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JUST KIDDING

 

 

Du

Du hast soeben begonnen zu lesen!

Ja, genau DU, der DU diese Seite exakt jetzt in deinen Händen hältst.

Na und?, denkst DU. Was soll denn diese selten schlaue Bemerkung am Anfang? Ärgerst DU dich vielleicht darüber, dass DU nicht mit dem förmlichen „Sie“ angeredet wirst? Bist DU gar ein Adeliger und wartest auf „Euer Hochwohlgeboren“?

Vergiss es! Vor mir sind alle gleich.

DU hast jetzt exakt fünf Zeilen gelesen und mit jedem Buchstaben mehr, den deine Triefaugen deinem armseligen, dumpfen Gehirn übermitteln, kannst DU meiner Macht weniger Widerstand entgegensetzen! DU glaubst das natürlich nicht. Schließlich hast DU schon so viele Seiten in so vielen Büchern gelesen. Warum sollte gerade diese Seite hier anders sein?

DU wirst es bald wissen.

 

 

Was war das eben?, denkst DU. Kenn ich nicht! Versteh ich nicht!

Genau! Brauchst DU auch nicht. Dieses äonenalte Zeichen wirkt trotzdem. DU sollst nicht sagen können, dass ich dir gar keine Chance zur Flucht gegeben hätte. Hier ist sie:

 

Hör einfach auf zu lesen.

 

DU hast es natürlich nicht getan.

Nur fünf Wörter: Hör-einfach-auf-zu-lesen – dieser Satz war so lächerlich kurz, dass dein Verstand einfach darüber hinweg galoppiert ist.

Außerdem bist DU viel zu neugierig, um noch innezuhalten.

DU willst wenigstens noch ein bisschen weiterlesen – aber das ist jetzt ohnehin egal.

 

 

Na, jetzt würdest DU nur allzu gerne aufhören, nicht wahr?

Dieser bohrende Schmerz in deinem Kopf, direkt hinter deiner Stirn, ist etwas, mit dem DU nun überhaupt nicht gerechnet hast. DU schwitzt? Das ist nur der Anfang, glaube mir. Spürst DU, wie unbarmherzig das Papier dieser Seite an deinen Fingerspitzen klebt? Dir wird klar, dass DU nie mehr loslassen können wirst. Während dein Magen in seiner eigenen Säure förmlich zu ertrinken beginnt, verfluchst DU dich selbst für deine Leichtsinnigkeit.

Das ist schön.

Aber die Einsicht kommt zu spät!

 

 

Und jetzt, da deine Organe langsam, aber stetig zu kochen beginnen, erkennst DU deinen riesigen, nicht mehr gutzumachenden Fehler. DU möchtest jetzt gern schreien, der gleichgültigen Welt deine Pein verkünden, aber das geht nicht mehr!

Längst schon sind deine oberen und unteren Schneide- und Eckzähne zu einer homogenen Masse verschmolzen, gegen die deine geschwollene Zunge hilflos anpeitscht. DU kannst nur noch grunzen wie ein Schwein im Stall! Fühle, wie deine Arme sich verkrampfen! Die Muskeln in deinem Rücken verknoten sich. Spüre, wie deine Leber gegen die Haut pocht! Bald wird sie sich ihren Weg ins Freie fressen! Oh, wie sehr DU dir gerade wünschst, nur dieses gottverdammte Buch loslassen zu können, aber das darfst DU nicht.

Ich erlaube es nicht.

DU kannst nicht verhindern, dass deine Finger jetzt auf die nächste Seite umblättern werden, obwohl DU ganz genau weißt, dass dich dort niemand anders als der bleiche Tod selbst mit seinen gnadenlosen, leeren Augenhöhlen erwartet!

Und jetzt blättere endlich um, verdammt!!!

 

 ...

...

HA HA HA! JUST KIDDING!

Mortimer Fenroy starrt glotzäugig auf das Manuskript, das er in seinen völlig verkrampften, angeschwollenen Fingern hält, und röchelt sabbernd vor sich hin. Sein aristokratisch geschwungener Schnurrbart vibriert, als ob sich winzige Zitteraale in ihm tummelten. Sein Blut schießt so erhitzt durch seine dünnen Adern, dass das dumpfe Pochen des Pulses in diesem ansonsten totenstillen Arbeitszimmer zu hören ist. Zumindest hört Claire Vondyne das Geräusch – Mortimer selbst offensichtlich nicht. Das ist nicht weiter verwunderlich. Seit kurzem sieht, hört und riecht Claire vieles, was andere nicht einmal erahnen. Sie hat das alles – und, ehrlich gesagt, noch viel Schlimmeres – erwartet und ist gut vorbereitet.

Als die typischen Symptome nachlassen und Mortimer seine Zahnreihen wieder auseinander bringen kann, flößt sie ihm vorsichtig ein paar Schlucke kalten Eistees aus der stets auf seinem Sideboard bereitstehenden Karaffe ein. Es ist genau 11:43 Uhr an diesem denkwürdigen Montagvormittag – und wie jeder seiner Freunde und näheren Bekannten weiß, trinkt der gute Morty niemals Alkoholisches vor fünf Uhr nachmittags.

„Just kidding … nur ein Scherz? Beim großen Gott Zeus, Claire, das gibt es doch nicht! Was war das eben? Ich … ich …“

„Du dachtest, du müsstest gleich abnippeln, nicht wahr, Morty?“, bemerkt Claire in einem nüchternen Bürotonfall, der mit einem kaum wahrnehmbaren akustischen Spritzer Erotik garniert ist.

Sie tupft ihm mit dem rechten Ärmel ihrer dünnen, zitronengelben Sommerbluse den kalten Schweiß von seiner zerfurchten Denkerstirn. Einige Tropfen dieser stark riechenden Flüssigkeit benetzen die zarte Haut an ihrem Handgelenk und lassen sie vor Lust erschaudern. Seit kurzem fährt Claire nämlich auch auf Dinge ab, die sie früher einfach nur eklig gefunden hätte.

„Just kidding … das ist die größte Verharmlosung aller Zeiten! Meine Zähne … mein verdammter Bauch … was hat Gregory sich nur bei diesem Manuskript gedacht? Ich weiß ja nicht, wie dieser Mist funktioniert, doch das ist einfach widerlich! Es ist barbarisch! Es ist …“

„… Millionen Pfund wert!“, schneidet ihm Claire verführerisch lächelnd den Satz mitten in der Luft entzwei. „Du weißt das. Echauffier dich ruhig noch ausgiebig darüber. Tobe von mir aus bis morgen früh. Ich gehe jetzt einfach und lass dich alleine. Und morgen reden wir dann in Ruhe übers Geschäft, ja?“

„Beim dünnen Ziegenbart des Pan, behandle mich gefälligst nicht wie einen kleinen störrischen Jungen, Claire! Ich spreche doch vom Geschäft. Was sollen wir denn mit dieser einzelnen ekelhaften Seite schon groß anfangen?“

„Das Lesen eben hat dir wirklich zugesetzt, mein Lieber. Verstehst du denn nicht, was ich dir da zur Veröffentlichung anbiete? Es ist nicht nur Gregorys letztes Werk – nein, es ist unendlich viel mehr! Diese magischen Symbole versetzen der Geschichte erst ihren ungeheuerlichen Effekt. Hast du vergessen, dass in unserer ach so zivilisierten Gesellschaft die meisten nur noch auf der Suche nach dem nächstgrößeren Kick sind? Das Buchgeschäft geht zurück, weil immer mehr zu faul sind, in ihrer eigenen Phantasie Bilder zu entwickeln. Und auch Filme und PC-Spiele haben ihre Möglichkeiten, heftige Adrenalinstöße zu verursachen, inzwischen aufgebraucht. Dies hier ist jedoch etwas völlig anderes.“

„Bei Athenes Pfirsich-Hintern – Gregory Heartman ist … verflucht, war eines der besten Pferde in unserem Autorenstall, aber das hier ist nur eine gottverdammte Seite!“

„Genau, eine einzige Seite, in dieser Rohfassung noch schlecht formatiert und voll gestopft bis obenhin mit so vielen Zeichen – typisch Gregory! –, dass wir ein extragroßes Format für das Buch brauchen werden. Eine einzige Seite, die dafür gesorgt hat, dass dir – wenn ich einmal blumig reden darf – der Arsch auf Grundeis gegangen ist! Hast du schon vergessen, was für eine Scheißangst du eben noch gehabt hast? Da draußen sind so viele Gelangweilte, die nach neuen Aufregungen Ausschau halten. Bungee, lebendige Würmer fressen, Drogen – alles abgelutscht. Die werden dir und mir diese eine, aber dafür unerreichbar brutale Seite für teures Geld aus den Händen reißen! Und der unerwartete, rätselhafte Tod von Gregory und seiner Familie vorgestern – so sehr ich das auch bedaure – hat ein hervorragendes Kaufklima für unser Produkt geschaffen. Die Leute lieben Gregorys Schreibe, das weißt du. Wir müssen dieses Projekt veröffentlichen, solange die Hysterie um die Todesfälle noch anhält. In vier Wochen wird diese Chance vielleicht schon vorbei sein. Außerdem sind die Produktionskosten viel niedriger als bei einem normalen Buch. So einen hohen Rohgewinnaufschlag hat es noch nie gegeben und wird es nie mehr geben!“, erwidert Claire beschwörend.

Verwundert stellt sie fest, dass es ihr heute sogar gelingt, sich nicht über Mortimers nervigen Göttertick aufzuregen.

Morty kann nicht einfach wie andere Leute ‚Jesus im Himmel!’ oder ‚Oh Gott!’ sagen. Nein, er beschwört stets einen der zahllosen Götter der Antike. Wenn er sich in den Finger schneidet, ruft er so etwas Exzentrisches wie ‚Beim Jupiter!’ oder ‚Das war Plutos Bosheit, die mir eben die Klinge führte!’.

Dieser Spleen ist nicht nur schrecklich dämlich, sondern auch furchtbar unpassend in Anbetracht von Mortimers völlig antiklassischem Erscheinungsbild. Er ist äußerlich eine leicht angegraute Version des hageren, bleichen Dandytyps aus den goldenen Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts – und gewiss nicht einer der in die Moderne herübergeretteten braunhäutigen Achilles-Artigen, deren volle Küsse laut gewissen schwärmerischen Liebesromanen nach reifen Oliven und süßem, rotem Retsina schmecken sollen.

Mortimer überdenkt gerade angestrengt ihre Argumentation.

Claire mag ihn nicht besonders, aber das hat sie ihm vom ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an erfolgreich verheimlicht. Sie kann es sich als Literaturagentin nicht erlauben, ihm ihre offen zur Schau gestellte Abneigung ins Gesicht zu klatschen, denn Mortimer ist schließlich der bedeutendste Lektor bei Wulvington House. Er hat sehr viel Einfluss. So macht sie ihn lieber ein bisschen an. Ganz sachte, nur einen klitzekleinen Hauch. Sie weiß, dass er das aufregend findet, aber selbst viel zu sehr Gentleman ist, um bei diesem Spielchen aktiv zu werden – zum Glück …

„Was ist nun, Morty? Wirst du mit Seiner Majestät reden?“

„Na schön, Claire. Du hast mich überzeugt. Ich versuche mein Glück bei Corksdale. Vielleicht bringe ich ihn ja dazu, dieses mephistophelische Ein-Seiten-Buch zu veröffentlichen.“

Tiberius Corksdale ist der Alleinherrscher der Wulvington House-Verlagsgruppe und ähnelt äußerlich beträchtlich einem stark verfetteten Alligator. Wäre Corksdale ein anderer Mensch, könnte Claire direkt zu ihm gehen und ihm Just kidding einfach zum Probelesen in die Hand drücken. Aber dieses wurstfingrige Ungetüm weigert sich strikt, ein Manuskript auch nur anzufassen, geschweige denn zu lesen. Dafür hat Corksdale seine Leute. Leute wie Mortimer. Corksdale selbst liest nur Bilanzen und Gewinn-und-Verlust-Rechnungen und findet das noch wesentlich geiler, als einer seiner fünf Sekretärinnen unter den kurzen Rock zu greifen.

Wenn jemand Tiberius Corksdale dazu bringen kann, Just kidding herauszubringen, dann Morty, das unbestrittene Alpha-Tier des Lektorenrudels. Fast alle Werke, die er zur Veröffentlichung empfiehlt, werden Bestseller oder holen zumindest das Doppelte ihrer Kosten wieder rein. Diese Geschichte muss einfach erscheinen! Claire hat sehr viel in diese eine Seite investiert. Sie wittert den süßen Duft eines bevorstehenden Dauerregens guten britischen Pfunds. Bei Gott (und ganz gewiss nicht bei Zeus!): Sie hat sich diese goldene Dusche nach den langen entbehrungsreichen Jahren wahrlich verdient!

„Ich bin sicher, dass wir ebenso in Gregorys Sinne handeln, vergiss das nicht, Morty. Er würde es hassen, wenn sein letztes Werk nicht erschiene. Ich wünsche dir viel Glück bei Corksdale!“, haucht sie Mortimer mit einem strahlenden Lächeln zu, winkt kurz und stöckelt auf ihren waghalsigen Stiletto-Absätzen hinaus.

 

 

Liber Khotaresch

Claire Vondyne fährt angenehm beschwingt nach Hause. Der hektische Londoner Verkehr stört sie ausnahmsweise nicht ein bisschen. Sie ist froh, dass sie endlich das Gespräch mit Mortimer hinter sich gebracht hat. Es ist ihr verflucht schwer gefallen, eine Nacht, einen Tag und noch eine Nacht darauf zu warten.

Sie parkt den Rover vor ihrem kleinen Haus in der Lyndhurst Street und steigt aus. Alles sieht ganz friedlich aus. Die Rollläden sind hochgezogen und geben den Blick frei auf die reinlich weiß gewaschenen Gardinen, die jedes Fenster verzieren. Ein paar Amseln und Ziegenmelker singen ihre Lieder und trotzen so starrsinnig der glühenden Mittagshitze.

Claire schließt die Haustür auf und betritt den düsteren, mit einem geschmacklosen, abgetretenen, dunkelbraunen Teppich ausgelegten Flur. Sie knöpft ihre Bluse auf dem Weg in die Küche auf und lässt sie einfach zwischen Kühlschrank und Abfalleimer zu Boden fallen. Noch vor ein paar Tagen wäre ein solches Verhalten undenkbar für sie gewesen – shocking, eines versoffenen Bahnhofspenners würdig. Die eiskalte Bierflasche, die sie aus dem Kühlschrank holt und mit zitternden Fingern ihres Kronkorkens beraubt, ist ebenfalls Ausdruck ihres dramatisch veränderten Wesens. Früher pflegte Claire höchstens mal an einem Glas Champagner zu nippen, ohne jedoch wirklich Genuss dabei zu empfinden. In der letzten Zeit ist ihr das Gefühl des Genießens sehr wichtig geworden …

Sie streift ihre hochhackigen Schuhe ab und stolziert barfuß, nur noch mit BH, Minirock und Slip bekleidet, jedoch mit der Grandezza einer Königin, ins halbdunkle Wohnzimmer. Dort, auf dem fleckigen Glastisch, liegt das Buch und wartet schon ungeduldig auf sie.

Wie immer, wenn sie es erblickt, durchläuft sie ein elektrisierender Schauer von den Zehenspitzen bis hin zum Scheitelpunkt ihres Kopfes. Die ungeheure Macht, die in den vergilbten Seiten lauert, lässt Claires Brustwarzen schmerzhaft erigieren. Die schwarzhaarige Literaturagentin sinkt anmutig in ihren alten Ledersessel und zieht das Buch zu sich auf den Schoß. Der abgegriffene Einband scheuert rau auf ihren Oberschenkeln, aber sie mag dieses Gefühl. Ihre Augen ruhen für einen langen Moment genussvoll auf den goldenen Lettern, die von den längst zu Staub zerfallenen Händen eines Buchbinders tief in bordeauxrotes Leder eingegraben wurden:

 

 

Als Claire einfällt, dass sie dieses Buch schon vor elf Jahren, zusammen mit einigen hundert anderen alten Schwarten, von ihrem Onkel Franklin geerbt hat, wird sie wütend.

Trotzdem: Wie hätte sie denn ahnen sollen, dass sich unter diesen vielen wertlosen Bänden ein solcher Schatz verbirgt?

Und selbst wenn sie es vorher entdeckt hätte, wäre ihr gewiss nicht eingefallen, wie sie es hätte verwenden sollen.

 

 

Du???

Vor vierzehn Tagen hatte sie der gute Gregory gefragt, ob sie in ihrem Bucharchiv nicht ein paar mystische Zeichnungen oder ähnliches habe, um seine neueste Geschichte optisch etwas aufzupolieren. Auf ihre Nachfrage nach der genauen Art seiner Story erwiderte Gregory Heartman nur, er habe eine gute Idee für etwas ganz Kurzes: eine Du-Erzählung.

„Was soll denn das für ein Quatsch sein, Gregory? Dir als Autor muss ich doch wohl kaum erklären, dass es nur Ich-Erzählungen oder solche aus der Perspektive der dritten Person gibt! Niemand schreibt Du-Erzählungen, außer in Liedtexten. Willst du etwa einen Song schreiben?“, hatte sie wenig erfreut zurückgegeben.

„Claire, zerbrich dir nicht den Kopf über die Erzählperspektive oder sonstige Aspekte meiner neuen Geschichte. Du bekommst schließlich deine Prozente dafür, dass du mir als Agentin und künstlerische Assistentin unter die Arme greifst. Und du hattest doch bisher keinen Grund zur Klage, oder?“

„Nein“, krächzte Claire zerknirscht. Sie kannte diesen vipergleichen Ausdruck in seinen Augen nur zu gut. Er war in diesem Augenblick gespannt wie eine Stahlfeder, obwohl seine Stimme völlig unverändert klang. Gregory glich die meiste Zeit vom Gemüt her einem bis oben hin vollgefressenen, trägen Lämmchen, doch es gab einen Punkt, an den man besser nicht rührte: seine künstlerische Freiheit.

Bevor ihn Claire unter ihre Fittiche genommen hatte, war es ihm nie gelungen, ein Manuskript bei einem Verlag unterzubringen. Gregory Heartman hatte beileibe nichts gegen die Korrektur von Rechtschreib- und Grammatikfehlern, aber wenn ein Lektor es wagte, seine Sätze umzustellen oder gar Szenen zu streichen, wurde der schmächtige Autor zur Furie. Erst durch Claire Wahrnehmung einer Filterungs- und Vermittlungsposition zwischen Gregory und den Verlagsleuten war es überhaupt zur ersten Veröffentlichung einer Heartman’schen Story gekommen.

„Na schön, mein Lieber. Ich werde mal in meiner Bibliothek nach ominösen Symbolen Ausschau halten“, hatte sie versprochen, um seine innere Anspannung zu entkräften. Nach einem langen Augenblick der Stille hatte er ihr zugezwinkert und gemeint: „Vertrau mir, meine treue Claire. Diese Geschichte wird etwas Neues sein – ganz anders als das, was ich bisher geschrieben habe. Sehr kurz, aber – Bamm! – mitten zwischen die Augen des Lesers! Sie könnte uns ganz groß machen.“

Das Liber Kotharesch schien geduldig auf sie gewartet zu haben. Als sie am gleichen Abend die Kisten mit der Erbmasse von Onkel Frank zu durchwühlen begann, stürzte, ja drängelte es sich förmlich in ihre Hände. Es fiel sogar offen hin. Genau auf die Seite, welche die wichtigen Symbole enthielt, die Gregory am Ende in Just kidding verwenden sollte.

Bevor sie ihm die spezielle Seite als Kopie übergab, hatte Claire viel Gelegenheit, in dem Buch zu lesen. Sie hatte seinen Inhalt in sich aufgesogen wie eine Süchtige und hatte die detaillierten Anweisungen peinlich genau verfolgt, als sie in ihrem niedrigen Keller gewisse Experimente und Beschwörungen vorgenommen hatte.

Oh ja, diese Rituale! Wie viel hat sie aus ihnen gelernt.

Claire nimmt einen gierigen Schluck aus der Bierflasche und spürt, wie das schaumige, prickelnde Nass ihre Kehle hinab rinnt. Sie erinnert sich genüsslich an vorgestern Abend …

 

 

Hirnorgasmus

Gegen achtzehn Uhr rief Gregory sie an. Seine Stimme zitterte vor Aufregung wie Espenlaub.

Es war wie immer, wenn er ein Werk fast vollendet hatte – er stand kurz vor dem Zustand, den Claire im Stillen Hirnorgasmus zu nennen pflegte.

„Bin so gut wie fertig. Muss nur noch die Grafiken einfügen, Claire – die aus deinem Buch. Sind echt toll. Komm bitte rüber. In den paar Minuten, die du zum Herfahren brauchst, hab ich das Ganze komplett. Du musst es unbedingt lesen. Ich glaube, so etwas Gutes hab ich noch nie geschaffen!“, hechelte ihr seine euphorische Stimme aus dem Hörer entgegen.

„Kein Problem. Ich bin gleich da.“

Fünfundzwanzig Minuten später hatte ihr Tess, Gregorys Frau, geöffnet. Ihre lange, blonde Lockenmähne sah mal wieder aus wie in einer Haarspray-Werbung. Dieser Teil ihrer Erscheinung biss sich mit ihrem strengen, mürrisch wirkenden Gesicht wie ein Rassehund mit einem räudigen Straßenköter. Sie war keineswegs hübsch, aber Gregory und sie liebten sich abgöttisch. Ein Grund mehr für Claire, diese Kuh zu hassen. Sie würde nie verstehen, warum Gregory nur zweimal mit ihr selbst ins Bett gestiegen war (nach der Veröffentlichung seiner ersten Geschichte und nach dem ersten fünfstelligen Vorschuss von Wulvington House), um sich dann unsterblich in diese verlebte, billige Barschlampe zu verlieben.

„Hi! Er ist unten. Du kennst ja den Weg, Claire“, meinte Tess knapp mit der ihr eigenen distanzierten Freundlichkeit. Irgendwo in einem der Zimmer des Erdgeschosses stritten Hank und Luisa, die gräßlichen Kinder der Heartmans, mit der für Teenager typischen unnachgiebigen Heftigkeit.

„Ja, danke“, gab Claire mit falschem Lächeln zurück und machte sich daran, über die enge, grau gestrichene Treppe in Gregorys unterirdisches Reich einzutreten.

Er haust wie eine Ratte im Keller. Kein Wunder, dass ihm hier unten so krankes Zeug einfällt.

Dieser Gedanke überkam sie jedes Mal wie ein Pawlowscher Reflex, wenn sie den götterspeisegrün lackierten, schmutzigen Kellerflur erreichte und sich zwischen Kisten mit leeren Flaschen und Schachteln voll zugestaubtem Gerümpel durchzwängen musste.

„Hallo Gregory!“, sagte sie und zog die schwere, nach rostigem Eisen riechende Tür zu seiner Schreibkammer auf.

Sie erhielt keine Antwort.

Ihre flaumigen Nackenhärchen, die noch jeden ihrer Liebhaber rasend gemacht hatten, kräuselten sich vor Aufregung, als sie den Schriftsteller hinter seinem PC erblickte. Er saß da, leicht nach hinten gelehnt, als ob er zwei Teller Schweinebraten zuviel gegessen und sich deswegen eine bequeme Haltung zum Verdauen gesucht hätte. Sein blutiges Gesicht mit den hervorquellenden Augen und die Löcher an seinem Hals – dort, wo seine Aorta geplatzt war – sprachen eine deutliche, endgültige Sprache. Der Boden hinter seinem Schreibtisch war eine einzige rote Sauerei …

Claire erschauderte vor Angst und vor Erregung zugleich. Obwohl ihr einige ihrer Beschwörungen eine ungefähre Vorahnung von den möglichen Auswirkungen der Symbole gegeben hatten, überstieg dieses Resultat ihre Erwartungen bei weitem.

Der mysteriöse Magus Hagen van der Fayth hatte diese Zeichen als die mächtigen Vier Htokknam-Signi totaler Unterwerfung bezeichnet und mehrfach gewarnt, sie unbedingt in der korrekten aufsteigenden Reihenfolge einzusetzen, um eine Wirkung zu erzielen, denn das Erste und Schwächste verlieh erst dem Zweiten Zeichen seine Macht – und so fort …

Eigentlich hatte sie nicht geplant, dass Gregory vom Einfügen der Zeichnungen starb. Er sollte lediglich einen großartigen Text zu den magischen Bildern erstellen. Dieses fatale Resultat musste wohl mit seinen Formulierungen nach dem Vierten – und machtvollsten – Symbol zusammenhängen. Claire überlegte angestrengt, kalkulierte Chancen und Risiken dieser neuen Situation, ohne Gregorys Tod auch nur mit einem Hauch von Trauer zu würdigen. Für Sentimentalitäten war zu diesem kritischen Zeitpunkt kein Platz. Statt zehn Prozent Gewinnanteil winkten ihr nun hundert Prozent, wenn sie konsequent blieb.

Sie trat hinter den PC und bedeckte den Großteil des Bildschirms hastig mit ihrer linken Hand. In der unteren Bildschirmzeile erkannte sie, dass zwei Dokumente geöffnet waren: Just kidding_text und Just kidding_complete. Sie klickte mit dem Mauszeiger hastig auf Just kidding_text, zog ihre Hand etwas zu Seite und bemühte sich, nur ganz kurz auf die Bildschirmanzeige zu blicken – und dabei nicht richtig zu lesen, sondern nur einen groben optischen Gesamteindruck des Gezeigten zu erhaschen.

Claire atmete erleichtert auf, als keines der Symbole zu erkennen war. Der Text allein war ungefährlich. „Du hast soeben begonnen zu lesen! Ja, genau Du, der Du diese Seite exakt jetzt in Deinen Fingern hältst …“, flüsterte sie aufgeregt die ersten beiden Zeilen vor sich hin und las dann still weiter.

„Brillant, mein alter Freund“, gratulierte sie dem so grausam Verstorbenen. „Jetzt müssen wir nur noch dein Werk etwas entschärfen, damit uns die Kunden beim Lesen nicht wegsterben. Hast du einen Vorschlag, wie wir das anstellen sollen? … Nein? Dann, denke ich, bleibt uns nur eines übrig: das gute, alte Probieren geht über Studieren, nicht wahr?“

Claire wechselte zu dem zweiten, tödlichen Text und ließ ihn – selbstverständlich ungelesen – dreimal ausdrucken. Sie deckte den Oberteil der Dokumente ab, bevor sie drei verschieden gekürzte Versionen von Just kidding_complete anfertigte. Vom Schlussteil des Textes, der aus dem Vierten Symbol und sieben darauf folgenden Zeilen bestand, entfernte sie in Version A zwei Zeilen, in Version B vier Zeilen und in Version C sechs Zeilen.

Sie spülte sich an dem kleinen Waschbecken, das Gregory glücklicherweise vor Jahren hier unten installieren gelassen hatte, noch sein Blut von den Schuhsohlen, bevor sie nach oben ging.

Als erstes fand sie Tess, die gelangweilt am Küchentisch eine ihrer überlangen Zigaretten rauchte und in einer Frauenzeitschrift blätterte. Ihr Gesichtsausdruck hellte sich auf, als sie die Ausdrucke in Claires Hand erblickte.

„Ist es fertig? Er hat diesmal solch eine Geheimniskrämerei um den Text gemacht, dass ich beinahe vergangen bin vor Spannung. Weißt du, ich bin wirklich ein bisschen eifersüchtig auf dich, Claire. Immer lässt dich Gregory seine Geschichten als erste lesen! Davon ist er nicht abzubringen.“

„Du hast wirklich keinen Grund zur Eifersucht. Gregory liebt dich doch. Bestimmt macht er das nur, damit ich eine wirklich misslungene Story aussortiere, bevor du sie ertragen musst. Hier, nimm schon und lies!“, entgegnete Claire breit und freundlich lächelnd und drückte Tess Version A in ihre gierigen Finger.

Nur schwer konnte sie der Versuchung widerstehen, in der Küche zu bleiben und Tess beim Lesen zuzuschauen, aber es galt nun, die Tests zügig durchzuführen – nicht dass am Ende noch überraschender Besuch anrückte und sie in Erklärungsnöte brachte.

Sie fand Hank Heartman, dreizehn Jahre alt, dick und Brillenträger, mit rot angeschwollener Wange und verheulten Augen am Fuß der Treppe zum Obergeschoss.

„Hallo, Hank!“, begrüßte sie ihn lächelnd und ging so vor ihm in die Hocke, dass er förmlich in ihren großzügigen Ausschnitt starren musste.

„Hi, Claire“, krächzte er verlegen, wandte aber seine Augen nicht ab. Welcher pubertierende Junge hätte das wohl schon getan?

„Hast du wieder mit Luisa gestritten? Hat sie dir etwa eine runtergehauen?“, fragte Claire natternhaft besorgt. Der kleine Fettklops nickte, eifrig um Mitleid heischend.

„Na, dann hab ich genau das Richtige zur Ablenkung für dich. Hier: Dein Daddy hat seine neue Geschichte fertig und braucht dein Urteil dazu.“

„Mmh … ich weiß nicht so recht, ob mir jetzt nach Lesen …“

„Nun komm schon, Hank! Du kannst doch deinen Vater – und mich – jetzt nicht hängen lassen. Pass auf: Wenn du mir den Gefallen tust und das hier gleich liest, fahre ich morgen mit dir zum Schwimmen raus zum See. Nur wir zwei. Na, was hältst du davon?“

Der arme Hank konnte ihr nur noch begeistert nickend Version B aus der Hand nehmen …

Luisa Heartman war anhand des lautstark erschallenden Hip-Hops auch problemlos im Obergeschoss zu finden. Das fünfzehnjährige, blonde Mädchen mit dem hübschen Schmollmund verzog allerdings genervt das Gesicht, als sie Claire in ihr Zimmer kommen sah.

„Was ist denn? Was willst du hier?“, maulte sie und setzte sich vor ihren abscheulich kitschigen, rosa eingerahmten Spiegel, der über dem Waschbecken hing – demonstrativ mit dem Rücken zu Claire.

Luisa war im Gegensatz zur restlichen Familie Heartman außergewöhnlich hübsch, aber ihr Charakter war von einer hitzigen, giftigen Qualität.

Bis vor kurzem habe ich dich noch verabscheut, weil du so völlig anders als ich gewesen bist. Inzwischen hasse ich dich, weil wir uns viel zu ähnlich sind. Es kann immer nur eine Raubkatze pro Revier geben, du kleines Miststück!, dachte Claire grimmig, bevor sie antwortete: „Hier, dein Vater bittet um deine Meinung zu seinem neuen Werk.“

„Ich hab jetzt keinen Bock auf Lesen. Hab mich viel zu sehr über meinen kindischen, fetten Bruder aufregen müssen. Leg es einfach da hin und verschwinde, Claire!“, zischte Luisa divenhaft. Ihre braunen Augen funkelten zornig.

„Ich versteh dich ja. Dieses dicke Ferkel kann einem schon auf die Nerven gehen. Hat er wieder durchs Schlüsselloch geguckt, als du dich umgezog-?“

„Komm mir nicht bloß nicht auf diese Gute-Freundin-Tour, Claire. Als ich kleiner war, hat das noch gewirkt, aber heute nicht mehr. Ich werde Daddys blöde Horrorgeschichte bestimmt nicht lesen! Ich hasse diesen Gruselkram total!“, keifte Luisa.

„Na schön, junge Dame. Was, wenn ich dir sage, dass es mir so wichtig ist …“

„Raus hier!“, schrie das boshafte Mädchen und ließ Claires Blutdruck auf ein dramatisches Level ansteigen. Dennoch vollendete sie ihren Satz äußerlich unbeeindruckt: „… dass ich dir fette fünfzig Pfund in die Hand drücke, gleich, nachdem du es durch hast.“

Luisas hysterischer Gesichtsausdruck verschwand und machte einer hässlichen, verschlagenen Miene Platz. Nach kurzem Überlegen meinte sie: „Wenn es so unglaublich wichtig ist, will ich hundert!“

Claire hätte ihr am liebsten in das unverschämt grinsende Puppengesicht geschlagen, doch das war unnötig. Sie hatte sie am Haken, nur das zählte!

„OK, Luisa – hundert. Aber nur, wenn du Just kidding sofort in meinem Beisein liest!“, lenkte sie scheinbar resigniert ein.

„Uuuuh – Just kidding, das hört sich ja furchtbar gruselig an. Gib schon her!“, spottete Luisa und riss ihr das Dokument aus den Fingern. Sie saß immer noch vor dem Waschbecken.

Claire blieb hinter ihr stehen und musterte im Spiegel die Veränderungen in ihrem hübschen Gesicht, während sie Zeile um Zeile las, genoss die sich rötenden Wangen, das zunehmend asthmatische Atmen, die sich gichtartig verkrampfenden Finger, die blau werdenden Lippen. Als die missratene Göre verzweifelt aufschluchzte und dem schriftlichen Befehl ‚Und jetzt blättere endlich um, verdammt!!!’ widerwillig folgte, war es eine unbeschreibliche Lust für Claire.

Auf der nächsten Seite lauerte schon das Vierte Zeichen auf Luisa. Die einzelne Zeile, die darunter stand, reichte aus, um Blut in dicken Strömen aus ihrer Nase und ihrem Mund schießen zu lassen. Stöhnend sackte das Mädchen zusammen und wurde ohnmächtig. Ihr Kopf knallte hart auf das beige getönte Waschbecken.

„Ts, ts, ts – Luisa! Du lebst zwar noch, aber herrje, auch Version C ist noch zu hart für die künftigen Leser von Wulvington House. Das Vierte Zeichen selbst ist wohl das Grundproblem. Ich werde es wohl weglassen müssen. Gut, dass das jetzt geklärt ist. Tja, man könnte meinen, du hättest Glück gehabt, weil du das Lesen überlebt hast. Aber so ist es nicht, Schätzchen. Glück habe heute nur ich, denn nach deinem baldigen Ableben bin ich Gregorys Universalerbin. Leider wird man morgen feststellen, dass du unglücklicherweise genau über deinem gefüllten Waschbecken ohnmächtig wurdest und darin ertrunken bist. Wärst du jetzt bei dir, würdest du einwenden, dass da doch überhaupt kein Wasser drin ist. Gut mitgedacht. Kein Problem, das werden wir gleich haben.“

Luisa rührte sich nicht mehr, während Claire das Waschbecken bis zum Rand vollaufen ließ. Das Mädchen zuckte nicht einmal, als ihr Gesicht allmählich im Wasser versank. Nur ganz am Schluss, da zappelte sie doch noch und Claire musste lästigerweise den Kopf etwas festhalten …

Als sie danach wieder ins Erdgeschoss hinuntergegangen war, hatte sie erwartungsgemäß den dicken Hank und seine Mutter Tess qualvoll verendet vorgefunden. Ja, das war in der Tat kein schöner Anblick gewesen …

 

 

Eine gute Nachricht

Claire fährt zusammen, als plötzlich das schnurlose Telefon neben ihr lautstark seine nervige Symphonie von schrillen, nach Plastik klingenden Tönen ausspeit und sie aus ihren glorreichen Erinnerungen reißt. Erst jetzt wird ihr bewusst, wie verschwitzt sie am ganzen Körper ist.

Mit glitschigen Fingern greift sie das Telefon und drückt auf die grüne Hörertaste. Ihre ausgetrockneten Stimmbänder ächzen ein schwächliches „Ja?“

„Bei Heras Titten! Claire, bist du’s? Claire?“, brüllt ihr Mortimer aus dem Hörer entgegen.

„Ja, Morty, ich bin’s. Was gibt’s?“

„Verdammt, Claire! Seine Majestät Corksdale ist mir vorhin fast verreckt, als er das Manuskript gelesen hat. Ja, du hast richtig gehört! Er hat es tatsächlich selbst gelesen! Aber es war beinahe zu hart für ihn – bekam einen Kreislaufkollaps. Ich musste den Betriebsarzt rufen.“

„Was? Aber das …“

„Bei Achilles’ Klöten, hat der Alte mich vielleicht angebrüllt, als er wieder bei sich war! Aber am Ende hat er gelacht und gemeint, Just kidding sei grundsätzlich genial und wir könnten eine Menge Kohle damit einfahren. Er will es aber nur rausbringen, wenn wir ein paar Änderungen am Text vornehmen. Kannst du das glauben? Er selbst hat das Manuskript lektoriert!“

„Aber, Morty, wieso etwas ändern?“, stammelt Claire verwirrt.

„Tut mir leid, Claire, aber anders macht’s Corksdale nicht. Die Änderungen sind aber nicht so gravierend. Sieh es dir selbst an. Hab es dir eben aufs Fax gelegt. Ich muss jetzt aufhören, Claire. Hab noch viel zu tun!“

„Aber wieso korrigiert Corksdale selbst?“, kann Claire noch gerade noch sagen, bevor Mortimer die Verbindung unterbricht.

Wutentbrannt schreit sie auf und springt aus dem knarrenden Sessel. Das Liber Kotharesch stürzt schwer zu Boden und seine Seiten zerknittern beim Aufprall, aber darum schert sie sich im Augenblick einen feuchten Dreck!

Sie stampft, einer entfesselten Göttin gleich, hinüber in ihr stickiges Arbeitszimmer, wo sich gerade eben ein weißes Stück Endlospapier aus ihrem Fax schlängelt. Kaum dass die Nachricht komplett übermittelt ist, reißt sie das Papier ab und beginnt mit vor Zorn flackernden Augen rasch zu lesen …

 

 

Beim Schwert des Mars

Mortimer Fenroy ist ehrlich erstaunt, als er kurz vor 17.30 Uhr vor Claires Haus steht und die Haustür nur angelehnt findet. Aber gleichzeitig ist er auch sehr gespannt.

Er tritt vorsichtig ein, fährt aber trotzdem zusammen, als ihm im Flur ein Bobby entgegenkommt und ruft: „Bitte, Sir, verlassen Sie umgehend dieses Haus!“

„Ich … wollte zu Miss Claire Vondyne.“

„Was Sie wollten, ist unerheblich, Sir. In dieser Wohnung finden polizeiliche Ermittlungen statt und deshalb bleibt Ihnen der Zutritt verwehrt!“

„Was? Beim weißen Bart des Zeus! Claire ist doch hoffentlich nichts zugestoßen?“, stößt Mortimer beunruhigt aus und hält sich unwillkürlich die Hand vor den Mund.

„Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft erteilen. Gehen Sie jetzt bitte, Sir. Ansonsten muss ich körperliche Gewalt anwenden!“

„Was ist denn hier los, Sergeant Brown?“, wird der Uniformierte von einer kleinen, drahtigen Frau Mitte Dreißig, die soeben aus Claires Wohnzimmer getreten ist, mit sehr energischer Stimme unterbrochen. Diese Frau trägt eine weißblonde Stiftenfrisur und hat wache, nagetiergleich hin- und herhuschende Augen, von denen sich Mortimer sofort unangenehm durchleuchtet fühlt.

Der Bobby namens Brown fährt zusammen und antwortet: „Dieser Mann hier, Captain Bronty – er will nicht gehen, obwohl … obwohl wir …“

„Schon gut, Brown, schon gut. Ich übernehme von jetzt ab. Wer sind Sie bitte, Sir?“

„Mein Name ist Mortimer Fenroy, Miss … äh, Verzeihung … Captain Bronty.“

„Und Sie wollen zu Claire Vondyne? Kennen Sie die Frau schon länger?“

„Ja … und nochmals: ja. Allerdings nur beruflich. Wir haben vorhin noch miteinander telefoniert und ich habe ihr dann ein Fax geschickt. Da ich noch diesbezüglich keine … Reaktion von ihr erhalten habe, wollte ich persönlich Rücksprache mit ihr halten.“

„Ist Ihre Fax-Nummer die 149294, Mr. Fenroy?“

„Genau. Es ist die Fax-Nummer meines Büros bei der Wulvington House-Verlagsgruppe. Von meinem Büro dort habe ich sowohl telefoniert als auch gefaxt.“

„Soso … schicken Sie immer solche Faxe, Mr. Fenroy?“, fragt ihn die kleine Frau in einem Ton, scharf wie eine Rasierklinge. Mortimer duckt sich unwillkürlich zusammen, aber es gelingt ihm, stockend zu entgegnen: „Es ist … nicht so, wie Sie … denken, Captain Bronty. Das, was ich gefaxt habe, ist ein … lektoriertes Manuskript. Das letzte Werk von Greg… Gregory Heartman.“

„Aha, dieser Gruselgeschichten-Schreiber, der sich vor zwei Tagen mitsamt seiner ganzen Familie ins Jenseits verabschiedet hat. Meine Freundin Cassandra hat die Autopsie an den Heartmans vorgenommen. Details kann ich Ihnen selbstverständlich wegen des Dienstgeheimnisses nichts erzählen“, meint die blonde Frau mit einem undeutbaren Lächeln.

Und abends nimmt Cassandra an dir bestimmt eine vaginale Skopie vor, Madame Captain, denkt Mortimer in stiller Häme, um die irritierende Angst, die ihm diese scharf blickende Frau bereitet, wenigstens etwas abzuschwächen. Es funktioniert kein bisschen. Im Gegenteil: Seine Blase krampft sich brennend zusammen, als Captain Bronty mit einer einladenden Handbewegung spricht: „Bitte kommen Sie mit mir hinein, Mr. Fenroy. Ich möchte Ihnen da mal etwas zeigen.“

Mit einem klammen Batzen Flauheit im Magen folgt er ihr durch das unordentliche Wohnzimmer. Auf dem Boden verstreut liegen zwei zusammengeknüllte, wohl gebrauchte Slips und ein altes, dunkelrotes Buch. Kopfschüttelnd betrachtet Mortimer diese Spuren von Unordnung, während er der Bronty ins Claires Arbeitszimmer nachtapst.

Als er die mit einem weißen Tuch teilweise abgedeckte Gestalt auf dem Boden vor dem Faxgerät erblickt, fährt ihm der Schrecken wie ein rostiges Messer tief in seine Eingeweide. Die Dämme seiner Blase drohen überspült zu werden …

„Ich hab vorhin diesen Quatsch gelesen, den sie Miss Vondyne gefaxt haben. Dieser Heartman hat ja seltsame Ideen gehabt. Ich mag keine Horrorgeschichten – lese lieber Krimis – hahaha, das ist kein Witz, Mister, ehrlich nicht“, lacht

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Mike Vulthar
Bildmaterialien: 1) Cover: Cover created by © T.K.A-CoverDesign / t.k.alice@web.de ​// http://tka-coverdesign.weebly.com/font-copyrights.html / 2) Grafiken in den Geschichten dieses PHANTOMHAMMER 666-Bands: Mike Vulthar
Cover: Cover created by © T.K.A-CoverDesign / t.k.alice@web.de ​// http://tka-coverdesign.weebly.com/font-copyrights.html
Lektorat: Gwenypher
Tag der Veröffentlichung: 18.08.2018
ISBN: 978-3-7438-7826-6

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