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1. Kapitel

 

 Auf dem Weg zu meiner Arbeit mache ich einen Stopp bei meinen Lieblingscafe Cafe bienvenue. Es ist für mich ein Ort der Entspannung und des Nachdenkens. An einem der kleinen Stehtischchen bestelle ich mir bei einem Kellner einen schwarzen Kaffee mit Zucker und warte wegen dem guten Service kaum fünf Minuten, obwohl Hochbetrieb ist. Um diese Uhrzeit sind vor allem Anzugträger da, weswegen ich eine Ausnahme bilde. Ich, in meinen eng anliegenden, hellblauen Twinset, welchen ich mit einem schwarzen, wallenden Rock kombiniert habe, falle in der grauen, schwarz tragenden Menge wie eine Elefant in einem kleinen Dorf auf. Viele blicken mir nach, was ich aber gewohnt bin, da es mir tagtäglich so geht. Nachdem ich genießerisch meine Tasse leer getrunken habe, mustere ich, wie jedes Mal, die Verzierung, die das Gefäß schmückt. Sie sticht einem ins Auge, wie bestimmte Kleidung. Die Schnörkel des Anfangsbuchstaben verlaufen über die ganze Oberfläche der Tasse hinweg während die anderen Buchstaben sich ihm stilistisch und farblich anpassen. Seufzend stelle ich die Tasse wieder zurück auf den Unterteller, wo sie darauf wartet, abgeholt zu werden. Ich nehme die Hänger meiner roten Handtasche, welche mein Outfit aufpeppt. Die Türklingel verabschiedet mich und meine High Heels fangen auf dem Bürgersteig an zu klackern. Ich stolziere an den Geschäften von Paris vorbei und gelange schließlich zu meinem Ziel. Eine Villa, die man nicht umsonst so bezeichnet, schleicht sich bei jedem zurückgelegten Meter mehr in meinen Blickwinkel. Viktorianische Säulen stützen den vorderen Teil des Baus und geben dem Haus einen antiken Touch. Fasziniert kann ich meine Augen nicht abwenden und ich begebe mich zum Tor, wo mich eine Überwachungskamera erwartet. Ich wende mein Gesicht dieser zu und starre ich in die Mitte der Linse. Daraufhin wird das Tor aufgemacht und ich gelange hinein. Ab jetzt besitze ich eine ernste Miene, die mein Selbstbewusstsein und meine Überlegenheit gegenüber Kunden ausdrückt. Mit meinem Pokerface sage ich allen nur durch meine Mimik, dass ich es besser weiß. Der angelegte Kieselweg ist schwer mit meinen hohen Schuhen zu bewältigen, weshalb ich froh bin, endlich an dem Tor angekommen zu sein. Sicherlich werde ich Blasen bekommen, aber keiner hat gesagt, dass der Job einer Modeberaterin einfach ist. Ich drücke die Klingeltaste und warte eine Zeit lang geduldig, doch es macht keiner auf. Bei meinen zweiten Versuch, auf mich aufmerksam zu machen, öffnet mir ein verschlafener Mann im Morgenmantel. Er lächelt und meint höflich, „Entschuldige, falls ich Sie nicht angerufen habe, aber die Arbeit war stressig. Ich bin todmüde und will nur noch schlafen. Also wenn es Ihnen nichts ausmacht, treffen wir uns wann anders.“ Morgens ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass man die Kunden weckt und sie dann noch im Halbschlaf sind. Deshalb versuche ich mein Kommen, damit zu erklären, dass ich seine Stilistin sei. „Ach, Sie sind also meine Retterin in der Not, wie es meine Mutter so schön ausgedrückt hat. Irgendwie habe ich Sie mir anders vorgestellt. Eher dünner und mit viel Make-up im Gesicht. Entgegen meinen Vorstellungen sind Sie genau richtig.“ Freundlich bedanke ich mich für dieses indirekte Kompliment und weise ihn darauf hin, dass er bald geschäftlich los muss. Seine Mutter hat mir seine Arbeitszeiten per Email geschickt, um mich besser auf sein Leben einzustellen. Ab jetzt bin ich ein Jahr dazu verpflichtet, ihn kameratauglich anzuziehen und zu stylen. Ich habe mich bereits durch frühere Fotos vergewissert, dass er es bitter nötig hat, mich als Modeberaterin zu haben. Seine blonden Haare ist der Albtraum eines jeden Friseurs und der Duft, der an seinem Körper haftet, ist nicht gerade angenehm. Auch sollte man nicht in diesem Aufzug Fremde begrüßen, aber ich bin jetzt hier, um das zu ändern. „Wie ich sehe, haben wir viel Arbeit vor uns. Gut, dass ich früher da bin. Ich rufe jetzt einen Friseur meines Vertrauens an, um einen Termin auszumachen. Beeilen Sie sich mit der Dusche, Herr Fone.“ Er traut sich nicht, mir zu widersprechen, dank meines selbstverständlichen Auftretens. Ich habe für die Maske, die mein Gesicht ziert, viel Zeit investiert, weshalb auch nur ich es kann. Unter den Reichen bin ich, schon lange keine Unbekannte mehr, was mir auch viel Geld einbringt. Am Anfang war ich ganz unten, aber – wie meine Arbeitgeber es nennen – durch meine besonderen Fertigkeiten habe ich es bis nach ganz oben geschafft. Ich trete in die Villa ein, nachdem er mich hereingebeten hat. Am Eingang erwartet mich ein hoher Raum mit konvexer Decke nach außen, die mit verschiedensten Mustern bemalt ist. Ich sehe keine besondere Bedeutung, da es eher kaleidoskopartig gemalt ist. Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen und muss feststellen, dass die Dekoration nicht zu der Farbe der Wände passt, ganz zu schweigen von den Möbeln. Man sieht hier deutlich, die Wohnung eines jungen Mannes, der alleine wohnt und sich nur auf seine Hilfskräfte verlässt. Ich durchquere den Vorraum und bequeme mich auf ein Sofa, das schon ziemlich viel mitgemacht haben zu scheint. Nun ziehe ich mein Handy aus meiner Handtasche und lasse meine rote Tasche langsam zu Boden sinken. Darin sind nämlich noch wichtige Kosmetik- und Haarprodukte vorhanden, die ich zum verschönern von Herrn Anthony Fone brauche. Ich wähle die Nummer von Logan Aluin, dem besten Friseur von Paris, und rufe ihn an. Ich bespreche mit ihm die Einzelheiten, die ich bei Herrn Fone verändern möchte, damit er alles vorbereiten kann.

Wartend, dass er endlich kommt, starre ich in die Luft. Endlich ertönen Schritte in meiner Nähe und mein Auftrag geht durch die Tür, die vom Treppenhaus hereinführt. „Können wir los?“, frage ich ihn. „Ja. Aber ich empfehle ihnen nicht, andauernd so dominant zu sein, das passt nicht zu Ihnen.“ Den letzten Satz überhöre ich einfach, da ich solche Meinungen über mich öfter zu Ohren bekomme als mir lieb ist. Ich bin fast schon resistent dagegen und das soll, meines Erachtens, auch so sein. Ich bewege mich zur Türe hin und höre ich dabei sagen, dass wir seinen Wagen nehmen. Am Eingang stehe ich mit gerader Haltung und beobachte ihn dabei wie er einen Lamborghini ausparkt. Als er es geschafft hat, steige ich ein und nenne ihm die Adresse, wo wir hin müssen. „Den Namen Logan Aluin habe ich noch nie gehört. Ich habe mir meine Haare immer von Costa Cheney schneiden lassen.“ „Deshalb sind deine Haare auch wie sie sind“, meine ich, da mir der Name Costa Cheney sehr bekannt ist. Er sollte seinen Beruf aufgeben, wenn er nicht noch mehr Leuten die Haare verstümmeln will.

 

Logan stiehlt mir mal wieder zu viel Zeit, nur um seine Perfektion auszuüben. Eine gute Arbeit würde vollkommen reichen, um meinen Auftrag ansehnlich zu machen. Sein Schopf, der einem Vogelnest gleich, ist die Beleidigung jedes Mannes. Um mich abzulenken, tippe ich im 4/4 Takt mit der Fußspitze auf den Boden. Mit verschränkten Armen und zusammengezogenen Augenbrauen drücke ich meine Ungeduld aus. „Ich weiß, dass du meine Arbeit schätzt, weshalb ich dir dein Auftreten verzeihe. Du wirst begeistert sein. Vorher war er out, jetzt ist er in. Ein Mann kann einen trainierten Körper haben, aber ohne die richtige Friseur ist er nichts.“ Meine Augen verdrehen sich von selbst. „Dramatisch wie eh und je. Was würde ich nur ohne dich und deine hervorragenden Leistungen machen!“, erwidere ich während sich meine Mundwinkel leicht nach oben verziehen. Ich folge ihm zu einem der Stühle, wo sich Anthony befindet und starre überrascht von seiner wunderbar kurzen Mähne ihn an. Ich lege meinem Lieblingsfriseur meine rechte Hand auf die Schulter und sage: „Mein Lieber, du bist über dich hinausgewachsen.“ Widerwillig werde ich in eine Umarmung gezogen und er murmelt mir etwas Unverständliches ins Ohr. Fragend blicke ich ihn an. Er stöhnt übertrieben laut, bevor er es schließlich laut sagt. „Das war das Netteste, was du jemals zu mir gesagt hast. Das war das erste Lob von dir. Es ist für mich wie ein Oscar. Danke Ines Laforgue!“ Berührt von seinem emotionalen Ausbruch lege ich ebenfalls meine Arme um ihn. „Logan, mein Freund, ich hätte gedacht, dass sie hier arbeiten müssen und keine Zeit zum Kuscheln haben.“, unterbricht uns Herr Fone barsch. Seufzend löse ich die Umarmung auf und wende mich dem Störenfried zu. „Somit hätten wir den ersten Punkt einer langen Liste abgearbeitet. Der zweite ist die Inspektion eures Kleiderschrankes.“ „Wenn es denn sein muss.“, er blickt den Friseur an, „Hier ist das Geld. Den Rest können Sie behalten.“ Wir verlassen gemeinsam den Laden und fahren mit seinem Wagen wieder zurück. Er geht vor mir zu der Tür während seine Fußsohle die Steine auf dem Kieselweg knirschen lässt. Genervt beiße ich meine Zähne aufeinander. Ich weiß, dass es seine Absicht ist, da er sein Grinsen schlecht verbergen kann. Er setzt noch einen drauf und biegt seine Knie noch mehr, um ein lauteres Knirschen zu verursachen. Froh, dass es endlich aufhört und er seine Schlüssel für die Villa in seiner Hosentasche sucht, beobachte ich ihn. „Ich merke wie du mich ansiehst, aber leider entspreche ich nicht deinem Wunschdenken. Ich sehe viel besser aus.“ Seine Äußerung klingt so arrogant, dass ich fast meine Beherrschung verliere. Seit wann duzen wir uns überhaupt? Entschlossen schlucke ich meine Empörung nach unten und schweige weiterhin. Nun gut, ich nehme seine unausgesprochene Herausforderung an. Wie du mir so ich dir, mein Lieber. Wir betreten das Haus und steigen die Stufen des Treppenhauses nach oben. Der Flur des ersten Stocks endet außerhalb meiner Sehweite, was aber nicht von großer Bedeutung ist, da Anthony das erste Zimmer betritt. „Willkommen in meinen Reich. Mach es dir bequem.“ Statt seiner Höflichkeitsfloskel nachzugehen stolziere ich auf meinen hohen Schuhen zu seinem begehbaren Kleiderschrank und fange an seine Kleidung zu durchsuchen. „Hast du irgendwo Kartons oder Kisten?“, frage ich ihn, da die ausgemusterten Sachen auch einen Platz brauchen. Augenscheinlich missfällt ihm mein Duzen ebenfalls, aber was er kann, kann ich auch. Sein Misstrauen richtet sich gegen mich, trotzdem gibt er mir die Dinge, nach welchen ich gebeten habe. „Ich lasse dich ohne meine Anwesenheit jetzt deine Arbeit tun während ich mich im Arbeitszimmer befinde. Es würde nichts mehr bringen, zu meinem Hauptsitz zu fahren. Ein paar Aufgaben kann ich auch von zu Hause aus erledigen. Falls du irgendwelche Fragen haben solltest, werden die Bediensteten sie sicherlich beantworten. Wenn nicht, zögere nicht zu mir zu kommen.“ Mit diesen Worten wendet er sich ab und verlässt den Raum. Zufrieden kehre ich der Tür zum Flur den Rücken zu und mustere die schrecklichsten Kleidungsstücke aus. Ein grauer, ausgewaschener Rollkragenpullover aus den Achtzigern bildet den Anfang eines schier unendlichen Kleiderschranks. Länger als gedacht, verbringe ich die Zeit in der Villa. Erst als ich ein Räuspern höre, erhebe ich mich erschrocken. Erleichtert, dass es nur eine Bedienstete ist, halte ich meine geballte Hand über meinem Herz. „Entschuldigung, aber Herr Fone bittet Sie in sein Arbeitszimmer zu kommen, sofern Sie Zeit haben.“, erklärt das junge Mädchen. „Ich bin schon unterwegs. Brauche lediglich noch meine Handtasche. Es wäre lieb von dir, wenn du mich dahin führen könntest“, frage ich indirekt während ich meine rote Handtasche erfolglos suche. „Gerne, Frau Laforgue. Außerdem habe ich vergessen zu erwähnen, dass Herr Fone ihre Handtasche hat.“ Dieser Mistkerl! Ich gebe ihr mit einem Winken zu verstehen, dass sie vorangehen kann und ich ihr folge. Es bleibt mir ja schließlich nichts anderes übrig.

Einige Schritte mehr und ich hätte meine Schuhe freiwillig aus dem Fenster geworfen. Ein kleines Haus hätte es auch getan, aber nein, es muss ja ein Großes sein. Leise stöhnend bewältige ich die Strecke bis zu seinem Arbeitszimmer, jedoch immer darauf bedacht, dass die Bedienstete nichts von meinen Schmerzen mitbekommt. Ich brauche jetzt weder Mitleid noch das lose Mundwerk von Angestellten. Sie klopft an und Anthony erfährt somit von unserem Dasein. Die Tür öffnet sich und Fone schickt das Mädchen weg. Mit einer Geste bittet er mich herein und weist mir einen reich verzierten Stuhl zu. Er lässt sich ebenso auf einen Stuhl nieder, der aber alle anderen Stühle im Raum in den Schatten stellt. Schwarze Blumen treffen auf weiße, antike Figuren, ein wunderbarer Kontrast. Ich muss zugeben, dass er doch Geschmack hat, der sich aber einschließlich auf sein Arbeitszimmer beschränkt. Sandfarbene Wände erinnern dich an die Weite einer Wüste und lassen dich mit dem anderem Mobiliar an den Orient denken. Doch ist es nicht zu viel des Guten, da die orientalisch ähnlichen Einrichtungen durch legere braune Schränke und dem Schreibtisch farblich passend kombiniert werden. Wer auch immer der Innenarchitekt dieses Raumes war, verdient Anerkennung. Derweilen ich das Zimmer mustere, höre ich Anthony genau zu. „Wie du bestimmt erfahren hast, habe ich deine Handtasche.“, er überreicht sie mir, „Ich habe sie aus Versehen mitgenommen, daher bitte ich dich vielmals um Entschuldigung.“ „Geht in Ordnung.“, erwidere ich schlicht. Er lädt mich zum Essen ein, doch ich lehne ab, da es bereits neunzehn Uhr ist. Seine Wange zuckt einmal, aber es kann auch nur Einbildung sein. „Gut. Ich erwarte dich morgen wieder.“, seine Stirn legt sich in Falten, als er auf das Ziffernblatt seiner Armbanduhr blickt, „Sagen wir elf Uhr. Ich muss morgen bei einer meiner Firmen noch einen Routinebesuch machen, deshalb kann es auch später werden.“ Ich nicke und wir verabschieden uns mit einem kräftigen Händedruck.

2. Kapitel

 

Leicht lächelnd klopfe ich an der großen Villentür an, worauf mir eine Bedienstete aufmacht. Ich erinnere mich daran, wie ich gestern Anthony abserviert habe. Es war mir sofort klar, dass er es auf ein Treffen mit mir abgesehen hat. Warum sollte er mir sonst, unabsichtlich natürlich, die Handtasche genommen haben? Bevor das Dienstmädchen meine Fröhlichkeit bemerkt, verschwindet es wieder. Sie führt mich wieder vor das Zimmer, das den Kleiderschrank beinhaltet. An der Tür ist ein kleiner, gelber Zettel geklebt, auf dem etwas Gekritzeltes geschrieben ist. „Ich hoffe, dass du einen schönen Tag haben wirst, Ines. Fahre ruhig mit deinem Plan meinen Leben auf den Kopf zu stellen fort und erstatte mir am Abend Bericht darüber, was du gemacht hast. Ich werde meinen grauen Rollkragenpullover im Müll nie wieder vergessen! Aber sicherlich wird sich ein Kompromiss finden lassen, damit wir uns einig werden.“ Während ich es laut vorlese, verziehe ich mein Gesicht zu einem leidigen Ausdruck. Ich habe vergessen, ihn über meine Vorraussetzungen zu informieren, dass ich nach eigenen Willen handeln kann. Es ist wichtig für den Kunden, ihn von seinen Gewohnheiten zu trennen und Neues auszuprobieren. Sicher kann man an einigen festhalten, aber ein bisschen frischer Wind tut jedem gut.

 

Auch wenn es mich etwas stört, seiner Aufforderung zum arbeiten, zu folgen, mache ich weiter mit dem Ausräumen untragbarer Klamotten, die ihre besten Tage hinter sich haben. Es dauert rund vier Stunden und der begehbare Kleiderschrank ist geordnet und auf Fordermann gebracht. Stolz darauf, was ich vollbracht habe, lasse ich einen Blick über mein Werk schweifen. „Ich hätte nicht erwartet, dass dieses Zimmer jemals so leer sein kann. Weißt du, meine Mutter und meine zwei Schwestern kaufen mir zu jedem Anlass einen Anzug oder Hosen, genauer gesagt, ein vollständiges Outfit, das ich ja nicht unpassend auf einem Event erscheine. Schließlich muss das Äußere stimmen, wie meine Mutter so passend meint. Bei dir ist es passend, was ich schon feststellen konnte, aber ob auch das Innere mit deinem Erscheinungsbild harmoniert, das ist die Frage.“ Beleidigt er mich gerade? „Was soll das werden?“ Mit den Armen an der Seite gestützt, drehe ich mich zu ihm um. Er zuckt mit den Achseln und erwidert nur, „Vielleicht will ich dich umwerben, indem ich dir meine tiefsten und schlimmsten Geheimnisse offenbare.“ Aus welchem Jahrhundert stammt der den bitte? Umwerben, dass ich nicht lache! Obwohl so etwas noch niemand gesagt oder gemacht hat. Ich fühle mich ein bisschen geschmeichelt, trotz der Tatsache dass er der bekannteste Liebhaber der Stadt Paris ist. Es gehen schon Gerüchte um, das er Polygamie betreiben soll, also mit mehreren Frauen gleichzeitig schläft oder er ist bisexuell. Ein kalter Schauer rollt über meinen Rücken und wage erst gar nicht meine Gedanken fort zu setzten. „An was denkst du gerade? Anscheinend ist es nicht so gut, nachzufragen, wenn es immer so endet“, sagt er, als er bemerkt wie stumm ich bin. Mich bringt man nicht so einfach zum Schweigen, aber der Mann vor mir schafft es immer wieder.

 

Unruhig bewege ich mich auf der Stelle abwechselnd auf beiden Füßen hin und her. Es liegt eine unangenehme Anspannung zwischen uns vor und bin mir zum ersten Mal seit Jahren unsicher, was ich machen soll. Vielleicht zu reden anfangen? Oder vielleicht eine sinnlose Frage stellen, die überhaupt nicht zum Thema passt? Ach, ich überlasse es ihm, die Luft zwischen uns zu entladen. Es kommt mir so vor, als würde er es absichtlich machen, aber ich lasse mich nicht unterkriegen. Stur, wie ich eben bin, schaue ich in seine Augen, welche in einen sanften braun erstrahlen. Nur wenn man seinen Blick begegnet, erkennt man das er, nach seinem katastrophalen Aussehen zu beurteilen, nicht verrückt und arm, sondern reich, aber schlichtweg unerfahren in der Kleidungsauswahl, ist.

 

„Aus deinem Verhalten könnte man jetzt beschließen, dich als schüchtern abzustempeln und sich nicht weiter mit dir zu befassen. Aber ich weiß, dass du nur auf mich gewartet hast, dass ich anfange zu reden. Richtig oder Falsch?“ Mit neutralen Gesichtszügen, die überhaupt nicht zu seinem Geäußerten passen, treffen braune auf blaue Augen. Um einer Antwort zu entgehen, entscheide ich mich, ihn verbal anzugreifen oder anders ausgedrückt, ihn von seiner Frage abzulenken. „Ich dachte, ich bin zum arbeiten hier und nicht dazu da, deine Neugierde zu befriedigen?“ Er legt seine Hände übereinander. „Fragen beantwortet man nicht mit Gegenfragen, Ines. Das ist unartig“, lehrt er mich. Ablenkung fehlgeschlagen, meldet mein Verstand. Hm. Wie soll ich jetzt handeln? Ich muss mich geschlagen geben, da ich keinen Plan C habe. „Na gut, du hast recht. Bist du jetzt zufrieden?“, sage ich mürrisch. „Nein. Noch lange nicht.“ Überrumpelt blicke ich zu ihm hoch und ich stelle mir bildlich vor wie sich meine Pupille vor Schreck weitet. Was will er nur von mir? Mutiert er zum Stalker oder wie kann ich das verstehen? „Keine Sorge, ich will dir nichts tun. Du hast mich falsch interpretiert“, besänftigt er meine Ängste. Mit einem „Aha“ lasse ich ihn wissen, dass ich es verstanden habe.

 

Er überbrückt die aufkommende Stille, indem er mir seinen Schuhschrank zeigt, wo sich von teuren Lederschuhen bis billige Plagiate alles finden lässt. „Wie du schon siehst, besitze ich viel mehr Schuhe als man überhaupt benutzen kann. Das Erbe meines Urgroßvaters und meines Großvaters. Statt sie meinen Vater zu geben, haben sie die Schuhe gleich mir geschenkt. Es klingt zwar seltsam, aber damit beweisen sie, oder haben bewiesen, dass ich ihnen wichtig bin, oder war, je nach dem, wie man es umschreibt. Jedenfalls möchte ich, dass du dich hier mal umsiehst. Du kannst machen was du willst, da ich nicht wirklich an Schuhen interessiert bin.“ Er überfliegt das Schuhzimmer mit einem missfallenden Blick. Ich nicke bestätigend und fange an, das Innere des Raums zu ordnen. Für was hat man denn Angestellte, wie die Putzkraft, wenn sie nicht mal weiß, wie man aufräumt? Darüber muss ich Anthony unbedingt noch informieren. Ich drehe mich um, doch er ist schon weg. Mit den Schultern zuckend, fahre ich mit meiner Arbeit fort. In der gegenüberliegenden Ecke finde ich sieben große Kartons vor und werfe ein Paar ausgetretener Schuhe hinein, bei dem die Sohle bereits Risse hat. Ein weiteres Paar landet ebenfalls darin, da das Vordere fehlt und man dadurch die Zehen sehen kann. Man kann sich wundern, was ein Mensch alles bewahrt, obwohl es nicht mehr brauchbar ist.

 

„Ich weiß, dass du hinter mir stehst“, sage ich gerade heraus, als ich seine Präsenz wahrnehme. „Fühlst du es denn nicht auch?“ Was soll diese Frage? Es ergibt überhaupt keinen Sinn. Misstrauisch runzele ich meine Stirn und verenge meine Augen. Ich lasse mich einfach überraschen, beschließe ich innerlich seufzend. „Wie meinst du das?“ „Wenn du es nicht spürst, muss ich es dir zeigen.“ Er zieht mich an der Hüfte an sein Becken und reibt sich an mir. Daraufhin drehe ich mich überstürzt um und gebe ihm eine klatschende Ohrfeige, die es in sich hat. In diesem Moment ist es mir egal, ob er mein Kunde ist oder mehr verdient als ich in meinen gesamten Leben. „Was denkst du wer du bist! Ich bin keine Frau, die man so behandeln kann. Lass bloß deine Finger bei dir! Ich habe einen Freund!“, lüge ich ihn an, damit ich Garantie habe, dass er mich in Ruhe lässt. „Dein Freund ist nichts im Gegensatz zu mir“, meint er stolz. Ich habe die Nase voll von seiner Prahlerei, dass er der Beste sei, und nehme meine Handtasche in die Hand. Ich verabschiede mich kurz und umgehe ihn. Besser, ich versuche ihn zu umrunden, aber er packt meinen Oberarm. Es tut ein bisschen weh, aber ich ignoriere den Schmerz und ein eiskalter Blick trifft seinen. „Lass mich sofort los!“ „Was wenn nicht?“ Ich trete ihn mit meinen Absätzen auf den vorderen Fuß und er quietscht erschrocken. Das war ihm anscheinend Antwort genug und ich gehe grinsend aus dem Zimmer und verlasse die Villa durch die Tür. In diesem Moment als er quietschte hatte er wirklich Ähnlichkeit mit einem Schwein.

 

Da ich noch nie wirklich gut im Lügen oder Improvisieren war, sollte ich mir schleunigst einen Mann suchen, der sich als mein Freund ausgeben kann. Ich werfe einen Blick auf die Uhr und stelle überrascht fest, dass es erst halb neun ist. Normalerweise bin ich erst eine Stunde später zuhause, aber heute kam mir ein kleiner Zwischenfall gelegen, sodass mir jetzt zum Feiern zumute ist. Glücklich rufe ich ein paar Freunde an und kleide mich an, wobei heute mit einer schwarzen engen Hose, einer weißen Rüschenbluse und schwarzen Pumps gedient ist. Eine einfache Frisur später holt mich Anuh, eine Freundin von mir, ab. Schon lange haben wir uns nicht mehr gesehen, denn jeder fixiert sich zurzeit auf seine eigene Karriere. „Schön, dass du etwas Zeit für mich gefunden hast!“, meine ich daher. „Für dich doch immer, Ines, Schatz. Wir waren und sind immer gute Freundinnen, da lässt man einem nicht im Stich, wenn man mal keine Arbeit hat und Lust zum Feiern hat. Da sage ich nie Nein.“, erwidert sie. Wie sehr habe ich sie vermisst, denke ich mir. Schade, dass wir, der Rest meiner Freunde, einen Deal gemacht haben, dass wir uns zuerst um unsere Karriere kümmern. Dabei haben wir uns immer mehr aus den Augen verloren. Wenigstens sehen wir uns heute.

 

In einem der bekanntesten Clubs, dem Zora, ist es so voll, dass er fast aus allen Nähten platzt, wobei sich die meisten Menschen auf der Tanzfläche schlängeln und die Alkoholiker unter uns sich mehrmals zu der Bar begeben, um mit einem Getränk und viel Geld leichter zu der Menschenmasse zurückkehren. Mit Anuh`s freizügiger Überredungskunst bekommen wir tatsächlich einen Platz, wo wir auf die restlichen Freunde warten. James und Francis kommen ein paar Minuten später und als Letzte kommt Susan herangerauscht. Wie immer ist sie die Letzte, schmunzle ich. Es ist immer wieder schön zu erkennen, dass sich Menschen im Laufe der Zeit nicht allzu verändern.

 

Wir tauschen uns über die neuesten Neuigkeiten aus und informieren und warnen uns vor Betrügern, wie es eben in unserem Business läuft. Es ist immer gut ein paar Freundschaften zu knüpfen, da man somit nicht auf sich alleine gestellt ist. Nach zahlreichen Cocktails, die wir uns gegenseitig ausgeben, damit auch keiner benachteiligt wird, amüsieren wir uns mit den anderen Tanzenden auf der Tanzfläche. Buntes Licht verleiht allen Personen um mich etwas Magisches während ich mich ein bisschen unpassend zu der Musik bewege. Ich habe nie Taktgefühl besessen, was sich leider auch nicht ändern lässt. Ich muss für die Außenstehenden aussehen, als hätte ich Schmerzen, da, mir kommt es so vor, ich nur humple und ein wenig herum hopse. Einfach Spaß haben, ermutige ich mich selber. Leider schwebt mir der Gedanke von einem Affen im Kopf, den ich mit mir vergleiche und ich finde viele Übereinstimmungen, worauf ich in ein lautes Lachen ausbreche. Für die Menschen um mich herum will ich hoffen, dass sie mich nicht für verrückt halten, da ich bei viel Alkoholkonsum nicht sehr umgänglich bin.

 

Unerwartet spüre ich zwei Hände an meiner Hüfte, die mich langsam an einen warmen, in Schweiß getränkten, Körper drängen. Ich versichere mir kurz mit einem Blick, dass der Mann hinter mir einigermaßen akzeptabel aussieht und bewege mich mit ihm eng umschlungen auf der Tanzfläche. Er tanzt nicht einmal schlecht, jedenfalls tausendmal besser als ich. Auch sein Parfüm ist nicht das Gelbe vom Ei, aber es ist trotzdem angenehm zu riechen. Es löst auf keinen Fall ein Niesen aus, warum ich auch dankbar bin, denn ich niese oft, wenn ich Parfüms rieche, da es mir einfach in der Nase kitzelt. Ich will keinen kritisieren, weshalb ich mein Gehirn in den Urlaub schicke und einfach die gemeinsame Zeit genieße. Als mein Verstand schon fast in der Karibik ist, keimt eine Idee auf, die mich selbst völlig überrascht. Ich könnte ihn benutzen, um Anthony zu beweisen, dass ich einen Freund habe, der es verdient, mich als Freundin zu haben. Hoffentlich hat mein derzeitiger Partner keine Freundin, sonst würden mir meine Gedanken leid tun, schließlich will ich keinen verletzen, sondern mir nur eine lästige Zecke vom Hals halten.

 

 

 

 

 

3. Kapitel

 

 

Ich packe meinen Tanzpartner am Ärmel und ziehe ihn in eine ruhigere Ecke, die nicht aus zuckenden Leibern besteht. Dort bleiben wir stehen und ich frage ihn direkt, ob er mein Scheinfreund sein will, nachdem ich nach einem Ring Ausschau gehalten habe und mir eine Bestätigung geholt habe, dass er keine Freundin hat. Insgeheim grinse ich in mich hinein und freue mich, meinen neuen „Freund“ Anthony vorzuführen. „Das heißt, wir müssen uns auch küssen und anfassen, oder? Apropos Name, wie heißt du überhaupt?“ „Ja, und vielleicht verstehen wir uns auch so gut, damit wir eine echte Partnerschaft vorgeben können. Ach ja, habe ich im Trubel ganz vergessen, ich heiße Ines Laforgue. Und du?“

Ich bemerke, wie er überlegt, ob er mir es wirklich sagen möchte, doch bevor ich Einwand erheben kann, das es nur fair ist mir gleich zu tun, fängt er schon an zu reden. „Bitte nicht lachen. Ich heiße Michelle Cruise“, atmet er erleichtert aus. Was soll denn daran so schlimm sein? „Wieso findest du deinen Namen nicht gut, jedenfalls ist er meiner Meinung nach völlig in Ordnung wie jeder andere auch.“ Ein kleines Lächeln ziert seine Mundwinkel und er erwidert: „Da bist du aber die erste, die eine solchen Standpunkt vertritt. Vielleicht wird doch etwas Ernsteres zwischen uns.“

 

Außer den Tausch unserer Telefonnummern, haben wir keine Konversation mehr betrieben, sondern sind nur noch zum Beat gehopst. Ein paar Stunden  später verabschiede ich mich von ihm und meinen Freunden und greife den Weg nach Hause an. Anuh bot mir zwar an, mich zu fahren, doch ein bisschen Strecke wird mir gut tun. Höchstens ein Drink intus, bin ich noch ganz sicher auf den Beinen. Der Müdigkeit strotzend werde ich schneller, als ich mittlerweile rund drei viertel des Weges zurückgelegt habe. Nur noch ein paar hundert Meter und das Ziel Bett ist erreicht. Die Motivation auf einen ruhigen und entspannenden Schlaf reicht aus, um genug Elan für die weitere Distanz von mir zum Haus zu haben.

 

Vor der Tür finde ich aber nicht nur die altbekannten Blumen und Büsche vor, sondern - wider Erwarten – auch einen dicken, roten Kater mit einer schwarzen Schleife um den Hals. Er ist an einer Kette am Türgriff festgebunden, worauf ich sofort Mitleid empfinde. Trotz, dass er maximal gelangweilt aussieht, entdecke ich keine Blessuren, nur eine Karte und blaue Rosen. Gefärbtes Echtes oder unechtes Plastik ist mir egal, sie sind wunderschön. Da ist der Kater schnell vergessen, auch wenn ich ihn ableine und er mir in Innere nachfolgt, als wenn es sein Heim wäre. Nach dem Mustern der Dornenblumen schlage ich die beigelegte Karte auf und lese das Geschriebene durch. Ein Verehrer, denke ich mir vorher noch mit einem hoch dosierten Grinsen. Das vergeht mir allerdings relativ schnell wieder, weil ich den Namen Anthony Fone lese. Kann er mich nicht in Ruhe lassen? Obwohl es mir still und heimlich gefällt, achte ich meine Privatsphäre und hoffe, dass er nicht zu der schlimmen Sorte Stalker gehört. Wie auch immer die Geschichte ausgehen wird, ich lasse mich wohl oder übel einfach überraschen und sehen, was die Zukunft mit sich bringt. Zuerst aber lege ich mich hin und schlafe eine Nacht drüber, um die ganzen Geschehnisse des Tages zu verarbeiten.

 

Die Fensterrollos fahren nach oben und helle,  warme Sonnenstrahlen wecken mich sanft aus meinen wirren Träumen auf. Spätestens fünf Minuten nach dem Aufwachen erinnere ich mich an keinen der Träume mehr und konzentriere mich stattdessen auf mein Marmeladenbrot. Ein Tropfen Brombeergelee tropft auf meine Oberschenkel und ich beginne zu fluchen, da es meine Arbeitskleidung ist. Leider ist mein Auftreten immer perfekt, weshalb ich mich nochmals umziehen muss. Schnell trinke ich noch meinen Morgentee, um noch genügend Zeit fürs Umziehen zu haben. Eine andere schwarze Röhrenhose später inklusive anderer Verbesserungen meines Aussehens am Morgen, begutachte ich mich im Spiegel, der über der Haustüre hängt. Zufrieden mache ich mich auf den Weg zu Herrn Fone.

Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich, als ich auf der Matte stehe, aber nicht so wie die anderen Male. Fast unsicher. Reiß dich zusammen Ines! Du schaffst das!

Wie auch die anderen Male öffnet mir ein Angestellter die Tür und lässt mich herein. „Herr Fone ist zurzeit nicht im Haus, aber ich soll Ihnen die Nachricht überbringen, dass er bald wieder anwesend sein wird. In der Zwischenzeit möchten Sie bitte weitere Arbeit erledigen. Wenn Sie wollen führe ich Sie dann dorthin“, berichtet sie mir Anthonys Anliegen. Am besten ich sortiere weiterhin den Schuhschrank aus, denn letztes Mal ist mir leider etwas dazwischengekommen. Ich bitte die Person vor mir, mich hinzuweisen, da dieses Gebäude einfach zu groß ist und zu viele Ecken oder Abbiegungen hat, um sich in einer halben Woche auszukennen. Ich bedanke mich freundlich, worauf ich die Kisten mit den Augen erblicke und mich zu ihnen hinbewege. Gut, alle ist noch am selben Platz und ich brauche keinen zu schimpfen. Meine rote Handtasche stelle ich auf ein viereckiges Podest und arbeite weiter an meinem Basisplan. Grundlegend räume, sortiere und bringe das Haus oder die Wohnung auf Fordermann, danach berate ich die Menschen in Sachen Kleidungswahl. Doch diesmal vermische ich die beiden und versuche es damit. Möglicherweise ist es besser, als alles getrennt zu machen.

 

Ein Lied vor mich hinsummend, das mehr ein Ohrwurm ist als Vergnügen, endet meine Arbeit im Schuhzimmer. Die fertigen vier großen Kisten stelle ich geordnet neben der Flurwand ab, damit es das Personal und Anthony sehen können. Sein Schlafzimmer nehme ich mir erst am Schluss vor, weshalb ich mir überlege, was für ein Thema ich mir als nächstes aufbürgen sollte. Immer noch ahnungslos wandere ich durch die verschiedenen Räume und bleibe im Badezimmer stehen. Etwa zwei dieser Art befinden sich in dieser Etage und man erkennt, dass das mehr Arbeit wird als die letzten Räume. Überall liegen Sachen am Boden und nirgends sind Fächer oder Schachteln zu erfassen, in denen man alles ordentlich aufbewahren kann. Schnellstmöglich muss ich Anthony danach fragen, ob ich Geld zur freien Verfügung bekomme, um die Zimmer neu einzuräumen.

 

Die Geräusche meiner Schritte werden vom flauschigen Teppichboden verschluckt, als ich mich auf die Suche nach einem Angestelltem begebe. Es ist, als seien alle wie vom Erdboden verschluckt, denn alles, was ich vorfinde, ist eine Totenstille. Ich hätte schon fast aufgegeben, jedoch höre ich plötzlich leise Schritte, ungefähr zwanzig Meter entfernt. Ich nähere mich an und erblicke Herrn Fone in einem Gespräch mit einem älteren Herrn. Graue Haare und einen farblich gleichen Rauschebart trägt er mit vollem Stolz. Ein fuselfreier schwarzer Anzug mit grünem Hemd und ebenfalls schwarzer Krawatte schmückt seinen restlichen Körper. Stilistisch vollkommen korrekt, empfinde ich seine Anziehsachen und wünsche mir, Anthony hätte diesen guten Geschmack auch.

 

„Hinter mir steht meine verehrte Modeberaterin Ines Laforgue, welche ihre Arbeit wirklich ausgezeichnet macht, wenn ich anmerken darf, meine Liebe“, lobt mich Anthony vor seinem Gegenüber. „Natürlich ist mir der Name bekannt, mein Sohn! Sie ist eine kleine Berühmtheit in ihrer Branche. Sie ist auch schon bei Jean Paul und Greg Hill gewesen und hat ihre Persönlichkeit nachtragend verändert. Man muss nur einen Vergleich zwischen vorher und nachher machen und man sieht den Unterschied. Frau Laforgue, man braucht mehr wie Sie!“ So viel Anerkennung habe ich noch nie bekommen, was auch nicht ohne Reaktion meinerseits bleibt. Selten bin ich je so rot geworden, hole ich die Bestätigung im Spiegel neben mir.

„Danke. Ich liebe meinen Job! Ich könnte mir keinen anderen vorstellen, weshalb ich meine Arbeit so gut mache“, verrate ich ihnen mein super unspektakuläres Geheimnis. „Anthony, ich muss los. Ich richte deiner Mutter deinen Gruß aus, aber die Arbeit ruft.“ Seine Verabschiedung kurz und knapp, geht er danach durch die Tür. Fone wendet sich meiner selbst zu und lächelt mich freundlich an. Das ist seltsam. Ich lächele zurück, worauf er auf mich zukommt. Mir wird flau im Magen, aber lasse ihn gewähren, mich an beiden Schultern zu halten. Seine Hände fahren hin und her und immer mehr nach unten.

 

Als er bei meinen Brüsten ankommt und grob eine packt und seinen Daumennagel in meine rechte Brustwarze steckt, ohrfeige ich ihn. Verständnislos sehe ich ihm in die Augen, nur um dann angewidert auf seine Hand hinunterzublicken, die weh getan hat. „Ich sage es nicht noch mal, Anthony! Wenn du mich noch mal so berührst wirst du dein blaues Wunder erleben. Kannst du dir vorstellen, wie das schmerzt?“, knurre ich ihn an. „Nein, darum probiere ich es auch aus. Soll ich es erneut versuchen oder bist du so prüde?“ Entsetzt weiten sich meine Augen. Verschränkte Arme sind die Zeichen meines Widerstands und sollen ihm zu verstehen geben, dass man mich nicht so behandeln kann.

 

„Es kann sein, dass ich mich falsch gegeben habe. Aber ich bereue nichts.“ Nett, wie direkt und ehrlich er sich gibt. „Du bist nur ein perverses Arschloch, nichts anderes bist du! Behandle eine Frau wie es sich gehört. Aber lass gefälligst die Finger von Frauen, die bereits vergeben sind! Kurz gesagt: Ich habe einen Freund. Jetzt lass mich in Ruhe meine Arbeit tun!“ Endlich ist er still. Ich hätte nicht länger sein loses Mundwerk ertragen, dass nur Blödsinn von sich gibt. So will keine Dame behandelt werden, das ein bisschen Selbstwertgefühl besitzt. Ich könnte kündigen, aber was soll ich dann arbeiten? Es gibt keinen anderen Job für mich außer diesen.

 

Wie soll es jetzt weitergehen? „Du hast mich überzeugt. Okay, du hast einen Partner, trotzdem kannst du immer zu mir kommen, falls du nicht vollkommen befriedigt bist. Schlag mir in die Hand, dass uns nichts mehr im Weg steht, um eine Freundschaft aufzubauen“, nimmt er mir meine Ratlosigkeit ab. Was habe ich zu verlieren? Nichts, außer meinen Ruf. Meinen Job. Mein bisheriges Leben. Aber ich gebe ihm den Eid. Ich lege ihm, spontan und unüberlegt, mein Leben in die Hände. Auch wenn es nur mein äußeres Erscheinen ist.

Ein Deal, der vermutlich mein Leben verändern wird. „Ich stehe jederzeit zur Verfügung, nicht vergessen, Darling.“

Zwar immer noch frech von ihm, dass zu behaupten, aber möglicherweise - wer weiß – bin ich mal so verzweifelt, um auf sein Angebot zurückzukommen. Wie auch immer er ist, hauptsächlich geht es mir darum, mit meinen Kunden ein gutes Verhältnis aufzubauen und ihr Leben zum Positiven zu verändern. Kunde glücklich, ich glücklich.

Hoffentlich bereitet er mir nicht noch mehr Schwierigkeiten, die es zu klären gibt. Normalerweise sind meine Arbeitgeber froh mich zu sehen und ganz zuvorkommend, damit es mir auch an nichts fehlt und lassen mich alles tun, wonach mir zumute ist. Dennoch gibt es solche Fälle wie der vor mir, der keine Veränderungen mag, eben gewissenhafte Personen.

 

„Auf gute Zusammenarbeit“, beteuere ich unseren Handschlag. Daraufhin wandern seine Augen über gewisse Körperpartien und ich möchte nicht wissen, wieso. Wenigstens bringt er seine Gedanken nicht mehr mit Gestiken zum Ausdruck, höchstens verbal, was aber genauso störend ist. „Ja, auf gute Zusammenarbeit“, wiederholt er mein geäußertes Versprechen.

„Wozu ich dich eigentlich gesucht habe, ist dich zu fragen, ob du mit mir nicht über meine Freiheiten sprechen willst, schließlich sollte ich mich im Klaren darüber befinden, was du verändern lassen möchtest und was nicht. Dennoch erwarte nicht, dass ich nicht noch mit dir diskutiere, wenn mir etwas nicht passt.“ Er nickt und wir gehen in sein Büro, wo wir uns auf die bereits aufgesuchten Stühle setzen.

 

„Ich plane für die restliche Woche die Renovierung der Badezimmer in der Etage, in welcher wir uns vorher befanden. Außerdem ist Frische Farbe und ein Schimmelentferner nötig, da unten an den Wänden dieser Schädling besonders verbreitet ist. Überall die grün-bläuliche Farbe, dass spricht keinen Gast an. Ebenfalls ein Kritikpunkt ist die Innenausstattung der Räume, die sehr unvorteilhaft sind. Ich schlage ein weiteres Übereinkommen vor, nämlich, dass du mir vertraust in dem was ich plane und umsetze. Mir nützt ein Kunde nichts, der jede meiner Schritte zweimal kontrolliert, ob sie nicht unnötig sind und dann zu dem Ergebnis kommen, das ich richtig gelegen habe. Was hältst du davon? Wenn du zustimmst kann ich dir nur gratulieren, wenn nicht sage ich: Dein Pech.“ Ein paar Minuten vergehen, als er endlich eine Antwort erwidert. In meinen Fingern zuckt es schon, da er anscheinend extra Spannung aufbaut wegen seiner nur allzu wichtigen Antwort.

4. Kapitel

 

 Auf dem Weg zu meiner Arbeit mache ich einen Stopp bei meinen Lieblingscafe Cafe bienvenue. Es ist für mich ein Ort der Entspannung und des Nachdenkens. An einem der kleinen Stehtischchen bestelle ich mir bei einem Kellner einen schwarzen Kaffee mit Zucker und warte wegen dem guten Service kaum fünf Minuten, obwohl Hochbetrieb ist. Um diese Uhrzeit sind vor allem Anzugträger da, weswegen ich eine Ausnahme bilde. Ich, in meinen eng anliegenden, hellblauen Twinset, welchen ich mit einem schwarzen, wallenden Rock kombiniert habe, falle in der grauen, schwarz tragenden Menge wie eine Elefant in einem kleinen Dorf auf. Viele blicken mir nach, was ich aber gewohnt bin, da es mir tagtäglich so geht. Nachdem ich genießerisch meine Tasse leer getrunken habe, mustere ich, wie jedes Mal, die Verzierung, die das Gefäß schmückt. Sie sticht einem ins Auge, wie bestimmte Kleidung. Die Schnörkel des Anfangsbuchstaben verlaufen über die ganze Oberfläche der Tasse hinweg während die anderen Buchstaben sich ihm stilistisch und farblich anpassen. Seufzend stelle ich die Tasse wieder zurück auf den Unterteller, wo sie darauf wartet, abgeholt zu werden. Ich nehme die Hänger meiner roten Handtasche, welche mein Outfit aufpeppt. Die Türklingel verabschiedet mich und meine High Heels fangen auf dem Bürgersteig an zu klackern. Ich stolziere an den Geschäften von Paris vorbei und gelange schließlich zu meinem Ziel. Eine Villa, die man nicht umsonst so bezeichnet, schleicht sich bei jedem zurückgelegten Meter mehr in meinen Blickwinkel. Viktorianische Säulen stützen den vorderen Teil des Baus und geben dem Haus einen antiken Touch. Fasziniert kann ich meine Augen nicht abwenden und ich begebe mich zum Tor, wo mich eine Überwachungskamera erwartet. Ich wende mein Gesicht dieser zu und starre ich in die Mitte der Linse. Daraufhin wird das Tor aufgemacht und ich gelange hinein. Ab jetzt besitze ich eine ernste Miene, die mein Selbstbewusstsein und meine Überlegenheit gegenüber Kunden ausdrückt. Mit meinem Pokerface sage ich allen nur durch meine Mimik, dass ich es besser weiß. Der angelegte Kieselweg ist schwer mit meinen hohen Schuhen zu bewältigen, weshalb ich froh bin, endlich an dem Tor angekommen zu sein. Sicherlich werde ich Blasen bekommen, aber keiner hat gesagt, dass der Job einer Modeberaterin einfach ist. Ich drücke die Klingeltaste und warte eine Zeit lang geduldig, doch es macht keiner auf. Bei meinen zweiten Versuch, auf mich aufmerksam zu machen, öffnet mir ein verschlafener Mann im Morgenmantel. Er lächelt und meint höflich, „Entschuldige, falls ich Sie nicht angerufen habe, aber die Arbeit war stressig. Ich bin todmüde und will nur noch schlafen. Also wenn es Ihnen nichts ausmacht, treffen wir uns wann anders.“ Morgens ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass man die Kunden weckt und sie dann noch im Halbschlaf sind. Deshalb versuche ich mein Kommen, damit zu erklären, dass ich seine Stilistin sei. „Ach, Sie sind also meine Retterin in der Not, wie es meine Mutter so schön ausgedrückt hat. Irgendwie habe ich Sie mir anders vorgestellt. Eher dünner und mit viel Make-up im Gesicht. Entgegen meinen Vorstellungen sind Sie genau richtig.“ Freundlich bedanke ich mich für dieses indirekte Kompliment und weise ihn darauf hin, dass er bald geschäftlich los muss. Seine Mutter hat mir seine Arbeitszeiten per Email geschickt, um mich besser auf sein Leben einzustellen. Ab jetzt bin ich ein Jahr dazu verpflichtet, ihn kameratauglich anzuziehen und zu stylen. Ich habe mich bereits durch frühere Fotos vergewissert, dass er es bitter nötig hat, mich als Modeberaterin zu haben. Seine blonden Haare ist der Albtraum eines jeden Friseurs und der Duft, der an seinem Körper haftet, ist nicht gerade angenehm. Auch sollte man nicht in diesem Aufzug Fremde begrüßen, aber ich bin jetzt hier, um das zu ändern. „Wie ich sehe, haben wir viel Arbeit vor uns. Gut, dass ich früher da bin. Ich rufe jetzt einen Friseur meines Vertrauens an, um einen Termin auszumachen. Beeilen Sie sich mit der Dusche, Herr Fone.“ Er traut sich nicht, mir zu widersprechen, dank meines selbstverständlichen Auftretens. Ich habe für die Maske, die mein Gesicht ziert, viel Zeit investiert, weshalb auch nur ich es kann. Unter den Reichen bin ich, schon lange keine Unbekannte mehr, was mir auch viel Geld einbringt. Am Anfang war ich ganz unten, aber – wie meine Arbeitgeber es nennen – durch meine besonderen Fertigkeiten habe ich es bis nach ganz oben geschafft. Ich trete in die Villa ein, nachdem er mich hereingebeten hat. Am Eingang erwartet mich ein hoher Raum mit konvexer Decke nach außen, die mit verschiedensten Mustern bemalt ist. Ich sehe keine besondere Bedeutung, da es eher kaleidoskopartig gemalt ist. Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen und muss feststellen, dass die Dekoration nicht zu der Farbe der Wände passt, ganz zu schweigen von den Möbeln. Man sieht hier deutlich, die Wohnung eines jungen Mannes, der alleine wohnt und sich nur auf seine Hilfskräfte verlässt. Ich durchquere den Vorraum und bequeme mich auf ein Sofa, das schon ziemlich viel mitgemacht haben zu scheint. Nun ziehe ich mein Handy aus meiner Handtasche und lasse meine rote Tasche langsam zu Boden sinken. Darin sind nämlich noch wichtige Kosmetik- und Haarprodukte vorhanden, die ich zum verschönern von Herrn Anthony Fone brauche. Ich wähle die Nummer von Logan Aluin, dem besten Friseur von Paris, und rufe ihn an. Ich bespreche mit ihm die Einzelheiten, die ich bei Herrn Fone verändern möchte, damit er alles vorbereiten kann.

Wartend, dass er endlich kommt, starre ich in die Luft. Endlich ertönen Schritte in meiner Nähe und mein Auftrag geht durch die Tür, die vom Treppenhaus hereinführt. „Können wir los?“, frage ich ihn. „Ja. Aber ich empfehle ihnen nicht, andauernd so dominant zu sein, das passt nicht zu Ihnen.“ Den letzten Satz überhöre ich einfach, da ich solche Meinungen über mich öfter zu Ohren bekomme als mir lieb ist. Ich bin fast schon resistent dagegen und das soll, meines Erachtens, auch so sein. Ich bewege mich zur Türe hin und höre ich dabei sagen, dass wir seinen Wagen nehmen. Am Eingang stehe ich mit gerader Haltung und beobachte ihn dabei wie er einen Lamborghini ausparkt. Als er es geschafft hat, steige ich ein und nenne ihm die Adresse, wo wir hin müssen. „Den Namen Logan Aluin habe ich noch nie gehört. Ich habe mir meine Haare immer von Costa Cheney schneiden lassen.“ „Deshalb sind deine Haare auch wie sie sind“, meine ich, da mir der Name Costa Cheney sehr bekannt ist. Er sollte seinen Beruf aufgeben, wenn er nicht noch mehr Leuten die Haare verstümmeln will.

 

Logan stiehlt mir mal wieder zu viel Zeit, nur um seine Perfektion auszuüben. Eine gute Arbeit würde vollkommen reichen, um meinen Auftrag ansehnlich zu machen. Sein Schopf, der einem Vogelnest gleich, ist die Beleidigung jedes Mannes. Um mich abzulenken, tippe ich im 4/4 Takt mit der Fußspitze auf den Boden. Mit verschränkten Armen und zusammengezogenen Augenbrauen drücke ich meine Ungeduld aus. „Ich weiß, dass du meine Arbeit schätzt, weshalb ich dir dein Auftreten verzeihe. Du wirst begeistert sein. Vorher war er out, jetzt ist er in. Ein Mann kann einen trainierten Körper haben, aber ohne die richtige Friseur ist er nichts.“ Meine Augen verdrehen sich von selbst. „Dramatisch wie eh und je. Was würde ich nur ohne dich und deine hervorragenden Leistungen machen!“, erwidere ich während sich meine Mundwinkel leicht nach oben verziehen. Ich folge ihm zu einem der Stühle, wo sich Anthony befindet und starre überrascht von seiner wunderbar kurzen Mähne ihn an. Ich lege meinem Lieblingsfriseur meine rechte Hand auf die Schulter und sage: „Mein Lieber, du bist über dich hinausgewachsen.“ Widerwillig werde ich in eine Umarmung gezogen und er murmelt mir etwas Unverständliches ins Ohr. Fragend blicke ich ihn an. Er stöhnt übertrieben laut, bevor er es schließlich laut sagt. „Das war das Netteste, was du jemals zu mir gesagt hast. Das war das erste Lob von dir. Es ist für mich wie ein Oscar. Danke Ines Laforgue!“ Berührt von seinem emotionalen Ausbruch lege ich ebenfalls meine Arme um ihn. „Logan, mein Freund, ich hätte gedacht, dass sie hier arbeiten müssen und keine Zeit zum Kuscheln haben.“, unterbricht uns Herr Fone barsch. Seufzend löse ich die Umarmung auf und wende mich dem Störenfried zu. „Somit hätten wir den ersten Punkt einer langen Liste abgearbeitet. Der zweite ist die Inspektion eures Kleiderschrankes.“ „Wenn es denn sein muss.“, er blickt den Friseur an, „Hier ist das Geld. Den Rest können Sie behalten.“ Wir verlassen gemeinsam den Laden und fahren mit seinem Wagen wieder zurück. Er geht vor mir zu der Tür während seine Fußsohle die Steine auf dem Kieselweg knirschen lässt. Genervt beiße ich meine Zähne aufeinander. Ich weiß, dass es seine Absicht ist, da er sein Grinsen schlecht verbergen kann. Er setzt noch einen drauf und biegt seine Knie noch mehr, um ein lauteres Knirschen zu verursachen. Froh, dass es endlich aufhört und er seine Schlüssel für die Villa in seiner Hosentasche sucht, beobachte ich ihn. „Ich merke wie du mich ansiehst, aber leider entspreche ich nicht deinem Wunschdenken. Ich sehe viel besser aus.“ Seine Äußerung klingt so arrogant, dass ich fast meine Beherrschung verliere. Seit wann duzen wir uns überhaupt? Entschlossen schlucke ich meine Empörung nach unten und schweige weiterhin. Nun gut, ich nehme seine unausgesprochene Herausforderung an. Wie du mir so ich dir, mein Lieber. Wir betreten das Haus und steigen die Stufen des Treppenhauses nach oben. Der Flur des ersten Stocks endet außerhalb meiner Sehweite, was aber nicht von großer Bedeutung ist, da Anthony das erste Zimmer betritt. „Willkommen in meinen Reich. Mach es dir bequem.“ Statt seiner Höflichkeitsfloskel nachzugehen stolziere ich auf meinen hohen Schuhen zu seinem begehbaren Kleiderschrank und fange an seine Kleidung zu durchsuchen. „Hast du irgendwo Kartons oder Kisten?“, frage ich ihn, da die ausgemusterten Sachen auch einen Platz brauchen. Augenscheinlich missfällt ihm mein Duzen ebenfalls, aber was er kann, kann ich auch. Sein Misstrauen richtet sich gegen mich, trotzdem gibt er mir die Dinge, nach welchen ich gebeten habe. „Ich lasse dich ohne meine Anwesenheit jetzt deine Arbeit tun während ich mich im Arbeitszimmer befinde. Es würde nichts mehr bringen, zu meinem Hauptsitz zu fahren. Ein paar Aufgaben kann ich auch von zu Hause aus erledigen. Falls du irgendwelche Fragen haben solltest, werden die Bediensteten sie sicherlich beantworten. Wenn nicht, zögere nicht zu mir zu kommen.“ Mit diesen Worten wendet er sich ab und verlässt den Raum. Zufrieden kehre ich der Tür zum Flur den Rücken zu und mustere die schrecklichsten Kleidungsstücke aus. Ein grauer, ausgewaschener Rollkragenpullover aus den Achtzigern bildet den Anfang eines schier unendlichen Kleiderschranks. Länger als gedacht, verbringe ich die Zeit in der Villa. Erst als ich ein Räuspern höre, erhebe ich mich erschrocken. Erleichtert, dass es nur eine Bedienstete ist, halte ich meine geballte Hand über meinem Herz. „Entschuldigung, aber Herr Fone bittet Sie in sein Arbeitszimmer zu kommen, sofern Sie Zeit haben.“, erklärt das junge Mädchen. „Ich bin schon unterwegs. Brauche lediglich noch meine Handtasche. Es wäre lieb von dir, wenn du mich dahin führen könntest“, frage ich indirekt während ich meine rote Handtasche erfolglos suche. „Gerne, Frau Laforgue. Außerdem habe ich vergessen zu erwähnen, dass Herr Fone ihre Handtasche hat.“ Dieser Mistkerl! Ich gebe ihr mit einem Winken zu verstehen, dass sie vorangehen kann und ich ihr folge. Es bleibt mir ja schließlich nichts anderes übrig.

Einige Schritte mehr und ich hätte meine Schuhe freiwillig aus dem Fenster geworfen. Ein kleines Haus hätte es auch getan, aber nein, es muss ja ein Großes sein. Leise stöhnend bewältige ich die Strecke bis zu seinem Arbeitszimmer, jedoch immer darauf bedacht, dass die Bedienstete nichts von meinen Schmerzen mitbekommt. Ich brauche jetzt weder Mitleid noch das lose Mundwerk von Angestellten. Sie klopft an und Anthony erfährt somit von unserem Dasein. Die Tür öffnet sich und Fone schickt das Mädchen weg. Mit einer Geste bittet er mich herein und weist mir einen reich verzierten Stuhl zu. Er lässt sich ebenso auf einen Stuhl nieder, der aber alle anderen Stühle im Raum in den Schatten stellt. Schwarze Blumen treffen auf weiße, antike Figuren, ein wunderbarer Kontrast. Ich muss zugeben, dass er doch Geschmack hat, der sich aber einschließlich auf sein Arbeitszimmer beschränkt. Sandfarbene Wände erinnern dich an die Weite einer Wüste und lassen dich mit dem anderem Mobiliar an den Orient denken. Doch ist es nicht zu viel des Guten, da die orientalisch ähnlichen Einrichtungen durch legere braune Schränke und dem Schreibtisch farblich passend kombiniert werden. Wer auch immer der Innenarchitekt dieses Raumes war, verdient Anerkennung. Derweilen ich das Zimmer mustere, höre ich Anthony genau zu. „Wie du bestimmt erfahren hast, habe ich deine Handtasche.“, er überreicht sie mir, „Ich habe sie aus Versehen mitgenommen, daher bitte ich dich vielmals um Entschuldigung.“ „Geht in Ordnung.“, erwidere ich schlicht. Er lädt mich zum Essen ein, doch ich lehne ab, da es bereits neunzehn Uhr ist. Seine Wange zuckt einmal, aber es kann auch nur Einbildung sein. „Gut. Ich erwarte dich morgen wieder.“, seine Stirn legt sich in Falten, als er auf das Ziffernblatt seiner Armbanduhr blickt, „Sagen wir elf Uhr. Ich muss morgen bei einer meiner Firmen noch einen Routinebesuch machen, deshalb kann es auch später werden.“ Ich nicke und wir verabschieden uns mit einem kräftigen Händedruck.

5. Kapitel

Am nächsten Morgen wache ich erfrischt auf. Ganz im Gegenteil, meine Lider haben eine Portion Sekundenkleber abbekommen und mein Mund fühlt sich wie eine eisige Straße an, genauso rau. Heute ist ein Tag, an dem man sich wünscht, im Bett zu bleiben. Die Sonne sondert ihre Strahlen genau in meine Richtung ab, sodass ich mich nicht gegen die Auferstehung aus dem Totenreich wehren kann. Der Zog ist zu stark.

Der Schrank hat ebenfalls kein schönes T-Shirt, keine glänzende Jeans und keine High-Heels parat, der Morgen ist einfach katastrophal. Ich will sterben. Der Spiegel über dem Waschbecken zeigt auch ein Schaubild von Jacksons Thriller. Zombiemäßig kämme ich meine Haare, keine Lust mich irgendwie aufzubrezeln.

Mit meinem schnittigen, aber vor allem hässlichen Auto breche ich zu meinem Großprojekt auf. Anthony Fone möchte schließlich nicht warten. Er ist wie eine riesige Zeitbombe, die dich sofort mitreißt, wenn sie hochgeht. Viel Spaß, so eine Erfindung zu stoppen, wenn sie in rasender Wut ist. Und das ist er, wie ich schon getestet habe, als ich gestern zu spät gekommen bin.

Um Punkt sieben Uhr ertönt die Türglocke, als ich eben Genannte tief drücke. Sofort fällt der Griff nach unten, als er mir öffnet. Nein, es ist eine Frau. Eine sehr dünne Frau, die mich mit hochgezogener Miene begutachtet.

„Wer sind Sie?“, fragt sie mich abschätzig.

„Ines Laforgue“, erwidere ich trocken. Ich bin schließlich keine Unbekannte mehr in Frankreich, aber vor allem nicht in Paris. Meine Person ist der geheime Tipp unter den Reichen und Schönen. Ich helfe jedem, der mir ein gutes Angebot macht.

„Sie sind Ines Laforgue? Sie sind die Stilberaterin? Oh Gott, Sie sind mein Idol! Ich liebe Sie!“ Klar, darum kennt sie mich nicht. Welch ein Sarkasmus?

„Schön.“ Sie nimmt mich unter dem Arm und zieht mich mit in die Wohnung. „Ich bin Sarafina Zui, Model auf den Runways in ganz Paris.“

„Schön“, ist das einzige Wort, das mir auf ihre selbstsichere Meinung von sich selbst einfällt. Ich bin keine gute Freundin für egoistische und hochnäsige Stars. Das haben Einige schon feststellen können und ich bin dann mit hohen Haupt rausgegangen. Ich helfe nur denjenigen, die mich auch wirklich wollen.

Dann gibt es noch eine andere Spezies, die mich als Bekannte zählen wollen, sogar als Freundin. Mir wird immer richtig übel, wenn ich ihnen begegne und mich daraufhin einfach mit sich ziehen. Genau jetzt ist ein solcher Moment, in dem ich mich losreißen will und über alle Berge laufen möchte.

„Wo ist Mr. Fone? Ich bin seine Modeberaterin und möchte ihn für seine Arbeit einkleiden.“

„Oh, Entschuldigung. Ich bitte um Verzeihung, dass ich Sie so lange aufgehalten habe. Ich führe Sie zu seinem Zimmer, bin schließlich seine Cousine. Nicht, dass Sie auf falsche Gedanken kommen. Ach, ich rede wieder zu viel.“

Hilfe. Lieber Gott, wenn du mich hörst, befreie mich von dieser Geiselnahme und halte mich fern von ihr.

Als hätte er meine Gebete und Schreie gehört, öffnet sich neben mir eine Tür und ein verdutztes Gesicht blickt mir entgegen.

„Ah, hier sind Sie ja. Kommen Sie rein, Ines. Ich brauche Ihre Hilfe.“

Als ich wortwörtlich ins Zimmer gezogen werde, erkenne ich nur noch ein verdutztes Gesicht von Sarafina Zui. Ja, ich bin genauso überrascht wie sie. Anthony Fone hat noch nie auf meine Hilfe bestanden, warum sollte er seine Meinung nach einer kurzen Nacht geändert haben? Das macht alles keinen Sinn.

Bevor ich ihm meine Meinung dichten kann, wird mir schon der Mund mit zwei Fingern zugehalten. Okay, das ist gerade richtig abnormal. Ist er krank? Anscheinend.

„Ines, wir waren ja beim Du, ich bin heute Abend zu einem Familienessen eingeladen. Wie du dir sicherlich denken kannst, erwarten meine Eltern und meine Geschwister einen verwandelten Mann. Aber ich bin noch keine Fantasiegestalt, die auf einem weißen Pferd in Anzug und Krawatte anstürmen kann. Wenn du mich verstehst.“

Ja, er ist krank. Definitiv. Wie kann man einen Anzug auf einem Pferd tragen? Stilistisch eine Unmöglichkeit. Dann kann er seine Haare gleich grün färben, falls er ungeteilte Aufmerksamkeit möchte. Trotzdem, er hat schon ein hübsches Gesicht, eigentlich könnte er alles mit sich machen und er würde als Mr. Universe siegen. Seine wunderschönen Augen, die spitze Falkennase und der störrische Mund schreien nach purer Männlichkeit, der sich keine Frau entziehen kann. Außer ich natürlich, bin schließlich in der Arbeit. Ines Laforgue kann Berufliches und Privates strikt trennen.

„Ein schwarzer Anzug mit einem Einstecktuch ist für jedes Familienessen bestens geeignet. Eigentlich sollten Sie das schon wissen, für was bin ich sonst hier?“

„Das weiß ich doch. Aber ich möchte etwas Neues wagen, nicht mehr dieses alte, langweilige Ich. Neue Farben, neue Formen sind doch angesagt, man muss sich etwas trauen. Ich bin Geschäftsmann, Risiko besteht in jedem Handeln.“

„Was versuchen Sie mir damit zu sagen? Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir die Wahrheit auf den Tisch liefern.“

„Zuerst duzen wir uns, mich stört es in dieser Angelegenheit sehr. Du bist meine professionelle Beraterin, fast eine Freundin, deshalb müssen wir uns nahestehen.“ Eher in die Kiste fallen, meint er damit. Ja, falls die Stilberatung ein baldiges Ende findet, können wir gerne den Raum erhitzen, mit gewissen Spielereien. Kein Problem, aber nicht jetzt!

„Es tut mir leid, aber wieso gerade jetzt ein Stimmungswechsel?“, ich werde einfach nicht schlau aus ihm. Fone ist schlimmer als eine Frau in den Wechseljahren. Ohne Witz.

„Nun gut, sie hängen mir ja sonst die Pest an den Hals. Dieses Anwesen gehört noch meiner Mutter und diese möchte ein neues Ich in mir sehen. Laut meiner liebsten Mutter bin ich die reinste Gier und der größte Biedermeier, den es auf der Erde je gegeben hat und je geben wird. Deshalb muss ich mein Leben umkrempeln, da mir dieses Gebäude einfach viel zu viel bedeutet. Ah, das Letzte wird mir immer zum Verhängnis.“

Auf den vorherigen Satz gehe ich nicht mehr näher ein, zu groß ist meine Verwirrung. „Du willst also deine Mutter mit allen Mitteln von einer Besserung überzeugen, die du eigentlich nicht erlebt hast, weil du mich nicht schalten und walten lässt?“

„Wenn du es so ausdrückst, hört es sich sehr negativ an. Besser ist es, wenn du mich schick anziehst und dann deine Klappe hältst.“ Was? Ich glaube, in seinem Kopf haben gerade zwei Vögel Sex, denn es wird immer schlimmer.

„Mr. Fone, ich kündige. Heute haben Sie mich zum letzten Mal gesehen. Oder du…. Was auch immer!“

Mit hochgezogenen Schultern, geradem Rücken und ausgestrecktem Po gehe ich schnell aus dem Raum, um möglichen Beleidigungen zu entgehen. Ich bin schon fast eine Legende in Paris, so lasse ich mich hier nicht behandeln! Draußen erwartet mich Sarafina Zui, der Name sich chinesischer anhört, als sie tatsächlich ist. Heute bin ich wirklich mit allen Wassern gesegnet, die der Himmel von sich geben kann. Das merke ich schließlich auch daran, wie er sich über mich ergießt, als ich zum Auto laufe. In High Heels ist das eine schiere Zumutung, die ich keinem weiblichen Wesen auf Erden wünschen würde. Mein kleiner Wagen lässt sich auf Eins starten und ich fahre mit einem laut aufheulenden Motor weg, weit weg von ihm. Obwohl er zunächst verzweifelt ausgesehen hat, ist er dennoch ein reiner Parasit, der sich ohne Gnade in dich hineinfrisst. Er saugt dir sprichwörtlich das Leben aus den Adern, wie eine Zecke auf Beutejagd.

Es ist erst kurz vor zwölf Uhr mittags, als ich mit meinem Schlüssel die Wohnung aufsperre. Darin erwartet mich allerdings das blaue Wunder. Meine Schwester Laura, die ich seit ungefähr einem halben Jahr nicht mehr gesehen habe, sitzt seelenruhig auf der Couch und futtert eine Tüte Chips. Langsam und leise nähere ich mich ihr an, nur um mich zu vergewissern, dass sie echt ist und keine Illusion. In meinem Zustand traue ich meinem Gehirn alles zu. Nichts ist gerade unmöglich. Nicht einmal grüne Haare. Sehr lustig.

„Ich weiß Ines, dass du hinter mir stehst, bin ja schließlich nicht ganz taub. Und ja, es tut mir leid, dass ich nichts von mir hören ließ. Ich brauchte einfach die Auszeit. Die Trennung von meinem Verlobten war einfach zu viel für mich. Da sehnt man sich nach einem wunderschönen Hochzeitstag und was bekommt man: Eine verdammte Affäre! Ich kann es immer noch nicht glauben. Er hat mich einfach so betrogen! Noch nicht einmal Schuldgefühle hat er gezeigt, dieses Monster! Mein Herz blutet immer noch.“

Nach ihrem Redeschwall kann ich nur hoffen, dass ich nicht zu viel Zeit mit ihr verbringen muss. Sie war schon immer die Emotionale von uns beiden. Die Rationalität habe ich normalerweise geerbt, dennoch fehlt sie mir in den letzten Tagen erheblich. Wo könnte sie nur hin sein? Bestimmt auf nimmer wieder sehen ins Nirwana. Super.

„Ich kann dich ja verstehen. Jedenfalls in einer gewissen Hinsicht, dass man niemanden verzeiht, wenn er dich einmal verletzt hat. Das ist einfach richtig hinterlistig und blöd. So einen Menschen sollte man einsperren. Trotzdem ist es kein Grund, den Kontakt mit der einzigen Schwester abzubrechen und ohne irgendwelche Nachrichten in den Untergrund abzutauchen und daraufhin in meine Wohnung einzubrechen!“

„He, ich bin nicht eingebrochen. Ich habe damals einen Zweitschlüssel anfertigen lassen. Bin doch nicht ganz blöd.“ Ja, das ist sie wirklich nicht.

„Dir ist schon bewusst, dass das Ganze illegal ist? Außerdem kommst du nach sechs Monaten Funkstille plötzlich zurück und alles ist beim Alten? Liebes, du kannst mich nicht verarschen. Dafür kenn ich dich zu gut.“ Ich bin ihre jüngere Schwester, wir kennen und wie Pech und Schwefel, sind einfach unzertrennlich, aber sie hat mich in Stich gelassen. Ab und zu frage ich mich schon, ob sie der gesunde Menschenverstand verlassen hat. Sicher kann man sich nie sein.

„Ja, dann entschuldige ich mich noch einmal. Komm Schwesterherz, lass dich umarmen. Wenn du auch einmal von deinem Freund betrogen wirst, dann hinterfragst du auch nicht alle Umstände und lässt dich von einer Kurzschlussreaktion leiten. Irgendwann kannst du mich nachvollziehen. Dann weißt du, wie es im echten Leben zugeht. Im Moment muss ich mich auf die Suche nach einer neuen Arbeit machen, die Alte hat mich gekündigt. Waren wohl ein paar Fehltage zu viel.“

Ja, ich hoffe das mir nicht das gleiche Schicksal, wie ihr widerfährt. Ein glückliches Leben ist schließlich der Traum eines jeden Menschen, auch wenn er noch so unerreichbar zu sein scheint.

Nach einem gemeinsamen Dinner in einem kleinen, schicken, chinesischen Restaurant mit Laura, mache ich mich an die Arbeit meine Wohnung auf Vordermann zu bringen. Wie immer, wenn ich rastlos bin und keine Lust habe, neue Kleidungsstücke zu fertigen, putze ich meine Räume. Es gibt nichts Langweiligeres als diese einfältige Tätigkeit, obgleich sie einen eindeutigen beruhigenden Effekt mit sich bringt.

Als ich gerade dabei bin, die Putzsachen aufzuräumen, klingelt es an der Tür. Überrascht überlege ich, wer es sein könnte, schließlich habe ich in der Stadt keine richtigen Freunde, die mich einfach so besuchen würde. In Paris überlebt nur der Stärkere, auf die Schwachen wird keine Rücksicht genommen, so viel habe ich in meinem Beruf bereits gelernt.

Umso mehr überwältigt mich der breitschultrige Mann an der Tür, der mich um einen halben Kopf überragt. Es ist Anthony Fone. Was macht er hier? Besser gesagt, woher weiß er, wo ich wohne? Der Vertrag basiert einzig und allein darauf, dass ich ihm helfe und ihn mit allen Mitteln in die Modewelt einbringe. Nicht, dass er mich ohne meines Wissens stalkt.

„Anthony, was bringt mich zu diesem Vergnügen?“ Sein Blick sagt Einziges über seinen Gemütszustand und bringt die Kälte hervor, die ich noch nie gespürt habe. Ansonsten war er immer sehr fröhlich und seine Mundwinkel haben ein leichtes Lächeln offenbart. Aber vor mir steht ein erwachsener Mann, der weiß, was er im Leben erreicht hat. Nicht ohne Grund gehört er in die Top Ten der am besten verdienenden Männer in Paris. Er ist ein fetter Fisch für alle Frauen, die hinter Geld her sind. Dennoch zählt für mich der Charakter, der eindeutig das Individuum auszeichnet. Weder Verstand noch Aussehen zählen, wenn das Herz am falschen Platz ist. Leider habe ich das schon in vielerlei Hinsicht erfahren, ob bei meinen Kunden oder festen Freunden. Der äußere Schein trügt meistens.

6. Kapitel

Es war ein sehr ruhiger, aber vor allem schöner Abend, bis Anthony Fone vor meiner Türschwelle aufgetaucht ist. Mein modischer Fehltritt hat es einfach zu leicht, mir die Stimmung zu vermiesen. Insgeheim meine ich zu glauben, dass er das absichtlich tut. Er möchte mich damit zur Weißglut treiben, bestärkt mich mein Bauchgefühl.

„Ines, es tut mir leid, noch so spät aufzukreuzen. Aber unser kleiner Streit hat mich nicht in Ruhe gelassen. Darum möchte ich mich entschuldigen, für alles, was ich dir angetan habe. Du musst schon völlig mit meiner Art verzweifeln, wie meine Mutter meint.“ Irgendwie bekommt mich der Gedanke, dass seine Mutter die Finger im Spiel hat. Warum würde er sich sonst entschuldigen? Das liegt nicht in seiner Art!

„Anthony, ich nehme deine Entschuldigung nicht an, wenn sie nicht tief aus der Seele stammt. Du weißt genau, dass du mich nicht veräppeln kannst, dass du es nur wegen Theresa Fone, deiner Mutter, machst. Ich kenne dich besser, als dir bewusst ist, schließlich sagen deine Klamotten einiges über dich aus.“ Er begutachtet meinen Kopf, als wären mir zwei Flügel gewachsen.

„Nein, du verstehst mich falsch! Ich habe es nicht für meine Mutter getan, sondern auch, weil mich ein schlechtes Gewissen geplagt hat. Normalerweise behandle ich jeden auf eine faire und gerechte Weise, sodass mir keine Fehler unterlaufen. Aber bei dir verliere ich kurioserweise meine Beherrschung und ich mache sogar Small Talk. Seit du in meinen Alltag eingetreten bist, verliere ich sowieso den Überblick“, verleiht er seinem Innersten einen äußerlichen Eindruck.

Seine Worte gehen nicht spurlos an mir verloren, sie sind einfach herzzerreißend. Ich fühle mit, was in meiner Branche eigentlich verboten ist. Wir sind die, die den Mainstream fördern, indem wir jedem Menschen weismachen, eine individuelle Kleidung zu tragen. Mein Beruf ist dabei nichts für schwache Nerven, es fordert einen auf, das Herz für das Schöne zu schließen und nur noch das Kapital im Schützling zu sehen. Dennoch ist es bei Anthony Fone ganz anders. Er ist jemand, der Berufliches und Privates trennen kann. In der Arbeit ist er geordnet, versäumt keine Deadline als Arbeitgeber, aber im Alltag ist das absolute Gegenteil der Fall. Seine Kleidung, die aus vermischten, grotesken Farben besteht und die verschiedenen Muster sind Unstimmigkeiten, die sein Gefühlschaos ausdrücken. Seine Mutter hat mich deswegen gebeten, ein Auge auf ihn zu werfen, um ihm eine harte Schale reifen zu lassen. Es wird sicherlich einige Zeit in Anspruch nehmen, damit dieses Ziel erfüllt wird. Jedoch hat er mir heute zum ersten Mal seine Irrungen gezeigt, die es zu beheben gilt.

„Bitte, verzeih mir, dass ich dich so angefahren habe, allerdings bin ich in letzter Zeit oft durch den Wind. Ich muss einen weiteren Katalog für die zweite Hälfte des Jahres planen und einige Termine wahrnehmen, die anscheinend meine Bekanntheit weiter ausbauen. Daneben habe ich noch einige Angebote, die ich überdenken muss. Alles zu seiner Zeit, würde ich sagen. Jetzt kümmere ich mich erst um dich. Wann hast du gesagt, ist das Familienessen?“

„Morgen, um etwa 18 Uhr. Es ist nichts Besonderes. Nur das „Undai“ in der Stadt. Ein kleines schickes Restaurant, haben meine Eltern gemeint. Ich weiß es jedenfalls nicht, schließlich war ich dort noch nie.“

„Obwohl ich mich über Mode bestens informiere, bin ich da ebenfalls überfragt. Es eröffnet schließlich jede Woche eine Unzahl an Essensgelegenheiten, genauso viele schließen wieder. Wer soll da noch den Überblick behalten?“ Es stimmt wirklich, Köche und Köchinnen gibt es hier, wie Sand am Meer. Sie sind wie Bienen, die um einen Bienenstock herumwirren.

„Bei einer so reizenden Dame kann ich es gar nicht verstehen, dass sie nicht gefragt werden. Sie müssten doch ein riesiges Angebot an Dates haben, oder? Männer sind ebenfalls hinter Geld her, nicht nur Frauen, wie ich bereits festgestellt habe“, stellt er fest. Leider weiß ich nun nicht, was eine passende Antwort wäre. Zuerst müsste ich sowieso entscheiden, ob es Ironie oder ernst gemeint war. Bei ihm bin ich mir nie ganz sicher. Deshalb entscheide ich mich für eine ganz andere Option.

„Männer sind also nur hinter meinem Geld her“, bringe ich ihn in Verlegenheit. Somit schlage ich ihn mit meinen eigenen Waffen, um seiner Frage zu entgehen. Alles ist recht, solange ich diese unangenehme Fragestellung entgehen kann.

„Du weißt genau, dass es nicht so gemeint war. Aber da du ja morgen frei bist, kann ich dich ja zu meinem Familienessen mitnehmen. Meine Schwester ist sowieso ganz erpicht darauf, dich kennen zu lernen. Sie ist dein größter Fan, Ines Laforgue, deshalb musst du ihr eine Spezialbehandlung zukommen lassen. Unbedingt, ansonsten reißt sie mir den Kopf ab, was ich mit allen Mitteln verhindern möchte.

Schlimm sind kleine Geschwister, obwohl ich selbst nur eine ältere Schwester habe, denke ich nach. Dennoch nimmt sie einen großen Teil ein, den ich nur selten missen möchte. Dafür bedeutet sie mir einfach viel zu viel. Wenn ich gerade über meine bessere Hälfte sinniere, schneit sie schon herein.

„Was ist denn das hier für ein Lärm, Schwesterherz? Nach Monaten meiner Herzschmerz-lass-nach-Kur kann ich nicht einmal ein Auge zu tun? Obwohl, ist das hier dein Freund? Was, du bist keine ewige Jungfrau mehr? Ein Wunder ist geschehen!“, ruft sie laut. Schnell schlage ich die Tür hinter Anthony zu, damit meine Nachbarin nichts mitbekommt. Schlussendlich würde sie bei uns auf der Couch sitzen und mich fragen, ob es weh getan hat. Ich würde diesen Personen wirklich alles zutrauen.

„Bist du von allen Geistern verlassen? Du schreist noch die Wände ein, ehrlich Schwester, rede ein wenig leiser. Wir sind weder taub, noch unsere Nachbarn“, keife ich zurück. Das einzige, was sie darauf erwidert, hat überhaupt nichts mit dem Geschehen zu tun. „Dann bist du also keine Jungfrau mehr? Gehst du mit Vierzig nicht mehr ins Kloster, Schwester?“ Manchmal würde ich ihr am liebsten den zarten Hals umdrehen, bis sie den letzten Atemzug vollbracht hat, aber es wäre nicht nur illegal, ich würde sie sogar vermissen. Ein wenig komisch ist es schließlich schon. Endlich fasse ich auch wieder den Mut, Anthony ins Gesicht zu sehen, der mich nur mit hochgezogenen Augenbrauen ansieht. „Du bist fast Ende zwanzig und immer noch Jungfrau? Das müssen wir aber möglichst bald ändern, Ines. Du hast eindeutig etwas verpasst.“ Und schon ist er aus meiner Wohnung verschwunden.

„Oh, ich höre schon die Glocken läuten, die Tauben fliegen und dich im Brautkleid singen, das wird einfach eine richtige Romanze“, stellt meine liebste Schwester fest. Mit verkrampften Fingern gehe ich auf sie los, um sie jeden Moment zu erwürgen. „Wie kannst du mich nur vor meinem Schützling so blamieren? Dreh dich nicht um! Sag mir, wie konntest du nur so etwas tun? Ich schäme mich in Grund und Boden wegen dir! Ich kann ihm nie wieder unter die Augen treten, wegen dir! Oh mein Gott, was soll ich nur tun“, flehe ich in den Himmel hinauf. Leider muss ich morgen zu ihm, um ihn für das Familienessen vorzubereiten. Ich habe gar keine andere Option, als das zu tun, schließlich bekomme ich als Entschädigung eine Unmenge an Geld, das ich für die Bezahlung meiner Wohnung und der Finanzierung meiner Zeitschrift benötige, ehe sie sich im Markt etabliert. Es wäre ein riesiger Schade, falls ich meine Arbeit nicht vollende und mich stattdessen von meinen Gefühlen leiten lasse. Morgen, ja morgen, werde ich meinen seriösen Gesichtsausdruck aufsetzen und von nichts, rein gar nichts, überwältigen lassen.

Schon der Morgen verläuft anders als gedacht, der Wecker klingelt gar nicht, sondern meine Schwester schneit eine Stunde zu spät in mein Schlafzimmer herein, um mich von den fesselnden Träumen zu befreien. „Was ist denn“, frage ich sie völlig zerknittert und monoton. „Müsstest du nicht in einer halben Stunde bei Anthony sein? Hast du mir doch gestern beim Essen erzählt.“ Langsam nicke ich mit meinem Kopf, um eine Bestätigung abzuliefern. Warte! Nein, verdammt! Ich habe verschlafen. Das ist nicht gut. Ich darf mir keinen Fehler mehr erlauben, da ich den Ruf einer Perfektionistin zu verlieren habe. Ohne auf irgendwelche Modemerkmale zu achten, greife ich wahllose in den Schrank, um ein paar Kleidungsstücke anzuziehen und sie mit schwarzen Stiefeln so kombinieren.

So geschieht es, dass ich mit einer langweiligen Jeans, von der ich gar nicht gewusst habe, dass sie existiert und einem blumigen Oberteil vor der Haustüre von Anthony stehe und warte, bis mir die Tür geöffnet wird. Auch hier erwartet mich ein überraschender Anblick: rasiert, gekämmt und in perfekter Mode. So etwas passiert selten ohne meine Hilfe. Daneben fühle ich mich direkt underdressed, wobei dies etwas ganz Neues für mich ist. Schließlich bin ich hier die berufliche Stilberaterin für Anthony Fone, nicht er selbst.

„Ines, guten Morgen. Sie sind fünf Minuten zu spät“, sagt er, während er mit dem Blick nach unten die Tür zum Stehen bringt. „Entschuldigung, meine Schwester ist mir in die Quere gekommen, Geschwister eben“, lächle ich diese Thematik herunter.

„Kann es sein, dass du heute einen gemütlichen Tag hinlegst? Das Make-Up und die schicken Klamotten fehlen heute definitiv. Nicht, dass du mich falsch verstehst, du siehst trotzdem perfekt aus, trotzdem ist es ein ungewohnter Anblick. Und wehe, du sagst nun, es war deine Schwester! Ich weiß es besser, du bist flachgelegt worden, darum bist du so aus den Wind“, meint er stolz. Was? Sind denn heute alle von Sinnen? Gestern erst meine Schwester, heute mein Kunde? Wohin soll das nur führen? Wenn ich heute nur noch einen dummen Spruch höre, bin ich raus aus dem Geschäft. Aber echt jetzt.

„Nein, sicher nicht. Du kannst dir denken, was du willst, aber ich kann in meiner Freizeit tun und walten, was ich möchte. Dabei hast du kein Sagen, schließlich bin ich deine Modeberaterin, die von deiner Mutter engagiert wurde, was somit alles über einen Menschen aussagt.

„Gut, lassen wir das Thema hinter uns. Du kommst heute bitte mit in die Arbeit, vielleicht willst du meine Büroeinrichtung sehen oder was dein Beruf auch immer noch verlangt.“

„Eine gute Idee, damit kann ich deine äußerlichen Einflüsse besser verstehen und dir angemessene Kleidung vorschlagen. Für elf Monate bin ich schließlich noch deine Stylistin, unter anderem. Ich hoffe nur, dass es sich am Schluss für dich auszahlt und du zufrieden mit deinem neuen Leben bist.“ Was mich zu dieser Zukunftsaussicht gebracht hat, weiß ich nicht sicher, dennoch hat es sich richtig angefühlt. Emotionen sind in letzter Zeit immer deutlicher an die Oberfläche gekommen, nur kann ich nicht in klare Worte fassen, warum das so ist.

„Ja, warte kurz auf mich, ich hole nur noch schnell meine Aktentasche, da heute ein paar wichtige Meetings bevorstehen.“ Und da möchte er seine Modeberaterin mitnehmen? Manchmal zweifle ich an seinen Fähigkeiten als Geschäftsführer.

Ich fahre ihm mit meinem Wagen hinterher, bis vor ein riesiges Stahlgerüst, an dem er mich anweist auf einem der vorderen Parkplätze, neben seinem Auto, zu parken. Ein schwarzer Geländewagen und ein knallrotes, kleines Auto, was für ein Anblick. Wetten, es kommt auf die Satireseite der nächsten Ausgabe? Ein Hunderter ist locker drinnen.

Mit eiligen Schritten, ganz der Konzernleiter, geht er zum Aufzug, nachdem er die Sekretärin begrüßt hat, die mit jemanden am Telefon kommuniziert. Während sie den Hörer niederlegt, klingelt es schon wieder. Das muss ziemlich nervenaufreibend sein, wie ich sehen kann.

Anthony Fone führt mich in der fünften Etage in ein geräumiges Büro, das überwiegend in Grauschattierungen gehalten ist. Ein trostloser Anblick, nicht einmal eine Pflanze lenkt von der Tristheit ab. Darum befindet sich in seiner Garderobe größtenteils nur düstere Sachen, da er von seinem Alltag her nichts anderes kennt. Das muss sich schleunigst ändern, natürlich auch die Auffassung in seinem Büro. Ein paar blaue Striche verleihen dem Ort Farbe, aber trotzdem noch die Auffassung eines Geschäftsraums, da mit dem Blau eine gewisse Kühle einzieht. Dabei würde ich drei verschiedene Blautöne heranziehen, um das schwärzliche grau ein wenig zu lockern. Wir sind hier ja auf keinem Friedhof.

Er hat mich auf die Couch quartiert, um auf seinem Schreibtisch einzelne Akten zu sortieren, woraufhin er etwa zwei bearbeitet, bis die Sekretärin ihn zum ersten Meeting auffordert. Interessant. Sein Gesicht wendet sich zu mir, um mir zuzunicken, weshalb ich ihm nachgehe. Ehe wir aber bei der Tür angelangen, dreht er überstürzt um, was mit meinem Rücken an der Wand resultiert. Dadurch, dass er mitten vor mir steht, fühle ich mich eingezwängt und schaffe es nicht, mich zu befreien, ohne seltsam zu wirken.

„Ines, weißt du, wir könnten heute Abend, nach dem Dinner, bei dem du natürlich anwesend bist, noch ein wenig feiern gehen. In eine Disco oder so.“ Er wartet gar keine Antwort ab, sondern stürmt voran. Der einzige Gedanke, der bleibt: Was zum Teufel?

 

7. Kapitel

Nach dem Motto: Der Teufel trägt Prada, gestalte ich meine Abendgarderobe. Ein schwarzes, knielanges Kleid oder ein weinroter, langer Jumpsuit? Eine schwere Wahl, da ich beides einfach wunderschön finde. Das Schwarze ist mit seinem hohen Kragen gerade sehr angesagt, aber ich wäre nicht Ines Laforgue, wenn ich nicht meinen eigenen Geschmack durchsetze. So schreite ich elegant, mit meinen Jumpsuit zu meinem Auto, um mich selbst zu Anthony Fone zu kutschieren. Eine gute halbe Stunde dauert es, bis ich den Verkehr und die waghalsigen Fußgänger überwunden habe, die mir besonders heute das Leben schwermachen wollen. Es ist nicht so, dass ich mit Leichtigkeit den Führerschein bestanden habe, eher mit Ach und Krach. Die verflixten Fußgänger eben, seit diesem Tag habe ich einen besonderen Hass auf sie.

Mit meinen manikürten Zeigefinger drücke ich so lange auf die Klingel, bis ein gehetzter Anthony auf der Türschwelle steht, welcher mich mit einem genervten Blick mustert. „Musste das wirklich sein?“, schnauzt er, während er sich wieder nach drinnen umdreht. „Du musst mir jetzt auf jeden Fall helfen. Etwas Schickes oder sonst werde ich mit einem bösen Blick von meiner Mutter bedacht. Nichts ist enttäuschender, als wenn dich deine eigene Mutter mit großen, verletzten Augen ansieht. Du möchtest dich am liebsten im Erdboden vergraben. Furchtbar!“, schildert er mir seine Lage.

„Ich bin ja da. Außerdem haben wir noch einen gute Stunde Zeit, da mache ich schon etwas Passables aus dir. Seit ich aus deinem Seitenzimmer ein Ankleidezimmer gestaltet habe, ist alles da, was ich brauche. Letztens habe ich sogar so schicke, braune Lederschuhe gesehen, die du heute unbedingt tragen musst.“ Eine Rasur wäre auch nicht verkehrt, aber das mache ich schon. Anstatt wie ein wildlebender Bär, wird er heute als wahrer Gentleman seiner Mutter begegnen. Das gelobe ich bei meiner Ehre!

Ich scheuche ihn in sein Zimmer und schließe die Tür mit einem lauten Knall hinter mir. Es ist mir wahrlich immer eine Freude, seine Nerven zu reizen. „Hättest du das nicht ein wenig leiser tun können?“, erwidert er auf meine absichtliche Tat. Nein, hätte ich nicht, antworte ich gedanklich. Äußerlich zucke ich nur mit meinen Schultern, was meine Gleichgültigkeit zum Vorschein bringen soll. „Ein schwarzer Anzug ist das A und O. Da wir heute ein Dinner vor uns haben, würde ich zu einen glatten, aus Seide bestehenden Smoking raten, da er bei solchen Gelegenheiten glänzen kann. Darunter ein weißes Hemd und eine weinrote Krawatte, dann bist du sogar auf mich abgestimmt.“ „Wer sagt, dass ich das möchte?“ Ich sehe ihn nur mit einem abschätzigen Blick entgegen und meine: „Wer möchte das nicht?“ Aus seiner Bahn geworfen, kann er mir nichts anhaben und schweigt. Um trotzdem die Balance zu meinen Kunden wieder zu finden, nehme ich eine giftgrüne Krawatte aus dem Fach des Schrankes und reiche sie ihm. „Bitteschön“, gifte ich ihn zuckersüß an. „Dankeschön“, mimt er mich in der gleichen Stimmlage nach. Darüber kann ich nur lächeln, woraufhin ich mich auf dem Absatz umdrehe, um die Schwarzen Lederschuhe aus der Ecke zu kramen. Die Braunen passen nicht ganz dazu und ich möchte ihn zwar liebend gern als Clown abstempeln, aber dann bin ich meine Arbeit und meinen guten Ruf los. Perfektion ist das höchste Gebot in meinem Job. Ich darf mir keine Fehler erlauben.

Als ich mich bücke, ertönt von hinten ein lautes Klatschen und ich schreie vor Schmerz, aber vor allem durch den Schock, auf. Das hat er nicht getan! Warte, bis ich ihn in die Finger kriege, ich schlage ihn zu Brei. Nein, Mus! Er wird sterben, dass schwöre ich bei meiner Mutter! „Anthony Fone, dass wagst du nicht! Hast du mir gerade ernsthaft auf den Hintern geschlagen?“ Er verbirgt seine Hände hinter dem Rücken und pfeift wie ein Unschuldslamm. Dabei ist es nicht gerade hilfreich, dass er mir nicht in die Augen sieht. „Wie kommst du denn darauf? Ich bin fünf Meter von dir entfernt, ich könnte niemals so schnell sein“, argumentiert er in einer sinnlosen Art und Weise.

Ach, verdammt! Was ziehe ich nur immer für Fische an Land. Ich sollte mir meine Kunden besser aussuchen, bevor ich ihnen helfe, da es manche einfach nicht wert sind. Meine Arbeit ist nur für diejenigen, die es auch wirklich wollen. „Anthony, du weißt schon, dass ich dich wegen sexueller Belästigung verklagen kann und werde, falls ich nicht sofort eine Entschuldigung erhalte. Außerdem bist du um eine Arbeitskraft ärmer, falls ich kein „Es tut mir leid“ erhalte. So viel kann ich versprechen!“ Als ich mit hochgezogenen Schultern, durchgedrücktem Rücken, meinen Weg aus dem Haus stolziere, werde ich plötzlich an meinen Schultern gepackt und zurückgezogen. „Okay, es tut mir leid. Ich konnte nichts dafür, wenn du ihn mir entgegenstreckst. Ich bin schon seit zwei Jahren in einen ungewollten Zölibat, da mache ich eben ein paar Patzer, die die Gesellschaft nicht erlaubt und schlimmsten Falls sogar verurteilt. Es tut mir wirklich leid, Ines. Bitte verzeih mir.“ Ob ich seinem Hundeblick entgehen wollte oder doch eher seinen faulen Atem, werde ich später sicherlich vergessen haben. Jedenfalls habe ich ihm verziehen und alles ist wieder beim Alten. Naja, fast alles, denn meine rechte Pobacke ist bestimmt knallrot. Warum tue ich mir das überhaupt an? Ich weiß es nicht so genau, aber gewiss ist, dass ich eine stetig wachsende Anziehung zu ihm verspüre. Oder kommt es davon, dass ich immer noch Jungfrau bin? Er wäre es wert, denn wenn er wirklich zwei Jahre abstinent war, ist er praktisch auch eine Jungfrau.

Er bittet mich nach meinem Gedankenstrom seine Krawatte zu binden und zieht mich dazu näher heran, sodass ich fast seine Brust mit meiner berühre. Mit geübten Griffen binde ich sie in einen optisch sehr ansprechenden Knoten und mustere seinen Körper darauf hin. „Dein Hemd steht noch über“, weise ich ihn auf seinen Fehler hin. Wie schafft er es bitte, sich für seine Arbeit zu kleiden, wenn er sich jetzt wie ein Kleinkind verhält? Unbegreiflich, aber darum kümmere ich mich morgen, da er es wieder nicht geschafft hat. „Muss ich dir jetzt wirklich helfen?“, frage ich mit einem genervten Unterton, da ich es mir wirklich nicht erklären kann, wie man sich so dumm anstellen kann. Mit meinen roten, langen Fingerspitzen öffne ich seinen Gürtel und ziehe dann sein Hemd in eine gerade Richtung, damit es möglichst faltenfrei erscheint. Danach schnalle ich seine Gürtel wieder zusammen und betrachte mein Schaffen. Gut, dass ich ihm immer noch zur Seite stehe, sonst hätte er sich richtig blamiert. „Das hätte man gerade auch anders interpretieren können“, gesteht mir Fone. Ja, dass hätte man. Aber ich habe es nicht getan, also sollte auch er schweigen. Sonst nimmt die ganze Angelegenheit an Peinlichkeit extrem zu. Und das möchte ich ganz sicher nicht. Seit zehn Jahren übe ich diesen Job aus und so etwas ist mir noch nicht unter die Quere gekommen. Anthony Fone ist wahrlich einzigartig.

„Ich suche dir noch schnell ein paar Accessoires heraus, dann können wir los. Die Zeit vergeht ziemlich schnell. Wie ich gerade erkennen kann, muss ich deinen Haaren auch noch etwas Gutes tun, denn man könnte sie mit einem Scheiterhaufen vergleichen.“ Trotz meiner oberflächlich guten Laune, kann ich genau sagen, dass zwischen uns überhaupt kein Arbeitsverhältnis besteht. Irgendwie verspüre ich sogar ein wenig Angst in seiner Gegenwart, die ich nicht zu identifizieren weiß. Mein Bauchgefühl drängt mich nach draußen, in die Freiheit zu stürmen und alles hinter mir zu lassen, ein neues Leben in einer weit entfernten Stadt aufzubauen. Nur weiß ich nicht, woher dieses sonderbare Gefühl stammt.

Eine mattgrüne Uhr schlinge ich ihm um das Armgelenk, dazu eine Kreuzkette und schon ist er für die Gelegenheit fertig. Anschließend lasse ich ihn auf einen Stuhl setzen und bearbeite seine Haare mit einem feinen Kamm. Dann greife ich über seine Schulter nach der Dose mit dem mitgebrachten Haargel und verteile es zwischen meinen Händen. „Damit du etwas stilsicherer bist, ist Haargel die perfekte Lösung. Ein wenig davon und du bist ein ganz anderer Mensch. Ausnahmsweise mache ich das heute, allerdings bist du Montag dran, das zu machen. Natürlich helfe ich dir. Du musst dich von oben nach unten arbeiten und das Gel überall gut verteilen, sonst sind deine Haare nach einer halben Stunde genau wie vorher.“ Ich beginne an seiner Stirn und streiche die Haare nach hinten, sodass seine stechenden Augen nur noch mehr hervortreten, die mich so mustern, dass ich mich wortwörtlich nackt fühle. Das unangenehme Gefühl tritt wieder hervor, dieses Mal stärker als je zuvor und ich wälze mich von einem Fuß zum anderen. Das kann doch nicht wahr sein! Mit Müh und Not beende ich mein Werk und bin damit äußerst zufrieden, es könnte nicht besser sein! Seine maskuline Seite wird nur noch mehr unterstrichen, als ich ein würziges Parfüm über seine Schultern versprühe. „Das schmeckt gut. Woher hast du das?“, stille ich meine Neugier. „Wie kann es sein, dass du es noch nie benutzt hast, es ist einfach der Wahnsinn!“ „Meine Schwester hat es mir vor Jahren zu Weihnachten geschenkt und da ich keinen wirklichen Nutzen in Parfüms sehe, verwende ich auch Keines. Aber wenn ich für dich dann gut rieche, muss ich es öfters verwenden. Vielleicht bist du dann nicht immer so versteift.“ Was? Nicht schon wieder! Er setzt es wohl darauf an, meine Stimmung zu vermiesen, wenn er solche Kommentare abliefert. Ich kann es seiner Mutter wohl bald verzeihen, dass sie mich für ihn engagiert hat. Er benötigt eher gute Manieren gegenüber Frauen, wenn er nicht für immer Single bleiben möchte.

Meine Füße führen mich aus seiner Haustür und lassen mich in sein Auto einsteigen. Seelenruhig warte ich auf ihn, damit er uns zum Dinner fährt. Nach langen fünf Minuten sitzt er endlich neben mir und startet den Wagen. Mit einer Fernbedienung schaltet er die Alarmanlage ein und schließt die Tore hinter uns. Es führ kein Weg mehr zurück. Warum fühle ich mich, als wäre er mein Freund und würde mich nun seiner Familie vorstellen? Komisch. Sofort schlage ich mir diesen Gedanken aus meinen Kopf und auch die zunehmende Panik, da mir die ganze Sache immer unheimlicher wird. Sie steigt mir einfach zu Kopf und ich möchte am liebsten alles hinschmeißen und zum Flughafen stürmen, dort die nächste Reise nach Russland buchen, wo mich keiner mehr finden wird. Raus aus dem Trubel, den Anthony verursacht.

„Ines, wir sind da. Möchtest du aussteigen oder dich noch einen Moment sammeln? Du bist heute so aufgelöst, ich kann es gar nicht in Worte fassen.“ Ja, es geht mir auch genauso. Als ich ihm nicht antworte, wird mein Kopf plötzlich herumgerissen und mein Mund in einem herzzerreißenden Zungenkuss gezogen. Das Gefühl in meinem Bauch nimmt dadurch langsam ab und ich kann mich wieder auf mein Vorhaben konzentrieren.

„Hat es geholfen?“ Auch wenn ich es nicht zugeben möchte, dass hat es tatsächlich. Zuerst beleidige ich ihn wegen eines sexuellen Übergriffes und nun gestehe ich mir, dass zwischen uns mehr ist, als ein bloßes Arbeitsverhältnis. Ich bin so verwirrt, ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Tränen fließen wasserfallartig über meine Wangen, das Gesicht vergrabe ich in meine Hände und stütze meine Ellbogen auf die Knie ab. Was fehlt mir nur? „Hey“, ich werde von hinten umarmt. „War es wirklich so schlimm? Es tut mir leid. Soll ich dich heimbringen? Ich kann das Dinner auch verschieben oder absagen, dann habe ich wenigstens eine gute Ausrede.“ Diese Aussage lässt mich auflachen, da ich seinen Humor einfach köstlich finde. Warte mal kurz, wenn sein Kuss geholfen hat das Gefühl erfolgreich zu verdrängen, dann schlafe ich noch heute mit ihm. Morgen werde ich dann bei ihm kündigen und wegziehen. Ja, das mache ich. Normalerweise bin ich keine Frau der überschnellen Entscheidungen, aber ich muss meinen Frust irgendwie abbauen und das schaffe ich nicht alleine.

„Anthony, nach dem Dinner habe ich noch eine Überraschung für dich. Jetzt lass uns reingehen, wir haben genug Zeit vergeudet und ich möchte deine Mutter nicht enttäuschen, schließlich ist sie nicht umsonst als ehrliche Lady in der High Society abgestempelt worden. Sie könnte mich mit einem einzigen Wort, oder sogar mit einem Handzeichen für immer ins Nirwana abschieben.“ Das wird sie morgen auch machen.

Im Restaurant führt uns der Ober zu unserem Tisch, wo mich das nackte Grauen erwarten wird. Aber davon wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts.

8. Kapitel

 

Langsam schreiten wir zum bestellten Tisch. Es herrscht eine seltsame Ruhe vor, man kann sie nicht genau definieren. Sie drückt schwer auf meine Schultern, fast fühlt es sich wie ein Sack Kartoffeln an, der dich mit aller Macht gen Boden sehen mag. Ja, es ist schon seltsam, diese Gedanken zu besitzen, schließlich bin ich allerseits als ruhige, gewissenhafte Ines bekannt. Ich selbst hätte mich nie als launenhafte Anhängerin der Emotionen gesehen, da ich meine Gefühle selten zur Schau trage. Sie sind nur gewissen Menschen vorbehalten, wie meinen Eltern, sie kennen mich ja mit Leib und Seele. Sie würden mir niemals weh tun.

Ein langer Tisch mit rund zwanzig Stühlen erwartet uns. Als ein köstliches Aroma in meine Nase zieht, schmelze ich dahin. Mein Magen knurrt daraufhin, als wäre nie Vergleichbares passiert. Sie haben schon zu Essen begonnen. Wie unhöflich. Ein Blick auf meine silberne Armbanduhr genügt, damit ich weiß, dass wir pünktlich erschienen sind. „Toni, du bist ja pünktlich“, begrüßt uns eine ältere Frau ziemlich abrupt. „Das bin ich gar nicht gewöhnt von dir. Madam Laforgue mausert dich wahrlich zum wahren Gentleman. Nun fehlt nur noch eine hübsche Begleitung, natürlich neben Ihnen“, verweist sie mit der Hand auf mich. Mitten in den Gedanken, ob ich es nun als Beleidigung aufnehmen soll oder nicht, zieht „Toni“ einen Stuhl heraus und deutet mit dem Kopf auf mich. Ich setzte mich. Mit den Händen zupfe ich mein elegantes Kleid zurecht, damit es alle Partien gut verhüllt. Ich möchte mit meinen Reizen weder spielen, noch sie unbeabsichtigt zum Vorschein bringen, schließlich ist dies eine Art „Geschäftsessen“, mit dem ich die Eltern meines Kunden von meiner Arbeit überzeugen möchte. „Mein Sohn, wie ist es dir in den letzten vier Wochen ergangen? Laut meiner Ansicht hast du deinen eigenen Stil entwickelt, bist äußerlich erwachsen geworden. Ich bin jetzt schon stolz auf dich!“ Sein Vater hat anscheinend noch nie etwas von wahrer Liebe gehört, ansonsten hätte er diesen Kommentar behutsamer formuliert, nicht wie eine enttäuschende Meinung über seinen Sohn.

Wie wunderbar Eltern sein können, zeigt sich ebenso an seiner Mutter. „Nun gut, dieser Schnitt ist gar nicht komfortabel für meine Augen. Diese Schuhe, einfach schrecklich. Das Hemd ist wenigstens von guter Qualität, soweit mich meine Augen hoffentlich nicht täuschen. Und diese Krawatte, die ist einfach nur schäbig. Wir hätten Miss Laforgue nicht engagieren dürfen, sie hat alles nur noch schlimmer gemacht!“ Solche unkomfortablen Ausdrücke für meine Stilberatung sind mir noch nie zu Ohren gekommen! Manche Menschen bilden sich einfach viel zu viel ein, als könnten sie mehr, als der Profi in diesem Gebiet. Außerdem, wer definiert hier die Mode? Bin das nicht immer noch ich, in ganz Paris bekannt und geschätzt, wie keine Zweite? Ohne mich wäre die Welt ein Stückchen ärmer, so viel kann ich garantieren, schon beim Anblick ihrer gestrickten, grauen Weste, die wohl der neueste Hype im Big Apple von Frankreich ist. Sie ist eher der letzte Schrei für meine Sinne, die bald ein grausames Ende erleiden, wenn dieses Gespenst nicht geht! Anstatt meine Gedanken in Worte zu formulieren, wie es Andere getan hätten, sage ich nichts. Das ist ab und zu am besten – für alle.

 

Ihr Mund verzieht sich zu einer Art Schmollmund. Sieht einem Hund ähnlich, der seine tägliche Ration Knochen nicht erhalten hat. Sehr angewidert. Ich gebe und werde auch niemanden je die Genugtuung geben, damit er sich in meiner Bestürzung suhlen kann. Ohne diese Fassade hätte ich es nie bis zum Olymp geschafft, aber einmal oben, muss man das Schattengesicht wahren, denn der Fall ist schnell und schmerzhaft. Bis dahin muss ich mir genug Geld verdienen, damit ich mir ein schönes Leben nach meinem modischen Tod leisten kann. Ines- für alles vorbereitet.

„Madam Laforgue, entschuldigen sie meine reizende Schwiegertochter. Sie ist immer zu Scherzen aufgelegt, darum nehmen sie sie nicht allzu ernst. Mein Sohn macht eben immer eine schwere Partie, muss aber auch mit ihr Leben, sonst ist er sein ganzes Geld los“, lächelt sie mich an. Deshalb, sie ist eine von der geldgierigen Sorte. „Miss Barn, Sie müssen sich dafür nicht entschuldigen! Nicht jeder hat ein leichtes Schicksal, wenn Sie mich verstehen.“ Die Fronten sind nun geklärt und der Ober fragt uns nach der Bestellung, während sich die Anderen dem Essen erneut widmen. Zehn charmante Personen an einen Tisch, in einer Nacht, zur gleichen Zeit. Ich könnte würgen, so viel geschwängertes Parfüm hängt in der Luft, meine Lunge ist schon halb verbrannt durch das lodernde Feuer der stechenden Augen. Insgesamt sitzen sechs Männer und vier Frauen an einem Tisch. Der eine könnte sein Bruder sein, er hat wirres Jahr, wie ein Philosoph und schlürft seine Suppe, als hätte er schon ein halbes Jahr schwer gefastet. Typen gibt es, die gibt es gar nicht.

Weitere fünf Minuten vergehen, wie die Dürre in der Sahara, die Atmosphäre schwillt immer weiter an, bis zum großen Super-Gau. Dagegen war Fukushima ein Häufchen Nichts. Die Fragen aller Fragen bringt schlussendlich die ganze Szenerie zum Überlaufen. „Wie sieht es denn in der Liebe aus, Trent?“ Der Wuschelkopf blickt überfordert auf. „Ganz gut“, antwortet er daraufhin. „Letztens habe ich mit einem netten Mädchen getroffen, sie hieß Sarah. Morgen sehen wir uns wieder“, blickt er uns freudestrahlend an. So hätte ich ihn gar nicht eingeschätzt, meine Güte, er hat doch ein offenes Gemüt, im Gegensatz zu den anderen Ansässigen. „Was ist sie denn von Beruf?“ Komischerweise überkommt mich das Gefühl, ihn zu warnen, bevor es zu spät ist. Solche Gespräche enden nie gut, besonders nicht vor deinen Eltern, beziehungsweise vor deinen Großeltern. Man sollte darauf niemals antworten. „Sie ist Kindergärtnerin“, erwidert er vorsichtig. Vermutlich ist er ebenso in Sorge, wie ich, dass er in fünf Sekunden um eine Kopflänge gestutzt wird. Meine Hände zittern leicht, zeigt sich doch meine einfühlsame Seite, für die charakterstarken Personen möchte ich mich einsetzten, schließlich haben sie noch ein richtiges Herz. Seine Mutter bringt eben dies hervor, dass eine Rabenmutter kennzeichnet. „Pah, das ist nichts. Such dir eine, die deinem Stand würdig ist.“ So eine, wie sie? Eine geldgierige, blöde Kuh? Da ist er schlecht beraten, wenn er nicht einen Ehevertrag schließt.

„Madam Fone, ich bitte Sie um einen höflicheren Ton, schließlich haben wir einen berühmten, vor allem wichtigen Gast hier.“ Diese Warnung hätte ich mir von der Großmutter früher gewünschte. Ihre Autorität wäre wirklich eher gefragt gewesen, da sie ihre Pflicht erfüllt und das Muttermonster verstummen lässt. Gut, dass meine Eltern bereits ihren Weg ins Grab gefunden haben, so hatten sie nie die Möglichkeit, sich in mein Privatleben einzumischen. Das Liebesleben sollte man so lang wie möglich vor seinen Eltern verheimlichen, da nur so eine intakte Beziehung zustande kommt.

Trent ist sichtlich mitgenommen, das hat der große Einfluss der Mutter auf seinen Sohn bewirkt. Auch wenn es manche Männer gerne als Unwichtig beiseite wischen, müssen sie sich eingestehen, dass die Mutter eine zentrale Meinungsrolle bei der Partnerwahl spielt. Er lässt seinen Blick wieder auf die Suppe schweifen und löffelt enttäuscht weiter. Sein Schlürfen verwandelt sich in eine Art Schluchzen, aber niemand kann hinter die Lockenpracht blicken, die sein Gesicht bedeckt. Er ist es anscheinend gewohnt, seinen Hass und seine Trauer vor seiner Familie zu unterdrücken und sie innerlich an zu stauen. Aber bald, das kann ich garantieren, werden sie sich entladen, wie eine Flut Lava aus dem Vesuv, der Pompeji als Massengrab hinter sich gelassen hat.

Endlich ist es soweit, nach zwei Stunden der Tücke und der puren Beleidigung für meine Stilberatung. Wir verabschieden uns und machen einen eleganten Abgang. Mit hochgezogenen Schultern und sturem Blick sage ich ein höfliches „Auf Wiedersehen.“

„Du hast echt dein Gesicht gewahrt. Das hat selten jemand vor dir geschafft, dabei hast du eine lange Schlange vor dir. Viele sind bereits an den harten Gewohnheiten meiner Eltern gescheitert und mit Tränen übersät aus dem Raum gerannt.“ Während er mir dieses Geständnis aus seiner Vergangenheit erzählt, schaue ich ihn nur fassungslos an, wodurch ich an seine Schulter boxe. „Hey, ich bin nicht deine Freundin! Sag das lieber deinen sogenannten Freundinnen. Ha!“ Wir gehen weiter Richtung Ausgang, zu seinem Auto. Damit fährt er uns zur nächst gelegenen Disco, damit wir unseren gelungenen Sieg über seinen Eltern feiern könne. Ein krönender Abschluss für einen armen Prinzen. Ja, und ich bin die Kröte. Ein leichtes Schmunzeln streift über meine Lippen, ein wenig erheitert pulsiert mein Herz. Pochend stellen wir uns in der Reihe an, lange müssen wir nicht warten, bis wir vor dem Türsteher angekommen sind. Er mustert uns skeptisch, bis er unsere Ausweise vor der Nase hat. Mit fast Ende Zwanzig, jedenfalls gefühlt, sollte ich älter aussehen, als eine hormongestörte Jugendliche, die versucht in eine Disco zu schleichen. „Laforgue und Fone zusammen, dass ich das in meinem kurzen Leben noch erfahre, wird mir bestimmt keiner glauben!“ Er sollte es auch möglichst nicht weitererzählen, sonst wird mir morgen schon eine Affäre mit ihm angedichtet. Die Klatschzeitungen werden sich darum reißen, wie eine Elster um einen Silberring.

„Ines Fone. Das hört sich doch super an.“ Wenn er wüsste. „Laforgue ist nicht mein richtiger Name“, gestehe ich, während ich ihm tief in die Augen blicke. Man sollte sich keine Unsicherheit anmerken lassen, das Gesicht eines Meisters ist stets zu wahren, in dem Sinne habe ich einmal einen chinesischen Glückskeks geöffnet. „Oh, ein Künstlername. Hätte ich mir auch denken können, so berühmt wie du bist.“ Ich zucke nur mit den Schultern, damit meine Anspannung überspielt wird. Keiner sollte es je erfahren, ohne, dass er am nächsten Tag im Sarg liegt, mit den Augen gen Himmel, der Mund geschlossen, das Geheimnis für immer mit ihm begraben. Eine schöne Vorstellung, die ich nur zu gerne der Realität mitteilen möchte, aber es nicht möglich ist, ohne eingebuchtet zu werden. Diese Technik heutzutage macht fast alles möglich, die Täter werden sogar noch in dreißig Jahren gefunden, wenn man die Suche nicht aufgibt. Alles ist möglich. Auch die Liebe.

Bei der Garderobe geben wir unsere Designer-Mäntel ab, nicht umsonst sind wir hier in der angesagtesten Diskothek von Paris. Das „Hay“ ist der größte Treff von Superstars und denen, die es noch werden wollen, da man entweder eine riesige Summe an großen Scheinen oder Bekanntschaften braucht, um sich hier einzubringen. Ja, die High Society hat jedoch auch ihre Makel, schließlich benötigt man dazu auch Unmengen an Alkohol, um diese Leute einigermaßen zu ertragen. Schon kommt eine elegant gekleidete Brünette zu uns, ein Glas braune Flüssigkeit in der Hand halten und ein breites Lächeln zerreißt ihr Gesicht. Die Strahlung, die sie absondert, lässt schon die Krebsgeschwüre wachsen, die ihr am liebsten den Hals umdrehen wollen. Doch, was man nicht alles dafür tut, dass die Menschen sich in Nächstenliebe und Freude zusammenschließen.

„Miss Laforgue, Mister Fone, wie schön sie hier zu treffen. Das überrascht mich doch sehr, schließlich sind sie nicht gerade bekannt für exzessive Hay-Besuche. Hihi.“ Das Gekicher am Schluss sollte sich wahrscheinlich kindlich, süß anhören, allerdings bin ich mir bei ihrem Alter nicht sicher. Das weiß man in Paris nie ganz genau, wie alt die Frauen sind, ist ja gerade die alterslose Schönheit mit Achtzig angesagt. Manchmal suggerieren die Werbungen schon einen Blödsinn, der sich sprichwörtlich gewaschen hat. „Die Freude ist ganz unserseits, Miss…, wie heißen Sie nochmals?“, geht er der ganzen Oberflächlichkeit auf dem Grund. „Theresa Adams“, erwidert sie stolz. Der Name erscheint mir bekannt. Ich kann nicht genau deuten, woher er kommt, dennoch meine ich ihn den TV-Serienstars zuordnen zu können. „Ja, schön sie kennen zu lernen, Miss Adams“, meint Anthony höflich. Freundlichkeit sagt dem jungen Mann neben mir eindeutig zu, denn er kann die Frauen auf charmante Art und Weise um den kleinen Finger drehen, nur gut, dass ich ihn vorher eingekleidet habe, ansonsten würden wir nun in der Ecke stehen. „Oh, da ist ja Madam Glory, ich schaue mal zu ihr rüber. Du kannst ruhig hierbleiben, Anthony, ich bin gleich wieder da“, flunkere ich ein wenig. Ich werde er zur Rückfahrt wieder erscheinen, da ich mir den Flirt gerne entgehen lasse. Momentan ist meine Nase voll von Flirts und anzüglichen Bemerkungen, die mir allezeit die Ohren verstopfen. Das ist mir einfach zu viel Tumult, da es sich nicht lohnt. Spüre ich da etwa ein wenig Eifersucht auf Madam Adams?

9. Kapitel

 

Normalerweise habe ich meine Gefühle ziemlich gut unter Kontrolle, schließlich ist mein Gehirn die wahre Leistung im Körper. Ohne eben diesem wäre ich auch zur gleichen Zeit wortwörtlich verloren gewesen, da dieser Club einfach keine Toilette besitzt, oder ich zu blind bin, um eine zu finden. Kopflos wandere ich durch die Gänge, durch verschiedene Räume und sehe mich um, bis ich einen Mann von der Security frage, wo sich die Klos befinden. Er schreitet mir voraus, fast verliere ich ihn sogar, da er eine Schnelligkeit an den Tag legt, die mich langsam aber sicher zur Verzweiflung bringt. Solche Männer, die eine Frau auf High Heels nicht nachvollziehen könne, sollten verboten gehören. Einfach furchtbar, dieser Service. Am Schluss bin ich jedenfalls halb gebückt über dem Rand, da ich auf keinen Fall den Toilettensitz berühren möchte. Daher wachsen auch meine Oberschenkel, als würde ich dreimal in der Woche trainieren, wenn ich noch öfter den Abend in einer Disco oder Bar verbringe. Ein schweres Urteil für alle Frauen unter Dreißig, die sich extra wegen der Liebe und des Rufes aufbrezeln und doch nur das Leid einer jeden anderen teilen, wie jetzt gerade, als ich feststelle, dass meine Schminke sich zur Hälfte verabschiedet hat. Karma ist heute ziemlich böse, würde ich feststellen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kämpfe ich mich durch die Frauen nach draußen. Frauentoiletten sind stets voll gefüllt, die Schlange ist bis hinten gereiht sowie die bösen Blicke der Frauen, die mich mit stummen Entsetzten am liebsten erwürgen möchten. Wer kann nicht das weibliche Geschlecht nachvollziehen, das mit einer vollen Blase bis zum Himalaya warten muss und wieder zurück. Nun gut, ich bin fertig und kann mit einem Lächeln weiterleben, die anderen sind eben Opfer. Anthony sitzt an der Bar und sieht den Leuten beim Tanzen zu, eher gesagt den wild fuchtelnden Menschen mit zu starkem Bewegungsdrang.

„Hey, warum guckst du so angestrengt“, versuche ich Small Talk zu machen, aber die laute Musik unterbricht diesen Anfang. So versteht er anstatt meinem Satz: „Ich bin 34, warum?“, wundert er sich zurecht über mein Gesprächsthema. Ja, ich nicke nur mit dem Kopf, um ihm zu verstehen zu geben, dass es sinnlos ist, weiter zu reden. Allerdings lässt er das nicht so einfach auf sich sitzen, woraufhin er mich am Ellbogen nach draußen zieht und mich an der frischen Luft zum Eisklotz werden lässt. Danke dafür! Männer sind solche Sympathiebolzen! Ich könnte Eiswürfel weinen vor Freude, wenn ich meine Augen vom Eis befreien könnte. Brr. „Was willst du denn hier in der Kälte? Wenn das so weiter geht, werde ich in den nächsten Tagen krank. Dann kannst du auf meine wunderbare Aufmerksamkeit verzichten!“, murre ich ihn an. „Du wolltest mir doch etwas erzählen, oder?“, schaut er mich abwartend an. Mitgefühl besitzt er vermutlich nicht, da er einfach nur mit breitem Stand dasteht und mich von oben anschaut. Er hat wohl noch nicht so viele weibliche Bekanntschaften genossen, ansonsten hätten sie ihm gewisse Regeln beigebracht. Die Jacke muss immer über die Schultern der Frau gelegt werden, egal ob sie deine Freundin ist oder nicht. Es gehört sich eben.

„Ich habe doch den Kopf geschüttelt, Anthony, damit meine ich, dass das Thema unter den Tisch gefallen ist. Nicht mehr wichtig, Handwisch zur Seite. Könne wir wieder reingehen?“, frage ich ihn, als ich bereits den Fuß zum Schritt hebe. Gerade wie ich ihn hinsetzen möchte, werde ich umgedreht und mit einem „Nein“ abgestempelt. Nett, wie ich ihm bin, lasse ich die Backpfeife fallen, um einen möglichen Fehlpass zu unterbinden. Eine Ines Laforgue macht niemals etwas Unsittliches. Nur die anderen machen Fehler. „Was wolltest du mir drinnen erzählen?“, hakt er nochmals nach. Warum will er denn unbedingt genau das wissen. Ich hebe die Hände zum Himmel und aus meinem Rachen ertönt: „Warum guckst du so angestrengt?“ und gehe schnurstracks durch den Eingang wieder rein. Der Türsteher – ein anderer, anscheinend war Schichtwechsel – lächelt mir zu und streift mir mit der Hand über den Rücken. Ich schaue ihn nur mit suspekter Miene an. Schnell eile ich an ihm vorbei, um mich sofort zum Alkohol zu stürzen. Besonders die letzte Hand geistert noch in meinem Gehirn umher, bekomme sie einfach nicht mehr raus. Ekelhaft, wieder ist ein Kurzer meinen Hals hinunter gegangen. Es brennt bis zur Hölle, aber mein Geist schwindet in den Himmel. Totale Verschiedenheiten, die mich benebelt durch die Gänge wirren lassen. Wo ist Anthony, wenn man ihn braucht? Ein kurzer klarer Gedanke lässt mich in Panik geraten, jedoch vergesse ich ihn wieder, als mir an der Bar ein Getränk ausgegeben wird. Ein schöner Adonis lächelt mir zu, rutscht rüber und sagt „Hi“, besser könnte es nicht laufen. Ich grinse zurück und lehne mich nach vorn. Dabei ziehe ich beim Bücken das Kleid fast bis zum Po mit nach oben, stoppe aber gerade rechtzeitig, als ich schon an der Theke gestützt bin. „Wie heißt du denn?“ Soll ich ihm einen falschen Namen nenne? Ja „Daisy“ hat mir schon immer gefallen. So heiße ich eben so. „Wie heißt denn du“, beiße ich mir verführerisch auf die Lippen, streife mein Haar zurück, was ihn veranlasst, einen Arm über meine Schultern zu legen. Es ist schon lange her, dass ich einen Körper so nah an mir spüre. Die Wärme erregt mich, Schmetterlinge vor Spannung flirren durch den Bauch sowie meine Knie leicht nachgeben. Die High Heels sind dabei von keinem Vorteil. „Wayne, cherie“, lässt er sein Französisch spielen. Endorphine lassen mich sofort darauf anspringen, ich kann nur noch mit Lächeln kontern. Mein Gehirn hat sich sowieso schon im Abfalleimer einquartiert, da ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Orientierungslos lasse meine Hand über seinen Arm fahren, während er zwei Getränke bestellt, worauf er mir wieder in die Augen blickt. Langsam schiebt er mit den Füßen meinen Stuhl noch näher zu sich heran, sodass ich beinahe auf ihm sitze. „Wo wohnst du denn Daisy?“, meint er kokett. „Nicht, dass du mich falsch verstehst, aber am Schluss wohnst du in Neu Seeland und ich habe mir falsche Hoffnungen gemacht.“ Er ist so süß. Er ist einfach purer Zucker. Um es zu probieren, umfasse ich seinen Hals und gebe ihm einen Geschmack von meinen Küssen. Wayne erwidert mein Vorhaben gleich, zieht mir an der Unterlippe, unsere Zungen münden in einen Tornado, ein unendlicher Sturm der puren Lust. Der Barkeeper klopft laut an den Tisch, da übertönt er sogar die Musik und verlangt nach unserem Geld. Wayne legt ihm zwei Scheine auf dem Tisch und verlangt nach dem Wechselgeld. Normalerweise lassen wir ihnen das restliche Geld als Trinkgeld übrig, aber er ist so geizig und möchte es zurück? Normalerweise hätte ich zu diesem Zeitpunkt bereits sein wahres Ich erkennen könne, aber meine Augen schimmerten vor Promille und ich konnte nur noch an meine unbefriedigte Begierde denken. Manchmal sollte ich mir mehr aus meinen Leben machen, auch meine Hände von Fremden lassen. Aber ich möchte auch in den Genuss eines ONS kommen, haben doch schon so viele von ihm geschwärmt.

„Nein, ich wohne in Paris. Also genau hier. Du?“, erkundige ich mich bei ihm, wohingegen es eher ein Lallen ist. Morgen werde ich in Peinlichkeit versinken, falls ich mich erinnere. Die Betonung liegt dabei auf die Möglichkeit, dass es so sein könnte. Hastig nehme einen großen Schluck von meinem unbekannten Getränk, aber es schmeckt verlockend gut. Nochmals schlage ich nach. „Hey, trink nicht so viel. Ich möchte heute Nacht noch etwas von dir haben“, nuschelt er in mein Ohr und knabbert an meinem Ohrläppchen. Sexuell angehaucht, lasse ich es zu. Als es ihm nicht genügt, hebt er mich hoch und setzt mich auf seinen Schoß. Laut seinem gestressten Atem muss es ihn angestrengt haben, was bei meinen 50 Kilo Kampfgewicht eigentlich keine Herausforderung sein sollte. Seine Hände packen mich an der Taille und heben mich zu ihm herum, dass wir Angesicht zu Angesicht sitzen. Meine Fingernägel graben sich in seine Schultern und lassen ihn nicht mehr los, da ich wegen meiner alkoholisierten Panik Angst habe, zu Boden zu stürzen.

Wir sind gerade dabei an der Garderobe unsere Jacken abzuholen, als mich ein bekanntes Gesicht nach hinten in eine Ecke zieht, damit wir den anderen Leuten nicht mehr im Weg stehen. Kurioserweise wird mir eine Backpfeife verliehen, die meine Wange sichtlich zum Erröten bringt. „Was fällt dir ein? Einfach davon zu laufen und mich draußen stehen zu lassen?“, blufft er mich an. Wer ist er? Seltsamerweise liegt mir der Name auf der Zunge, aber ich kann ihn nicht sprechen. „Tut mir leid, aber wie heißt du nochmal? Timothy? Anarchie? Ich kann gerade nicht denken, sorry“, entschuldige ich mich bei ihm. „Ich muss jetzt aber los, ich habe noch eine heiße Nacht vor mir.“ „Was hast du vor?“, ruft er entsetzt in alle Breite. Plötzlich fühle ich mich schlecht, irgendetwas habe ich falsch gemacht. Mein Ich fühlt sich in die Zeit zurückversetzt, als mich meine Eltern um vier Uhr in der Früh angeschrien haben, weil ich sturzbetrunken von der Feier zurück gekommen bin. Ich habe nur gelächelt und gewartet, bis das Prozedere vorüber war. Genau das tue ich auch in dieser Situation. „Daisy, kommst du? Das Bett wartet auf uns, aber auch die Dusche und Orte, die ich gerne mit dir abtasten würde.“ Anarchie blickt ihn nur unglaubwürdig an, wie als wäre der Sensenmann vor ihm erschienen. Sein Gesicht läuft hochrot an, als wären ihm zwei Adern geplatzt. Meine Füße gehen wie von selbst in Richtung von Wayne und verlassen den anderen auf seinem Stehplatz. „Willst du mich jetzt einfach so alleine lassen, Ines?“, beschuldigt er mich. „Ja, mein lieber Fremder. Komm, Schatz, lass uns unsere Träume wahrmachen. Die Matratzen aufheizen.“ Der Unbekannte, dessen Name mir entschwunden ist, umarmt mich von hinten und führt mich aus dem Vorraum der Diskothek. Aber ich werde nicht einfach so gehen gelassen, da mir der Fremde an die Schultern fasst und mich in die andere Richtung zieht. „He, was machst du da? Ich bin dein Kunde und du bist doch jetzt sogenannte Perfektionistin, die lässt du jeden Tag heraushängen, als gäbe es kein Ende mehr.

Kurz denke ich darüber nach, was ich sagen soll, fällt mir doch nichts mehr ein. „Hey, Wayne, heute wird es leider nichts. Der lässt mich nicht mehr los. Keine Ahnung, was der von mir will, obwohl sich mein Unterleib nach dir zerreißt“, schreie ich zu ihm hinüber. „Oh mein Gott, für welche Verbrechen muss ich denn noch bezahlen. Warum bringst du mich nur in soll fremdschämende Situationen, die mich zur schieren Verzweiflung bringen, nun klinge ich schon wie ein Theaterakteur mit Problemen. Ach, jetzt lass dir helfen. Du schläfst heute Nacht bei mir. Ende mit den Verhandlungen.“ Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, was heute noch mit mir geschehen wird. Der Fremde hievt mich ins Auto und schnallt mich umgehend an. Von Langsam beschleunigt er, bis die Drehzahlen in die Höhe schnellen und ich mit den Gedanken spiele, einfach – ohne Grund – aus dem Auto zu springen.

 

 

10. Kapitel

 

Am frühen Morgen setzt ein Brechreiz ein, der seinesgleichen sucht. Mir ist so schwindelig. Meine Augen drehen sich vor Übelkeit, meine Nase zieht den ätzenden Geruch ein, auch mein Mund steht fassungslos offen, als wäre mir so etwas noch nie geschehen. Zugegeben, das ist es noch nie. Aber es gibt immer ein erstes Mal, das sich jetzt jedoch gewaschen hat. Mein Rücken lehnt sich gegen die kühlen Kacheln des Badezimmers, das mir schrecklich bekannt vorkommt. Wo bin ich nur gelandet? Ich könnte mir selbst eine Kopfnuss dafür geben, warum muss nur mir immer so etwas Blödes passieren? Eine seltsame Angst setzt sich in mir fest, Anthony zu begegnen. Diese wird allerdings von einem neuen Schwall an Übelkeit übertönt. Schnell schlage ich den Toilettensitz nach hinten und halte meine Mundöffnung über den Rang. Gerade noch rechtzeitig, ehe es zu spät gewesen wäre.

„Sei bloß froh, dass ich dich gestern nicht mit diesem Typen mitgelassen habe. Der hätte dich bestimmt hochkant rausgeworfen, wenn er gemerkt hätte, wie du das Badezimmer verunstaltest. Eine heiße Nacht hätte er sich da abschminken können, wie du es immer so schön ausdrückst.“ Seine Ironie beißt sich wortwörtlich in meine Knochen und hält sich hartnäckig fest. Schon fast kommt es mir vor, als hätte er dies mit purer Absicht gesagt, nicht einmal ein Fünkchen Spaß findet sich darin. Verletzt blick ich auf die Decke hinauf, um der traurigen Emotion zu entgehen. Diese Melancholie eignet sich nicht für meinen Charakter, vor allem habe ich mich aber unprofessionell vor meinem Kunden verhalten. Falls das jemals die Gesellschaft erfährt, bin ich meine Arbeit los und muss mir ein neues Geschäft suchen. Irgendwas wird sich wohl schon finden.

„Willst du mir noch irgendwelche Fehler vorenthalten? Ich war gestern eben viel zu begrenzt. Das ist mir klar und ich bereue es auch.“ Anscheinend hat er keinerlei schlechtes Gewissen entwickelt, als er meinen Anblick während meiner kurzen Rede genossen hat. Vermutlich bin ich nicht so jämmerlich, wie ich mich gerade fühle. „Ich gehe jetzt nach Hause. Den Vertrag löse ich auf. Ich bin definitiv bereit für eine Auszeit.“ Mein Kopf fühlt sich so leer an. Normalerweise quillt er über vor Eindrücken sowie Informationen, die hinein- und rausfließen, nur die Wichtigsten werden gespeichert. Gestern war es einfach zu viel, ich habe schlussendlich die Leere aus meinem Herzen gelassen. Der Beruf ist nicht mehr meine Berufung, vielleicht sollte ich mir etwas Neues suchen? Nein! Es war schon immer mein Traum Modeberaterin zu werden, das lasse ich mir von keinen nehmen. Was gebe ich nur von mir? Zwar sind es nur meine Gedanken, dennoch fühlt es sich so an, als müsste ich mich rechtfertigen. Aber ich muss mir von niemanden beschuldigen lassen, nicht einmal von meinem Gewissen, was ich tue oder was ich eigentlich tun sollte. Es macht keinen Sinn. Ich werde weiterhin Stylistin für die Schönen und Reichen sein, es ist die Realität, dass was wirklich ist. Wenn ich mich von allem löse, habe ich nichts mehr, dann bin ich ein Nichts. In Paris ist man schnell vergessen, wenn man eine Woche nichts von sich hören lässt. Das lasse ich nicht zu.

Dass das Schicksal ebenfalls diese Meinung teilt, höre ich an dem, als hastige Schritte hinter mir ertönen. Im Flur hallen sie wider, die Enge lässt sie in einer Vielzahl ertönen, die mich einengt. Unterbewusst beschleunige ich auch mein Tempo, ziehe es an, bis ich an der Grenze des Laufens angelange. „Hey, warte. Was wirst du denn so panisch“, fasst mir mein Kunde an die Schultern. Damit bremst er mich soweit ab, dass ich fast schon schwarze Spuren hinterlasse. Ein kleines Lächeln blitzt auf, aber verschwindet wieder, als ich zu ihm aufblicke. „Es tut mir leid. Ich hätte mich nicht so fallen lassen sollen. Es passiert nicht wieder, aber ich muss mir einen neuen Schützling suchen, ich kann dir ja nicht mehr in die Augen blicken, ohne dass mich Schuldgefühle heimsuchen. Du bist ja nun selbst ganz gut in der Mode. Einiges konnte ich dir bereits beibringen. Falls du weiterhin Hilfe benötigst, kann ich dir gewiss einige markante Namen nennen, die schon seit Jahren in diesem Business verweilen. Die sind mindestens so gut wie ich, wenn nicht sogar besser. Aber ich muss jetzt gehen. Das war einfach ein Fiasko, welches ich einfach nicht wahrhaben möchte.“ Er schnauft laut aus, damit ich mich wieder zu ihm hinwende. Sein Mienenspiel ist wirklich beeindruckend, fast könnte ich meinen Blick nicht mehr von ihm nehmen. Da er aber eine gewisse Größe besitzt, starre ich nun auf seine obere Brust. Er erwidert nichts mehr, sodass ich mich schleichend auf dem Absatz umdrehe und mit meinen High Heels in der Hand barfuß den Korridor entlanggehe. Leider habe ich die Ahnung, dass es kein Abschied für die Ewigkeit sein wird.

Der Hotelier sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, der Wachmann öffnet mir aber dennoch die Tür und lässt mich hinaustreten. Strahlender Sonnenschein begrüßt mich und ist das totale Gegenteil von meiner derzeitigen Gefühlslaune, schließlich bin ich gerade total verwirrt. Zuerst muss ich den Vertrag mit Anthonys Mutter auflösen. Was schreibe ich dazu? Ihr Sohn ist einer von der hilflosen Sorte? Ein richtiger Versager? Nein, das mache ich nicht. Ich bin zwar meistens gefühlskalt, aber nicht gemein. Ich tippe einfach ein „aus persönlichen Gründen“ dazu, vielleicht ist das Antwort genug. Ein Teilimage habe ich somit schon verloren, indem ich meinem ersten Kunden abgesagt habe, nach nur zwei Monaten. Schon traurig, aber was sein muss, muss sein. Momentan verlangt mein Herz danach, die Arbeit ruhen zu lassen, sogar eine Auszeit zu nehmen. Die Sonne hier genügt nicht als Antwort, vielleicht sollte ich dann in das Land der tausend Seen. Finnland, um genauer zu sein. Dort oben soll eine Idylle vorherrschen, die kein anderer Staat besitzt, möglicherweise findet sich in meinem Laptop auch eine Anfrage von einem finnischen Modeamateur? Ich muss ihn einmal durchsuchen, um das machen und buchen zu können. Bestimmt lässt sich etwas herausfischen, dann geht es ab in die Zukunft, ein Neuanfang muss her. Endlich trenne ich mich einmal von Paris und werde damit international. Das tut sogar meiner Karriere gut. So schlimm wird es schon nicht werden.

Mitten in der Nacht lasse ich meinen Laptop hochfahren, den Nachmittag und den Abend habe ich verschlafen. Musste schließlich die Stunden der Übelkeit wettmachen und konnte nichts gegen die anbahnende Müdigkeit machen. Mein Widerstand lässt sowieso zu wünschen übrig, sonst hätte ich keine Beinahe-Nacht mit einem wildfremden Mann verbracht. Sogar jetzt überkommen mich noch Schuldgefühle, die mich eigentlich kalt lassen sollten. Schließlich war es nichts Berufliches, sodass man Privates von der Arbeit trennen sollte. Möglicherweis liegt das Fehlen meiner sonst so gewohnten und berühmt berüchtigten Professionalität auch an Anthony. Er hat meiner Art anscheinend nichts Gutes gebracht. Solche Personen soll es auch geben, die einem unter die Haut fahren, als wären sie ein Messer in Rama. Ohne einer gewissen Anstrengung fahren sie hinein und verletzten denjenigen oder diejenige. Was soll man da noch von sich geben? Natürlich aus den Resultaten einer Übelkeit, lache ich innerlich. Ich drucke den Vertrag aus, um ihn zu unterschreiben, nur dass ich ihn wieder einscannen kann und ihn mit der E-Mail an seine böse Hexenmutter sende. Warum eine solch schreckliche Kreatur ausgerechnet mich zur Modeberaterin gewählt hat, lässt mich immer noch an ihren gesunden Menschenverstand zweifeln.

Bis drei Uhr morgens durchsuche ich mein Postfach, bis ich eine Person aus Finnland ausgewählt habe. Nicht nur Franzosen, bzw. Amerikaner eifern um mein Können, anscheinend bin ich auch in Resteuropa nicht gerade unbekannt. So haben mich tatsächlich drei finnische Personen angeschrieben, die entweder selbst Hilfe brauchen, oder mich für Familienmitglieder benötigen. Ich schreibe einer jungen Frau zurück, die es gerade in die Top Ten, der bestverdienenden Frauen geschafft hat und schicke ihr einen Vertrag zum Unterschreiben. Leider muss ich mich nun einige Tage gedulden, da ich ihr eine zweiwöchige Frist gegeben habe. Meine Ungeduld soll mich schließlich nicht benachteiligen, nur weil Paris, die Stadt der Liebe, zu meiner sprichwörtlichen Hölle geworden ist. Gefühle dürfen mich in nächster Zeit nicht mehr verwirren, da demnächst eine Auszeit für drei Monate von Frankreich geplant ist. Ich komme sobald nicht mehr zurück, ich werde aus der Ferne das Treiben beobachten. Der neueste Stand in Paris ist fast genauso wichtig, wie die Politik eines Landes, wird doch viel in dieser Szene beschlossen, was nicht in die breite Masse gelassen wird. Es ist wichtig, Informationen genau richtig zu dosieren, damit die Leute die Modebranche mit Faszination betrachten und nicht mit purem Ekel.

Das Bett lädt mich ein, eine kurze Nacht darin zu verbringen, ohne dass mich Sorgen um die Zukunft plagen. Die flauschige Decke beruhigt mich zwar nicht im Geringsten, jedoch blicke ich auf die Decke hinauf, die ich mit der geringen Beleuchtung gerade so noch erkenne. Sie ist in einem wunderschönen azurblau gehalten, aber mit verschiedenen Grün- und Schwarztönen vermengt, die ineinander hineinfließen, wie ein Strom in das offene Weltmeer. Genau in diesem Sinne vermischt sich alles zu einem großen Ganzen, man kennt nur das Produkt, aber nicht die Einzelteile, die die Bausteine sind. Wieso mustere ich eine Decke, die ich schon zigmal in meinen Gedanken auseinander geteilt habe. Fragen über Fragen stellen sich mir heute, die ich nicht beantworten kann. Die Frage nach dem Sinn des Lebens wäre ebenso in meinen Fragenkatalog, der ich heute sicherlich nicht nachgehe. Nun ist es genug, dass ich mich dem Sinnieren hingebe, macht doch alles keinen Sinn. Ha, gerade fehlt mir doch überall der Sinn.

Mit Schwung werfe ich mich auf die andere Bettseite, es ist so kalt hier. Schade, dass es niemanden gibt, der mich mit seiner Körperwärme umgeben möchte. Wahrscheinlich wollte ich gestern mit „Wayne“ mit, da mir die menschliche Wärme abgeht, jedoch sollte ich mich damit abfinden, dass ich nie einen Freund finden werde. Trotzdem werde ich in zwanzig Jahren eine Ikone sein, zu der jeder wegen der beruflichen Bildung aufblickt und mit Staunen betrachtet. Ich habe in den letzten zehn Jahren hart geschuftet, um mir diesen Lebensstandard leisten zu können, da habe ich mir auch einen gewissen Grad an Anerkennung verdient. Die Liebe bleibt demnach auf der Strecke, die so viele Menschen miteinander verbindet, aber mich vergessen hat. Man soll niemals aufgeben, haben meine Eltern damals gesagt, jedoch sind sie mit der Zeit gegangen, wie die Hoffnung auf die Liebe.

Ich könnte weiterhin im Pessimismus versinken oder eine traumreiche Nacht genießen. Der zweite Teil hört sich vielversprechend an, aber lässt sich nicht so einfach einstellen. Dreimal atme ich tief ein und langsam aus, um den Schlaf vorzubeugen. Tatsächlich klappt dieses Verfahren und lässt mich in das Nachtreich schlüpfen, um den Alltag zu entfliehen.

Dass der nächste Morgen etwas mit sich bringt, hätte ich mir bereits beim Aufwachen denken könne. So wache ich vor dem Wecker, den ich auf acht Uhr gestellt habe auf und bin hellwach. Nach nur drei Stunden Schlaf ist das nicht gerade normal, auch wenn ich den Tag vorher halb verschlafen habe. Ebenfalls ist der größte Teil der Decke im Bereich meiner Füße, sodass ich oben friere, aber unten in einer gefühlten Sauna bin. Der Schweiß verwandelt sich somit von einem Eisberg zu einer Pfütze. Pfui. Strampelnd entferne ich das Ungeheuer über mir und stakse in das Badezimmer. Darin erkenne ich das pure Grauen meiner selbst im Spiegel und möchte am liebsten wieder die Augen schließen. Was hat das alles nur zu bedeuten? Sollte dies nicht ein Neuanfang werden? Falsch, erst in Finnland wird es ein Start in ein neues, erfolgreiches Leben sein, das meine Seele auf Reset fallen lässt. Nichts anderes wird geschehen, die Arbeit bleibt gleich.

Als ich in der Küche stehe, die Kaffeemaschine mahlt im Hintergrund, blicke ich auf die Uhr. Jetzt ist es Punkt acht Uhr und ich wundere mich über das komische Gefühl in meiner Bauchgegend. Als es an der Tür klingelt, nimmt das Unwohlsein nur noch zu. Langsam drücke ich die Türklinke nach unten und öffne das massive Holz ein Stück weit. Er ist dahinter. Schnell schlage ich sie wieder zu und lasse mich an ihr nach unten gleiten. Mit beiden Händen vergrabe ich meinen Kopf zwischen den Knien. Was habe ich nur getan? Er ist doch nur ein Kunde. Oder doch mehr? Ich bin verwirrt.

 

 

11. Kapitel

 

Der Gedanke, dass Anthony vor meiner Tür wartet, lässt mich nicht mehr zur Ruhe kommen. Mein Herz schlägt gehetzt gegen den Brustkorb, droht fast rauszuspringen vor Panik. Blut rauscht wasserfallartig durch meine Venen, meine Haut zerreißt gefühlt durch den Druck. Ich bin es nicht gewohnt, mein Herz spüren zu lassen, es in Gefühlen zu tränken. Dadurch kenne ich auch keine notwendige Maßnahme die ich ergreifen könnte, außer natürlich den beiden Optionen, ob ich entweder vor der Tür sitzen bleibe oder sie zögerlich öffne. Da ich nicht umsonst durch meine dominante Ader bekannt bin, reiße ich das Holz bis zum Anschlag auf. Möglicherweise blicke ich einem Teufel drein, aber das ist mir im Moment egal.

Als ich ihn nicht sehe, gehe ich einen Schritt nach vorne, um ihn vielleicht doch noch zu erwischen. Dabei stolpere ich über ein Objekt, es lässt mich wie ein Sack Kartoffeln zu Boden fallen. Dabei lande ich zu meiner Überraschung ziemlich weich, jedoch ertönt ein lautes Stöhnen unter mir. Mit beiden Ellbogen stütze ich mich ab und erkenne zwei Paar Schuhe vor mir. Sehr schön. „Ines, könntest du bitte von mir runtergehen? Du bist nicht gerade ein Fliegengewicht, wenn du mich nicht falsch verstehst. Frauen tendieren ab und zu dazu.“ An Einfühlungsvermögen fehlt es ihm in voller Linie, dennoch verzeihe ich es dem Großen unter mir. Mit Schwunge setze ich mich auf und klatsche meine Hände aus der Laune heraus auf seinen Bauch. Ein Klatschen und ein entsetzter Schrei lassen mich hochspringen und mit vollen Gewicht auf seinen Brustkorb fallen. „Also, bitte, um Himmels Willen, geh runter von mir. Du machst mich fertig! Echt, jetzt. Das ist kein Witz. Wenn du jemals einen Menschen aus dem Meer retten solltest, musst du einfach nur das machen und das ganze Wasser ist aus seiner Lunge, wie mit einer Pumpe.“ Immer noch schweige ich zu seinem Statement. Gerade sehe ich keinen Grund dazu, mich zu seinen Kommentaren zu äußern, schließlich muss ich noch ein wenig von meiner Würde behalten, die ich momentan wie Gratis-Häppchen an den Mann bringe. Ein rasender Umsatz, wenn ich Geld dafür verlangen würde.

„Willst du dich nicht entschuldigen? Das wäre jetzt wirklich angebracht“, beschwert sich der Körper unter mir. Ich stehe ja schon auf. Meine wackeligen Beine zittern leicht, sodass ich mich vor Anstrengung wieder auf ihn fallen lassen muss. Dabei treffe ich aus Versehen seine hervorstehende Nase, wodurch sein Kopf zurückschnellt. Daraufhin werde ich von zwei Händen gehalten, die mich auf einen gewissen Abstand zu seinem Oberbereich bringen. „Bitte, du quälst mich. Willst du mich um den Verstand bringen? Jetzt sag endlich etwas!“ „Ja, ich bringe dich gerne um den Verstand“, reize ich ihn. Dass es anscheinend gereicht hat sein Gemüt zu erhitzen, werde ich Zeugin, als er seine Arme über den Kopf schlägt und ihn darunter begräbt. „Gott, lass mich sterben. Was habe ich getan, um das zu verdienen.“ „Nicht viel, aber du bist vor meiner Tür gesessen und hast dich selbst zum größten Opfer gemacht. Ich bin nicht schuld, dass ich gestolpert bin, konnte ja nicht ahnen, wer unter mir ist.“ Die zweideutige Ansage lasse ich mal dahinstehen, denn, wenn ich in Finnland bin, muss ich keinem mehr Rechenschaft leisten. Stattdessen werde ich mich in dem Land der tausend Seen mein Haupt im Gewässer wegen der heutigen Peinlichkeit ertränken. Ja, die Suizidrate steigt weiter in diesem Jahr, und ich gebe meinen Senf dazu, nur weil ich meine Verwirrung nicht kontrollieren kann. Ach, das Leben einer fast Dreißigjährigen birgt kuriose Überraschungen, auf die es keine richtigen Lösungen gibt. Nur Alkohol hilft jetzt noch. Mit dem letzten Respekt, denn ich noch bewahrt habe, hieve ich mich nach oben, wobei ich meinen Po direkt in die Luft hebe, was mir leider zu spät auffällt. Um mir weitere Schamgefühle zu ersparen, bringe ich es endlich fertig, in meine Küche zu steigen, um mir eine Flasche Rotwein zu öffne. Das Atmen der Flasche spare ich getrost ein und setze die Flasche direkt an den Mund. Diese wird mir allerdings weggenommen und zur Seite gestellt. „Wenn jemand zum Alkohol greifen muss, bin ich das, nicht du. Wer musste ein schweres Fliegengewicht ertragen, obwohl ich dir eigentlich nur einen Strauß Blumen bringen wollte? Der ist jetzt übrigens kaputt. Hier hast du die zerknitterten Blumen.“ Um mir das Desaster vorzuführen, oder unter die Nase zu reiben, zieht er den Bund hinter dem Rücken hervor und wirft ihn auf die Theke, auf die er sich danach auch setzt. Wie ein kleiner Junge mustert er mich, während er ein Schluck Rotwein nimmt. „Musst du mir auch noch die letzte Freude nehmen“, ziehe ich die Flasche an mich, um mir selbst die gegarten Trauben zu beziehen. Der leichte Kick des Alkohols, den ich seit dem Club eigentlich nicht mehr konsumieren wollte, hebt meine Stimmung von null auf elf. Endorphine werden in Massen ausgeschüttet, die mich zum Reden beeinflussen. „Warum bist du überhaupt hier? Habe ich dir nicht gesagt, dass ich dich nie wieder zu Gesicht bekommen möchte? Du machst alles schlimmer, als es tatsächlich ist. Wärst du ferngeblieben, wäre mir der Abschied leichter gefallen, Paris zu verlassen.“ Er sieht mich verärgert an. „Ich bin nur wegen dir hierhergekommen. Du bedeutest mir viel, du hast einen Platz in meinem Herzen bekommen. Ich habe in den letzten zwei Monaten viel von dir gelernt, dich zu schätzen gewusst, aber wenn du jetzt das Land verlässt, bist du für mich gestorben. Ich bin extra wegen dir zu deiner Wohnung gefahren, damit ich dich für eine Bleibe bei mir überzeugen kann. Wie ich sehe, bin ich dir nicht wichtig genug, um dein Kunde zu bleiben. Dann gehe ich halt wieder. Die Flasche nehme ich mit. Ihre Treue ist größer als deine jemals war“, schreit er mich vorwurfsvoll an. Tränen fließen über seine roten Wangen, die Augen sind vor Entsetzen weit aufgerissen, dabei kann ich ihm nicht einmal einen Vorwurf machen. Allerdings dreht sich bei mir ebenfalls das Rad, da ich wegen der emotionsgeladenen Atmosphäre die Tränendrüse nicht unterdrücken kann. „Dann geh doch. Du kannst mich mal!“, beleidige ich ihn sinnlos. „Das habe ich bereits. Ein weiteres Mal kann ich es sowieso nicht ertragen, schließlich muss meine Lunge noch mindestens zehn Jahre überleben, ohne dass sie zerquetscht wird, wie ein Apfel unter dem Huf einer Kuh.

Mit einem lauten Knacks schließe ich das Massivholz und lehne meine Stirn an ihr an. Langsam schlage ich mit dieser gegen die Tür und mache mir wegen meiner Dummheit Vorwürfe. Nur ich bin wie ein bescheuertes Mädchen, das nicht weiß wohin. Ganz verwirrt, eine kleine Frau, in einer kleinen Wohnung, nur das Herz wächst mit jeder Sekunde. Wir sind doch alle Opfer unserer Gefühle. Niemand kann uns vor ihnen retten, wenn sie uns um den Kopf bringen.

Ich muss weg von hier. Jetzt!

Der nächste Tag lässt nicht lange auf sich warten, schließlich schreit er mir mit Blitz und Donner förmlich entgegen. Dieser Urgewalt muss ich dennoch trotzen, da das Flugzeug bereits im Landeflug ist. Die tausend Seen werden mich wohl für das nächste Jahr beheimaten müssen, da ich einer Angestellten gesagt habe, dass ich eine einjährige Auszeit nehme. Die hat mir dann mit leerer Miene gemeint, dass auch sie das für angebracht hält, da ich sprichwörtlich von den Toten auferstanden bin. Leute sind schon nett heutzutage. Die folgenden Tage, Wochen und Monate werden zeigen, wie ich mich weiterentwickele. Vielleicht lerne ich sogar jemanden kennen, der nicht so …, eben wie Anthony, ist. Ich kann ihn einfach nicht beschreiben, denn es gibt keinen passenden Vergleich für seine herausragende Persönlichkeit. Wo bin ich nur wieder reingeraten? Keine Sympathie. Ich muss wieder mein Leben beginnen, es erneut strukturieren und mich von niemanden ablenken lassen. Wäre da eine Kur nicht angebrachter gewesen? Nein! Finnland ist und bleibt.

Die Koffer hinter mir herschleppende, versichere ich mich, dass alle Fenster geschlossen, alle Türen doppelt verriegelt sind, da ich – bis die Verwalterin kommt – auf der sicheren Seite sein möchte, dass nur gewaltsam in meine Wohnung eingebrochen werden kann. Wie gesagt, Vertrauen ist gut, Sicherheit besser. In Paris schlagen mal wieder Banden zu, die sich in der Houverstraße der Schönen und Reichen ein Vermögen versprechen. Man soll ja solchen Leuten nicht den Hoffnungsschimmer stehlen, aber die wertvollen Dinge sind in einem doppelten Tresor eingeschlossen, dessen Schlüssel in einem kleinen Tresor versteckt ist. Nicht einmal die Angestellte weiß davon, wie sollen es dann die Einbrecher wissen. Allerdings, wer kann sich schon in die Geister der Schurkenschicht hineinversetzen? Ich nicht, dazu läuft mein Leben gerade Richtung Chaos.

Am Flughafen angelangt, parke ich meinen Wagen in einer Halle, die mir kostengünstig erlaubt, diesen ein Jahr hier zu lassen. Einmal pro Woche lasse ich den Kundendienst damit eine gewisse Strecke von 20 Kilometer fahren und das Auto in einen einwandfreien Zustand versetzen. Pro erbrachter Leistung wird der Betrag von meinem Konto abgebucht, zusammen mit der Versicherung für das für den Zeitraum. Der Mann hinter dem Tisch druckt mir freundlicherweise die Bescheinigung aus sowie die Garantie, da ich die beiden bei der Abholung benötige. Die ganze Reise wäre so viel schöner, wenn mich jemand begleiten würde. Aber 1. Ich habe keine Freunde und 2. Anthony ist weg vom Radar, habe ich keine Auswahl. Ein wenig traurig ist mein Leben schon, aber dafür habe ich genügend Geld um ein Jahr Selbstfindung zu praktizieren, obwohl ich nebenbei noch arbeite. Auf diese Weise könnte alles klappen, aber ich habe ein schlechtes Gefühl dahingehend, dass bald etwas Schlimmes auf mich zukommen könnte. Und mein Fühlungsvermögen hat mich noch nie betrogen. Sollte ich lieber die Reise absagen? Nein, ich bin jung und dynamisch, ich muss etwas erleben, ansonsten kann ich mich gleich eingraben und dem Pfarrer eine Trauerrede zukommen lassen. Außerdem muss ich mich trauen, etwas zu tun, dass mich völlig aus der gewohnten Routine wirft, damit ich neue Komplexe erkenn kann und vielleicht sogar ein Unternehmen alá Laforgue aufbauen kann. Ja, so etwas in der Art und Weise schwebt mir schon lange vor. Ich bin keine Frau, die ihre Aquise und Expansion nicht erkennt. Ich weiß, dass zur Zeit alles nach Plan läuft und ich genügend Geld für ein eigenes Unternehmen besitze. Meine Hände müssen nur nach dieser einmaligen Chance greifen und schon gehört es ihnen. Leider steht mein blutendes Herz noch gegen diese Art von Selbstdarstellung.

Im Flugzeug bequeme ich mich in der ersten Klasse, lehne meinen Sitz zurück und schließe bedächtig meine Lider, damit die Migräne endlich aufhört zu stechen. Aber da ich bereits weiß, dass sie nur schlimmer, anstatt besser, werden kann höre ich auf zu wünschen, und entspanne meine gesamte Kopfmuskulatur. Nichts leichter als das, sitze ich fünf Minuten da, bis ich es schlussendlich aufgebe und versuche die enormen Hitzewallungen und die pochenden Schmerzen, die sekündlich ins Maximum steigen, zu unterdrücke. Da momentan alles schief läuft, bin ich nicht überrascht, als sich nichts daraus ergibt. Der Mensch sollte endlich aufhören zu hoffen und dem Leben ins Gesicht sehen. Ja, dass sollte ich wirklich tun. Ich werde wegen meiner selbstsüchtigen, egomanischen Ader nie jemanden Gefühle wiedergeben, die er sich so sehnlichst wünscht. Ich bin dafür viel zu kalt und steinern. Der Stock im Gesäß nimmt schon meine ganze Wirbelsäule ein, so sehr ähnle ich dem typischen Biedermeier, der sich nicht verändern lässt. Eigentlich sollte ich die purste Form der Kreativität sein, aber die empfinde ich seit dem Abschied von Anthony nicht mehr. Meine Seele ist grau und düster geworden, hat sich in Frankenstein Innerstes verwandelt und findet keinen Weg mehr zurück. Wie immer frage ich mich, wie ausgerechnet mir so etwas widerfahren kann. Es gibt über sieben Milliarden Mensch und ich bin der Treffer? Da kann doch etwas nicht stimmen.

Plötzlich schlägt mein Herz gegen den Brustkorb und meine Hände zittern. Erwarte ich jemanden? Eigentlich nicht, da ich keinen kenne, der ebenfalls nach Finnland möchte. Ein Blick aus dem Fenster verrät mir, dass wir immer noch nicht abgehoben sind, obwohl die Maschine schon fünf Minuten Verspätung innehat. Als ich einen Augenaufschlag Richtung Boden sehe, erfahre ich auch warum dies der Fall ist Soll ich aus dem Flieger steigen und so das Schlimmste vermeiden? Oder mich den Fehlern der Vergangenheit stellen?

12. Kapitel

 

„Was machst du hier“, wispere ich. Meine Stimme versagt bis zum Ende hin. Mein Verstand kann es immer noch nicht verarbeiten, dass er hier ist. „Ich hätte gedacht, dass ich dich nie mehr sehen werde. Ich habe bereits mit dir abgeschlossen.“ Tränen strömen über meine Wangen, lassen gerötete Haut hinter sich. Meine Hände schnellen hervor, vergraben mein Gesicht in ihnen und blenden die Umgebung aus. Nur meine Ohren sind einzig und alleine für die Sinneseinwirkung da, ansonsten konzentriere ich mich nur darauf, nicht verrückt zu werden. Somit fällt es mir wirklich schwer, ihn nicht am Kragen zu packen und ihn hochkant rauszuschmeißen.

Das Flugzeug tönt mit lautem Lärm und beschleunigt auf der Strecke. Nun ist der letzte Ausweg versperrt und ich kann nichts anderes tun, außer an ihm vorbei zu sehen. Ich möchte ihm nicht in die Augen sehen, nur um zu erkennen, dass mein Leben sinnlos ist. Noch nie habe ich mich so leer gefüllt, wie in diesem Moment. Warum es immer Sekunden sein müssen, die unsere Zukunft schwerwiegend verändert? Gerade fällt es mir nicht wirklich leicht zu sinnieren, schließlich ist Anthony ziemlich ablenken. Er räuspert sich andauernd oder brummt verständnislose Wörter, die wohl Sätze darstellen sollen. Keine Ahnung, wie es jederzeit der Fall ist.

„Hey, komm her. Lass dich umarmen. Ich kenn das, wenn man Entscheidungen treffen muss, denen man am liebsten aus dem Weg gehen würde. Aber ich sitze vor dir und du hast keine Fluchtmöglichkeit. Man kann sagen, der Weg zu mir, ist das Ziel. Schatz, warum weinst du so viel? Das beunruhigt mich wirklich.“ Könnte er noch abschreckender sein, als mit diesen Sätzen? Männer haben Herzen aus Stein, keine Gefühle können sie erschüttern, darum sind sie auch solche Klötze. Ach, was mach ich überhaupt hier. Langsam frage ich mich wirklich, ob ich dazu fähig bin, zu atmen, ohne genervt zu klingen. Gott, kann Anthony bitte aufhören, mich am Rücken zu betatschen? Die Massage unter meinen Schulterblättern kann er sich sparen, ansonsten bekommt er eine im unteren Bereich.

„Anthony, Mr. Fone, hören Sie bitte auf. Momentan bin ich nicht in der Laune, Sie zu ertragen. Bitte verstehen Sie, ich bin noch nicht dazu bereit und möchte ein Jahr mit mir selbst verbringen, um die tiefsinnige Art und Weise der letzten Jahre zu erforschen. Bevor ich wieder richtig anfangen kann, muss ich mich selbst finden. Jetzt ist die Zeit gekommen, in der ich weiß, was ich will und nicht nur auf die Karriere aus bin.“ Er sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und schmunzelt. Wie ich erkennen kann, tut er dies mit purer Absicht, um mich gnadenlos zu verwirren. Anthony muss sein männliches Ego stärken, wobei er es grundlos bei mir auslebt.

„Warum siezt du mich schon wieder? Haben wir nicht einmal miteinander vereinbart, dass du das nie wieder tust? Als Kunde sollte man doch einen maßgeblichen Einfluss auf die Stilberaterin haben, die offen ist, für alles. Leider habe ich mich erfolgreich in sie vernarrt sowie einen Teil meines Herzens an sie verschenkt. Also habe ich keine andere Wahl, als ihr zu folgen. Egal wo sie hinfährt, ich komme mit. Ich werde sie nie wieder allein lassen. Wo du auch hingehst, ich werde mit dir sein!“ Jetzt habe ich ihn an meiner Backe. Allerdings verstehe ich seine Versessenheit auf mich nicht ganz. Zwar ist mein Kleidungsstil erste Sahne, dennoch lassen meine körperlichen Aspekte zu wünschen übrig. Bauch-Beine-Po kann man vergessen, da mein Bauch weder durchtrainiert noch gestrafft ist, meine Beine besitzen Höhen und Tiefen sowie mein Po, der an das Gesicht einer runzligen, alten Dame erinnert. Ein Wahnsinnsbody eben. Mein Kopf bis zum Hals ist geprägt von einer spitzen Nase, zwei stechend blauen Augen und einem dünnen Mund. Vielleicht braucht er aber auch nur eine Brille? Damit wäre ihm sicherlich geholfen.

Die restliche Fahrt erwidere ich nichts auf seine Worte, schließlich möchte ich meine Unsicherheit ihm gegenüber nicht preisgeben. Dazu ist mein Ego einfach zu stolz. Als eine Durchsage durch den Lautsprecher ertönt, höre ich, wie die Stimme die Landung ankündet, was verheißt, dass wir unseren Gurt anlegen müssen. Meine Hände greifen danach, ehe sie von zwei Männlichen zur Seite geschoben werden. Was soll denn das, frage ich Anthony mit meiner Mimik. Meinen verwirrten Blick sieht er nicht, oder will er nicht sehen, da er das Gurtband nimmt und es ihn die Vorrichtung hineinsteckt. Langsam wird es mir hier ein wenig zu intim.

„Warum genau behandelst du mich wie ein Kleinkind, das sich nicht mehr anschnallen kann?“, frage ich ihn genervt. Zunächst schaut er überlegend aus dem Fenster, das den Blick immer weiter auf die Erde senkt, woraufhin er mir erklärt, dass er eigentlich das Gegenteil im Sinn hatte. „Da du vorhin nichts auf meine Aussage geantwortet hast, muss ich dich wohl etwas bezirzen, damit du einsiehst, dass wir wie geschaffen füreinander sind.“ Was? Sein Vogel muss wohl Kinder bekommen haben, ansonsten würde er nicht so etwas Seltsames von sich geben. Der Mann hat eigentlich was, das muss ich ihm lassen.

„Okay. Aber wenn ich dir nun sagen würde, dass du mich bitte in Ruhe lässt, würdest du das tun?“, frage ich hypothetisch. „Nein, ich tue nur, was für dich am besten ist. Das gehört definitiv nicht dazu, da es ein Leben ohne mich bedeutet. Manchmal muss man egoistisch handeln, um andere Personen zu beschützen.“ Seine Weisheiten kann er für sich behalten, auch wenn sie romantisch klingen. Wenigstens bin ich nun schon in Finnland. „Wer übernimmt eigentlich deine Firma in der Zwischenzeit? Du bist ja nicht zuhause, um deine Leute zu hetzen und zu schikanieren, wie es die eingesessenen Chefsessel gerade zu bevorzugen.“ Er sieht mich verärgert an, als würde er die Wörter kaum über die Lippen bringen. Wahrscheinlich habe ich die Hälfte seiner Antwort bereits erraten, bevor er mir etwas weismachen kann. „Mein kleiner Bruder übernimmt für ein paar Wochen als Vertretung. Da er schon seit etwa fünf Jahren bei mir arbeitet und sich bestens in der anfallenden Tätigkeit auskennt, ist er somit die perfekte Urlaubsvertretung. Meine Firma in den Händen meines kleinen Bruders, wer kann sich etwas Schöneres vorstellen.“ Anscheinend muss er kein besonders gutes Verhältnis zu seiner Familie pflegen. Alleine schon seine Mutter, die einen anstrengenden Charakter mit sich bringt, egal zu welcher Gelegenheit immer das schrecklich Falsche sagt. Sein Vater ist schon eher der Verständnisvolle, sein Bruder der Stille, woraufhin seine Familie genauso schräg ist wie meine. Ach, wie sie damals nur waren. Irgendwie vermisse ich die Zeiten. Aber was vergangen ist, bleibt im Grab. Außer sie erstehen wie Frankenstein, mit einem operierten Herz und erschrecken die Menschheit. Darauf möchte ich lieber verzichten, da es mein Leben etwas Wind geben würde, den ich nicht erleben will.

„Bevor du fragst, ich möchte nicht über meine gespannten Verhältnisse sprechen. Auch wenn du die Frau meiner Träume bist und ich dich zum Altar mit violetten Gladiolen führe, musst du zuerst mein ganzes Vertrauen gewinnen, da es einfach zu viele Menschen gibt, die dir nur einen Dolch in den Rücken rammen wollen. Ich habe bereits früh genug gelernt, niemanden einen Deut Aufmerksamkeit zu schenken, wenn sie es nicht wollen. Außer bei dir natürlich, für dich überschreite ich Grenzen. Schon mein Großvater hat gesagt, dass man für einen höchstens einen Laib Brot kaufen soll, da man diesen schlussendlich noch selbst verzehren kann.“ Nun ja, ich bin nicht ganz so misstrauisch, wie er es selbstverständlich pflegt. Mein Verstand hätte ihn auch nie in diese Kategorie getan, da er so aufgeschlossen auf mich wirkt. Vielleicht ist er eine totale andere Person, vielleicht ist etwas Tieferes in ihm.

„Da bin ich ganz deiner Meinung. Man soll niemanden belagern, der es auch nicht möchte. Deshalb solltest du in das nächste Flugzeug Richtung Frankreich steigen und mich endlich in Ruhe lassen. Das wäre ein Vorschlag, der mich imponieren würde.“ „Jetzt lass den Streit mal Vergangenheit sein. Ich möchte nicht mehr darüber reden, schließlich will ich etwas Zeit mit dir verbringen, um dich besser kennen zu lernen. Nur mit der Zeit können wir uns lieben, es passiert nicht gleich zu Beginn.“ Fast könnte er ein Philosoph werden, so wahre Worte spricht er.

Gott, warum muss er mir gerade passieren. Kann er nicht irgendeine andere Frau komplementieren? Jedenfalls werde ich mir nun ein Taxi nehmen und in mein Hotel fahren. „Anthony, es tut mir echt leid. Aber ich muss jetzt los. Bis später. Vielleicht.“ Eilig hetze ich zum nächsten Taxistand und winke auf die Straße hinaus. Während meiner Hast werfe ich einige Leute um, die sich daraufhin lautstark beschweren. „Es tut mir leid“, schmeiße ich wie Äpfel von Bäumen um mich. Als ich endlich meine Taschen im Kofferraum verstauen kann und mich auf dem Rücksitz gleiten lassen, werde ich Zeugin einer Überraschung. Ein David sitzt neben mir. Toni. Michelangelo wäre begeistert von seiner äußerlichen Facette, wie er mich ansieht und dabei nachdenklich wirkt.

Offensichtlich stehe ich zu lange an der Tür, wodurch sich der Fahrer erkundigt, ob ich wirklich mitfahren möchte. Als Erwiderung lasse ich mich neben meinen Adonis gleiten, womit ich indirekt auch ihn akzeptiere. „Ines, warum kannst du nicht einfach offen sein. Wieso lässt du keine Gefühle zu? Eigentlich möchte ich dir nur helfen, dich unterstützen, Liebe zu finden. Wir beide sind Personen, von denen man nicht glauben kann, dass sie eine Beziehung führen können. Jedoch können wir der Beweis für das Gegenteil sein. Wir machen das Unmögliche möglich.“ Das ist ja schön und gut, aber wie sollen wir das bewerkstelligen? Händchen halten, Küsschen links und Küsschen rechts und ein wenig Vertrautheit werden uns nicht näherbringen. Doch, was habe ich zu verlieren? Mein soziales Leben ist so gut wie nicht existent. Nach zehn Jahren auf der Karriereleiter hatte ich weder eine ernsthafte Beziehung noch ein glückliches, fröhliches Leben. Dieses bestand vor allem darin, dass ich die Zeit mit Arbeit töte, Kunden glücklich machte und mich damit vernachlässigte. Mein Nachbar hat recht. Diese kurze, gedankliche Zustimmung, wendet mein Gesicht seinem zu und meine Augen treffen Seine. Blau trifft auf braun. „Ja, das können wir schon machen“, stimme ich ihm zögerlich sowie etwas unsicher zu. Darauf lächelt er mir zu und zieht mich in eine Umarmung. Solche Intimität bin ich nicht gewohnt, schließlich wohne ich schon seit Jahren allein in einer großen, dennoch exquisiten Wohnung. Ach, wie schön wäre es jetzt zuhause, wo ich meine Ruhe hätte. Was wäre gewesen, wenn ich niemals das Angebot von Anthonys Mutter angenommen hätte? Dann würde ich niemals in dieser Situation sein, niemals eine fiktive Beziehung mit jemanden eingehen müssen, alleine wegen meinen bröckelnden Selbstwertgefühl.

In meinem bereits vorher gebuchten Hotel angekommen, schreite ich mit langen Schritten zur Rezeption und erhalte den Schlüssel. Anthony streitet darum, noch eine kleine Abstellkammer zu bekommen, da das Gebäude gerade saniert wird, womit nicht die Gesamtanzahl an Räumen zur Verfügung stehen kann. Dennoch versucht er sich mit Komplimenten in das Herz der Dame zu schleichen, was aber schrecklich missglückt. Offenbar klappt das nur bei mir, da mein Herz bei jedem seiner Worte ein wenig schneller schlägt. Leider kann ich dieses sonderbare Gefühl noch in keinen Bereich meines Lebens einordnen, es fühlt sich komisch an.

Als wir endlich soweit sind, gehen wir zum Aufzug, der aber zurzeit ebenfalls wegen den Modernisierungsmaßnahmen außer Betrieb ist. Nur sind die unzähligen Stufen ein kleines Hindernis für meine Arme. Das schwere Gepäck lässt meine Muskeln bereits zittern, beim bloßen Gedanken daran. Los geht’s! Und eins, zwei, drei, puh. Mal abstellen und durchschnaufen. Vier, fünf, sechs, sieben, ach. Ich kann nicht mehr. Leider habe ich nie zu den Sportlichsten gezählt. „Komm, lass mich das übernehmen“, mit dieser Aussage nimmt er mein Gepäck und trägt es die Treppen und Etagen hoch. Als wäre es keine Tonne, sondern ein Milligramm. Manche Männer sind schon sonderbar, wenn sie sich beweisen wollen. Sogar self-made-Millionäre haben noch Komplexe über ihre Stärke, obwohl in der modernen Zeit eigentlich nur die Mentalität zählt. Es war möglicherweise in der Steinzeit der absolute Frauenmagnet, allerdings ist es für die emanzipierte Frau eher abtörnend. Oder besitze nur ich dieses Gefühl? Wer weiß, ich weiß es nicht so ganz genau. Einerseits kann ich darüber lächeln, anderseits liebe ich es, wenn er mich unterstützt. Mit seiner Gegenwart und seinem Handeln fühle ich mich geliebt. Mit ihm fühle ich mich wichtig und wertgeschätzt auf dieser schnelllebigen Welt.

Impressum

Texte: Keira Fight
Bildmaterialien: Keira Fight
Tag der Veröffentlichung: 10.04.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme es allen, die mit offenen Augen durch das Leben gehen.

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