(warum erkennt der Mensch nicht, dass sein einziger Wert der ist, den er sich selbst zuspricht?)
So lange Zeit ist vergangen. Meine greise Hand greift nach den Erinnerungen und fasst ins Leere. Ich muss warten, bis die Gedanken von selbst wieder zurückkehren. Aber immer wieder sind sie da. Ich sitze oft am Fenster und betrachte die Welt, wie sie sich verändert hat. Aber in den wichtigen Bereichen ist sie gleich geblieben, der Mensch ist gleich geblieben. Auch wenn er heute anders aussieht und sich anders verhält, besser wurde er nicht. Das war der Mensch auch damals nicht, in der Zeit kurz nach dem großen Krieg. Ich war jung und glaubte an eine Zukunft. Der große Krieg hatte ein solches Maß an Unheil angerichtet, dass die Menschheit doch gar nicht anders konnte, als Lehren daraus zu ziehen. Die Zukunft musste besser werden. Mein Heimatort Gaislot lag zwar selbst nicht in Trümmern, doch die Herzen, ja die Seelen der Menschen waren zertrümmert. Sie hatten alles verloren, an das sie geglaubt hatten. Auch mich hielt es nicht mehr hier. Es musste anderswo mehr Möglichkeiten geben, sich eine Zukunft aufzubauen. Irgendwann würde Deutschland wieder aufgebaut sein und wenn uns die anderen Völker dabei halfen, würde es ein friedliches Land sein. Friede - was für ein Wort. War er nicht das mehr oder weniger kurzzeitige Bindeglied zwischen zwei Kriegen? Oder würde das jetzt anders werden?
Im November nach Kriegsende zog ich einfach los. Ich hatte noch eine Tante in Borschau, falls die noch lebte. Aber Borschau würde sicherlich auch weitgehend zerstört sein. Ich hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr zu meiner Tante gehabt und hätte mich auch nicht getraut, denn noch vor dem Krieg hatte sich unsere Familie zerstritten. Dann verlor sie ihren Mann und drei Söhne an der Front. Wie sollte ich da so einfach vor sie hintreten. Aber irgendwer musste ja den Anfang machen, dachte ich. Vielleicht war es auch nur reiner Eigennutz, denn Borschau war eine Stadt mittlerer Größe, während Gaislot ein jämmerliches Nest war, in das sich zum Glück der Bewohner keine Bombe verirrt hatte. Mit einem Holzkarren auf dem sich drei Koffer befanden, in welche ich ein paar Habseligkeiten gepackt hatte, zog ich los. Der Weg war so um die sechzig Kilometer weit, es war klar, dass ich das zu Fuß nicht in einem Tage schaffen würde. Aber bei den Millionen an Flüchtlingen seit dem letzten Jahr, kam es auf einen mehr oder weniger auch nicht mehr an. Und was waren schon sechzig Kilometer im Vergleich zu den tausend der anderen, die vertrieben worden waren? Ich höre noch die Worte meines Nachbarn, wie er mir davon abriet, im Herbst aufzubrechen. "Hier in Gaislot kommst du doch eher über den Winter, als anderswo. Willst du unbedingt auf freiem Gelände erfrieren?", hatte er mir nachgerufen.
Meine Erinnerung an diesen Novembertag, sie ist so lückenhaft. Ich weiß gar nicht mehr, wie lange ich an jenem Tage unterwegs gewesen war. Aber die Füße taten mir weh. Ich hatte auf der Landstraße einen Trupp Soldaten der Besatzungsmacht erspäht und wollte ihnen ausweichen, obwohl zu dieser Zeit eigentlich keine Gefahr mehr von ihnen ausgegangen wäre. So bog ich auf einen Trampelpfad ab, welcher mich schräg über Wiesen in den Wald führte. Ich war davon überzeugt, dass dieser Pfad früher oder später wieder in eine bewohnte Gegend führen musste. Das tat er sicherlich auch, nur war es zwischenzeitlich Abend geworden. Eine Nacht im Wald verbringen, mitten im November, was kann abschreckender sein? Nein, das hatte keinen Sinn. Ich nutzte das letzte Tageslicht und versuchte ein Abkürzung von diesem Waldweg zu finden, welche mich zumindest heraus aus dem Dickicht führen könnte. Vom Glück gesegnet, sah ich den Wald lichter werden. Dieser kleine Weg bog über einen Hügel ab in eine ganz andere Region. Das Tageslicht war fast verschwunden, ich sah die Umrisse der Landschaft nur noch in schwarz-weiß. Aber weiter hinten, abseits des Hügels, stand ein Haus. Ein kleines Licht schimmerte durch eines der Fenster. Oh wie dankbar war ich, ein Obdach gefunden zu haben. Dennoch war es sehr beschwerlich, meinen Holzkarren hinter mir herzuziehen. Bis ich das Haus erreichte, war es bereits stockdunkel geworden.
Ich klopfte. Es geschah nichts. Alles was ich hörte war mein Atmen und mein Herzschlag. Ich klopfte erneut und hörte Schritte im Innern des Hauses. Die Umrisse des Gebäudes waren kaum auszumachen. Ich hatte ja nur noch die Reste des Lichtes einer kleinen Lampe im Hausinnern, um mich zu orientieren. Aber es sah fast wie ein Bauernhaus aus, oder vielleicht war es das früher einmal gewesen und wurde nun ohne Landwirtschaft bewohnt.
"Wer klopft hier?", fragte eine strenge Männerstimme.
"Entschuldigen Sie bitte, mein Name ist Hans Groschner. Ich komme aus Gaislot und will zu meiner Tante nach Borschau. Ich habe aber die Wegstrecke unterschätzt und bin nun hier gelandet. Ist es Ihnen vielleicht möglich, mich irgendwo im Innern Ihres Hauses die Nacht verbringen zu lassen, damit ich nicht im Freien bleiben muss? Ich verspreche Ihnen ein ehrlicher Mensch zu sein. Leider kann ich Ihnen für diesen Gefallen nichts geben, denn ich habe nichts."
"Wer hat das schon in diesen Zeiten?" Ein Mann fortgeschrittenen Alters machte mir die Türe auf. Er musterte mich misstrauisch, als ob er zwischen dem, was ich ihm zuvor gesagt hatte und dem, was er nun vor sich stehen sah, einen Glaubwürdigkeitstest durchführen würde.
"Sind Sie allein, Herr Groschner?"
"Ja, wie Sie sehen."
"Dann dürfen Sie hereinkommen. Ich ertrage nämlich nicht mehrere Menschen gleichzeitig. Wenn Sie also in Not sind, dann können Sie hier eine Nacht bleiben und auf dem Kanapee im Wohnzimmer ruhen. Aber morgen früh müssen Sie wieder aufbrechen, denn ich ertrage auch einzelne Menschen nicht länger, als einen Tag um mich."
Mein Gott, wie abweichend. Der Krieg hatte ja aus den meisten von uns seltsame Sonderlinge werden lassen, aber diese Abweisung kam mir unwirklich vor.
"Ich danke Ihnen von Herzen, Herr...."
"Kommen Sie herein. Sie brauchen mich nicht beim Namen zu nennen. Machen Sie schon, sonst geht die Wärme meines Holzofens verloren. Ich heize nicht gerne die ganze kaputte Welt da draußen."
Mit der sicheren Erkenntnis, hier einen höchst exzentrischen Menschen vor mir zu haben, trat ich in dessen Haus. Aber ich war nur dankbar, dass ich überhaupt eine Bleibe gefunden hatte. Ob der Hausherr nun schrullig war, oder nicht, tat nichts zur Sache.
Wir gingen durch einen schmalen, dunklen Flur in das Wohnzimmer, welches sehr einfach eingerichtet war. Ein großer Tisch mit vier Stühlen, an der Seite ein kleiner Beistelltisch, ein Kanapee, welches mit einer Wolldecke zugedeckt war, ein alter Schrank an der einen Wand und ein kleiner Holzofen an der anderen. Durch einen Spalt in der stark verzogenen Ofentür schimmerte das Feuer und entfachte so fast einen behaglichen Eindruck. Auf dem Tisch brannte ein Öllämpchen, welches mit irgendetwas Seltsamen als Brennstoff gefüllt gewesen sein musste, denn es roch sehr streng. Aber es war immerhin besser, als im Dunkeln zu sitzen.
"Nehmen Sie Platz, Herr Groschner. Egal wo. Ich würde Ihnen, der Gastfreundschaft halber, etwas anbieten, aber mehr als trockenes Brot, sehr trockenes Brot, habe ich nicht."
"Ich würde der Höflichkeit halber dankend ablehnen, weil ich sie nicht belästigen möchte, aber wenn Sie mich ehrlich fragen, ich wäre um jeden kleinsten Bissen noch so trockenen Brotes dankbar."
Der seltsame Mann stand wortlos auf und ging aus dem Zimmer. Obwohl es im Flur stockdunkel war und sicherlich in jenem Raum, in welchen er ging, ebenfalls, so fand er sich doch zurecht. Ich hörte eine Holzklappe klacken und dann klang es nach Geschirr. Gleich darauf tastete sich der Mann mit zwei Scheiben trockenen Brotes auf einem Teller wieder ins Wohnzimmer zurück.
"Hier, mehr kann ich Ihnen nicht geben, sonst muss ich morgen selber hungern."
"Fremder Mann, wie kommen Sie eigentlich so allein in diesem abgelegenen Haus zurecht? Wie ernähren Sie sich, oder was arbeiten Sie?"
"Sie stellen viel zu viele Fragen, Herr Groschner. Das alles müssen Sie gar nicht wissen. Das einzige, was Sie interessieren muss, ist doch, dass sie die Nacht überstehen, ohne zu erfrieren. Das ist auch alles, was ich für Sie tun kann. Morgen früh können Sie dann weiter nach Borschau. Da wollen Sie doch hin, wie Sie sagten."
"Ja. Meine Tante lebt dort, zumindest lebte sie bis vor dem Krieg dort. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, bei ihr unterzukommen. Aber wenn nicht, dann will ich von Borschau aus weiter in die Welt."
"In die Welt? Gibt es denn die Welt noch?"
"Aber sicher doch, Herr. Wir werden sie wieder aufbauen. Ich bin jetzt achtzehn Jahre alt und habe nicht vor, in Trümmern alt zu werden."
Der Mann lehnte sich zurück und blickte etwas ins Leere. Dann stand er auf, ging zu dem Wandschrank und öffnete eine Tür. Ich hörte ein Geräusch, als ob Glas auf Glas stößt und danach drehte er sich wieder zu mir um, in der Hand
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 03.09.2014
ISBN: 978-3-7368-3643-3
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