Ariphyll war ein noch recht kleiner Vertreter seiner Art, einer jener Lichtwesen, welche nicht in der materiellen Welt zu Hause sind, sondern in der Dimension reiner Energie. Die Menschen nennen diese Wesen gemeinhin Engel. Ariphyll war ein Engel, allerdings nicht mit Pausbacken und Flügeln, eine Trompete oder Leier tragend. Er war reines Licht, nicht mehr und nicht weniger. Und in der Hierarchie der Engel stand er noch sehr weit unten. Seine Leuchtkraft und damit auch seine Weisheit waren noch in einem überschaubaren Bereich, nicht so überdimensional, wie bei den großen Seraphinen. Aber diese Leuchtkraft konnte noch gesteigert werden. Ähnlich war es bei seinem Freund Assur. Auch er stand erst am Anfang einer langen Entwicklung. Doch Entwicklung bedarf neben Zeit auch Anreiz. Zeit bedeutet in einer Welt ohne Materie allerdings nichts, denn es gibt sie dort nicht. Ohne die Schwingung von Elementarteilchen, ohne Elektronenfluss, fehlt das Phänomen des Alterns, des Entstehens und Vergehens. Somit hat Zeit keine Richtung, in die sie gehen könnte. Und eine Zeit, die still steht, existiert daher nicht. Und obwohl Ariphyll und Assur zwei Engel waren und eigentlich auf einen enormen Fundus an kosmischem Wissen zurückgreifen konnten, waren sie noch Jünglinge, um es mit irdischen Worten zu umschreiben. Das Wissen, das allumfassende Wissen, es war immens groß. Und doch konnte auch ein Engel nicht einfach alle Fragen beantworten und alle Dinge nur aus der Theorie heraus begreifen. Vor allem nicht die Fragen zu menschlichen Themen. Menschen – sie sahen aus wie Engel auch, nur dass sie aus schwerfälligem Material, Fleisch und Blut, gemacht waren. Und sie verhielten sich auch so irritierend alogisch, dass nicht einmal die Engel der gehobenen hierarchischen Schichten auf jedes menschliche Verhalten eine Erklärung wussten. Ariphyll war schon immer sehr von dieser Lebensform beeindruckt. Assur hingegen zeigte nur ein begrenztes Interesse an der Menschheit. Sein Interesse lag mehr in erschöpfenden Fragen über das Entstehen von reiner Liebe und ihre Fähigkeit auszustrahlen, um sich zu verstärken. Menschen wussten von der reinen Liebe fast nichts. Sie meinten es zwar, doch das was sie für Liebe hielten, war durchsetzt von Selbstsucht, Angst und Eitelkeit. Von der reinen Liebe, der Wurzel aller positiven Energien überhaupt, blieb dabei fast nichts mehr übrig. Wozu sich also mit solchen liebesunfähigen Daseinsformen, wie es Menschen sind, herumplagen? Wie oft hatten Ariphyll und Assur schon darüber diskutiert. Der eine trat leidenschaftlich für die Menschen ein, der andere zog alles in Zweifel. Vielleicht war dies auch der Grund dafür, dass es Assur war, welcher einen Auftrag erhalten sollte, um den ihn Ariphyll beneidete.
„Wo treibst du dich herum, Assur? Ich suche dich schon überall.“
„Was gibt’s denn so Wichtiges?“
„Höre gut zu, Assur. Unser beider Vorstand Sarhakon, der Leiter der mittleren Garde, lässt dir durch mich ausrichten, dass du zu den Menschen gehen sollst.“
Assur machte große Augen. Weshalb sollte gerade er auf die Erde schweben und die Menschen besuchen. Was versprach sich Sarhakon, der direkte Vorgesetzte aller kleinen Engel, davon?
„Hat er dir auch angedeutet, was ich da soll?“
„Nicht so ganz, Assur. Du sollst in eine Stadt deiner Wahl gehen und dir aus der Masse an Menschen einzelne heraussuchen, um dich mit ihnen zu unterhalten.“
„Worüber unterhalten?“
„Über ihre Vorstellungen von richtigen und falschen Formen von Macht und Einfluss.“
„Auch das noch. Ich soll einen Erdentag damit vergeuden, mit Menschen über Macht zu reden? Ist Sarhakon unzufrieden mit mir, oder warum tut er mir das an? Er könnte doch auch dich schicken, Ariphyll. Du bist ja so an diesen Wesen interessiert.“
„Schon, aber er schickt dich. Ich könnte platzen vor Neid, Assur. Versprich mir bitte, dass du mir alles erzählst, was du so erlebst, was die Menschen dir sagen und wie sie so sind.“
„Versprochen. Und wann soll ich das machen?“
„Ich nehme an jetzt gleich.“
„Schöne Bescherung. Ich wollte noch eine Weile hier herumschweben und meine Gedankenkette über die Schwächung der Liebe durch die Negativenergie namens Angst weiterspinnen. Aber wenn es so eilig ist, dann mach’s mal gut, kleiner Freund.“
Assur drückte Ariphyll an sich, so dass beide eine kurze Zeit enorm stark aufleuchteten. Dann trennte er sich von ihm und machte sich auf den Weg zur Erde.
* * * * *
Es war durchaus nicht einfach für einen kleinen Engel, wie Assur einer war, die Welt der Menschen zu besuchen. Das lag vor allem daran, dass reines Licht nicht gut mit Materie kooperiert. Durch Schwerkraft, Magnetismus und allerlei gegenläufiger Energieströme, lässt sich reines Licht unter gewissen Umständen stark verdichten. Und das war für Assur dringend notwendig, denn er konnte ja nicht als Geist unter den Menschen herumwandeln. Er musste schon so etwas wie eine Pseudomaterie annehmen, um unerkannt zu bleiben. Gegenstände sollten von ihm abprallen und nicht durch ihn hindurch fallen. Assur musste wie ein Mensch wirken und dazu bedurfte es dieser anstrengenden Energieverdichtung. Nichts desto trotz blieb er weiterhin ein Engel und das verschaffte ihm einen enormen Vorteil in der Kontaktaufnahme zu einem Menschen. Sobald er in die Augen eines Erdenbürgers blickte, konnte er eine Art Abgleich von dessen Seelen- und Charakterstruktur machen. Dann musste er seine Lichtenergie nur noch auf exakt die gleiche Wellenlänge einstellen und schon wirkte er auf seine Kontaktperson ausgesprochen positiv. Einem Menschen kam es dann so vor, als hätte er hier seinen besten Freund und Seelenverwandten vor sich, dem man unbedingt mehr Aufmerksamkeit widmen müsse. Oder wann hat man je in der Geschichte der Mystik von einer Engelserscheinung gehört, bei welcher der Engel unsympathisch aufgetreten wäre?
Assur war die materielle Welt nicht gewohnt. Er mochte sie gleich von Anfang an nicht, denn sie wirkte auf ihn beengend, erdrückend. So mussten sich Menschen fühlen, die in ein Korsett eingeschnürt waren. Wo sollte er nun hin? Er begab sich
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 29.08.2013
ISBN: 978-3-7309-4652-7
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