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I

Seit zwei Tagen trieb Jeremiah Silver bereits auf dem Meer.

Seit zwei Tagen umklammerten seine Arme unablässig den Teil des Mastes, der ihn über Wasser hielt.

Seit die Xerxes gesunken war …

Mehr als sieben Jahre war er auf dem Frachter als Maat gewesen – bis der schreckliche Taifun die Xerxes und fast alle ihre Männer in die Tiefe gerissen hatte. Allein Jeremiah hatte überlebt.

Doch wozu? Meine Qualen werden dadurch nur unnötig verlängert. Der Käpt’n … Errol … der alte Haynes … sie und die anderen haben es schon hinter sich. Ruhen in ihrem feuchten Grab. Nur ich muss noch leiden … verfluchter Durst!

Jeremiah stöhnte vor Schmerz. Seine Kehle war rohes Fleisch. Sein ganzer Körper brannte, als ob er in Flammen stünde.

Und die Sonne – wie erbarmungslos sie schon wieder auf ihn herunterbrannte, obwohl sie noch nicht lange am Himmel stand.

Das Meer war seit Sonnenaufgang ganz still, beinahe wie ein Weiher. Als ob der gigantische, nasse Leib des Ozeans sich ruhig verhielte, als ob er lauerte wie ein Jäger auf ein scheues Wild. Das Wasser glänzte sogar wie flüssiges Gold. In all seinen Jahren als Seemann hatte sich Jeremiah noch nie solch ein Bild geboten. Er erinnerte sich auch nicht daran, schon einmal von solch einem Phänomen auch nur gehört zu haben.

Es war kein schöner Anblick: Über den goldenen Wellen hing nämlich zusätzlich ein beunruhigender weißgelber Dunst, der in Anbetracht der furchtbaren Hitze eigentlich nicht hier sein sollte.

Habe ich etwa Wahnvorstellungen von dem Durst? Und vom Fieber? Oder ist da irgendwo vor mir so etwas wie eine … kochendheiße Quelle im Meer, gespeist von einem unterseeischen Vulkan? Beim gütigen Gott – oder beim Klabautermann – ich hoffe, es ist etwas, das mich wenigstens schnell tötet. Ich kann nicht mehr!

Jereamiah trieb weiter in die blendende, unheimliche Zone hinein. Er war viel zu erschöpft, um mit den Beinen Schwimmbewegungen zu machen. Außerdem wusste er sowieso nicht, wo er war und welche Richtung er einschlagen sollte.

Welche Richtung war schon die richtige in seiner so absolut verzweifelten Situation?

Stirb, du verfluchter Leib! Stirb doch einfach! Gehorche mir, deinem Herrn, ein letztes Mal – dann musst du nicht mehr länger meinem Willen folgen – und ich werde vor meinen Schöpfer treten. Also: Stirb, verfluchter, nutzloser Leib!

Aber Jeremiahs Körper widersetzte sich stur und versuchte weiterhin, zu überleben. Gegen jede Chance.

Jeremiah verwünschte sein ungehorsames Fleisch mit einem halbirren Gurgeln, das ihm die Kehle noch mehr aufriss. Dann trieb er weiter, geschüttelt von grässlichen Krämpfen.

 

 

 

 

II

Ganze Zeitalter schienen vergangen zu sein.

Inzwischen glaubte Jeremiah eigenartige dunkelgrüne Schlieren in den goldfarbigen Wassermassen zu sehen. Algen vielleicht. Nicht dass es wirklich bedeutsam gewesen wäre.

Dieses verfluchte, so unerträglich blendende Licht. Dieser dämonische Dunst, wie er so fürchterlich gleißt und mit seinem Schein meine Augäpfel bis aufs Äußerste geißelt! Eigentlich dürfte ich gar nichts erkennen können, doch in diesem Spuklicht wird die Sicht gleichzeitig geschärft und behindert auf eine unmögliche Art und Weise. Warum … warum kann ich nicht einfach sterben? Warum ka-

Halt! Bei Poseidons Dreizack – was war denn das eben?

Jeramiah blinzelte mehrfach – und das nicht nur, weil ihm salziger Schweiß und salziges Meerwasser in den Augen brannten. Sein Verstand raste vor Aufregung – und vor Angst!

Da ist doch irgendetwas gewesen … ganz kurz nur … einen Lidschlag lang. Etwas Bleiches … und an ein oder zwei Stellen war es auch rot gewesen. Wie das Innere einer Muschel. Und Augen … da waren Augen. Zwei – nein, drei! Oder gar – noch mehr?

Ein missglücktes Lachen, das gleichzeitig ein Weinen war, entrang sich Jeremiah.

Verrückt … ich bin verrückt geworden … jetzt ist es endgültig um mich geschehen. Ich sehe Dinge, die gar nicht da sind.

Furchtsam erstarrte sein ganzer Körper – erstarrten sogar seine eben noch tobenden Gedanken – etwas kam. Etwas kam! Unter dem Wasser. Ja – er spürte es. Er konnte es mit jeder Faser fühlen.

Ein Hai?

Oder gar ein Pottwal?

Etwas Glitschiges, Warmes schob sich unter ihn, hob ihn hoch, umklammerte ihn mit irgendetwas.

Sein eigenes schrilles Kreischen begleitete ihn, während er von einem kaum erkennbaren Etwas davongetragen wurde, von einem unförmigen, völlig undenkbaren Ding

Eine Ohnmacht überfiel ihn, doch sie war nicht gnädig, sondern heimtückisch, schmerzhaft und abrupt. Sie traf seinen malträtierten Verstand wie eine Faust aus gefrorenem Pech und –

 

 

 

 

III

Die Insel war so unwirtlich. Nichts als schwarze Felsen und Unmengen von schwarzem Sand …

Jeremiah blinzelte ungläubig, während er unbeholfen durch die fremdartige Umgebung torkelte.

Eine schwarze Insel, umgeben von der immer noch golden glänzenden See. Die Brandung rauschte höhnisch, ließ ihn keine Sekunde lang seinen entsetzlichen Durst vergessen. Soviel Wasser da draußen … und kein Tropfen zum Trinken!

Wie bin ich nur hierher gekommen? Ich kann mich nicht mehr erinnern. War da nicht etwas im Wasser? Etwas … Grauenhaftes?

Jeremiah fuhr zusammen, als völlig überraschend etwas erklang, das er auf diesem öden Eiland niemals erwartet hätte – ein Lachen.

Ein helles, fröhliches Lachen.

Das Lachen einer – Frau!

Da – gerade war es wieder zu hören. Es kam von dort drüben. Hinter dem großen Hügel musste die Frau sein.

Ein Mensch. Ein Weib. Wo eine Frau ist – und lacht – muss es einfach Wasser geben! Und etwas zu essen! Ich bin gerettet!

Jetzt hörte er sogar mehrere Stimmen, die aufgeregt durcheinander redeten.

Mit einem verzweifelten Röhren beschleunigte er seine Schritte, versuchte es zumindest. Es fühlte sich an, als ob sein Körper zerreißen wollte. Und seine Kehle wurde innerlich von den Messern des Durstes aufgeschlitzt.

Gerade als ihn seine Kräfte verließen und er niedersank, kam eine anmutige Gestalt über den Hügelkamm gerannt. Und dann noch eine …

Er wollte so gerne mehr sehen, aber es gelang nicht. Eine tiefe Besinnungslosigkeit umfing ihn, doch diesmal behutsam … beinahe vorsichtig. Er spürte nicht mehr, wie sein Körper in den schwarzen, weichen Sand fiel …

 

 

 

 

IV

„Möchtest du noch gebratenes Fleisch, Jeremiah?“, fragte die rothaarige Frau, die sich Tequez nannte.

Jeremiah starrte sie an wie einen leibhaftig gewordenen Traum – und das nicht nur, weil sie wunderschön und dazu völlig unbekleidet war. Nein, er konnte immer noch nicht sein Glück fassen.

Er war vor etwa einer Stunde wieder zu sich gekommen. Und seitdem lebte er wie im Paradies.

Wie sollte man diesen abrupten Wechsel des Schicksals begreifen, wenn man über zwei Tage lang dem sicheren, langsamen, qualvollen Tod ins Auge geschaut hatte?

Ayliss, das dunkelhäutige Weib mit der prächtigen Haarpracht, lächelte und meinte dann: „Oder noch mehr Wasser, mein Lieber?“

„Ja! Mehr Wasser. Zuerst trinken. Beim Klabautermann, ich könnte das ganze verfluchte Meer leersaufen!“, rief Jeremiah und genoss es, dass seine Stimme nicht länger ein erbärmliches, krähengleiches Gekrächze war, sondern laut und grollend wie früher.

Tequez, Ayliss und Phi Chen, die dritte im Bunde, grinsten zufrieden, während er die volle Schale aus Ayliss’ Händen empfing und das kühle Wasser gierig schluckte.

Die drei nackten Schönheiten beobachteten jede seiner Bewegungen – und er jede der ihren. Welcher Mann hätte das nicht getan? Vor allem nach den langen Monaten auf See?

„Deine Augen glitzern ja so, Jeremiah. Gefällt ihnen, was sie sehen?“, wollte Phi Chen wissen. Ihre Haut schien leicht gelb zu sein, ihre Augen waren wie Mandeln und ihr Haar war pechschwarz, glatt und seidig. Jede der drei Frauen war auf ihre ureigene Art atemberaubend.

„Ihr drei seid die schönsten Weiber, die mir in meinen dreiundvierzig Lebensjahren unter die Augen gekommen sind!“, stieß Jeremiah aus. „Beim Elmsfeuer, wäre ich doch nur zwanzig Jahre jünger und nicht so ein hässlicher, vernarbter Kerl – dann wüssten wir alle schon etwas miteinander anzufangen!“

Sie kicherten und kamen langsam näher. Wie auf ein geheimes Kommando. Ihre Hüften wogten unendlich verführerisch bei jedem ihrer Schritte. Dann waren sie heran – und Jeremiah sank unter ihrem Angriff hilflos zusammen. Die drei Göttinnen zerrten ihm lachend die zerrissene Kleidung herunter. Dann wuschen sie ihn mit dem gleichen, köstlichen Wasser, das er auch schon getrunken hatte, und erkundeten dabei gierig seinen Körper. Es schien sie nicht zu stören, dass er älter war und die Spuren eines bewegten Lebens aufwies.

Zur Hölle mit dem Zögern! Ich mag alt sein, aber meine Muskeln sind zäh und hart – und ich fühle mich kräftig genug, um diese drei Meerjungfrauen nacheinander zur Glückseligkeit zu harpunieren! Gehorche mir wenigstens jetzt, alter Leib – denn nun geht es nicht ums Sterben! Nun geht es um …

Seine Hände packten Tequez’ heißen Leib und er lachte, als er sie näher zu sich heranzog …

 

 

 

V

Völlig entkräftet lag Jeremiah auf dem Rücken und betrachtete die wundervollen Gesichter seiner drei Gespielinnen.

So gelang es ihm für einige kostbare Augenblicke, jene fürchterlichen Schmerzen in seinem ganzen Körper zu ignorieren.

„Oh nein – was ist mit dir, Liebster?“, hauchte Phi Chen voller Angst.

„Es geht ihm ganz furchtbar schlecht“, rief Ayliss. Ihre vollen Lippen bebten und sie war den Tränen nahe.

„Wir haben dich ausgelaugt, armer Jeremiah! Das wollten wir nicht. Wir wollten doch nur … endlich einmal … Liebe machen“, jammerte Tequez, der bereits Ströme von Tränen über die Wangen rannen.

„Ja. Wir haben solange darauf gewartet auf unserer einsamen, hässlichen Insel. Wir waren doch so lange alleine hier“, wimmerte Phi Chen und nickte mehrfach.

Jeremiah zwang sich zu einer Antwort, obwohl es ihn unendlich anstrengte: „Grämt euch nicht, meine Hübschen. Ihr habt einem Todgeweihten vor seinem Ende ein paar wunderbare Stunden geschenkt – und ich sterbe als glücklicher Mann. Niemals war ich glücklicher als hier. Allerdings ist es wirklich eine verfluchte Schande, dass ich nicht länger eure Gesellschaft genießen kann!“

Seine Stimme war nur noch ein schwaches Röcheln – und die Pein in seinem Körper wuchs immer mehr an. Und seine Kehle – glühende Lava schien hindurch zu strömen.

„Wasser … bitte … gebt … mir … Wasser!“

„Wir haben doch kein Wasser!“, schluchzte Tequez.

Kein Wasser? Wie kann das sein? Was ist das bloß für eine grausame Antwort? Nachdem ich vorhin soviel davon trinken durfte ...

„Was sollen wir bloß machen, Ayliss?“

„Uns bleibt nur eins, Phi Chen.“

„Bitte … nur noch einen Schluck … von … dem köstlichen … Wasser! Den Rest … könnt ihr ja für … euch behalten, ihr tückischen … Sirenen! Erfüllt … mir … bitte … meinen letzten … Wunsch!“, krächzte Jeremiah und bäumte sich auf. Das heißt, er versuchte es, aber er brachte nur ein klägliches Zittern zustande.

Die drei Frauen weinten jetzt bitterlich und streichelten ihn behutsam.

„Wir haben wirklich kein Wasser, das du trinken kannst. Du wirst uns hassen, liebster Jeremiah. Wir können dich retten, aber du wirst uns dafür bis in alle Ewigkeit hassen! Abgrundtief hassen …“

Er wollte antworten, doch es war zu spät dafür. Völlig entkräftet versank er in einer abgründigen, allumfassenden Dunkelheit …

 

 

 

VI

Was für ein fürchterlicher Albtraum. Das Liebesspiel mit meinen drei Schönheiten hat mich tief ins Delirium gestürzt. Zum Glück ist das vorbei. Ah, diese köstliche Nass in meiner Kehle! Was ist das doch für ein Genuss, keinen Durst mehr leiden zu müssen!

Mit geschlossenen Augen nuckelte Jeremiah an dem Flaschenhals, aus dem die berauschende Flüssigkeit in seinen Mund strömte.

Was trinke ich da eigentlich? Wasser … ist es nicht. Zu … dickflüssig. Und der Geschmack … passt auch nicht. Rum ist es auch keiner. Nein, beim Klabautermann, das ist kein Rum und auch kein Whisky …

Er nahm einen weiteren tiefen Schluck und jemand keuchte.

Ayliss? Nein, Tequez. Ja, er war sich ziemlich sicher, dass es Tequez war.

Er lächelte – und man zog ihm die Flasche aus dem Mund.

„He!“, protestierte er – da wurde ihm die Flasche wieder dargeboten. Oder war es eine andere? Etwas weicher?

Eine … weiche … Flasche? Und hat nicht Phi Chen etwas geflüstert wie „Laß mich jetzt!“

Jeremiah öffnete glücklich seine Augen – und erstarrte!

Und der Schleier der Täuschung zerriss ...

Er glotzte auf das, was er für eine Flasche gehalten hatte … auf das, was auf ihm … um ihn herum lag … auf das, was er für drei wunderhübsche Frauen gehalten hatte.

Er spie voller Ekel die Brust aus, von deren obszöner tiefroter Öffnung er die ganze Zeit gesäugt worden war. Er krabbelte rückwärts, fort von der Monstrosität mit der mehrfarbigen Haut und den mehrfarbigen Haaren, die ihn aus vielen Augen anschaute.

Unendlich traurig anschaute.

Jeremiah brüllte vor Agonie – und viel zu viele Münder sprachen mit unterschiedlichen Stimmen: „Ich wusste, dass du mich dafür hassen wirst, wenn ich dich rette!“

Er warf sich herum und floh hinweg über den schwarzen Sand, weg von dem unheiligen, wulstigen Fleischberg, der ihn draußen in den goldenen Wellen gepackt und auf diese verfluchte Insel entführt hatte, um … um … der mit den Stimmen von Ayliss, Phi Chen und Tequez seinen Verstand umnebelt hatte, um … um …

Jeremiah war schon ein gutes Stück von dem Seemonster weg, als ihm erst bewusst wurde, dass er viel zu schnell war … dass er viel zu viele Beine hatte … dass seine zahllosen Arme lang und biegsam und mit Saugnäpfen versehen waren …

Mit einem markerschütternden Schrei brach er zusammen!

 

 

 

VII

Logbuch Kapitän Thorndike, HMS Phobos, 20.08.1818:

 

In den frühen Morgenstunden haben wir elf Schiffbrüchige aufgenommen. Es handelt sich um Mitglieder der Besatzung des Frachters Troja, der wahrscheinlich vorgestern Nacht auf ein Riff lief und sofort sank. Dass die Männer solange überlebt haben, ist ein wahres Wunder. Sie sind völlig entkräftet. Diesem Umstand sind wohl auch die Wahnvorstellungen geschuldet, unter denen sie ausnahmslos leiden. Dennoch: Ihr dauerndes Gefasel, von zwei Seemonstern aus den sturmgepeitschten Wellen gerettet worden zu sein, macht mir die Mannschaft unruhig.

Ich habe deshalb Schiffarzt Landers angewiesen, die Geretteten zu separieren und sie großzügig mit Rum zu versorgen.

In einer Woche müssten wir Jamaika erreichen und dann bin ich diese verrückte Bande los. Vor allem diesen Pyke, den Smutje der Troja. Der Kerl behauptet steif und fest, das eine Seemonster habe auf seinem unförmigen Leib das Gesicht eines Maats gehabt, mit dem er bis vor zwei Jahren auf dem Frachter Xerxes gesegelt sei – das Antlitz eines gewissen Jeremiah Silver.

Und jenes Gesicht sei nicht bloß einmal darauf gewesen, sondern (obwohl ich nicht abergläubisch bin, schaudert mich bereits beim Niederschreiben!)

 

–  gleich dreimal!

 

 

Impressum

Texte: Mike Vulthar
Bildmaterialien: 'Sunrise with Sea Monsters' von William Turner, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/fe/JMWTurner_Sunrise_with_Sea_Monsters.jpg
Cover: Mike Vulthar
Lektorat: Gwenypher
Tag der Veröffentlichung: 20.08.2018

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