Warum geschah bloß, was geschah?
Gesine Martens weiß es als einzige – und schweigt beharrlich ...
*
Sie war an jenem Morgen durch ein lautes Knistern erwacht.
Ein nervendes, sofort geradezu unerträgliches Knistern.
Und das am zweiten Tag im Urlaub!
In diesem ersten Urlaub seit zwölf langen Jahren.
Stets hatte Professor Dr. mult. Friedensreich Martens wichtige Forschungen vorgeschoben, wenn seine genervte Gattin nach Urlaub verlangt hatte. Zwölf Jahre hatte sie demütig genickt, doch dieses Mal hatte sie sich durchgesetzt.
Es war ein hartes Gefecht – nein, ein wochenlanger Feldzug! – gewesen, doch am Ende hatte sie gewonnen. Ausnahmsweise …
Stöhnend schaltete Gesine Martens die Nachttischlampe an.
Wie erwartet war es ihr Göttergatte, der sie mit diesem verdammenswerten Knistern – das inzwischen zu einem infernalischen Rascheln angewachsen war – aufgeweckt hatte. Wie besessen wühlte Friedensreich Martens (Friedy genannt) durch die Unterlagen auf dem runden Eichentisch, der ihm als Urlaubsarbeitsplatz diente. Denn selbstverständlich hatte er sich einen großen Vorrat an Forschungsergebnissen und Akten mitgebracht.
„Meine Güte, Friedy, was veranstaltest du für ein Getöse?“
„Ich habe Urlaub, Gesi!“, japste der Professor gehetzt.
„Wir haben Urlaub, nicht bloß du!“, fauchte seine Gattin.
„Nein, nein, ich habe Urlaub!“, lachte Friedensreich Martens und wühlte noch wilder.
Wie entfesselt.
Gesine quälte sich aus dem Bett und trat zu ihm. Ihr ganzer Körper schien in Flammen zu stehen – und ganz gewiss nicht vor Leidenschaft, oh nein! Das war eine Emotionen, die Leute in billigen Liebes- und Erotikromanen zuteil wurden, doch nicht ihr, Gesine Martens, 42 Jahre (relativ) jung.
„Nochmals: Wir beide haben Urlaub – und deshalb frage ich mich, wieso du so rücksichtslos bist und mich mit deinem Gepolter aufweckst!“
„Nein, Gesi, du begreifst ja überhaupt nichts. Wie immer! Ich – ich – nur ich habe Urlaub!“, schrie Professor Martens mit irrwitziger Begeisterung und hielt ihr irgendein graues Ding ganz dicht vors Gesicht. Es sah aus wie eine zerfurchte Pizza aus Granit …
Sie begriff tatsächlich nichts.
Absolut nichts.
Wie denn auch?
„Ich habe Urlaub – und nicht von Hyrth, dieser Stümper, haha!“
„Was … hat … denn … Rufus von Hyrth … mit … unserem … Urlaub zu tun, Friedy?“, stammelte Gesine Martens, aufgrund der Nennung von Professor Martens ewigem Konkurrenten vollends verwirrt.
„Herrgott, Weib, hör doch endlich zu!“, tobte nun Friedensreich Martens, erfüllt vom gerechten Zorn des fanatischen Gelehrten. „Ur-Laub! Nicht Urlaub! Fossile Blätter eines bisher unbekannten Ahnen des Mammutbaums. Älter als alles, was die Wissenschaft bisher kennt. Und ich habe dieses Wunder der Natur vorhin beim Spazierengehen am Strand entdeckt! Ich – ich, nur ich allein – habe dieses wundervolle Ur-Laub entdeckt, dass seit bestimmt 150 Millionen Jahren auf seine Entdeckung wartete. Der Nobelpreis ist mir sicher! Rufus von Hyrth, das ist dein Untergang! Das ist …“
Friedensreichs Worte wurden zu einem unverständlichen Wortschwall, der Gesines Verstand mit sich riss. Allein die bittere Erkenntnis, dass sie wieder keinen richtigen, keinen gemeinsamen Urlaub mit ihrem Ehemann hatte, weil sich frech ein uraltes Stück versteinerter Pflanzenrest dazwischengedrängt hatte, blieb zurück. Von diesem Augenblick an würde er nur noch ein einziges Thema kennen.
Wie er da draußen auf dem Balkon herumstolzierte und fuchtelte und brabbelte.
Es konnte einen wirklich rasend machen.
(Ur-Laub …)
RASEND!!!
URLAUB EIN LEBEN LANG – DANK UR-LAUB!
Ja, das war tatsächlich ein lächerlicher Buchtitel.
Die anrührende Geschichte einer Frau, die an einem einzigen Tag ihren geliebten Mann verlor und einen unglaublichen Fund machte – der Untertitel war auch nicht viel besser.
Das Buch verkaufte sich trotzdem wie verrückt.
Ihr Agent hatte richtig gelegen.
Goldrichtig.
Ach was: platinrichtig!
Gesine lächelte und signierte das nächste ihrer Bücher, obwohl ihr Handgelenk bereits verkrampft war.
Mit einem Vorwort von Professor Rufus von Hyrth, international anerkannter Biologe und frischgebackener zweiter Ehemann der Autorin Gesine von Hyrth.
Gesine grinste zufrieden, als sie sich an die letzte Nacht mit Rufus erinnerte, die so herrlich leidenschaftlich gewesen war. Endlich ein Biologe, der nicht bloß Chlorophyll im Kopf hatte …
Sie war sich immer noch nicht ganz sicher, ob Friedy an jenem Morgen auf dem Balkon bloß in seiner Aufregung gestolpert war oder ob sie ihn nicht doch vor lauter Wut ein winziges bisschen geschubst hatte.
Jedenfalls war er urplötzlich auf der falschen Seite des Balkongeländers gewesen.
Und dann ganz weg.
Weiter unten.
Ganz weit unten ...
Gesine kicherte, denn der gute Friedy hatte da unten auf dem Asphalt beinahe ausgesehen wie ein heruntergefallener, geborstener Blumentopf.
Rote Erde überall …
„Ich, ich – nur ich allein – habe Urlaub. Nein: Ur-Laub! Mensch, UR-LAUB!“, prustete sie plötzlich laut los.
Das stand am nächsten Tag in der Zeitung, in einem missgünstigen Bericht zu ihrer Lesung.
Es war ihr so was von egal …
Texte: Mike Vulthar
Bildmaterialien: https://pixabay.com/ (Creative Commons CC0), bearbeitet durch Mike Vulthar
Cover: Mike Vulthar
Lektorat: Gwenypher
Tag der Veröffentlichung: 06.07.2018
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