Cover

Die Entführung

Suchend blickte ich mich um. Wo war er denn auf einmal? Es war ein strahlender Sommertag und aufgrund des guten Wetters hatten meine Familie und ich den Tag im Freibad verbracht - wie viele Tage zuvor.

Ich war das Jüngste von drei Kindern in meiner Familie und etwa vier Jahre alt. Mit meinen langen blonden Haaren und dem neongrünen Badeanzug konnte meine Mutter mich nicht verlieren, sagte sie zumindest. Gerade hatten mein Bruder und ich noch gemeinsam in der Sandkiste gespielt, doch nun konnte ich ihn nirgends mehr entdecken. „Henning, Henning, wo bist du?“, rief ich. Hatte sich mein älterer Bruder mal wieder einen Scherz mit mir erlaubt? Nein, so gemein war er normalerweise nicht zu mir.

Ich beschloss zum Liegeplatz meiner Familie zurück zu kehren. Wer weiß, vielleicht war mein Bruder dorthin gelaufen, um einen Schluck zu trinken, ohne mir Bescheid zu sagen. Schon von Weitem sah ich, dass unsere Handtücher verlassen dalagen. Niemand war mehr da. Hektisch sah ich mich um. Ein flaues Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus. Auch mit meinen vier Jahren wusste ich schon, dass dies ungewöhnlich war. Niemals würde mich meine Familie allein lassen oder unseren Platz verlassen, wenn ich nicht wusste, wohin sie gegangen waren. Sie würden mich doch nie alleine lassen. Ich fing an zu laufen, ich wollte mich beeilen, vielleicht hatten sie sich nur ein kleines Stück entfernt und ich konnte sie sehen, sobald ich an unserem Platz angekommen war. Schon kämpfte ich mit den Tränen. Meine Familie musste doch irgendwo sein.

Und da sah ich sie. Meine Mutter und mein Vater wurden mitsamt meinen Geschwistern von bedrohlich aussehenden Affenmenschen aus dem Freibad gebracht.

„Halt! Wartet auf mich!“, schrie ich verzweifelt. Ich wollte nicht alleine zurückgelassen werden. Die Affenmenschen schienen mich nicht gehört zu haben, doch meine Mutter drehte sich panisch um. „Lauf“, war das einzige was ich in ihrem vor Angst verzerrtem Gesicht lesen konnte. Moment mal, warum sah meine Mutter so ängstlich aus? Erst jetzt sah ich mir die Situation genauer an. Die Hände meines Vaters konnte ich nicht sehen, waren sie gefesselt? Meine Geschwister hingen wie zwei nasse Säcke über den Schultern von zwei großen Affenmenschen. Was erst wie ein Spaß für mich ausgesehen hatte, beängstigte mich nun. So weit wie meine Geschwister von mir entfernt waren, konnte ich ihre Gesichter nicht mehr sehen. Aber ich nahm wahr, wie sie immer wieder auf den Rücken ihrer Träger einschlugen, was denjenigen allerdings nichts auszumachen schien. Vielleicht ging meine Familie nicht freiwillig mit den Affenmenschen mit? Aber warum wehrten sie sich dann nicht? Warum ließen sie mich allein?

Ohne weiter zu überlegen, tat ich das, was meine Mutter versucht hatte, mir mitzuteilen. Ich lief. Ich wollte mich verstecken. Immer wieder blickte ich mich um, bis ich auf einmal weitere Affenmenschen aus verschiedenen Richtungen auf mich zu kamen. Sie waren groß und bullig, sahen aber trotzdem gepflegt aus, so als ob sie unter den anderen Badegästen nicht weiter auffallen wollten. Einzig und allein ihre Gesichter bestätigten meinen Eindruck der Bedrohung. Sie waren zu unheimlichen Fratzen verzerrt, die Augen schauten eiskalt aus ihren blauen Höhlen. Ihre Gesichtsfarbe war unter der starken Behaarung kränklich weiß.

Ich suchte nach einem Ausweg, ich wollte andere Badegäste ansprechen, aber sie schienen mich und die mir folgenden Affenmenschen nicht zu bemerken. Ich rannte immer verzweifelter in Richtung Wald, obwohl ich dort nicht hin durfte.

Ich wusste nicht mehr ein noch aus und stolperte so blindlings in den Wald hinein, in der Hoffnung mich dort besser verstecken zu können. Die Affenmenschen aber waren mir immer näher und näher gekommen. Ich spürte wie eine Hand nach meinen langen blonden Haaren fasste, gerade so konnte ich mich noch losreißen. Ich rannte und rannte, immer tiefer in den Wald hinein, doch plötzlich stand einer der Affenmenschen vor mir, sodass ich frontal mit ihm zusammenstieß. Ein erstickter Schrei verließ noch meine Kehle bevor sich die Hand des Affenmenschen um mich und meinen Körper schlang. „Still jetzt“, flüsterte der Affenmensch, „und dir und deiner Familie wird nichts passieren!“ Dennoch wehrte ich mich, ich kratzte, ich biss, ich schlug um mich. Doch es half alles nichts. Ich war nur ein kleines Mädchen und mein Peiniger ein kräftiger, breitschuldriger Affenmensch. „Still jetzt, hab ich dir gesagt, sonst zieh ich andere Seiten auf“, sprach er bedrohlich auf mich ein.

Während er mich tiefer in den Wald trug, ging mir langsam die Kraft aus. Was war nur geschehen? Warum hatte mich dieser Mann gefangen genommen? Was war mit meiner Familie passiert? Tränen rannen mir über beide Wangen und ich wimmerte leise vor mich hin.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so durch den Wald getragen wurde. Plötzlich wurde ich unsanft auf einen harten Untergrund fallen gelassen. Ich drehte mich um und zu meiner Freude sah ich meine Familie dicht bei mir liegen. Aber warum waren sie so seltsam ruhig? Warum redeten sie nicht mit mir. Langsam kroch ich auf sie zu. „Papa, Papa, was ist los? Warum haben uns die Affenmenschen mitgenommen?“, sprach ich weinerlich auf meinen Vater ein. Ich erhielt keine Antwort.

Ein Tuch wurde mir auf Mund und Nase gepresst und das Letzte was ich hörte, war ein metallisches Knallen, so als ob eine Tür zugeschlagen worden wäre. Danach empfing mich gähnende Leere.

Erst als ich wiederum hochgehoben und weggetragen wurde, begann ich langsam wieder zu erwachen. Zögernd wagte ich es, meine Augen zu öffnen, nach meiner Familie Ausschau zu halten und meine Umgebung wahr zu nehmen. Ich befand mich auf einem kleinen Trampelpfad, der links und rechts von Sonnenblumenfeldern, so vermutete ich den Stängeln nach zu urteilen, gesäumt wurde. Wieder befand ich mich wie schon zuvor auf dem Arm eines der Affenmenschen, ob es derselbe war, wie der, der mich gefangen hatte, konnte ich nicht ausmachen. Da mein Sichtfeld aufgrund der Art, wie ich getragen wurde, stark eingeschränkt war, konnte ich nur den Menschen ausmachen der hinter uns lief. Es war mein Vater, dies konnte ich zumindest an seinen Beinen erkennen. Ich war also nicht ganz allein und zumindest er schien unversehrt zu sein. Ein kleiner Stein fiel mir vom Herzen.

Nach kurzer Zeit erreichten wir eine Blockhütte und wurden im Innern einer nach dem anderen wie Pakete in die Ecke verfrachtet. „Keiner rührt sich!“, drohte einer unserer Entführer. Sie drehten sich um, verließen die Hütte und alles was wir hörten war, wie ein Riegel vorgeschoben wurde. Dann waren wir allein.

Wir drei Kinder krochen zu meinen Eltern und verzweifelt nahmen sie uns in ihre Arme. Unfähig etwas zu sagen, schluchzten wir alle gleichermaßen. Schließlich beschloss mein Vater: „Wir müssen hier raus! Lasst uns nach einem Ausgang oder etwas Ähnlichem suchen, bevor diese schrecklichen Affenmenschen zurückkommen.“

Wir bemerkten schnell, dass die Affenmenschen alle Türen und Fenster verschlossen und teilweise noch zusätzlich verbarrikadiert hatten. Unsere Lage schien aussichtslos. Meine Schwester dann kam auf eine rettende Idee: „Lasst uns einen Tunnel graben!“

Erst jetzt bemerkten wir, dass der Boden unseres Gefängnisses aus bloßer Erde bestand und so machten wir uns daran in Windeseile ein Loch zu graben.

Der Schweiß lief uns in Sturzbächen von unseren Körpern, doch wir hatten es fast geschafft unser Vorhaben in die Tat umzusetzen und die Angst vor den Affenmenschen schien uns weitere Kräfte zu verleihen. Da ich die Kleinste und Schmalste war, sollte ich als erste vorankriechen, um den Rest Erde am anderen Ende des Tunnels wegzudrücken und dann direkt in die Felder fliehen, die wir schon auf unserem Hinweg ausgemacht hatten.

Gerade hatte ich das Ende des Tunnels erreicht, ich sah schon das Sonnenlicht und sogleich flüchtete ich mich ins Feld. Ich rannte und rannte ohne darauf zu achten wohin, ich war zu klein um über die Blumen sehen zu können. Als ich nicht mehr weiterkonnte, blieb ich stehen und kauerte mich ängstlich auf den kühlen Boden. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals.

Als erstes bemerkte ich das Rascheln hinter mir. „Endlich, meine Eltern“, klang es hoffnungsvoll in mir. Ich blickte auf und da sah ich ihn. Einer der Affenmenschen kam auf mich zu, ich schrie laut auf, drehte mich um und wollte in die entgegengesetzte Richtung rennen. Doch auch von dort, kam einer von ihnen auf mich zu. Ich wollte weiter, doch wohin ich auch blickte, sie waren überall…

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 05.08.2013

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /