Während ich mir den Film „Alphabet“ im Kino ansah, wurde ich immer unruhiger in meinem Kinosessel. Mal nickte ich voller Zustimmung, mal runzelte ich die Stirn und mal wünschte ich mir, die sprechenden Personen würden neben mir sitzen, damit ich mit ihnen über ihre Aussagen diskutieren könnte. Als der Film endete, blieb ich aufgewühlt im Kinosessel zurück. Ich hatte gerade einen Film gesehen, der so viele interessante Dinge meinen Beruf betreffend ansprach, die sich erst einmal setzen mussten, bevor ich mich an eine Stellungnahme dazu setzen konnte. So entschloss ich mich auch, entgegen meines eigentlichen Beschlusses, nicht gleich mit dieser Stellungnahme zu beginnen, sondern den Inhalt des Films erst einmal in mir setzen zu lassen.
Der Film „Alphabet“ spricht so unterschiedliche, aber auch ähnliche Dinge an, die ich alle gerne thematisieren würde, sodass ich Angst habe, mich in meiner eigenen Diskussion zu verlieren und das Thema zu verfehlen. Dennoch möchte ich mit einer Aussage beginnen.
Ganz besonders beeindruckt hat mich die Aussage von Gerald Hüther:
„Sie können keinen zwingen sich zu bilden, sondern Sie können ihn nur einladen. Und das ist Erziehungskunst.“
Diese Aussage ist mir nicht neu, sie ist mir während meines Studiums und meiner Fortbildungen häufig begegnet und ich kann ihr nur Recht geben. Aber wie genau bringe ich das denn fertig? Wie lade ich einen Schüler ein, sich zu bilden?
In meine ersten Geschichtsstunden, die ich selbst unterrichtete, kam ich voller Motivation, sehr gut vorbereitet und mit einem Haufen von Material und Hintergrundwissen ins Klassenzimmer gestürzt. Diese Einheit würde fantastisch werden, ich war mir sicher, den Schülern würde das, was ich vorbereitet hatte, Spaß machen. Meine Unterrichtsverlaufsskizze hatte meine Mentorin für gut befunden, es konnte also losgehen. Da mich die Schüler mochten, störten sie meinen Unterricht nicht und beteiligten sich auch ein wenig, aber in mir blieb eine gewisse Unzufriedenheit nach diesen Stunden zurück. „Wo war die Freude, die Motivation bei den Schülern gewesen? Hatte ich es geschafft, dass der Funken übergesprungen war?“, fragte ich mich. Um ehrlich zu sein, war ich wie ein kleiner Hampelmann um die Schüler herumgesprungen, um ihnen etwas von dem Interesse und der Motivation abzugeben, das ich verspürte. Dies erzielte allerdings keine Erfolge, sondern nervte meine Teenagerschüler nur noch mehr. Das Ergebnis solcher Geschichtsstunden war also, dass die Schüler immer weniger Lust hatten mit mir mitzuarbeiten und etwas über Geschichte zu lernen und ich immer öfter frustriert aus meinen doch so gut vorbereiteten Unterricht herauskam und nicht wusste, was ich hätte anders machen sollen. Bisher hatte ich es also nicht geschafft, die Schüler einzuladen, sich zu bilden.
Wenn man einmal ehrlich ist, ist das Fach Geschichte in den Augen von Schülern im Teenageralter nicht das wichtigste Unterrichtsfach. Da gibt es noch Mathematik, Deutsch und Englisch, in denen man gute Leistungen erbringen muss, um später einen Ausbildungsplatz zu ergattern. In diesen Fächern strengt man sich an, dort ist man diszipliniert. Aber wer fragt schon in einem Bewerbungsgespräch nach, wie der Bewerber in Geschichte abgeschnitten hat? Im Ranking für den Teenagerschüler ist Geschichte also, wenn überhaupt, an Platz vier und damit weit zurück hinter den Hauptgegenständen. Da aber diese Hauptgegenstände, den Schülern schon so viel an Konzentration und Disziplin abverlangen, ist es umso schwerer, sie für Geschichte zu begeistern. Das war das erste, was ich nicht bedacht hatte. In meine Unterrichtsstunden kamen die Schüler müde und voll mit neu gelerntem Stoff. Nein, sie kamen nicht, sie hatten ja schon vier Stunden auf ihren Sesseln in demselben grauen Klassenzimmer gesessen ohne viel Bewegung zu haben. Vielleicht waren sich auch schon in Gedanken bei der nächsten Schularbeit oder den Pflichten, die sie zu Hause noch zu erfüllen hatten, die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich jetzt noch in Geschichte mit Feuereifer beteiligen könnten, erschien mir nach dieser Reflektion mehr als gering.
Es mangelte also an zwei Dingen, an der Motivation etwas lernen zu wollen und aber auch an der Umgebung, in der die Schüler lernen sollten.
Ich startete also einen neuen Versuch. Vor mir saß nicht einfach nur eine Klasse voller Schüler, die mich mit müden Augen ansah, sondern eine Klasse voller Geschichte. Da saß eine Jana, die fast kein deutsch sprach, weil sie erst vor eine paar Monaten aus dem Kosovo zu uns gekommen war, ein Ömer, der schon in der dritten Generation hier lebte, aber dennoch kein grammatikalisch richtiges Deutsch sprach, ein Julian, der aus einem bildungsfernen Haushalt kam, in dem die Eltern arbeitslos waren und sich die Gedanken eher darum drehten, ob am Ende des Monats noch genug Essen für Geld im Kühlschrank war oder nicht. Ich musste vor mir selbst zugeben, dass ich das alles nicht von den Schülern selbst wusste, ich hatte es von anderen Lehrern erfahren. Ich beschloss also, meine Schüler kennenzulernen, denn sie hatten alle ihre eigene Geschichte. Wenn ich es schaffte, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen, ihnen das Gefühl zu geben, dass ich mich für sie und ihre Geschichte interessierte, würden sie auch Vertrauen zu mir fassen. Sie würden mich nicht nur als Lehrerin sehen, die ihnen irgendwann eine Schularbeit stellen würde, in der sie möglichst eine gute Note schreiben wollten, sondern als Mensch, mit dem man reden kann, der auf sie eingeht und sich für sie interessiert. So verlegte ich den Lernort raus aus dem Klassenzimmer in den Schulgarten, in dem ich Decken, ein wenig zu trinken und zu essen vorbereitet hatte und signalisierte den Schülern, dass ich sie kennenlernen wollte. Ich fragte die Schüler nach ihrer Geschichte, nach der Geschichte ihrer Eltern, fragte sie, was sie interessierte und was sie gerne in meinem Fach lernen wollten.
In der nächsten Unterrichtsstunde erstellten wir gemeinsam eine MindMap mit Interessen der Klasse zum Thema Geschichte, auch ich als Lehrer fügte meine Interessen ein. So stellte sich heraus, dass es zum Teil ähnliche, aber auch sehr unterschiedliche Interessen gab. Das wichtige für mich aber war, es gab Interessen. Jeder interessierte sich zumindest für etwas. Es zeigte sich auch, dass zum Beispiel ein Schüler mit Migrationshintergrund sehr viel mehr über die Geschichte seines Landes kannte, als ich es tat und er die Lehrfunktion in weiteren Gesprächen übernahm bzw. übernehmen konnte.
In den weiteren Unterrichtsstunden empfand ich mich als Lernbegleiter. Ich hatte ein Projekt gestartet, die Schüler sollten mittels Lernszenario, ein Thema, das sie interessierte herausarbeiten. Im Lernszenario haben die Schüler die Möglichkeit zu entscheiden was und wie sie etwas darstellen wollen (Präsentation, innerer Monolog, Bild, Aufsatz, Comic, Plakat etc.) und in welcher Sozialform (allein, zu zweit, zu dritt…) sie arbeiten möchten. Ich selbst war dazu da, den Schülern zu helfen, wie sie an bestimmte Informationen gelangen konnten oder mich zu den Gruppen dazu zu setzen, den Diskussionen zuzuhören und wenn sie einmal stockte, dabei weiterzuhelfen, sie zu einem Ende zu bringen und darauf zu achten, dass die Schüler ihr Ziel im Auge behielten. Die Schüler waren nicht gezwungen, still im Klassenzimmer zu sitzen, sondern hatten die Möglichkeit, sich frei zu bewegen und sich in einem gewissen Rahmen ihren Arbeitsplatz und ihre Arbeitsweise selbst auszusuchen.
Diese Unterrichtsstunden waren darauf ausgerichtet unterschiedliche (fachliche, soziale, organisatorische) Kompetenzen zu erlangen und Spaß am Unterricht zu haben. Das Fazit dieser Unterrichtseinheit war, dass sowohl die Schüler als auch ich diese Unterrichtsstunden mit sehr viel mehr Elan verbracht hatten, als die zuvor. Ich hatte es für mich geschafft, ich hatte die Schüler eingeladen sich mit mir bzw. mit meiner Unterstützung zu bilden und sie waren darauf eingegangen. Ohne eine Beziehung zu den Schülern aufzubauen, ohne ihre Interessen zu kennen und ihnen ein wenig selbstbestimmtes Lernen zuzugestehen, wäre dieses Projekt gescheitert.
War dies nun eine Reform von unten meines Unterrichts, die nichts verändert hat? Thomas Sattelberger sagt im Film aus, es müssen Reformen von oben geschehen, die das Bildungssystem erschüttern, nur so kann sich langfristig etwas ändern. Ich möchte etwas verändern und ich habe damit in meinem Unterricht begonnen. Heißt das aber, dass ich im Grunde nichts bewegt habe? Ich gebe Herrn Sattelberger recht, sicher müssen Reformen von oben geschehen, um langfristig vor allem in der Wirtschaft ein neues Denken zu schaffen, aber man sollte auch bedenken „steter Tropfen höhlt den Stein“. Auch wenn ich nicht für alle Schüler etwas bewegen konnte, so habe doch ich bezüglich meines Unterrichts umgedacht. Ich bin an den Lehrplan gebunden, aber im Rahmen meiner Möglichkeiten als Lehrer – als Bezugsperson – kann ich etwas ändern und dies auch tun.
Auch die Aussage von Pablo P. Ferrer:
„Es geht vor allem um die Wertschätzung dafür, was ich vom Anderen erfahren darf und was er von mir lernen kann. Diese Beziehung ist für uns beide bereichernd. Genau da hört die Kultur der Angst auf und fängt die Kultur der Liebe an.“,
hat mich sehr beeindruckt. In der Schule sollte es wirklich darum gehen, was jeder von jedem lernen kann. Jeder hat Stärken, die es heißt herauszufinden. In jeder meiner Klassen gibt es Schüler, die auffallen und Schüler die in einer Ecke sitzen und das Jahr hindurch fast nichts sagen und drohen unterzugehen. Oftmals verbergen genau diese Schüler individuelle Stärken, die es trotz ihres Verhaltens herauszufinden gilt. Ferrer ist der Meinung, dass das Konzept der Liebe bedeutet, jemanden zu nehmen wie er ist, nicht wie wir wollen, dass er ist. Als Lehrer mag man nicht jeden Schüler gleich gern, oft stören Verhaltensweisen oder wenig Motivation unseren Unterricht, was dazu führt, dass man mit diesem Schüler teilweise negative Dinge verbindet und aufatmet, wenn dieser Schüler mal nicht da ist. Ich bin der Meinung, dass man sich von diesem Denken abwenden muss. Jeder Schüler hat Stärken, die es zu sehen gilt, jeder Schüler hat Gründe, warum er sich so verhält und nicht anders, doch, wenn ich nicht versuche, eine Beziehung zu diesem Schüler aufzubauen, werde ich nicht erfahren warum er so ist. Ich werde ihn in eine Schublade stecken und versuchen, ihn dafür passend zu machen, anstatt mich mit ihm auseinanderzusetzen und ihn einzuladen, sich mit mir als Hilfe zu bilden.
Gerade im Geschichtsunterricht bin ich freier als in anderen Fächern, wie zum Beispiel Mathematik, so zu unterrichten, dass die Schüler selbstbestimmt lernen können und die Möglichkeit bekommen, ihre Stärken zu zeigen. Ich darf nicht ins Klassenzimmer stürzen und sagen, heute lernen wir etwas über den 2. Weltkrieg und erwarten, dass die Schüler dadurch motiviert sind und ihr Interesse geweckt ist. Nein, ich muss ein Stück weit meinen Unterricht aus meiner Hand in die Hand der Schüler legen und meine Rolle zu einem Lernbegleiter umdenken. Ich muss Vertrauen in die Schüler setzen und Anreize schaffen, lernen zu wollen. Es gibt kaum einen Schüler, den der 2. Weltkrieg nicht interessiert, oftmals sind es aber die Schicksale der Menschen damals, die die Schüler in die Thematik eintauchen lassen und nicht Gebietsverluste, Jahreszahlen oder Grenzverschiebungen. Angst zu haben, dass die Schüler nichts lernen, wenn man keinen durchstrukturierten Rahmen (Arbeitsblätter, Hefteinträge, Wiederholungstests etc.) vorgibt, ist hier fehl am Platz – im Gegenteil, ich bin der Überzeugung, so lernen sie mehr, wenn nicht sogar für ihr Leben und nicht nur für die Schule!
Tag der Veröffentlichung: 08.11.2013
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