Ein Apfel fällt vom Baum. Endlich. Ich warte schon seit einer Stunde, dass ich meiner Mutter unsere Nahrung bringen kann. Geduld spielt in meinem Leben eine große Rolle, schließlich gehöre ich der Religion „Fruits and Prayers“ an. Immer wieder wundere ich mich, ob es auch noch etwas anderes – außer dieser geistlichen Richtung – in der Welt gibt. Doch weder meine Eltern, noch meine Lehrer wollen mir meine sogenannten Hirngespinste beantworten. So bleibt mir nur das Philosophieren über das, was sein könnte.
Schnell eile ich über die Wege unserer Farm und komme – ein wenig außer Atem – in der Küche an, wo mich meine Mutter schon sehnsüchtig erwartet. Sie schwingt bereits den Kochlöffel und deutet mit eben diesem an, mich an das Schälen der Äpfel und Birne zu wenden. Ihren stummen Befehl gehorchend, hole ich das Holzmesser aus einer Schublade und lasse es durch die Kerngehäuse gleiten. Die Schale bleibt bei dem meisten Obst dran, wobei das Verfaulte nicht dazu zählt. Alles in feine Stücke geschnitten, werfe ich es in einen Topf, der mit lauwarmen Wasser gefüllt ist und stelle ihn dann auf den alten Ofen. Der hat seine besten Tage schon längst hinter sich und grummelt mit lautem Puffen und Gegröle seine miese Stimmung.
Mutter entlässt mich daraufhin und ich kann meinen letzten schulischen Pflichten nachkommen. Es sind nur noch ein paar Tage bis ich schlussendlich die Prüfungen gemeistert habe und auf der Verabschiedung meine gewonnene Freiheit genießen kann. Zwar muss ich den Bauernhof selbst weiterführen, dennoch werde ich nicht lange allein bleiben. Die obersten Männer, auch Priester genannt, werden einen Mann aus unseren Reihen finden, der mir gleich sein wird und auf dessen Unterstützung ich bauen kann. Das hat seine grundlegende Berechtigung darin, dass ich ansonsten Hektare an Landflächen allein bewirtschaften müsste, zu dem ich rein körperlich nicht im Stande bin.
Um meinem Gedankengang zu unterbrechen, schlage ich meine Notizen und die Einträge auf, die mich beim weiteren Lernen begleiten werden. Auf einem Extrablatt schmiere ich einzelne, logische Aspekte, mit denen ich mir das Wissen veranschauliche. Viele Pflanzen, vor allem Heilkräuter und Wurzeln, sind aufgelistet, die mit ihren Kräften wahre Wunder bewirken können. Thymian, der mit seiner antibakteriellen Wirkung Husten kurieren kann, findet man nicht selten am Waldrand, zwischen sonnigen und schattigen Plätzen. Dennoch ist es die wilde Melisse, die getrocknet den Körper in harten Wintermonaten wärmt und vor Krankheiten schützt. Dazu noch ein lauwarmes Lavendelbad und die Haut übersteht die Kälte ohne Risse oder bläulichen Erfrierungen. Die Prüfer werden sich ebenfalls nach der Herstellung von Salben oder Teen aus den genannten Kräutern erkundigen, denke ich mir. Da ist Ingwer genau die richtige Wurzel, um daraus eine vielschichte Aufgabe zu formulieren. Es gibt dutzende Verarbeitungsmöglichkeiten und ebenso viele positive Behandlungsmethoden. Ich hoffe, dass ich es schaffe. Ich will nicht noch ein Jahr in der Schule verbringen, sondern meinen Tag mit mehr Leben und Arbeit füllen. Meine Hände jucken, etwas zu tun und nicht am Schreibtisch zu sitzen und zu schreiben. Es lässt mich unruhig werden und der Stuhl wird folgendermaßen immer ungemütlicher.
Als ich meine angestaute Energie nicht mehr unterdrücken kann, stehe ich energisch auf und gehe die Treppe nach unten, bis ich in der Küche ankomme, um meiner Mutter Bescheid zu sagen, dass ich vor dem Abendessen noch schnell die Bohnenpflanzen überprüfen werde. Diese sind besonders anfällig für die Schnecken, die eigentlich alles kurz und klein machen. Egal wie sehr man sie auch zu reduzieren versucht, sie werden nur noch aggressiver, bis kein grüner Hauch mehr existiert. Mit vollgestampften Bäuchen wandern sie dann zum nächsten Opfer. Aber nicht mit mir! Mit meinem selbst kreierten Schneckenkorn, kommen sie keinen Millimeter weit, ohne dass sie sich sprichwörtlich in Luft auflösen.
Mit meinen gesammelten Erfahrungen kann ich es mir erlauben, in das Wachstum unserer Pflanzen einzugreifen und das Bestmöglichste aus ihnen heraus zu holen. Gehegt und gepflegt werden sie bis zum Äußersten, um unser Überleben zu sichern. Jedes Jahr müssen wir einen Teil davon an den Obersten abgeben, damit er zufrieden gestimmt ist. Wehe dem, der seinen Zorn erregt. Er wird den Winter nicht überleben oder er verbringt den Rest seines Lebens im Kerker. Ein sehr unansehnlicher Ort, wie mein Bruder es sicherlich empfunden hat. Er ist darin zugrunde gerichtet worden, weil er ihm unabsichtlich vor die Füße gefallen ist, da er der Ohnmacht erlegen ist. Daraufhin bekamen wir einen Monat lang kein Wasser mehr und unsere gesamten Kräuter und Pflanzenbestand wurde uns enteignet. Wir hatten nichts. Dieses Nichts ließ uns in allen möglichen Facetten den Tod spüren, verschonte uns aber wegen der Hilfe der Nachbarn, die uns bereits mehr als einmal das Schicksal zum Guten gewendet haben. Ohne sie wären wir ein Häufchen nichts. Ein Häufchen Asche, das im Winde verweht wird.
Langsam schleiche ich die Feldwege entlang, immer auf der Suche nach neuen Schädlingen oder sonstigen Gefahren für meine armen Pflanzen. Falls ich einen entdecke, versuche ich es zunächst mit meinem Heilmittel, das jedoch nur selten wirklich Hilfe leistet. Falls das nicht genügt, gehe ich zur Scheune und wasche die Parasiten von dem Rücken meiner Lieblinge. Wenn auch diese Methode nicht anspringt, trage ich sie in einem Blumentopf Richtung Haus und bringe sie meiner Erzeugerin. Sie sagt dazu genau das, was ich mir längst selbst gedacht habe. Wie ich die Wahrheit schätze! Allerdings gelingt es ihr – wie von Zauberhieb – von Anfang an, die Pflanze aufrecht zu erhalten und den seidenen Faden nicht zu zerrreißen, wie mit meinen schwergliedrigen Händen. Feingefühl steckt nicht besonders viel in meinen zwei Ausgaben, denn sie sind harte Arbeit, mit robusten Händen, gewöhnt,
Nach getanen Mühen und Anstrengungen lasse ich mich auf das Bett legen und schaue derweilen aus dem Fenster, das mir in all seiner Pracht, den Himmel feingliedrig erscheinen lässt. Ich strecke meine Handfläche nach unten gerichtet aus, was ein schönes Motiv abgeben würde, nur, dass ich bis jetzt kaum aktuell war und immer schon Menschen unabsichtlich auf dem Gewissen hatte. Mit meiner großen Statur und meinem harten Aussehen fällt es anderen zwar nicht besonders leicht herzukommen, dennoch gelte ich unter ihnen als „Die Hässliche.“ Mit dieser Macke kann ich zwar leben, dennoch bin ich lieber glücklich, wenn keiner hinter meinem Rücken Abscheuliches erzählt.
Mutter ruft zum Essen und mein Vater und ich folgen. In der Küche setzen wir uns auf die Stühle und warten, bis sie unsere Mahlzeit serviert. Da es nur gefüllte Kürbisse mit frisch gepressten Gurkensaft gibt, benötigt sie beim Decken von mir keinerlei Hilfe, sodass mich kein schlechtes Gewissen plagen muss. Kaum fünf Sekunden später stellt sie die kalten Kürbisschalen mit warmer Baldriancreme in die Mitte und wir greifen beherzt zu. In unserem Glauben essen wir nur abgefallenes Obst vom Baum und überreifes Gemüse, von dem wir behaupten können, dass es ein langes und gesundes Leben hatte. Kräuter dagegen können wir jederzeit ernten, da sie ganzjährlich genießbar sind. Fleisch und Wurst sind allerdings verboten, da sie eine der fünf Sünden darstellen. Die fünf sogenannten Gebote ermöglichen uns ein geregeltes Leben, wodurch wir in unserer Gemeinschaft überleben können:
Der Verzicht auf Tiernahrung fällt unter das vierte Gebot, das uns nicht den Verzehr von tierischen Lebensmitteln gestattet. Es würde die Natur in ihrer eigenen, einzigartigen Art und Weise schädigen, weshalb sie sich womöglich nicht mehr erholen könnte. Täglich beten wir dreimal zu Gott, wie es auch jetzt der Fall ist.
Nach dem Essen und dem Abspülvorgang betreten wir ein kleines Nebenzimmer, in dem ein saphirblauer Teppich – unser kostenintensivstes Produkt – ausgerollt ist, der uns alle Zeit an das Dasein Gottes und seinen Beistand erinnern soll. Niemals sollen wir aufgeben, wenn wir aber einmal keinen Willen mehr haben, können wir ihn um Hilfe bitten und uns ihm ganz und gar hingeben. Er würde uns nichts antun, schließlich sind wir seine Diener, die sich um den geregelten Erhalt der Erde insofern kümmern müssen, dass es in ihrer Beschaffenheit durch unsere Benutzung nicht zu gravierenden Schäden kommt. Wenn es doch nur so einfach wäre!
Unglücklicherweise sind Menschen häufig zu Gräueltaten bereit, für die es kein Zurück gibt. Eine ganze Waldfläche wird gerodet, einzig und allein für ein paar Packungen Toilettenpapier, wobei wiederverwendbare Abfallprodukte reinen Gewissens verbrannt werden. Wie verkehrt manche nur denken können! Dabei kann man aus einem großen Bestand von Käfern auswählen, die mit ihren Exoskeletten wahre Toilettenpapierverdränger sind. Zermalmt man diese einfach und kocht das Pulver mit Wasser zu einem glitschigen Brei, lässt es trocknen, dann erhält man ebenfalls hauchdünnes Klopapier. So einfach kann es sein. Und doch machen es sich viele viel zu schwer.
Wir gehen alle drei auf unsere Knie und falten die Hände vor der Stirn zu einem Pfeil nach Norden, in den Himmel hinauf. Besinnend schließen wir unsere Augen, bereuen unsere Fehler und flehen vor Gott um eine reiche Ernte und um unser aller Wohlergehen. Das Hoffen und das Beten sind große Bestandteile eines jeden. Was wären schließlich ohne Hoffnungen und Träume? Ein nichts, das zu nichts fähig ist. Gefühle und Sehnsüchte sind das, was uns ausmachen. Einen individuellen Charakter nach der eigenen Vorstellung formt.
Etwa dreißig Minuten vergehen, ehe wir den kleinen Raum nach draußen verlassen und unserer Arbeit erneut nachgehen. Ich muss das Spargelfeld durchackern, das von einer längeren Dürre ausgetrocknet worden ist. Harte Arbeit, die man kaum mit Menschenkraft schaffen kann und dennoch verspricht es Erlösung von allen Gedanken, die sich in meinem Kopf stauen. Gedanken über Anderes, über Freiheit. Einfach mal machen und lassen, was das Herz begehrt. Doch was will mein Herz? Will es den Zug der Vögel folgen, die mit ihren großen Schwingen durch die Lüfte segeln und das Begehren der Freiheit genießen? Oder will es ein gesittetes Leben jenseits aller unmoralischen Lebensarten führen, die einem nur in Versuchung führen? Ich weiß es nicht. Ich bin mir überhaupt nicht im Klaren, für welche Option ich mich entscheiden möchte. Doch innerlich ist es mir nicht neu, dass ich das Blut einer Rebellin besitze. Dennoch muss ich mich am Riemen reißen und ein normales „Fruits and Prayers“ – Leben führen. Vielleicht hält es auch Glück für mich bereit? Wer weiß.
Mit verschiedenen Werkzeugen durchlöchere ich zunächst den staubigen und harten Boden, bis es aussieht, als hätte ein Maulwurf gewütet. Dann nehme ich verschieden große Rächer zur Hand und fahre sie dem Boden parallel entlang, bis alle Erdklumpen zu einer gleichmäßigen Fläche verarbeitet sind. Das Werk zufrieden begutachtend stelle ich mein Sortiment sauber zu einer Rolle zusammen und transportiere auf meinen Armen das Handwerkzeug langsam nach Hause. Die Anstrengungen haben mir trotz aller Gewohnheit doch zu schaffen gemacht und lassen meine Muskeln müde zusammenziehen. Mein Herz schlägt einen beruhigenden Rhythmus, der mich den Sonnenuntergang begleitet, als ich über die Feldwege nach Hause laufe. Im Großen und Ganzen war es ein gelungener Tag, auch wenn es schmerzt, nie die Außenwelt erleben zu dürfen. Aber will ich das auch wirklich? Oder ist es nur ein Hirngespinst?
Meine Mutter hat sich bereits schlafen gelegt, nur noch mein Vater sitzt am Tisch und widmet sich seinem Gebetsbuch. Es hilft ihm, sich in die Träume fallen zu lassen, die ihn erwarten, wenn er seine Lider schließt. Mein Bruder wird wohl nie ganz aus seinem nächtlichen Traum verschwinden, aber er ist kein Einzelfall. Jeder von uns dreien erinnert sich an den schicksalsreichen Tag, der uns so verändert hat, dass kein normales Leben mehr möglich war. Es war der Tag, an dem mein Bruder exekutiert worden ist. Sein Kopf ist noch einige Meter weggerollt, bis er sich schlussendlich an einem Nagel verrissen hat. Blut ist aus seiner Schneidefläche – wie ein Wasserfall – herausgeflossen und hat den gesamten Boden in einen roten See verwandelt. Mit dem Kopf sind auch unsere Hoffnungen gegangen. Hoffnungen auf einen sozialen Aufstieg in unserer Gemeinschaft. Hoffnung auf mehr Geld und somit einer besseren Ernährung. Man sieht es an unseren ausgemergelten Körpern, dass uns etwas fehlt. Gemüse und Obst, welches wir auf unseren Flächen pflanzen, reicht nicht aus, um uns in allen möglichen Facetten ernähren zu können. Dagegen haben andere Familie spezifische Pflanzen, die ihnen wichtige Vitamine und Mineralstoffe sowie Proteine liefern, die ihnen ein besseres Körperbild verpassen. Mehr Essen ist schließlich nur von Vorteil.
Nachdem ich mir eine Tasse Wasser vom Wasserspeicher geholt habe, steige ich die Treppen zu meinem Zimmer hinauf. Währenddessen sucht mich schon die Müdigkeit auf, die sich durch mehrmaliges Gähnen bemerkbar macht. Als ich mich umgezogen auf das Bett lege, fallen mir automatisch die Augen zu und ich trete in das schwarze Land meiner Albträume hinab. Mein Bruder erwartet mich bereits.
Wir sitzen uns gegenüber, starren uns gegenseitig in die Augen und warten bis der Schwächere nachgibt. Das war unsere Beschäftigung, wenn wir manchmal von der Langeweile befallen worden sind. Auch wenn es nur kurze Momente der Freude waren, die uns als Geschwister kennzeichneten, hat uns immer ein Blutsband verbunden, das uns aneinander gekettet hat. Ohne dem anderen waren wir nur eine Hälfte. Unvollständig. Eine halbe Hülle unseres Charakters, der nie entfaltet werden kann. Ich nehme meinen Bruder an der Hand und wir wandern die altbekannten Feldwege entlang, in den Sonnenuntergang hinein und laufen um die Wette, bis einer wegen Atemlosigkeit aufhören muss. Danach vergeben wir dem Gewinner mit einer Kopfnuss und alles ist wieder beim Alten. Tränen gleiten über meine Wangen als die Szenerie wechselt und ich mit dem Gericht konfrontiert werde, in dem der Horror meines Lebens stattfand. Meine Arme versteifen sich und ich gleiche einem Sack Kartoffeln, der in der Ecke verstaubt liegt und auf seinen Nutzen wartet. Zu etwas Besserem war ich zu jener Zeit nicht zu gebrauchen. Ich war emotional gebrochen von dem fürchterlichen Schicksal meines Bruders. Der Tag wechselt zur Nacht und ich finde mich im Gefängnis vor, in dem ich meine letzten Worte mit ihm gesprochen habe. Lange haben wir uns in die Augen geblickt und gehofft, dass sich das Schicksal doch noch fügt. Aber zu hoffen, ist zu weit ausgeholt im Leben. Enttäuschung breitet sich aus, als ich vom Wachdienst aus meiner Trance geholt werde und er mich darüber informiert, dass die Besuchszeit geendet hat. „Gute Nacht“ sind die einzigen und letzten Worte, die ich mit meinem Bruder ausgetauscht habe. Mit hängenden Schultern bewege ich mich leichenhaft aus dem düsteren Ort, Richtung Heim. Nach einer länger durchwachten Nacht ist der Tag der Exekution gekommen und es konnte mich nichts auf den Anblick vorbereiten, der sich mir für immer ins Gedächtnis eingebrannt hat. Widerlich, abscheulich und unmenschlich sind die Adjektive, die mir sofort für dieses Thema einfallen. Kein Mensch könnte jemals so etwas seinem Artgenossen antun! Und doch ist es das Urteil, wenn man seinen Obersten in der Würde verletzt. Er hat alle kleinen Leute in der Hand und kann über sie nach Belieben walten. Ich schließe meine Augen und warte bis zum Beilschlag. Das Zischen des Mordgeräts schallt laut durch die Luft und genau im Moment der Abtrennung öffne ich meine Augen und sehe den Kopf rollen. Die Augen sind auf mich gerichtet. Vorwurfsvoll, als wäre ich schuld. Ich bin es auch. Tatsächlich, ich hätte es verhindern sollen.
Mit weit aufgerissenen Knopfaugen springe ich vom Bett auf und fasse mit meinen Händen an den Kopf. Wann wird der Schmerz weichen? Wann kann ich wieder hoffen?
Texte: Mein eigenes Gedankengut.
Bildmaterialien: Google Bilder
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2017
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