines Zeichens KGB-Agent und Attentäter. Er hatte es auf einen amerikanischen Wissenschaftler abgesehen. Und Savant war ihm in die Quere gekommen, hatte dem Kerl die schallgedämpfte Pistole aus der Hand geschlagen und ihn in ein Büro gestoßen, das kleiner war als sein Kleiderschrank zuhause.

In seiner Arroganz hatte der CIA-Agent geglaubt, dank überdurchschnittlicher Körperkraft einen Vorteil zu erhalten. Was konnte der dünne Russe mit seinen schmalen Ärmchen schon gegen ihn ausrichten? Einiges, wie sich zeigte.

Gregorov war wie eine Giftschlange. Gelenkig, geschickt und schnell. Er wusste genau, welche Körperstellen er treffen musste, um den Gegner zu schwächen. Der menschliche Körper schaltete nun mal ab, wenn er von zu vielen Schlägen in zu kurzer Zeit an mehreren Stellen getroffen wurde, unabhängig davon, wie kräftig sein Besitzer war. Das Nervensystem überlastete das Gehirn mit Reizinformationen, bis man k.o. ging.

David ließ sich zurückfallen. Dabei rammte er gegen den einzigen Tisch im Büro. Es gelang ihm, sich über die Tischplatte seitlich rüberzurollen, sodass er auf den Füßen landete und nun ein vierbeiniges Hindernis aus Pressspan zwischen sich und Gregorov hatte. Die Kampfpause währte nur kurz, reichte aber aus, damit sein Gehirn sich erholen und die Reizüberflutung der vergangenen Sekunden verarbeiten konnte.

Der Russe war klein, drahtig und agil, der Tisch würde kein unüberwindliches Hindernis für ihn darstellen. Savant dagegen war groß, kräftig und massig. Zuvor hatte ihn der Gegner durch einen Überraschungsangriff nahe an den Abgrund der Niederlage gebracht. Jetzt kam das Rückspiel.

Der CIA-Agent ließ eine rechte Gerade in Gregorovs Gesicht krachen. Der versuchte zu blocken. Die Wucht des Schlages jedoch durchdrang problemlos die Barriere aus hochgehaltenen Armen, das Nasenbein brach. Das war nicht der einzige Bonus, den David gewann. Durch den Treffer brachte er die Tränendrüsen seines Gegners dazu, wahre Fluten in den Augen zu entfesseln. Für einen kurzen Moment konnte Gregorov nichts mehr sehen.

Der CIA-Agent hob ein Bein und trat den Pressspan-Tisch von sich weg. Die Tischkante auf der anderen Seite rammte gegen die Oberschenkel des Russen. Der Mann taumelte.

Savant machte einen Ausfallschritt nach links und stürmte vor. Frontal in den Gegner hinein.

Der führte keinerlei Stich- oder Schlagwaffen mit sich, das war nicht sein Stil. Also konnte der CIA-Agent das eigene Körpergewicht in ihn rammen und die Physik für sich arbeiten lassen.

Gregorov und er gingen zu Boden, David begrub den Russen geradezu unter sich, packte mit beiden Händen dessen Kehle und drückte zu. Dabei legte er seine Daumen auf Gregorovs Kehlkopf. Der Gegner wurde panisch, versuchte, ihm ins Gesicht zu schlagen. Zu spät.

Ein Knacken erklang. Die Augen des Russen wurden glasig, ein starkes Zucken durchfuhr seinen Körper, um dann plötzlich zu verebben.

Savant hatte gewonnen. Auch wenn sich in seinem Magen ein Übelkeitsgefühl ausbreitete, das seinesgleichen suchte. Eine Runde Kotzen half ihm vielleicht.

Er blickte zum toten Gregorov, sah in dessen starre Augen. Auf einmal bewegten sie sich, fixierten ihn. Der Russe hob seine Arme und packte den CIA-Agenten am Hals, drückte mit unmenschlicher Kraft zu ...

 

Bis David James Savant keuchend aus seinem Traum aufwachte. In der Dunkelheit, am ganzen Körper zitternd, wie der Gegner, den er vor dreißig Jahren in Kiew erwürgt hatte. Er brauchte einige Minuten, bis er wusste, wo er sich jetzt befand.

Erst, als er die Nachttischlampe angemacht, die dickglasige Brille auf der Nase sitzen hatte und sich umschaute, verstand er, dass sich in den letzten drei Dekaden das eigene Leben um 180 Grad gewendet hatte. Zum Schlechteren. Der Blick zur Tablettenbox mit den Medikamenten auf seinem Nachttisch verriet ihm das ganze Elend. Genauso wie die Datumsanzeige des daneben stehenden Digitalradioweckers.

In der Gegenwart war er sechsundfünfzig Jahre alt, stark kurzsichtig und litt unter Schlafstörungen. Von den Panikschüben ganz zu schweigen. Dazu kamen chronische Erkrankungen der Gelenke, manche innere Organe arbeiteten nicht so, wie sie sollten. Oftmals schmerzte allein schon das Wachsein.

David Savant war kein Top-Agent der CIA mehr, sondern nur noch ein abgehalftertes, ausgemustertes Wrack.

Kapitel 1

5:00 Uhr morgens Ortszeit, Alaska Standard Time (AST)

Ein dunkelblauer Sprinter der Marke Mercedes fuhr mit fünfzig Meilen die Stunde über eine schmale, asphaltierte Straße. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der sternenklare Nachthimmel mitsamt Vollmond tauchte die Umgebung in ein bleiches Licht. Sheila war es ganz recht. Die Fahrt langweilte sie. Und obwohl die Fenster des Transporters von außen verdunkelt und angeblich auch kugelsicher waren, konnte man von drinnen alles gut erkennen.

Das sechzehnjährige Mädchen indianischer Abstammung nutzte diesen Umstand und betrachtete die schneebedeckten Bäume und Büsche, die zu beiden Seiten die Straße säumten. Alaska gefiel ihr. Sehr sogar. Auch wenn sie das Land wohl nie außerhalb eines Wagens oder ohne sie bewachende Soldaten kennenlernen durfte. So nah wie jetzt, auf einer von zwei Sitzbänken im hinteren Teil des Transporters sitzend, kam sie der faszinierenden Umgebung nie wieder.

„Das ist furzlangweilig“, meinte dagegen Sophie, die direkt neben ihr saß. Mit ihren acht Jahren war das blonde Mädchen noch nicht so reif, um Gefallen an etwas anderem außer Cartoon-Serien und Comicheften zu finden.

„Dann schau nicht raus!“, belehrte sie Sheila und strich sich durch die schwarzen, kurzgeschnittenen Haare. „Am liebsten würd ich dir mal so richtig das Gesicht mit Schnee waschen, du kleine Nervbratze.“

„Selber Bratze!“, protestierte Sophie.

„Ihr verhaltet euch unwürdig!“, beschwerte sich auch noch Henry, der trotz seiner achtzehn Jahre bereits wie ein alter Mann wirkte. So verkrampft und ernst, wie er gegenüber den Mädchen auf der Sitzbank hockte, als hätte er das Wort „Spaß“ höchstens mal im Wörterbuch gelesen. Aber ein Intelligenzquotient von 160 machte das wohl mit einem. Erst recht, wenn man in einem Labor genetisch verändert worden war.

Sheila und Sophie ging es da nicht anders. Statt Mama und Papa kannten sie mittlerweile nur noch Wissenschaftler, Psychologen, Erzieher und Unmengen von Gegenständen, die man ihnen schenkte, solange sie artig mitarbeiteten. Spielzeug, egal wie viel? Kein Problem! Das neue Album vom Superstar? Nichts leichter als das!

Mal alleine rausgehen? Definitiv Nein!

Dazu noch die Trainingseinheiten.

Während Sophie und Henry ihr aktuelles Leben akzeptieren konnten, wurde Sheila immer unruhiger. Und mittlerweile auch wütend. Sie fühlte sich ungerecht behandelt. Seit sie als Kind aus dem Heim geholt und in das erste von vielen Labors gekarrt worden war, hatte sie gehofft, eines Tages wieder ohne Eskorte draußen herumlaufen zu können. Nun verstand sie, dass das wahrscheinlich nicht passieren würde. Weil sie, Sophie und Henry zu wertvoll waren. Zu einzigartig. Zumindest hatte ihnen das Dr. Angela Ashcroft gesagt. Die Frau, der Sheila und die anderen beiden Versuchspersonen „Gaben verdanken, von denen die ganze Welt eines Tages profitieren kann!“. Ein schwacher Trost, wenn man sich wie in einem goldenen Käfig vorkam.

Da half es auch nicht, dass die Wissenschaftlerin Sheila, Henry und Sophie als „meine wertvollen Schöpfungsengel“ bezeichnete. Das klang zu schmalzig für jemanden wie Angela Ashcroft. Trotzdem fiel der Begriff immer wieder. Als ob er dadurch glaubwürdiger wurde.

Im hinteren Bereich des Sprinters, wo die drei saßen, erhellten mehrere Leuchtelemente an der Decke und im Boden die Umgebung. Es war ein kaltes Licht und ließ jeden totenblass wirken. Sheila war noch nie in einem Gefängnis gewesen. Aber sie stellte sich vor, dass es dort ebensolche Lampen gab wie hier. Damit man sich ja nicht allzu wohl fühlte.

Ihr Blick wanderte zur vergitterten Riffelglasscheibe direkt zu ihrer Rechten. Durch die konnte sie nur undeutlich in die Fahrerkabine schauen, wo ihre Aufpasser saßen. Und das auch nur, falls Tageslicht zur Verfügung stand.

Also jetzt nicht.

Trotzdem wusste Sheila, wer sich dort aufhielt. Wenn die drei Schöpfungsengel in ein anderes Labor gebracht wurden, waren stets die gleichen Soldaten für sie verantwortlich. Hinterm Steuer hatte Lieutenant Will Hatfield Platz genommen, ein gutaussehender Afroamerikaner, in den das sechzehnjährige Mädchen ein bisschen verknallt war. Neben ihm auf den Beifahrersitzen hockten zwei Sergeants. Der vietnamesischstämmige Yun Lee und Philipp Brinkmayer, dessen Familie laut eigenen Worten vor fünfzig Jahren aus Deutschland in die Staaten eingewandert war. Jeder der Soldaten trug eine halbautomatische Pistole in einem Gürtelholster mit sich. Für den Fall, dass jemand drei Waisenkinder entführen wollte, an denen herumexperimentiert wurde. Was das anging, hatte das Mädchen keine Angst. Mittlerweile fürchtete es sich eher davor, dass es, Sophie oder Henry bei einem der Versuche starben. Dr. Ashcroft betonte zwar immer, dass ihnen nichts passieren konnte. Aber Sheila traute ihr nicht mehr. Schon seit längerer Zeit hatte sie das Gefühl, dass die grauhaarige Frau mit den kalten Augen an etwas arbeitete, das den Schöpfungsengeln schaden würde. Was genau das war, wusste sie nicht. Sie hatte nur so eine Ahnung. Durch kleine Versprecher, Andeutungen, die Ashcroft machte, wenn sie in ihr Diktiergerät sprach und sich unbeobachtet fühlte.

Was immer geschehen würde, Sheila bezweifelte, dass sie sich oder die anderen beiden davor schützen konnte. Der Gedanke daran ließ sie gleich noch wütender werden.

Kapitel 2

5:09 Uhr morgens Ortszeit, Alaska Standard Time (AST)

Die Nacht war für David James Savant endgültig vorbei. Müde wie nach einem 48-Stundeneinsatz stand er mit steifen Gelenken auf und verließ das Schlafzimmer auf dem schnellsten Wege. Hier würde er erstmal keine Erholung mehr finden.

Der Albtraum von der Tötung Gregorovs hatte die ersten Stunden Schlaf verseucht. Danach war es nicht besser geworden. Beim nächsten Versuch, eine „erholsame“ Nachtruhe fortzuführen, bekam der Ex-Agent den Afghanistan-Einsatz 1987 in Traumbildern präsentiert und durfte noch einmal miterleben, wie sein damaliger einheimischer Führer, Sami, während einer Erkundungsmission im Hindukusch-Gebirge erschossen wurde. Den Abzug gedrückt hatte der eigene Bruder, Farid. Aus einem Hinterhalt heraus. Feige und erbärmlich. Daraufhin war er von Savant entwaffnet worden und hatte nach einem kurzen Kampf den Lohn für seine Tat erhalten: eine durchgeschnittene Kehle.

Verräter gab es genug auf der Welt. Bei den meisten hatte David nicht gezögert. Jetzt verfolgten ihn ihre Gesichter. Manchmal im Schlaf, oftmals sogar, wenn er wach war. Genauso wie die Schatten jener Menschen, die ihm vertraut und dafür mit dem Leben bezahlt hatten.

Sami war einer von ihnen gewesen. 1987 hatte er gerade seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert und war voller Hass auf die Russen, die sein Land besetzt hatten. Deswegen meldete er sich sofort freiwillig, als Savant jemandem suchte, der sich in den Bergen auskannte und wusste, wo der Feind seine Stellungen hatten.

Leider ahnte Sami nicht, dass sein Bruder Farid als geheimer Informant für die Russen arbeitete und die Aufgabe hatte, jeden ausländischen Spion zu melden. Blutsbande bedeuteten dem Kerl nichts. Er wollte nur noch raus aus dem Scheißhaufen, der einmal seine Heimat gewesen war.

Was immer man ihm an Geld versprochen hatte, es reichte aus, um den zehn Jahre jüngeren Sami abzuknallen und zu versuchen, den CIA-Agenten im Alleingang abzuservieren. Es endete mit Farids Leiche, die David direkt neben die von seinem Bruder legte. Sollte die Familie ruhig denken, die beiden seien vom „bösen Russen“ getötet worden. Das war allemal besser, als mit der hässlichen Wahrheit konfrontiert zu werden.

Jetzt, Jahrzehnte später, waren Sami und Farid wieder lebendig, zumindest in Savants Träumen. Nur um noch einmal zu sterben. Genauso wie damals. Genau wie Gregorov und der Rest.

Kurz bevor er in den Vorruhestand abgeschoben worden war, hatte der Ex-Agent mit einem Psychologen über seine Einsätze reden müssen. Es war der ultimative Test, um herauszufinden, ob er tatsächlich am Ende war. Oder ob er nur in einem Formtief steckte. Letzteres hatte sich David mehr als alles andere auf der Welt gewünscht. Sein Job bei der CIA war das Einzige, was er jemals wirklich hatte machen wollen. Trotz all der Gewalt, dem Misstrauen, das unverzichtbar war, wenn man am Atmen bleiben wollte.

Leider kam bei der psychologischen Bewertung Folgendes heraus: „Posttraumatische Belastungsstörung und schweres Überlebenden-Syndrom.“ Klappe zu, Affe tot. David Savant hatte ausgedient. Seine Psyche war reif für die Müllabfuhr. Genauso wie der Körper. Zu dem Zeitpunkt brannten gerade mal zweiundvierzig Kerzen auf seiner Geburtstagstorte. Aber die zunehmende Körpermasse und schlechter werdende Augen ließen sich ebenso wenig verbergen wie die kaputten Gelenke. Savant brauchte nur eine Kniebeuge machen, das Knacken konnte man bis zum Pentagon hören.

Eine Horde Agency-Ärzte checkte ihn durch. Die Diagnosen schrien geradezu nach Berentung: „Abnormale Vermehrung des Fett- und Muskelgewebes, resultierend aus jahrelangem Medikamentenmissbrauch zur Leistungssteigerung und Schmerzreduktion bei Einsätzen.“

Teufel! Natürlich hatte David Pillen eingeschmissen. Wenn er ums eigene Leben kämpfte, brauchte er so viele Vorteile, wie er kriegen konnte. Ob chemisch oder auf anderem Wege. Die leistungssteigernden Substanzen, frisch aus dem Labor der hauseigenen Wissenschaftler, hatten zum Teil heftige Nebenwirkungen. Was sie auf lange Sicht mit dem eigenen Körper anstellten, wäre für jeden normalen Menschen ausreichend Grund gewesen, sie abzusetzen.

Savant hingegen hatte nie einen Gedanken daran verschwendet. Die nächste Mission war immer wichtiger. Und die meisten Kollegen aus seiner Abteilung, der sogenannten „Alpha-Section“, lebten sowieso nicht lange genug, um an Altersschwäche zu sterben.

David dagegen war wie eine Küchenschabe gewesen. Nicht totzukriegen. Nur um dann doch noch ausgemustert zu werden. Als Krönung des Ganzen verschlechterten sich darüber hinaus seine Augen. Er wurde stark kurzsichtig. Und das innerhalb weniger Monate. Vielleicht lag es ebenso an den Medikamenten. Oder er hatte einfach nur Pech. Niemand wollte ihm darauf eine Antwort geben. Alles, was er erfuhr, war, dass seine Augäpfel sich veränderten und größer wurden. Vermutlich ploppten sie ihm eines Tages wie Korken aus einer zu oft geschüttelten Champagnerflasche heraus. Bis dahin war Savant auf eine Sehhilfe angewiesen, sprich: einer Brille mit Gläsern, dick wie Panzerglas.

Das Schicksal war wirklich in Geberlaune. Denn es folgten Gicht in den Zehen, Bluthochdruck und Arthritis in Knie- und Armgelenken. Das rundete perfekt das Bild vom verbrauchten Agenten ab.

Die Agency machte kurzen Prozess. Immerhin gewährte sie David eine großzügige Rente, als „Dank für all die Jahre treuen Dienstes für Ihr Land“. Ihren Feierabendpatriotismus konnten sich die Penner an den Hut stecken. Savant hatte nie viel auf die USA gegeben, dort stank Scheiße genau so wie im Rest der Welt. Zwar wollte er auch nirgend woanders leben, aber zur CIA war er mehr aus Zufall gekommen, nachdem er sich bei der Army als lumpiger Private durch „Insubordination“ und „Nichtanerkennung der Befehlskette“ unbeliebt gemacht hatte. Ein Ausbilder der Agency wurde auf ihn aufmerksam. Savant machte einen mehrtägigen Eignungstest und war plötzlich Außendienst-Mitarbeiter der CIA. Er, der die High School nur mit Mühe geschafft hatte, fand sich in einem gut bezahlten Job wieder. Er durfte in die unterschiedlichsten Länder reisen, führte ein aufregendes Leben (laut Seelenklempner „zu aufregend“) und dachte, es mache ihm nichts aus, das zu tun, was von ihm verlangt wurde.

Hinterher war man immer schlauer.

Nach seiner Pensionierung wollte Savant nur noch weg. Alaska kam dabei raus. Er kaufte sich ein kleines, mit vier Zimmern ausgestattetes Blockhaus. Es befand sich innerhalb eines Waldes nahe der Kleinstadt Wolfstown. Dieses Kaff besaß lediglich dreihundert Einwohner. Sie alle waren anständige Menschen. Zumindest soweit er das beurteilen konnte.

Aber da David die meiste Zeit über lieber für sich blieb und Kontakte mit der Außenwelt weitestgehend mied, war er sich nicht absolut sicher.

In das Dorf ging er nur, wenn er Lebensmittel, Medikamente oder andere Dinge brauchte.

Sofern es sein maroder Körper zuließ, machte er Wanderungen durch die umliegenden Wälder. Und er las Bücher über alle möglichen Themen. Was ihn immer noch selbst überraschte, denn in seiner Jugend war Savant nie wild auf Literatur gewesen. Auch der Bereich „Allgemeinbildung“ ging ihm am Allerwertesten vorbei. Bei der Army und nachher der Agency nahm er nur Informationen auf, die den aktuellen Auftrag betrafen. Das allein konnte schon mal Grundrisse von Gebäuden, Namen und Bedeutung politischer Fraktionen bestimmter Länder oder Vokabeln anderer Sprachen beinhalten. Für das Wissen der großen, weiten Welt blieb da kein Platz mehr in seinem Kopf.

Er hatte kaum fünf Monate als Rentner vor sich hinvegetiert, da verspürte er zum ersten Mal Lust, in die kleine Bibliothek von Wolfstown zu gehen, um sich umzuschauen.

Von sich selbst überrascht war Savant mit seinem gebraucht gekauften Geländewagen in die Kleinstadt gefahren, um mit drei Büchern im Gepäck zum Blockhaus zurückzukehren. Ein Bildband über die Tierwelt Alaskas, Martin Luther Kings Biographie und ein Ratgeber für Hobbyköche waren der Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen dem Ex-Agenten und dem geschriebenen Wort. In der Folgezeit war David öfters zu Gast in der Bibliothek. Sehr zur Freude von Wilbur Walsh, dem Bibliothekar. Der redselige und äußerst schreckhafte Exilkanadier freute sich immer über einen Plausch. Auch wenn Savant durch dessen schrille Stimme innerhalb weniger Augenblicke Kopfschmerzen bekam und floh. Der Mann schien es ihm nicht übel zu nehmen, sondern beriet ihn während der folgenden Jahre stets enthusiastisch bei der Suche nach neuen Büchern.

So schön, so gut.

Jetzt suchte der Ex-Agent erstmal das Badezimmer auf. Wenigstens seine Prostata tat noch einigermaßen ihren Dienst. Man wurde ja genügsam.

Kapitel 3

5:13 Uhr morgens AST

Lieutenant Will Hatfield gähnte ausgiebig und streckte sich, soweit das mit beiden Händen am Steuer möglich war. Als Resultat fuhr der Sprinter eine leichte Schlangenlinie.

„Holla!“, entfuhr es Sergeant Lee. „Auch wenn du offiziell mein Vorgesetzter bist, muss ich dir sagen: Du fährst beschissen, ... Sir!“

Das ließ Hatfield schmunzeln. „Dafür landest du vorm Militärgericht!“

„Nicht, solange es unter uns bleibt.“ Lee stupste mit dem Ellbogen den gleichrangigen Brinkmayer rechts neben sich an. „Oder, Brinky?“

Der nickte nur stumm. Die Fahrerkabine wurde von der Beleuchtung des Armaturenbretts mit schwummrigem, gelblichem Licht durchflutet. Das ließ den deutschstämmigen Sergeant wie einen Leberkranken wirken. Lees nächste Frage passte deswegen auch wie die Faust aufs Auge: „Hey, bist du krank, oder was?“

Brinkmayer verneinte. Dann wandte er sich dem Asiaten zu. „Es tut mir leid, Yuni!“ Seine rechte Hand zuckte hervor und stach etwas in den Oberschenkel seines Sitznachbarn.

Keine Sekunde später verlor Yun Lee das Bewusstsein. Sein Kopf sackte nach vorne, der Körper wurde nur durch den Anschnallgurt aufrecht gehalten.

Irritiert schaute Will Hatfield herüber und erblickte eine Spritze, die im Bein des Asiaten steckte. „Was tust du da, Brinky?“

„Was ich muss!“ Brinkmayer zog seine halbautomatische Pistole und zielte auf den Lieutenant.

Der bremste den Wagen ab, um zu halten.

„Weiterfahren, Will!“ Der braunhaarige Sergeant spannte den Hahn. „Ich will dich nicht erschießen. Aber ich werde es tun, wenn du Zicken machst.“

Hatfield gab wieder mehr Gas. Er wartete einen Augenblick, bevor er fragte: „Ist Yuni tot?“

„Nein. Er schläft nur für ein paar Stunden.“ Brinkmayer entwich ein Seufzen. „Ich hätte dich auch lieber betäubt. Aber du hast ja wie üblich drauf bestanden, selbst zu fahren.“

„Es geht um unsere Fracht“, sprach der Lieutenant das Offensichtliche aus. „Die Kinder. Du willst sie verkaufen. Wie viel sind sie denn wert, dass du uns verrätst?“

Der Sergeant schnaufte angewidert. „Sie sind keine Kinder. Sondern Frankensteins Monster in harmloser Verpackung.“ Er zögerte. Dann: „Außerdem, glaubst du, ich mach das freiwillig? Für Geld? Er hat meine Frau, verstehst du? Er hat Mary! Wenn ich ihm unsere Fracht aushändige, lässt er sie frei.“

„Wer ist „er“?“

„Ein Typ, mit dem man sich nicht anlegt“, gab Brinkmayer die Klischeeantwort schlechthin.

Hatfield produzierte ein ungläubiges Lachen. „Und wenn du diesem ach so bedrohlichen Typen die Kinder gibst, glaubst du wirklich, er lässt dich in Ruhe? Du weißt, welche Bedeutung Sheila, Sophie und Henry haben. Wer immer an dich herangetreten ist, um sie zu kriegen, wird weder Mary noch dich leben lassen. Ihr seid lästige Zeugen. Genauso wie Yuni und ich.“

„Halt´s Maul!“, schrie ihn Brinkmayer mit zitternder Stimme an und schwenkte die Halbautomatik in seiner rechten Hand gefährlich unprofessionell herum. „Du hättest sehen sollen, was der Kerl mit meiner Frau angestellt hat. Er ...!“ Er verstummte und holte mit der Linken einen smartphone-ähnlichen Gegenstand aus der Brusttasche seiner Uniform. Den legte er auf die Ablage vor sich.

Prompt erwachte das Ding zum Leben und leuchtete auf. Soweit Hatfield es erkennen konnte, war es eine Art von Navigationsgerät.

„Wir folgen jetzt einer neuen Route, Lieutenant!“, sagte Brinkmayer entschlossen. „Also spar dir die Überredungsversuche und gib Gas!“

„Und dann?“

„Fahr einfach!“

Hatfield tat, was der Sergeant verlangte. Vorerst. Wer immer Brinkmayer dazu zwang, sich gegen sein Land und die eigenen Freunde zu wenden, er würde die Schöpfungsengel hinten im Wagen nicht bekommen. Zumindest nicht lebend.

Kapitel 4

5:20 Uhr AST

Savant setzte sich auf sein Bett, griff nach der Tablettenbox und fischte sich seine „Morgen-Leckerlis“ heraus, wie er die verdammten Pillen gerne nannte.

Dann ging er in die Küche und holte eine Packung Vollmilch aus dem Kühlschrank. Auf dem Küchentisch stand schon ein Glas für den Inhalt bereit. Ein paar Augenblicke später reisten die Tabletten endlich seine Speiseröhre herunter in den Bauch, umhüllt von 0,3 Litern weißer Flüssigkeit.

Obwohl ihm nach den Albträumen eher zum Kotzen als Essen war, machte er sich anschließend ein Sandwich mit Schinken. Aus Vernunftsgründen. Die meisten seiner Medikamente sollten nicht auf leerem Magen genommen werden. Und ein Magengeschwür oder gar eine -blutung waren das letzte, was sich Savant antun wollte. Da zog er sich lieber die dunkelbraune Winterjacke an, nahm sein übersichtliches Frühstück und stellte sich vor die Haustür, um den morgendlichen Sternenhimmel zu genießen. Die Sonne ließ sich im Januar sowieso erst ab zehn Uhr blicken. Blieb also noch genug Zeit für den Ex-Agenten, um die Traumgeister der Nacht zu verdrängen und zu hoffen, dass der Tag angenehmer verlief.

Kapitel 5

5:32 Uhr morgens AST

Sheila merkte, dass etwas nicht stimmte. Ihr Bauch verkrampfte sich, sie wurde nervös.

Sophie und Henry waren eingeschlafen.

Das jüngere Mädchen benutzte Sheilas Oberschenkel als Kopfkissen. Den Rest ihres Körpers hatte sie auf der Sitzbank ausgestreckt.

Der achtzehnjährige Junge ihnen gegenüber dagegen blieb in aufrechter Position sitzen. Nur die geschlossenen Augen und unüberhörbare Schnarchgeräusche verrieten, dass er schlief. Ab und zu sprach er im Schlaf, hielt ganze Monologe in einer Fantasiesprache. Jetzt nicht. Er und Sophie schienen eine gute Nacht zu haben.

Sheila beneidete die beiden darum. Müde war sie nicht. Das Herausschauen lenkte sie nicht genug ab. Besonders nicht seit ein paar Minuten. Die Fahrerkabine war schallisoliert. Genauso wie der Rest des Sprinters. Weder konnten die drei Soldaten hören, was bei den Schöpfungsengeln gesprochen wurde, noch umgekehrt. Dank der Riffelglasscheibe und der Dunkelheit gab es für Sheila auch nicht viel im vorderen Bereich des Wagens zu sehen.

Trotzdem wusste sie, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Schon oft waren sie, Sophie und Henry bei Nacht transportiert worden. Aber noch nie hatte sich das Mädchen so nervös gefühlt wie jetzt.

Dr. Ashcroft hatte ihr mal erklärt, dass sie über eine Art sechsten Sinn verfüge, der eigentlich keiner war.

„Dein Gehirn interpretiert nur die Informationen besser, die dir die normalen fünf Sinne vermitteln“, hatte die Frau gesagt. „Dumme Laien beschreiben das eben mit „sechster Sinn“. Doch du bist nicht dumm, mein Schöpfungsengel. Nicht wahr?“

Nein, Sheila war schlau. Nicht so sehr wie Henry. Aber es reichte, um zurechtzukommen. Und ihr Gehirn vermittelte ihr, dass es in der Fahrerkabine ein Problem gab.

Leider konnte sie dagegen nichts tun. Die hinteren Türen des Sprinters ließen sich nicht von innen öffnen.

Vielleicht sollte sie klopfen?

Sie tat es. Zuerst ganz leicht. Dann immer stärker. Keiner der Soldaten reagierte.

„Scheiße!“, hauchte sie. Und machte sich daran, Sophie und Henry aufzuwecken.

Kapitel 6

5:34 Uhr morgens AST

Das Klopfen an der Scheibe hörte auf.

„Das war bestimmt Sheila“, meinte Will Hatfield nüchtern. „Du weißt, dass sie spüren kann, was du hier abziehst.“

„Mir egal!“ Brinkmayer blickte zum Navigationsgerät auf der Ablage. „In drei Meilen musst du bei einer T-Kreuzung nach links fahren.“

„Und wohin?“

Darauf erwiderte der Mann mit der Waffe in der Hand nichts.

„Du weißt es nicht“, redete Hatfield weiter. „Genauso wenig wie du dir sicher sein kannst, ob Mary noch am Leben ist. Leg die Pistole weg, Brinky. Dann finden wir einen ...“

„Blödsinn, Will!“, unterbrach ihn der Sergeant barsch. „Glaubst du, ich hätte nicht versucht, das hier zu vermeiden? Vergiss es!“

Das tat der Lieutenant natürlich nicht. Er blickte kurz zu Yun Lee, dem nach wie vor die Spritze im Oberschenkel steckte. Dabei fiel ihm etwas Trauriges auf. Aber zugleich eine ungeahnte Chance, die Situation für sich zum Besseren zu verändern.

„War das mit dem Betäubungsmittel eigentlich deine Idee, Brinky?“, fragte er betont ruhig.

„Nein!“ Brinkmayer atmete tief durch. „Der Kerl hat sie mir gegeben. Ich hätte auch eine Dosis für dich dabei gehabt, wenn ...“

„Ich weiß: Wenn ich nicht darauf bestanden hätte, selbst zu fahren“, fiel ihm der Lieutenant bewusst ins Wort. Vielleicht schaffte er es, seinen ehemaligen Freund so abzulenken, dass er ihn entwaffnen konnte. „Dieser Kerl gibt dir also ein Betäubungsmittel. Und das Navi, nehm ich an. Richtig?“

Brinkmayer nickte.

„Woher weißt du, dass das Zeug in der Spritze Yuni nur ausknockt?“ Hatfield bewegte seine Arme, ohne das Steuer loszulassen. Er lockerte die Muskeln und machte sich bereit.

„Weil der Typ es mir gesagt hat!“ Auf der Stirn des Sergeants bildete sich ein dicker Schweißfilm.

„Er hat dich angelogen“, erklärte Hatfield mit hartem Unterton. „Yuni hat nämlich aufgehört zu atmen.“

Der Moment war gekommen. Brinkmayer starrte zuerst seinen Vorgesetzten, dann Sergeant Lees schlaffen Körper an, erblickte dessen bläulich verfärbtes Gesicht. Und ließ seine Waffe ein paar Zentimeter sinken.

Hatfield riss das Steuer nach rechts und gleich wieder links. Ein starker Ruck durchfuhr den gesamten Sprinter. Der Lieutenant trat auf die Bremse. Das Fahrzeug verlangsamte sich, schlitterte über die Straße und blieb stehen. Yun Lees toter Körper lehnte sich in Richtung des Mannes, der ihn unwissentlich umgebracht hatte. Der stöhnte erschrocken auf.

Hatfield schlug ihm die Waffe aus der Hand. Ein Schuss löste sich. Die Kugel drang ihm ins rechte Bein, was er zuerst gar nicht bemerkte. Er vollführte einen Handballenstoß gegen die Nase des Sergeants, der schmerzerfüllt aufschrie.

Die dadurch gewonnene Zeit nutzte der Lieutenant, indem er nach seiner Halbautomatik griff. Er spürte den Knopf der Sicherheitslasche am Holster, öffnete ihn und zog die Waffe heraus.

Derweil fuchtelte Brinkmayer mit beiden Armen unkontrolliert und blind in der Gegend herum. Seine Augen wurden von einem wahren Ozean an Tränen überflutet. Ein paar Mal traf er Hatfield am Oberkörper, konnte aber das eigene Schicksal nicht mehr abwenden. Sein vorgesetzter Offizier schoss ihm direkt in den Kopf.

Kapitel 7

5:42 Uhr morgens AST

Sophie jammerte laut. Als sich der Sprinter in einen Autoscooter mit Vollaufprall-Garantie verwandelte, stieß sie sich den Kopf. Sie war ja auch die Einzige, die sich nicht hatte angeschnallt wollen, weil sie es sich auf Sheilas Oberschenkel bequem gemacht hatte.

Die streichelte ihr nun übers Gesicht. „Beruhige dich. Wir leben noch.“

„Fragt sich nur, für wie lange!“, kommentierte Henry so nüchtern, dass Sheila es bereute, ihn vor der großen Schleuderarie geweckt zu haben. Aber jetzt wäre er sowieso aus seinem schnarchigen Schlaf erwacht.

Leider konnte sie auch nichts Ermutigendes sagen. Denn sie hatte selbst gespürt, dass etwas nicht stimmte.

Mit einem Klacken öffnete sich die Hintertür. Alle drei Schöpfungsengel zuckten erschrocken zusammen. Bis sie Lieutenant Will Hatfield erblickten. Er wurde von den Lampen an Decke und im Boden nur spärlich beleuchtet.

Dennoch konnte Sheila sehen, dass er am rechten Oberschenkel blutete. Die grüne Uniformhose war rötlich verfärbt und an einer Stelle durchlöchert. Eine Schusswunde. Der Soldat hatte sich einen Gürtel oberhalb des Loches um das Bein gebunden.

„Was ist passiert?“, fragte Sheila.

„Friendly Fire!“, hauchte er nur.

„Wie geht es Sergeant Lee und Sergeant Brinkmayer?“, wollte Henry mit sachlichem Unterton wissen.

„Sie sind tot!“, erklärte Hatfield gerade heraus.

„Was?“, schluchzte Sophie und begann zu zittern.

Sheila legte einen Arm um sie. „Warum?“

„Jemand will euch entführen!“

„Wer?“ Henry musterte den Soldaten mit kalter Neugier. „Eine ausländische Macht?“

Hatfield schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich euch nicht in fremde Hände fallen lassen darf.“

„Sie wollen uns liquidieren?“, fragte der Junge beneidenswert gefühllos nach.

Sheila dagegen verspürte den Drang, dem Lieutenant an die Kehle zu gehen, wenn er es auch nur wagte, die Waffe gegen sie oder die anderen beiden zu richten. Und das nicht nur, weil Sophie und die Arschkrampe Henry die einzige Familie waren, die sie kannte. In ihr existierte ja zusätzlich etwas Angezüchtetes, Besonderes. Sobald es provoziert wurde, ließ es Sheila handeln. Auf eine Art und Weise, die sie immer wieder aufs Neue erschreckte.

„Nein, ich werde euch nicht töten“, erklärte Hatfield derweil. „Zumindest noch nicht.“

„Ach wie tröstlich!“, konnte es sich Sheila nicht verkneifen. Sie ballte die Fäuste.

„Ich weiß, dass Ihr Angst habt!“, meinte der Soldat. „Die hab ich auch.“ Er deutete auf sein Bein, was vollkommen überflüssig war. „Ich bin verletzt und hab keine Ahnung, wie lange ich durchhalte. Aus Sicherheitsgründen hat der Sprinter weder GPS noch irgendein Funkgerät. Handys dürfen wir nicht mit uns führen. Ich kann also keine Verstärkung rufen. Oder andere Hilfe!“

Sheila spürte, wie der Drang, den Lieutenant anzugreifen, etwas abnahm. „Und was haben Sie vor?“

„Ich fahre mit euch weiter. Bis zum eigentlichen Ziel kommen wir, ... schaffe ich es nicht. Das ist noch an die zweihundert Meilen entfernt.“ Hatfield produzierte ein schiefes Lächeln. Es sollte wohl witzig oder beruhigend wirken. War es leider nicht. „Aber ich hab eine Straßenkarte vorne. Aus nicht verfolgbarem, altmodischen Papier. Im Umkreis von achtzig Meilen gibt es drei kleine Ortschaften. Im Norden Wolfstown, im Westen Salmonville und im Süden Byer´s Rest. Dort kann ich telefonieren und zu einem Arzt gehen. Ich suche nach dem Zufallsprinzip eines der Dörfer aus. Da fahren wir hin. Allerdings kennt der Gegner wahrscheinlich unsere Route zum ursprünglichen Ziel. Deswegen werde ich alle Straßen meiden, die in dieses Muster fallen. Haltet durch! Wir schaffen das!“

 

5:44 Uhr morgens AST

Mit diesen Worten schloss Will Hatfield die Hintertür des Sprinters und überließ die Kinder sich selbst. Er hatte ihnen die Wahrheit gesagt. So viel verdienten sie in der aktuellen Situation.

Er zerrte die Leichen von Brinkmayer und Lee aus der Fahrerkabine. Das Navigationsgerät schmiss er weg. Es reichte, dass der unbekannte Gegner ihre jetzigen Koordinaten kannte, denn Hatfield ging jede Wette ein, dass das Gerät diese übermittelte.

Er setzte sich hinters Steuer. Ein Stechen im rechten Oberschenkel ließ ihn stöhnen. Die verdammte Kugel hatte vielleicht keine Schlagader getroffen, sonst wäre er längst ausgeblutet. Trotzdem suppte die Wunde stark genug. Achtzig Meilen bis zu einem der Dörfer. Die galt es zu schaffen. Sobald er sich entschieden hatte, wohin die Reise gehen sollte. Ohne groß zu überlegen, wählte er Wolfstown. Er mochte Wölfe. Ein anderes Auswahlkriterium fiel ihm gerade sowieso nicht ein.

Er öffnete den Druckverband am Bein für ein paar Sekunden, damit die Durchblutung nicht ganz versagte. Dann zog er den Gürtel, den er dem toten Lee abgenommen hatte, wieder enger zu und gab Gas.

Ruckelnd setzte sich der Sprinter in Bewegung.

Kapitel 8

8:30 Uhr morgens, AST

David Savant steckte den Zündschlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Zuerst gab sein Auto, ein rostigroter Geländewagen der Firma

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Bernd Skorczyk
Bildmaterialien: Bernd Skorczyk
Cover: Bernd Skorczyk
Tag der Veröffentlichung: 16.03.2021
ISBN: 978-3-7487-7735-9

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Irene

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