Hier gibt es kein Ungeheuer, dachte Hannah angestrengt.
Sehr, sehr angestrengt.
Hier gibt es kein Ungeheuer.
Das Licht des Mondes war von der Färbung besonders ekelhafter Schimmelpilze. Krankhaft silbergrau …
Der grobe Schotter knirschte unter den Sohlen von Hannahs Turnschuhen. Es klang, als ob sie nicht über Steine, sondern über Unmengen aufgedunsener Weinbergschnecken liefe, die sich bereitwillig zermalmen ließen.
Hier gibt es kein Ungeheuer.
Der Wind fauchte unvermittelt von hinten durch den Hohlweg heran und stieß sie grob in den Rücken. Während sie taumelte, verfluchte sie sich für den Einfall, hier entlang zu gehen – mitten durch das Ungeheuertal …
In den letzten zehn Jahren waren sieben Menschen in diesem engen Tal tot aufgefunden worden. Keine der Leichen war vollständig gewesen – ganz und gar nicht …
Aber das Tal war auch eine Abkürzung. Sie gewann so sicher zehn Minuten. Sie würde schneller zu Hendrik kommen. Hannah seufzte, als sie sich Hendriks Küsse ausmalte. Ja, das war das Risiko wert …
Hier gibt es auf keinen Fall ein Ungeheuer. Dass die Toten hier gefunden wurden, war reiner Zuf-
Hannahs Gedanken zerstoben, als es in den Büschen raschelte. Sie schrak erbärmlich zusammen und fuhr herum. Ihr Magen wurde von einem stechenden Schmerz durchbohrt. Der Wind wurde stärker. Wie ein unsichtbares Phantom zerrte er grob an ihren langen, braunen Haaren, dem dünnen T-Shirt und umfloss ihre Beine. Die Hot Pants waren die falsche Bekleidung für diesen unvermittelt eisigen Spätabendwind, der so gar nicht zu dem zurückliegenden heißen Sommertag passen wollte.
Nichts.
Da war nichts.
Und niemand.
Nur die Windböen, die wie entfesselt die dürren Büsche peitschten.
Hannah versuchte ihr Erschrecken lächerlich zu finden.
„Hi! Darf ich ein Stück mit dir gehen?“
Hannah riss schützend die Hände vors Gesicht und kreiselte erneut herum.
Diesmal stand jemand vor ihr!
Eine Armlänge entfernt …
Ein Mädchen von vielleicht fünfzehn Jahren, also etwa ihr Alter. Es hatte eine pechschwarze Lockenmähne, die bis zur Hüfte herabreichte. Es trug ein langes, giftgrünes T-Shirt mit Batikmuster und einen sonderbar geschnittenen, knielangen Rock.
„Shit, hast du mich aber erschreckt!“
„Sorry. Ich habe etwas im Gebüsch verloren und es gesucht. Also, was ist? Darf ich ein Stück mit dir gehen?“
„Wie? Ja, klar. Zu zweit ist es doch gleich nicht mehr so gruselig im Ungeheuertal, oder?“, freute sich Hannah.
Sie gingen los.
„Findest du es wirklich gruselig hier? Ich bin Hekate!“, stieß das Mädchen zusammenhanglos aus. So, als ob sie es auswendig gelernt hätte und unbedingt aufsagen wollte.
„Ich bin Hannah. Und ja, hier ist es echt schaurig. Der Wind … die Dunkelheit … obwohl der Mond scheint … und die Toten … denk doch bloß an die Toten …“
„Ja“, hauchte das Mädchen Hekate und lief dann still weiter
Das Knirschen des Schotters wurde mit jedem Schritt lauter.
Hier gibt es kein Ungeheuer.
Hannah schüttelte sich. Obwohl sie jetzt nicht mehr alleine war, fühlte sie sich nicht sicherer als zuvor. Sie blickte zu Hekate hinüber.
Das Mädchen Hekate lächelte breit und fragte: „Denkst du … glaubst du, dass hier in diesem Tal tatsächlich ein Ungeheuer existiert?“
Hier gibt es kein Ungeheuer. Oder doch?
„Ich weiß gerade echt nicht, was ich glaube oder nicht. Ich weiß bloß, dass ich mir aus tiefstem Herzen wünsche, dass wir bald hier heraus sind – und dass hier kein schreckliches Wesen haust.“
„Danke, dass du mir das gesagt hast, Hannah!“, sagte Hekate und ergriff dann Hannahs rechte Hand. Hannah ließ es geschehen und sie gingen weiter.
Das Ungeheuertal schien kein Ende nehmen zu wollen. Es war nicht das erste Mal, dass Hannah hier durchging (die anderen Male immer tagsüber, doch diesmal nachts. Diesmal nachts! NACHTS!) und sie war sich sicher, dass das Tal sonst viel kürzer war.
Hier gibt es kein Ungeheuer.
Hier gibt es ganz klar kein Ungeheuer.
„Hier gibt es ganz bestimmt kein Ungeheuer!“
Diese Worte waren einfach so über Hannahs Lippen gekrochen. Sie blieb stehen – und Hekate auch.
„Meinst du, Hannah?“
„Ja. Echt. Keine Angst, Hekate. Hier gibt es nie und nimmer so etwas wie ein Ungeheuer. Du brauchst keine Angst zu haben.“
„Ich habe keine Angst, Hannah.“
Schritte!
Schnelle Schritte!
Rasende, trampelnde Schritte!
Ein großer Schatten erschien hinter Hekate und packte sie mit stählernem Griff an den Armen. Riss sie hoch und umklammerte sie. Und schon legten sich auch furchtbar kräftige Arme um Hannah, bevor sie wusste, wie ihr geschah.
„Von wegen: Hier gibt es kein Ungeheuer!“, lachte der Mann, der Hekate gepackt hatte.
„Hier gibt es sogar zwei!“, kicherte der andere Mann in Hannahs Ohr. Seine knotigen Finger waren grauenhaft stark.
Die Männer lachten böse.
„Warum seid ihr zwei Hübschen auch hier durchgelaufen? Jetzt müsst ihr den Preis zahlen. Die Ungeheuer! Sie haben euch.“
Hannah fing an zu weinen. Sie wollte um Hilfe rufen, doch ihre Zunge schien wie erstarrt zu sein. So wie ihr ganzer Körper.
„Du bist doch kein echtes Ungeheuer, Mann!“, sagte das Mädchen Hekate.
Hier gibt es doch Ungeheuer!
Oh nein, hier gibt es doch Ungeheuer!!
Nein!!!
„Du wirst schon sehen, was für furchtbare Ungeheuer wir sind!“, lachte der böse Mann und presste Hekates schmächtige Gestalt zusammen.
„Du bist kein echtes Ungeheuer!“, beharrte Hekate.
„Woher willst du denn das wissen?“, brüllte der Mann wütend.
„Weil ich ein echtes Ungeheuer bin!“, sagte das Mädchen Hekate lächelnd. Sein Mund wurde plötzlich riesengroß.
Da waren auf einmal viel mehr Zähne.
Haifischzähne!
Rasiermesserzähne!
Wie der böse Mann schrie, während er zerfetzt wurde …
Wie der andere Mann Hannah losließ und schnaufend wegrannte …
Wie Hekate ihm mit einem unvorstellbar weiten Sprung nachsetzte, ihn umwarf und in tausend Stücke riss …
Hannah fiel in die Knie und übergab sich mehrfach.
Irgendwann half Hekate ihr hoch.
Hekate, die sich noch die roten Lippen sauber leckte.
„Ich bin satt, Hannah. Du darfst gehen“, sagte das Mädchen Hekate – und umarmte Hannah dann ganz heftig, ganz zärtlich. „Oh, ich bin so froh, dass ich satt bin und dass du deswegen gehen darfst!“
Dann verschwand das Ungeheuer –
– und Hannah torkelte schluchzend auf erbärmlich zitternden Beinen davon …
Texte: Mike Vulthar
Bildmaterialien: Mike Vulthar (eigenes Bildmaterial)
Cover: Mike Vulthar
Lektorat: Gwenypher
Tag der Veröffentlichung: 16.08.2018
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