Schon als ich Kristian Hargrimmson zum ersten Mal sah, fühlte ich, dass mit ihm das Unheil nach Thularstad kam. Wobei es korrekt ausgedrückt heißen muss: ein weiteres Unheil.
Denn wir hatten ja vorher bereits Olaf Olafson – und der war mehr als ausreichend für die rund fünfundzwanzigtausend Seelen unseres Städtchens.
Was genau ich bei meiner ersten Begegnung mit Hargrimmson spürte und wodurch dieses Gefühl, diese Vorahnung, ausgelöst wurde? Die Antwort wird lächerlich erscheinen, denn der Mann sprach an jenem denkwürdigen Tag kein einziges Wort zu mir. Er grüßte mich noch nicht einmal durch ein Nicken, obwohl ich mein Ordensgewand trug. Sicherlich, das ist im Süden Schwedens inzwischen genauso normal wie in vielen Gegenden der Welt – und im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen empfinde ich das nicht schlimm.
Ja, ich bin Priester, aber ich bin nicht etwas Höheres als andere Menschen, dem man automatisch mit Ehrfurcht begegnen muss. Die Achtung und Sympathie der Menschen muss man sich erdienen.
Kristian Hargrimmson lief schnurstracks an mir vorbei, die weißlich-blauen Augen strikt nach vorne gerichtet, das hagere Gesicht ein Gespinst von Furchen, eine schmerzliche Konzentration verratend, der Gang hölzern und angespannt, seine Zähne sicher hinter den Lippen verborgen. Etwas ging von ihm aus, das mich unwillkürlich würgen ließ, weil sich ohne Vorwarnung ein abscheulicher Frostatem unter meiner dicken Winterkleidung auszubreiten schien.
Glücklicherweise nahm er keine Notiz von meinem peinlichen Verhalten.
Drei Tage später begegneten sich Olaf Olafson und Hargrimmson zum ersten Mal. Das war der Anfang vom Ende …
Olaf Olafson
Wer das eigentlich ist? Man sollte besser fragen, wer er gewesen war. Heute ist er … weniger als früher; ja, ich denke, so ist es treffend ausgedrückt.
Olaf Olafson gibt den Ton an in Thularstad – immer noch, denke ich – wenn auch niemand wissen kann, wie lange das noch so bleibt.
Nun, da alles anders geworden ist.
Er hat jedenfalls überall seine Finger drin. Sein äußeres Auftreten ist ruhig und seriös, solange man ihm nicht in die Quere kommt. Leider ist es nicht sonderlich schwer, Olafson in die Quere zu kommen. Seine Launenhaftigkeit ist beispiellos. Stets hält er ein paar üble Gesellen in der Hinterhand, die seinen Wünschen nur allzu bereitwillig brutalen Ausdruck verleihen, dumpfe Schläger, die von seiner intelligenten Rücksichtslosigkeit angezogen wurden. Wie heidnische Götzendiener von einer schrecklichen Götterstatue.
Viele von Olafsons Opfern schütteten mir ihr Herz aus unter dem Schutz der Beichte, so dass ich einen ziemlich guten Eindruck vom tatsächlichen Wirken dieses fadenscheinigen Ehrenmanns unserer Gemeinde gewinnen konnte.
Er versäumt nie einen Gottesdienst, doch gleitet der Inhalt meiner Predigten stets an seiner finsteren Seele ab. Solche Leute lassen mich schaudern …
Wer zum Beispiel hatte Inga, die Tochter der Björnsons, in die Heroinabhängigkeit geleitet? – Olaf Olafson!
Sie beichtete es mir in einem ihrer wenigen lichten Momente. Sie verbot mir, das jemals ihren Eltern zu erzählen. Sie hatte zuviel Angst um die beiden …
Olaf ist groß und breitschultrig. Beinahe wie einer dieser amerikanischen Catchgiganten.
Er trägt teure Designerkleidung. Sein strohblondes, stoppelkurzes Haar und sein verwegen geschnittenes Gesicht verleihen ihm ein aggressiv-attraktives Flair, dem man sich schwer entziehen kann. Ja, er hat Charme, das ist nicht zu leugnen. Den hat der Teufel allerdings auch …
Olaf Olafson ignoriert man nicht
Das musste Kristian Hargrimmson auf die harte Tour lernen. Seine hagere, in einen mausgrauen Mantel eingeschnürte Gestalt erregte Olafsons Neugier und Missfallen, als ihm der neue Bürger Thularstads zufällig in einer Nebenstraße begegnete. Und ihn beinahe umrannte.
„Was für einen leeren Deppenblick dieser Kerl vor sich hertrug, unglaublich, Pastor!“, ereiferte sich Olafson, als ich ihn heute Nachmittag im Krankenhaus besuchte. Gestenreich schilderte er mir seine Version der Geschehnisse. „Dieses hohle Stieren hätte alleine ausgereicht, um mich zu reizen, aber dass der Hundesohn einfach durch mich durchlatschen wollte, konnte ich ihm nicht durchgehen lassen. Ich verlange Respekt!“
Wofür?, dachte ich im Stillen, während ich ihm weiter angewidert zuhörte.
„Ich hab also Gunnar zugezwinkert, damit der dem Hundesohn eine kleine Lektion in guten Manieren gibt. Gunnar ist darin sehr geschickt … gewesen.“
Es wunderte mich nicht, dass sich Olaf Olafson nicht selbst die Finger schmutzig gemacht hatte. Mindestens einer seiner drei Stammschläger, Gunnar, Mikka und Ansgar, umkreiste ihn stets wie ein Trabant seinen Planeten, wenn sich der blonde Riese im Freien bewegte.
„Ja, Gunnar hat ihn angerempelt und ermahnt, besser die Augen offen zu halten, damit er in Zukunft nicht wieder einen honorigen Bürger wie mich, Olaf Olafson, umrennt.“
„Und wie hat Hargrimmson reagiert?“
„Verdutzt. Als ob er aus dem Tiefschlaf gerissen worden wäre. Er nuschelte so was wie ‚Kenne ich nicht. Interessiert mich auch nicht’ zwischen seinen kaum geöffneten Lippen hervor.“
„Was deiner Ansicht nach die falsche Antwort war.“
„Selbstredend. Geht ja kaum noch falscher, oder? Gunnar versetzte ihm einen derart heftigen Stoss, dass der Kerl weit auf die Fahrbahn geschleudert wurde. Ein ziemlich großer LKW kam mit mächtig Tempo die Straße runter. Hargrimmson musste sich ziemlich sputen mit dem Hochrappeln. Sein Krabbeln sah so total witzig aus, dass Gunnar und ich uns schier kringelten vor Lachen. Leider hat der Hundesohn es rechtzeitig gepackt … wenn nicht, dann wäre mir so manches erspart geblieben. Vor allem das hier! Gottverfluchter Hargrimmson! Weißt du, was er rief, als er auf der anderen Straßenseite in Sicherheit war? ‚Seid froh, dass ich es nicht mehr mache! Sonst würde es euch übel ergehen!’, das waren seine blödsinnigen Worte. Und er hielt sich dabei die Hand vor den Mund. Damals dachte ich, er hätte wohl irgendwie was abbekommen durch den Stoss – sowohl an den Lippen als auch im Oberstübchen. Heute ahne ich die wahren Gründe dafür!“
Olafsons Gesicht war während des Erzählens puterrot angelaufen. Eisiger, fast schon flockiger Schweiß glitzerte ungesund auf seinen solariumgebräunten Wangen. Obwohl er es nicht im Geringsten verdient hatte, fuhr ich ihm beruhigend über die Haare, denn Gott verlangt von seinen Priestern auch den Schlimmsten gegenüber Gnade. Für ein oder zwei Sekunden genoss er meine Trost spendende Berührung – bis er sich erinnerte, wer er war.
Drohend grummelnd schlug er meine Hand zur Seite. Olaf Olafson ist noch immer sehr stark – und deshalb war mein ganzer rechter Arm augenblicklich wie gelähmt! Ich bin ein geduldiger Diener Gottes, doch das war zuviel! Wütend erhob ich mich (und gelangte so aus seiner Reichweite) und sagte: „Du benötigst meinen geistlichen Beistand offenbar nicht länger, Olafson. Zum Verprügeln stehe ich dir ganz gewiss nicht zur Verfügung!“
Hätte er ein einziges dummes Wort gesprochen – ich wäre auf der Stelle gegangen. Aber wie hätte ich ihn verlassen können angesichts der abgründigen Verzweiflung, die sich in seine eben noch so brutalen Gesichtszüge hineinwucherte? Noch bevor er anfing, mich geradezu anzubetteln, ihn nur nicht alleine zu lassen, wurde mir klar, dass ich noch bleiben musste.
Als sich Olafson schließlich etwas beruhigt hatte, forderte ich ihn auf, mit seiner Beichte fortzufahren. Das tat ich zum Teil auch eigennützig, um endlich zumindest einige meiner Wissenslücken über die ganzen dramatischen Vorgänge schließen zu können. Es überraschte mich nicht, dass er als nächstes auf die Villa zu sprechen kam.
Die alte Villa Johannson in der Kirkjastrad
Seit Jahren schon war sie Olaf Olafsons Traumhaus gewesen. Pech für ihn, dass sie ausgerechnet Richter Johannson gehörte. Der alte, sture Jurist hatte sich über ein Jahrzehnt lang als absolut unempfänglich für Olafsons überteuerte Preisangebote erwiesen. Der verkniff es sich zähneknirschend, auf andere Art Druck auf den Richter auszuüben, denn das hätte seine perfekt getarnten illegalen Geschäfte in Gefahr gebracht. Olafson war viel zu raffiniert, um sich selbst ins Fadenkreuz der Polizei zu rücken. So hieß es warten, so schwer ihm das auch fiel.
Schließlich verschied Johannson unerwartet. Seine in Norwegen lebende Tochter Alva reiste zur Beerdigung an, brachte das Zeremoniell hinter sich und entschied sich dann rasch, das Haus dem Meistbietenden zu verkaufen. Olafson war siegessicher, auch wenn er die Frau nicht persönlich kannte und nicht wissen konnte, ob der Richter vielleicht irgendwann schlecht von ihm und seinen penetrantem Kaufersuchen geredet hatte.
„Da ich nicht ahnen konnte, was der Alte ihr erzählt hatte, entschloss ich mich dazu, mein vorhergehendes Kaufpreisangebot auf volle zehn Millionen Kronen aufzurunden. Ich wollte die Villa schließlich unbedingt haben. Da wäre es unglaublich dämlich gewesen, auf die plumpe Tour zu feilschen, Pastor. Alles war perfekt geplant – und dann kommt mir dieser unverschämte Hundesohn schon wieder in die Quere!“
„Ja, das war in der Tat überraschend. Niemand hätte gedacht, dass Hargrimmson über die finanziellen Mittel verfügt, um ein Haus zu erwerben, ganz zu schweigen von der Villa. Schließlich war er Mieter eines winzigen Zimmers bei der Witwe Lumquist“, erinnerte ich mich.
„Weiß der Teufel, woher er das Geld hatte! Jedenfalls kam er gerade aus der Villa raus, als ich reingehen wollte. Ich hab den Braten selbstverständlich sofort gerochen – sein feiner Anzug und die Aktentasche unter seinem Arm – und ihm geraten, sich mein Haus ganz schnell aus dem Kopf zu schlagen. Sonst würde es ihm schlechter ergehen als beim letzten Mal!“
„Und was hat er darauf erwidert, Olaf?“
„Im ersten Moment hatte er die Hosen gestrichen voll, da bin ich ganz sicher. Murmelte etwas, dass er ja nichts von meinem Interesse an diesem Objekt gewusst hätte. Ich schlug ihm dann höflich vor, sein Angebot auf der Stelle wieder zurückzuziehen.
Da wurde der Hundesohn trotz seines Bammels störrisch. Er meinte, dass ich mir ja keine Sorgen machen müsste, wenn mein Preis hoch genug sei. Dass ich es doch Alva Johannson überlassen solle, an wen sie verkauft. Er würde es akzeptieren, wenn er der Verlierer sein sollte. Ich hab ihm vor Augen geführt, dass er auf jeden Fall verlieren wird, weil die Villa mir zusteht.“
„Eine erneute Respektlosigkeit, deiner Definition nach“, kommentierte ich und konnte mir den ironischen Unterton nicht verkneifen.
„Spar dir das Lästern! Darf man eigentlich als Mann Gottes die Schwäche eines Mitmenschen so schamlos ausnutzen?“, zischte Olafson wütend. Sein Zorn verrauchte jedoch gleich wieder und wich einer unterschwelligen Furcht. Seine Augen suchten für eine Minute hektisch das Krankenhauszimmer ab, bevor er weiter sprach: „Na schön, wenn du dich gut dabei fühlst. Hauptsache, du hörst mir weiter zu.“
Ich nickte.
„Obwohl ich fast vor Wut explodierte, verkniff ich mir eine sofortige Strafaktion. Wenn Alva Johannson aus dem Fenster gesehen und etwas davon mitbekommen hätte, wären meine Chancen gesunken. Doch Fortuna stand mal wieder auf meiner Seite, denn noch in der gleichen Nacht – haha!“
„Erhielt Kristian Hargrimmson seine Lektion …“
„Nicht sehr klug von diesem Hundesohn, sich im Dunkeln herumzutreiben. Thularstad ist ein gefährliches Pflaster für gewisse Leute. Gunnar und Mikka haben ihn ordentlich verdroschen, bevor er wusste, wie ihm geschah. Hätte ich geahnt, was das alles an Unglück auslöste, hätte ich ihnen befohlen, den Kerl gleich kaltzumachen!“
Zutiefst angewidert (und für einen Augenblick grenzenlos unvorsichtig) fragte ich: „Und das hätte dir keinerlei Gewissenbisse bereitet?“
„Bisse? Verdammt! Achte gefälligst auf deine Wortwahl!“, ereiferte sich Olaf Olafson und stöhnte vor Schmerz. Seine Hände krochen suchend unter der Decke herum. Bei dem Anblick wurde mir übel.
„Entschuldige bitte, das war keine Absicht, Olaf … wirklich nicht.“
„Na schön, ich will’s mal glauben!“, schnaubte er. „Ist ja auch egal: Weiter im Text! Also, meine beiden Freunde hatten ihm gründlich eingebläut, was er im Bezug auf die Villa zu lassen hatte. Als sie von ihm abließen, war er ganz schön verbeult und blutig. Gunnar berichtete mir, dass er die ganzen Schläge wortlos – aber nicht lautlos, haha! – eingesteckt hatte. Erst als meine Freunde bereits am Gehen waren, nuschelte Hargrimmson mit kaum merklichen Lippenbewegungen: ‚Olafson ist schuld. Bestellt ihm das! Er ist schuld daran, dass ich es wieder tun werde!’. Mikka versprach, mir das auszurichten, und trat ihm noch zweimal in die freche Fresse.“
„Hört sich doch an, als ob es für dich perfekt gelaufen wäre.“
„Aber es ging alles schief! Und Selma hab ich auch verloren!“
Ein geißelnder Blitz durchfuhr mich: Selma! Allein schon ihren Namen aus seinem schmutzigen Mund hören zu müssen.
Ärgerlich rügte ich Olafson: „Du redest wirr durcheinander! Bleib erst mal beim Thema Villa!“
„Na schön! Also … ich weiß bis jetzt nicht, wie Hargrimmson es angestellt hat. Jedenfalls … drei Tage später hielt Johannsons Tochter sozusagen die offizielle, in der Zeitung annoncierte Käuferaudienz ab. Jeder, der meine Villa erwerben wollte, durfte sein Angebot abgeben. Viele kamen nicht, denn es war inzwischen überall bekannt, dass ich mehr als interessiert an dem Haus war und es gar nicht schätzte, wenn jemand das ignorierte. Gut, wenn die Leute parieren. Gunnar und Mikka ließ ich – sozusagen als Gedächtnisstützen – draußen vor der Tür, während ich zur Johannson ging. Während ich erneut mit Alva, dieser geldgierigen Pute, sprach und noch mal eine Million Kronen draufsattelte, schaute ich ab und zu zum Fenster hinaus. Und wen sehe ich da? Hargrimmson Hundesohn! Meine beiden Getreuen rückten ihm selbstverständlich sofort auf die Pelle … doch dann …“
„Was dann, Olaf?“, hakte ich ungeduldig nach.
„Dann … anstatt ihn zu verprügeln, schienen die beiden auf einmal ein … angeregtes Schwätzchen mit ihm zu halten. Wie drei alte Kumpels standen sie da beieinander. Mir platzte fast der Kragen! Ich witterte schändlichen Verrat! Unter dem Vorwand, mir sei plötzlich übel und ich müsste mein Magenmittel aus dem Auto holen, verließ ich die Johannson und stürmte hinaus auf die Straße, wo sich lediglich noch mein Widersacher befand! Gunnar und Mikka, diese scheinbar treulosen Kerle, waren einfach verduftet!“
„Und was tat Hargrimmson?“
„Stand ruhig da und hielt sich die Hände vor den Mund, als ob er ihn vor der Kälte abschirmen wollte, während ich völlig außer mir auf ihn zustürmte. Ich hatte alle Vorsicht abgelegt und war erfüllt von dem Wunsch, ihn gründlich zu verprügeln! Er wusste das. Ich konnte es in seinen Augen sehen. Doch alles was er tat, war … zu lächeln.“
„Zu lächeln? Eigenartig! Und das hat dich allen Ernstes gestoppt?“
„Glaube mir, Pastor, solch ein Lächeln hast du noch nie gesehen. Ich kann mich bis jetzt nicht erinnern, wie sein Lächeln eigentlich ausgesehen hat. Jedenfalls hat es mich völlig aus der Bahn geworden! Es war einfach … grandios!“, jaulte Olafson, sichtlich angewidert von sich selbst.
„Das scheint mir jetzt aber zu fantastisch!“
„Ach ja? Mir auch. Dennoch ist das nächste, an das ich mich erinnere, der Moment, als sie mich aus der städtischen Kläranlage zogen. Grässlich! Wie ich dorthin gekommen bin, weiß ich bis heute nicht! Da schwante mir zum ersten Mal, dass mir dieser Hargrimmson wirklich gefährlich werden konnte.“
„Und du hattest großes Glück, dass dir überhaupt noch etwas schwanen konnte, Olaf!“, erwiderte ich und bekam eine Gänsehaut bei der Erinnerung an das, was man noch im Klärbecken gefunden hatte.
„Oh ja! Ein Riesenglück! Für Gunnar und Mikka, diese armen Schweine, kam jede Hilfe zu spät.“
Die Zeugenbefragungen der Polizei ergaben, dass Olafsons Schläger etwa fünfzehn Minuten vor ihm in die stinkenden Fluten des Beckens gehüpft waren, glücklich lachend, sich an den Händen haltend wie zwei Frischverliebte. Und nicht aufzuhalten. Olaf Olafson hatte nur deshalb überlebt, weil drei Mitarbeiter des Klärwerks noch beim Becken standen und auf das Eintreffen des Klärtauchers warteten, der alarmiert worden war, um die Leichen der beiden Selbstmörder zu bergen. Obwohl die Mitarbeiter noch unter Schock standen, weil sie Gunnars und Mikkas Todessprung nicht verhindern konnten, gelang es ihnen, Olafson mit einer Stange vor dem Ertrinken zu retten.
„Ja, Pastor. Ich musste mit ansehen, wie dieser Taucher meine toten Leute hochbrachte und vor den inzwischen eingetroffenen Bullen hinlegte, damit die sie begutachten konnten und Gelegenheit hatten, ungläubig ihre hohlen Köpfe zu schütteln. Da schwante es mir.“
„Was, Olaf?“, fragte ich, als er nicht weiter redete.
„Na, dass Hargrimmson brandgefährlich war. Lebensgefährlich. Dass ich nur haarscharf dem Sensenmann entkommen war. Dass … dieser Hundesohn mir über war. Er konnte killen, ohne eine Waffe zu benutzen. Keine Ahnung wie, aber er konnte es. Hypnose oder so was. Mir wurde rasch klar, dass ich … spezielle Hilfe benötigte.“
„So kann man es auch umschreiben.“
„Herrgott, es ging um meinen Arsch, Pfaffe! Ich hatte Schiss wie nie zuvor!“
Und ich gönnte ihm das, auch wenn es nicht sehr christlich sein mochte. Doch ich hatte nicht vergessen, was mir von einigen meiner Schäfchen im Beichtstuhl anvertraut worden war. Nichts davon. Kein einziges Wort.
Wer steckt tatsächlich hinter den Schutzgelderpressungen im Industriegebiet, die den vier Drunson-Brüdern, Olafsons einst schärfsten Konkurrenten, zur Last gelegt wurden? – Olaf Olafson!
Eric Drunson, einziger Überlebender der Schießerei mit der Polizei, hatte mir das im Gefängnis gestanden. Eine Woche später war er tot. Angeblich ausgerutscht beim Duschen. Genickbruch …
„Warum hast du es nicht selbst getan?“
„Das Beichtgeheimnis gilt doch weiter, oder?“
„Gewiss, Olaf. Mein Wort gilt, auch wenn du mir gleich noch so unappetitliche Dinge erzählen wirst.“
„Deinen Job könnte ich nicht machen, Pfaffe. An solch schwachsinnige Regeln könnte ich mich nie und nimmer halten!“, höhnte Olaf. Er lief gerade wieder zu seiner alten Form auf.
„Für dich immer noch Pastor!“, fuhr ich ihn an. „Sag nur noch einmal Pfaffe zu mir und ich gehe – und verweigere dir die Absolution. Letzteres kümmert dich vielleicht nicht, aber ich glaube, du erträgst momentan das Alleinsein nur sehr schwer, nicht wahr?“
Zu meinem Erstaunen wimmerte er, offenbar erschüttert von der bloßen Vorstellung, allein zu sein: „Nein, nur das nicht! Entschuldige, Pastor. Bleib hier. Bitte bleib hier.“
„Na gut. Erzähle weiter. Wie war das mit deinem Helfer?“
Der Spezialist
Olafson schnaufte angestrengt und fuhr dann fort: „Kaum war ich zuhause, griff ich mir meinen Notfallkoffer – den hab ich immer gepackt für den Fall der Fälle –, und nahm den Ferrari, um zu verduften. Ich konnte vor Angst kaum steuern, solange ich noch in Thularstad war. Panisch hielt ich nach Hargrimmson Ausschau, sah ihn im Geiste schon aus einem Gebüsch oder einer Grundstückseinfahrt auf die Straße springen, um mir endgültig den Garaus zu machen. Zweimal fuhr ich über eine rote Ampel. Ein Wunder, dass ich keinen Unfall baute. Ich flennte beinahe, als ich endlich das Ortschild passierte, ohne dass mir dieser gespenstische Typ über den Weg lief. Erst als ich die Stadt eine Stunde verlassen hatte, ging es mir langsam besser. Da fiel mir auch zum ersten Mal Selma wieder ein. Noch nicht einmal eine Nachricht hatte ich ihr hinterlassen. Ich quasselte ihr schnell ein paar Worte auf die Mailbox, während ich weiterfuhr.“
„Du warst über eine Woche weg, nicht wahr? Du hast sonntags in der Kirche gefehlt. Ich erinnere mich genau.“
„Ja, ich war neun Tage weg, an einem sicheren Ort, den nur ich kenne. Ich brauchte Zeit – nicht nur, um jemand geeigneten zu kontaktieren, sondern auch, um überhaupt mal wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Vor lauter Schiss dachte ich nämlich wirklich zeitweise daran, einfach nicht mehr zurückzukommen. Sollte Hargrimmson doch in der Villa Johannson sitzen und sich den Hintern ab- und wieder dran freuen. Hauptsache, ich war am Leben.“
„Das hört sich vernünftig für mich an, Olaf.“
„Unsinn! Feiglingsgedanken waren das! Zum Glück kam ich schon am nächsten Tag wieder runter und fing an, Pläne zu schmieden. Fäden zu ziehen. Man muss sehr vorsichtig sein in solchen Angelegenheiten. Ein wahrer Eiertanz. Geduldig wie ein Stein musst du da sein, Pastor. Glaub mir, das fiel mir noch schwerer als unter normalen Zuständen. Es ging aber alles glatt. Mein Vertrag mit – nennen wir ihn … Herrn X – stand schließlich.“
„Ist Herr X teuer?“
„Sauteuer. Allerdings jede einzelne Krone wert.“
„Qualität hat wohl überall ihren Preis, wie, Olaf? Warum hast du es eigentlich nicht selbst getan? Das hätte dir doch eine Menge Geld gespart“, neckte ich ihn. Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen.
„So was macht man doch nicht selber, Pastor. Oder nur im alleräußersten Notfall, verstanden? Es war absolut notwendig, jemanden dafür anzuheuern. Außerdem: Ich hatte nicht die Absicht, Hargrimmson noch einmal unter die Augen zu treten. Sonst hätte er Gelegenheit dazu bekommen, wieder einen seiner komischen Tricks abzuziehen. Mit einem Gewehr kann ich auch nicht umgehen, nur mit einer Pistole. Letzteres wäre mir viel zu dicht gewesen. Bei dem und seinem sonderbaren Lächeln blieb man besser soweit weg wie möglich. Nein, nein, glaube mir, ich hab die Sache genau richtig angegangen.“
Stolz sah er mich an. Das machte mich wütend. Dieser Verbrecher bildete sich auch noch etwas ein auf sein Tun! Deshalb erwiderte ich: „Einerseits sicherlich. Andererseits hat Hargrimmson in diesen neun Tagen einiges vollbracht. Wärst du hier gewesen, dann …“
„Ja! Ja! Besserwisser! Wäre ich da gewesen, dann hätte er vielleicht die Villa Johannson nicht bekommen. Und ich hätte vielleicht Selma noch!“, brüllte er, nun völlig außer sich. Zornestränen rannen seine Wangen hinunter. Ich war erstaunt.
Jedoch war Selma schon immer sein Schwachpunkt.
Und ebenso meiner …
Selma Lugast
Rabenschwarzes Haar. Blutrote Lippen. Grüne Katzenaugen. Marilyn-Monroe-Figur. Bezaubernd. Unwiderstehlich. Und verdorben auf eine sehr reizende Art. So etwas sollte man als Mann des Glaubens vielleicht nicht sagen – am besten wohl gar nicht denken. Aber es ist unmöglich, etwas nicht zu denken. Selbst ein Heiliger kann das nicht, da bin ich mir sicher.
Selma zog vor etwa zehn Jahren nach Thularstad. Da war sie siebzehn und verdrehte den Kerlen reihenweise den Kopf. Auch mir. Doch ich hatte keine Chance bei ihr. Meine schüchternen Annäherungsversuche amüsierten sie. Fairerweise gab sie mir bald zu verstehen, dass sie mich mochte. Als Freund. Nicht mehr. Aber immerhin.
„Weißt du, es liegt nicht daran, dass du Pastor bist, Björn. Oder schlecht aussiehst. Ganz im Gegenteil. Du bist mir einfach zu brav. Ich verliebe mich nur in einen Gauner … einen Schurken … atemberaubend … jemand, der auch gefährlich werden kann.“
Ich ahnte sofort, wen sie im Sinn hatte, und warnte sie: „Pass bloß auf, dass du dir nicht den Falschen zulegst, Selma. Ein Schurke kann auch dir gefährlich werden.“
„Unterschätze mich ja nicht, Björn. Ich bin auch nicht ungefährlich. Würde ich dir erlauben, mich zu lieben, dann würdest du daran zugrunde gehen.“
Ihre Worte erscheinen so melodramatisch, so völlig übertrieben, doch sind sie auf eine Art und Weise zutreffend. Selma angelte sich Olaf Olafson, den größten und gefährlichsten Sünder weit und breit – und vollbrachte es, dass er sie nicht abwechselnd als Betthäschen und Sandsack ansah, sondern achtbar behandelte. Sie hatte all die Jahre nicht das Dasein eines bedauernswerten Gangsterliebchens geführt, wirklich nicht. Kein Wort von Misshandlung. Olaf und sie liebten sich tatsächlich, so unmöglich das Wort Liebe zu Olafson passt. Eigentlich hätte ich froh sein müssen, dass es Selma gut ging. Das gelang mir jedoch nie. Sie hatte recht gehabt. Auch sie war nicht ungefährlich, denn sonst hätte sie nicht ignorieren können, was ihr Geliebter so alles trieb …
Während Olafsons neuntägiger Abwesenheit hatte sich allerdings alles geändert. Am dritten Tag fuhr ich nachmittags durch die Kirkjastrad. Ich kam von einem Besuch bei der alten Frau Larson und war auf dem Weg in den Supermarkt. Da sah ich auf der rechten Straßenseite Selma Lugast. Automatisch bremste ich und lenkte meinen uralten Subaru an die Bordsteinkante. Selma bemerkte mein Winken nicht. Ihr Gesichtsausdruck verriet wilde Entschlossenheit. Ihre schwarzen Haare flatterten im Wind. Sie sah aus wie eine leibhaftige Rachegöttin. Bevor ich mich versah, war sie auch schon vorbeigelaufen – und bog ab in eine Grundstückseinfahrt. Mir stockte der Atem, als ich sah, dass sie genau auf die Villa Johannson zuhielt. Nein: die Villa Hargrimmson!
Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte – bevor ich sie aufhalten konnte – öffnete sich ihr auch schon die Tür wie von Geisterhand. Ich war gerade aus dem Auto gestiegen, als sie schon im Hausinnern verschwunden war.
Bei Gott! Mein verhängnisvolles Zögern werde ich mir nie verzeihen …
Schon zwei Tage später ging die Neuigkeit wie ein Lauffeuer durch Thularstad: Selma zog bei Olafson aus! Sie überwachte persönlich, wie vier Männer einer Umzugsfirma ihre persönliche Habe in einen grauen Transporter ein- und kurz darauf vor Hargrimmsons Villa wieder ausluden. Der graue Transporter fuhr erst ab, nachdem alles in Hargrimmsons Reich verstaut worden war.
So begeistert die Klatschmäuler diese Nachricht auch weitertratschten, manch einem oder einer war ein wenig flau dabei. Ganz zu schweigen von mir. Ich fühlte das Herannahen einer Katastrophe – und das nicht nur, weil meine tiefe Zuneigung zu Selma schmerzhaft wieder aufgeflackert war. Selbst der größte Dummkopf konnte ahnen, dass Olaf Olafson ausrasten würde, sobald er von dieser Sache Wind bekam.
Davor fürchte ich mich immer noch. Wenn Olafson erst einmal wieder auf dem Damm ist – wer weiß, was dann passiert …
Hargrimmsons Tod
passierte vor meinen Augen. Ja, tatsächlich!
Hargrimmson wusste nicht, dass ich da war.
Olaf Olafson wusste es nicht und weiß es immer noch nicht.
Olafsons Killer auch nicht, zu meinem Glück.
Warum ich Kristian Hargrimmson sterben sah?
Zufällig war ich bestimmt nicht in der Nähe, als es geschah. Nein, ganz gewiss nicht zufällig. Ich war ihm auf den Fersen, nachdem ich Selma gesprochen hatte. Von da an hatte ich mir geschworen, ihn nicht eine Sekunde mehr aus den Augen zu lassen, damit er nicht noch einmal an sie herankam. Wie ich das verhindern wollte, wusste ich allerdings nicht.
Entschuldigung. Ich werde versuchen, der Reihe nach zu erzählen, auch wenn es sehr schwierig ist.
Also: Den Tag, dem Hargrimmsons letzte Nacht folgte, hatte ich frierend im müffelnden Schuppen von Frau Löröh verbracht. Sie weilte gerade auf Mallorca. Ihr Garten liegt so, dass man einerseits einen prima Blick auf die Straße und das gegenüberliegende Grundstück Hargrimmsons hat, und ist gleichzeitig nach den restlichen Seiten so dicht zugewachsen, dass man von den Nachbargrundstücken nicht gesehen wird. Ein auffälliges Verhalten für einen Seelsorger, unbestritten. Doch die Sorge um Selma trieb mich beinhe in den Wahnsinn. Gleichzeitig wagte ich es nicht, einfach so an Hargrimmsons Tür zu läuten und Selmas Freilassung von ihm zu fordern. Ich musste immer an die beiden Männer denken, die fröhlich lachend in die Fluten der Kläranlage gehüpft waren …
Am frühen Nachmittag wurden meine Mühen schließlich belohnt: Ein Taxi hielt vor der Villa. Hargrimmson stolzierte alleine aus der Haustür und stieg ein. Er winkte dabei in Richtung Haus. Wut und Eifersucht erfüllten mich, denn ich wusste nur allzu gut, wem er da winkte.
Kaum dass das Fahrzeug um die nächste Ecke gebogen war, stahl ich mich aus dem Gartenschuppen und überquerte mit zittrigen Schritten die Straße. Was, wenn Hargrimmson zurückkäme, weil er etwas vergessen hatte? Er würde mein Eindringen sicherlich nie verzeihen. Er würde die schrecklichsten Dinge mit mir anstellen und ungeschoren davon kommen!
Nur die Liebe zu Selma Lugast gab mir die Kraft, diese Furchtvisionen soweit zu unterdrücken, dass ich an der Tür klingeln konnte, anstatt schreiend wegzurennen. Das Klingeln erschien mir schrill und schräg. Meine Nerven waren völlig überreizt. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis mir geöffnet wurde. Es war Selma – und ihr Anblick schockierte mich! Vor vier Tagen erst war sie in dieses Gemäuer eingezogen, doch diese kurze Zeitspanne hatte gereicht, um einen anderen Menschen aus ihr zu machen. Sie wirkte gleichzeitig krank und glücklich, anziehend und abstoßend. Es ist auch jetzt kaum zu beschreiben.
„Du, Björn? Was für eine Überraschung. Na, immer herein mit dir!“, meinte sie kichernd. Sie trug einen auberginefarbenen Frotteebademantel, der nach Schweiß roch. Und nach noch etwas.
Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, woher dieser zweite Duft kam. Ich kam auch nicht dazu, groß darüber nachzudenken.
Unbeholfen folgte ich Selma. Ihre nackten Füße leuchteten weiß-rosa gegen das Umbra des verwitterten Fliesenbodens. Es patschte, als sie darüber lief. Meine Schuhsohlen hingegen knirschten, als ob ich über zahllose Schneckenhäuser liefe und sie mit meinen Schritten zermalmte. Das Geräusch ekelte mich an.
Ich wollte bereits aufatmen, als wir die Küche erreichten, aber der geschmacklose Fliesenbelag war auch hier zu finden. Mühsam ließ ich mich auf einen der drei Stühle sinken, die den quadratischen Küchentisch umstanden. Selma stellte mir ungefragt eine Tasse Kaffee hin und setzte sich dann mir gegenüber. Ihre Katzenaugen leuchteten noch intensiver als sonst, aber die dicken Augenringe, die aussahen wie mit dunkelrotem Lippenstift aufgemalt, verdarben den Anblick.
Ich nippte an dem lauwarmen Kaffee und überlegte, wie ich das Gespräch eröffnen sollte.
„Du wolltest mal nach mir schauen, wie?“, kam mir Selma zuvor. „Nur so, Björn?“
„Ich … wollte wissen, wie es dir geht.“
„Und bestimmt willst du auch wissen, warum ich nach der langen Zeit Olaf einfach so verlassen habe.“
„Ehrlich gesagt wäre ich normalerweise damit zufrieden gewesen, dass du Olaf fallen lässt. Um das Warum hätte ich mir keine Sorgen gemacht.“
„Du sollst es trotzdem erfahren: Ich kam hierher und wollte Kristian eigentlich zur Rede stellen wegen seiner Aktionen gegen Olaf. Ich wollte mir den Kerl anschauen, der es fertig gebracht hatte, meinen Olaf aus der Stadt zu treiben, ihn so panisch zu machen, dass er vergaß, mich mitzunehmen. Kristian öffnete mir rasch die Augen über meinen feinen Ex-Liebhaber. Ich bin tatsächlich die ganzen Jahre über so was von blind gewesen. Je länger Kristian mit mir sprach, desto klarer wurde mir alles – nicht nur im Bezug auf meine Beziehung. Viel mehr erkannte ich.“
„Und das alles während eines Gesprächs, Selma?“
„Ich glaube – im Gegensatz zu dir – an magische Momente im Leben. Und auch an Liebe auf den ersten Blick, Björn! Das mag dir vergeistigtem Menschen naiv vorkommen, aber während Kristian Hargrimmson mit mir sprach und mich dabei anlächelte, erwachte eine solche Sehnsucht in mir, wie ich sie noch nie zuvor gespürt hatte. Dieser Mann ist einfach unwiderstehlich! Du kannst dir das überhaupt nicht vorstellen!“
„Sei mir nicht böse, Selma, doch haargenau das bereitet mir Kummer. So vergeistigt bin ich nun auch wieder nicht, dass ich nicht wüsste, wie sich Leidenschaft – und Liebe – anfühlen.“
Ich hatte versucht, meiner Stimme einen neutralen Tonfall zu verleihen. Wahrscheinlich verriet mich mein Gesichtsausdruck.
„Herrgott, läufst du mir immer noch nach, Björn? Vergiss das doch endlich und such dir eine andere!“
„Ich leugne nicht, dass ich viel für dich empfinde! Auch wenn ich nie eine Chance bei dir hatte und habe. Doch das ist nicht das Thema.“
„Und was ist dann das Thema? Es geht also nicht darum, dass du frustriert bist, weil Olaf endlich aus dem Rennen ist, ich aber wieder einen anderen Mann als dich liebe?“
Wütend verteidigte ich mich: „Auch meinen Frust darüber leugne ich nicht, Selma! Dass du dir aber ausgerechnet einen noch schlimmeren Satan als Olafson heraussuchen musstest, deswegen zerfressen mich die Sorgen! Muss es denn ein noch gefährlicherer Kerl sein, damit du endlich mal wieder Schmetterlinge im Bauch fühlst?“
Verblüfft lehnte sie sich auf ihrem Stuhl nach hinten und überlegte ein paar Sekunden, bevor sie antwortete: „Mein lieber Schwan: So einen heftigen Ton hätte ich dir gar nicht zugetraut. Recht hast du deshalb aber nicht. Kristian ist doch nicht gefährlich! Er ist ein ganz anderer Mensch als Olaf: charmant – leidenschaftlich – hoch gebildet in vielen Bereichen – spirituell – und noch so viel mehr. Noch nie bin ich jemandem wie ihm begegnet. Er hat mein Leben völlig verändert!“
Sie kam mir vor wie ein Schulmädchen, das sich zum ersten Mal verliebt hatte und sich in völlig übertriebenen Schwärmereien suhlte. An sich wäre das ja zum Schmunzeln gewesen, doch ihr kränkliches Äußeres und vor allem der süßlich-beißende Geruch, den sie verströmte und der mir von Minute zu Minute mehr in die Nase biss, machten mich fast verrückt.
„Das hört sich wirklich bescheuert an, was du da von dir gibst! Ich erkenne dich ja kaum wieder. Weißt du, wer sonst so ein euphorisches Zeug von sich gibt, Selma? Leute, die in die Fänge des Führers einer skrupellosen Sekte geraten sind!“
„Das sagt ja der Richtige! Das stört dich doch bloß dann, wenn die Leute einer anderen Sekte als deiner auf den Leim gehen!“, fauchte Selma.
Getroffen erwiderte ich, meine Wut mühselig kontrollierend: „Die Schwedische Kirche ist beileibe kei-“
„Ist doch egal! Ist mir so was von egal! Genau wie du! Ich habe echt keinen Bock drauf, mir dein Gelaber und deine Beleidigungen noch eine Sekunde länger anzuhören! Raus hier, auf der Stelle!“
Selma war während dieser Worte wild aufgesprungen. Ihre Augen blitzen so drohend, dass ich tatsächlich für einen Augenblick fürchtete, von ihrem Blick niedergestreckt zu werden. Lächerlich, ich weiß, doch meine Nerven flatterten inzwischen dermaßen, dass ich mich kaum noch auf dem Stuhl halten konnte. Mir war klar geworden, dass ich völlig falsch vorgegangen war. So unternahm ich einen letzten Versuch und murmelte zerknirscht: „Bitte entschuldige meine dummen Worte, Selma. Ich … meine es nur gut. Ehrlich.“
„Spar dir das, mein Lieber. Hau endlich ab! Dein Besuch hat mich furchtbar aufgeregt … und erschöpft. Ich … muss mich hinlegen.“
Ich hatte verloren und gab auf. Wie ein geprügelter Hund wankte ich nach draußen.
„Und halt dich in Zukunft aus meinem Leben raus, sonst wirst du es bitter bereuen!“, schrie Selma mir nach und donnerte die Tür zu.
Deprimiert begab ich mich auf den Heimweg. Doch bereits an der nächsten Straßenecke änderte ich meinen Plan. Ich lief eine rasche Runde um den Häuserblock und nahm schließlich wieder meinen Beobachtungsposten in Frau Löröhs Gartenschuppen ein. Dass Olaf Olafsons Killer bereits seit der Mittagszeit in Thularstad weilte, ahnte ich natürlich nicht.
Hargrimmson übrigens auch nicht.
Er kam so gegen halb zehn Uhr abends per Taxi zurück.
Ich fror inzwischen erbärmlich in meinem Versteck; das lag nicht nur an der Abendkühle, sondern auch an dem katastrophalen Gespräch mit Selma. Ich zweifelte nicht daran, jetzt auch noch ihre Freundschaft verloren zu haben.
Nun trat das ein, auf das ich so elendig lange gewartet hatte: Hargrimmsons Rückkehr – und jetzt wusste ich endgültig nicht mehr, warum ich eigentlich auf der Lauer lag. Was wollte ich, halb gelähmt vom Anblick dieses selbst aus der Distanz unheimlichen Mannes, eigentlich unternehmen? Meine Gedanken rasten, strauchelten, ihr sinnloses Durcheinander ließ meinen Schädel dröhnen.
Hargrimmson stellte eine Plastiktüte zu Boden und reckte und streckte sich ein wenig. Offenbar war er verspannt von der langen Fahrt. Gerade als er seine beiden Arme ganz ausgestreckt hatte und dazu noch auf den Zehenspitzen stand, geschah etwas Merkwürdiges: Die Dehnung in Hargrimmons Körper löste sich auf und er begann – zu tanzen.
Wenigstens sah es die ersten paar Sekunden so aus. Dann erst begriff ich (und vielleicht auch er), was da vor sich ging. Selmas neuer Geliebter vollführte immer unmöglichere Figuren, torkelnd und zuckend, um schließlich abrupt zu stürzen.
Ungläubig starrte ich auf den von mehreren Schüssen durchlöcherten Körper, unter dem sich rasch eine Blutlache ausbreitete. Ich wartete. Eine Minute. Zwei Minuten. Drei Minuten.
Kristian Hargrimmson rührte sich nicht.
Es wäre meine Christenpflicht gewesen, sofort einen Krankenwagen zu alarmieren anstatt zu warten.
Oder auch genau das nicht – je nachdem, wie man es sieht.
Ich versuche es so zu sehen, dass ich richtig gehandelt habe.
Meistens gelingt es mir.
Irgendwann traute ich mich dann doch noch aus meinem Versteck. Der Mordanschlag war noch immer unbemerkt. Olafsons Killer hatte offenbar einen Schalldämpfer benutzt.
Dass ich gerade dem gekauften Mörder ins Visier lief, war mir überhaupt nicht bewusst, während ich mich Hargrimmson näherte.
Der schwamm mittlerweile geradezu in Blut, dessen eisenhaltiger Duft übermächtig war. Mir wurde schlecht, aber trotzdem ging ich weiter. Wie unter Zwang.
Kristian Hargrimmsons Augäpfel waren so verdreht, dass man nur noch das Weiße davon sah. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Und seine Lippen waren weit zurückgezogen. Sein dadurch entblößtes Todeslächeln jedoch war (obwohl etwas fürchterlich falsch an der Farbe und Form seiner Zähne war) irgendwie bezaubernd. Während ich noch mit dieser unerklärlichen Empfindung kämpfte, rollten, begleitet von einem heftigen Kopfdrehen, Hargrimmsons weiß-blaue Pupillen wieder aus ihrem fleischigen Verstecken heraus und fixierten mich. Das Lächeln wurde breiter. Für einen Moment zitterte der ganze Körper noch einmal. Dann lag Hargrimmson endlich still. Mir aber war es, als ob mein ganzes Dasein von seiner grinsenden, plötzlich mein Gesichtsfeld vollständig erfüllenden Totenfratze verschlungen würde. Wie vom Blitz getroffen sackte ich zusammen, versank tief in einer rauschenden Dunkelheit …
Wie lange ich besinnungslos war? Keine Ahnung.
Jedenfalls hatte irgendjemand inzwischen die Polizei alarmiert.
Ich kam wieder zu mir, als mich jemand auf die Seite drehte und dabei besorgte Worte murmelte. Für einen kurzen Moment war ich ganz durcheinander und wusste nicht einmal, wer und wo ich war. Das hörte auf, als mein Blick erneut auf den Leichnam Hargrimmsons fiel. Dass seine Lippen nun ganz fest zusammengepresst waren, merkte ich sofort. Der Polizist, der mir aufgeholfen hatte, drehte mich zu sich und weg von der unheimlichen Leiche. Dankbar ergab ich mich seinen professionellen Fragen und beantwortete sie so gut wie möglich. Schließlich brachte man mich nach Hause.
Todmüde stolperte ich in meine Wohnung. Nur Mantel und Schuhe streifte ich ab und warf mich aufs Bett – ohne zu ahnen, was ich da mit mir gebracht hatte.
Das grüne Buch
Erst gegen Mittag des nächsten Tages erwachte ich aus einem lähmenden Tiefschlaf, der mir kaum Erholung verschafft, sondern mich durch ungesunde Nachtmahrlandstriche gezerrt hatte.
Kraftlos schlurfte ich ins Badezimmer, duschte, ohne Erfrischung zu finden. Auch das Frühstück brachte keine Besserung.
Irgendwann hob ich meinen Mantel vom Flurboden auf. Da fiel etwas, von dem ich nicht gewusst hatte, dass es überhaupt da war, aus den Stofffalten und landete auf dem abgetretenen Teppichboden: Hargrimmsons Plastiktüte!
Erschrocken führte ich mir den rechten Handrücken in den Mund und biss darauf, um irgendwie einen klaren Kopf zu bewahren. Wie konnte das sein?
Wenn sich die Tüte nicht selbst unter meinen Mantel gehext hatte, dann musste ich sie unbewusst gegriffen haben, als ich bei dem Ermordeten ohnmächtig wurde. Ich weiß nicht mehr, welche Alternative mir unrealistischer erschien.
Aus der Tüte war etwas herausgerutscht. Ein grünes, ledergebundenes Buch. Hargrimmsons Buch.
Es lag so, dass ich den Titel sehen konnte:
Noch Wochen zuvor hätte ich über ein solches Machwerk nur amüsiert gelächelt. Nun jedoch, mit
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Mike Vulthar
Bildmaterialien: 1) Cover: Cover created by © T.K.A-CoverDesign / t.k.alice@web.de // http://tka-coverdesign.weebly.com/font-copyrights.html / 2) Grafiken in den Geschichten dieses PHANTOMHAMMER 666-Bands: Mike Vulthar
Cover: Cover created by © T.K.A-CoverDesign / t.k.alice@web.de // http://tka-coverdesign.weebly.com/font-copyrights.html
Lektorat: Gwenypher
Tag der Veröffentlichung: 23.07.2018
ISBN: 978-3-7438-7582-1
Alle Rechte vorbehalten