Verlorene Zeit
„Ein Geheimnis mit einem Menschen zu teilen, ist das vertrauensvollste Geschenk. Die Zeit mit einem Menschen zu teilen, ist das kostbarste Geschenk.“ (Sinan Gönul, *1973)
Ein junger Mann eilte zielstrebig den Krankenhausflur entlang und öffnete dann vorsichtig eine der Türen zu den Patientenzimmern. Als er bemerkte, dass der dort untergebrachte ältere Mann sich offenbar gerade im Halbschlaf befand, holte er sich lautlos einen Stuhl an dessen Bett heran und setzte sich. Doch der Mann musste dennoch seine Anwesenheit im Unterbewusstsein gespürt haben. Er öffnete langsam seine Augen, denen man auch als Laie die schwere Krankheit ansah, hob mit einiger Mühe seinen Kopf etwas an und reichte dem jungen Mann seine Hand, während er sich mit dem anderen Arm abstützte.
„Schön, dass Du gekommen bist, mein Junge,“ begann er nach einem Hüsteln dann mit ziemlich gebrochener Stimme,“ ich weiß, wie wenig Zeit Du im Moment hast. Deine Prüfungen müssen ja wohl unmittelbar bevorstehen, oder? Aber mich bedrückt etwas, was ich Dir unbedingt sagen möchte, solange ich es noch so kann…Ich spreche ja sonst wenig über das,
was mich innerlich bewegt. Doch du sollst erfahren, dass ich die glücklichste Zeit in den Jahren verlebt habe, die nach der Hochzeit mit meiner Gisela seitdem vergangen sind.“ Nach einer kurzen Unterbrechung fuhr er mit klarerer Stimme fort. „Wie du ja weißt, hatten wir beide eine wenig glückliche Ehe hinter uns. Aber ich bin sehr froh, dass du mir als einzige gute Erinnerung daran geblieben bist. Die Jahre des Alleinseins, die der Scheidung damals folgten, brachten nicht die Erfüllung, die ich eigentlich erwartet hatte nach der Ablegung der Fesseln, die ich während meiner Ehe mit deiner Mutter zum Ende hin verspürt hatte. Ja, ich konnte endlich dahin reisen, wo sie nie mit mir hin wollte. Ich konnte mich auch mal ungestört ein ganzes Wochenende vom Arbeitsstress erholen, indem ich nur zum Essen aus dem Bett stieg….Und vieles andere konnte ich machen, spontan entscheiden, ohne Rücksicht auf sie. Lange Radtouren in die Nachbarländer oder schöne Landstriche unserer Heimat hatte ich mir zu jener Zeit oft erträumt, aber nie kam es dazu. Wenigstens haben wir in den Schulferien einige Fahrten in ferne Länder unternommen. Denkst du auch noch manchmal gern daran zurück, mein Junge?
Doch das alles ist kein Vergleich damit, wenn man mit einer geliebten Partnerin etwas unternimmt, gemeinsam erlebt. Man sieht die Welt gewissermaßen mit vier Augen, ganz anders als allein. Das kannst du mir wirklich glauben.
Ich kann mir vorstellen, mein Sohn, dass du dich vielleicht mit ähnlichen Gedanken trägst, wenn du erst die Prüfungen hinter dir hast. Ich habe sehr wohl mitbekommen, dass es zwischen dir und deiner Ilona längst nicht mehr so ist, wie zu Beginn.“
„Ach lass mal, Vater, mach dir doch darüber keine Gedanken. Werde lieber wieder richtig gesund. Das renkt sich bestimmt irgendwann wieder ein zwischen uns,“ versuchte der junge Mann seinen Vater zu beruhigen.
Aber so recht wollte er selbst auch nicht an seine Worte glauben; zu viel stand bereits zwischen ihnen beiden. Und ja, immer öfter dachte er daran, wie gut es doch wäre, wenn er wieder Tun und Lassen könnte, wie es ihm behagte, statt immer wieder Rücksicht nehmen zu müssen….
Sein Vater begann erneut, „ weißt du, wenn ich mir keine Sorgen um euch machen würde, ginge es mir bestimmt etwas besser. So wie mir jetzt die Zeit allein als verlorene Zeit vorkommt, befürchte ich, wird es dir irgendwann auch mal klar werden, wenn es sich nicht mehr einrenken sollte bei euch. Die fast zwei Jahre, die ich leider verstreichen ließ, bevor ich meiner Gisela gestand, dass ausgerechnet ich derjenige war, der auf ihren Brief geantwortet hat, den sie damals auf meine Kontaktanzeige geschrieben hatte, sind eine verlorene Zeit für uns beide, in der wir schon glücklich hätten sein können. Aber ich bat sie in meiner Antwort um Geduld, konnte ich ihr doch nicht schreiben, dass wir uns kennen, dass wir uns dienstlich oft telefonisch sprachen oder bei Beratungen manchmal sahen, denn unsere Abteilungen arbeiteten eng zusammen. Ich hatte ganz einfach aus meiner ersten Ehe heraus die Befürchtung, dass eine solche Nähe nicht nur zu Hause sondern nun auch noch in der beruflichen Tätigkeit erst recht nicht gut gehen konnte. Verstehst du das, mein Sohn? Dieses Risiko eines nochmaligen Scheiterns wollte ich nicht eingehen, so sympathisch und liebenswert sie mir auch auf diese Distanz bereits erschien.
So vergingen fast zwei Jahre, bis ich mir endlich ein Herz fasste und es ihr auf einer gemeinsamen Autofahrt zu einem auswärtigen Lehrgangsort dann beichtete, dass ich es gewesen war, der sich nicht getraut hatte, sich gleich zu offenbaren, dass wir uns kennen. Da ich danach noch jemand mitnahm, konnte sie mir nicht gleich antworten und ich dachte den ganzen Tag daran, wie sie wohl reagieren würde. Doch als ich sie dann abends wieder zuletzt an ihrer Wohnung absetzte, verabredeten wir gleich unser nächstes Treffen. Wie war ich erleichtert, weil es endlich raus war und sie mir nur wenig böse.
Seitdem haben wir unendlich viel Zeit gemeinsam verbracht, haben – wie du ja weißt – bald geheiratet, sehr viele Reisen unternommen und sind nun den Sommer über in unserem Garten täglich glücklich zusammen.
Wir haben uns geschworen, in den uns verbleibenden Jahren so viel wie möglich gemeinsam zu machen, was uns nicht schwer fällt, da wir ja viele gemeinsame Interessen haben.
Aber den zwei Jahren, die ich gezaudert habe, denen trauern wir beide immer noch oft hinterher. Glaube mir, mein Junge, es gibt kein kostbareres Geschenk, als seine Zeit mit einem geliebten Menschen zu teilen. Das habe ich in meinem Leben erfahren und das wollte ich dir unbedingt mit auf den Weg geben. Bitte denke darüber nach, wenn du wieder nach Hause zu deiner Ilona gehst. Das habe ich auf dem Herzen gehabt, jetzt ist mir wohler. Und nun will ich mich wieder ausruhen. Ich wünsche dir viel Erfolg bei den Prüfungen und grüße bitte Ilona von mir.“
Sein Sohn drückte ihm fest die Hand zum Abschied. Man sah ihm an, dass die eindringlichen Worte seines Vaters ihn nachdenklich gemacht hatten. Ja, er würde sich mit seiner Frau aussprechen. Vielleicht könnte ja doch noch alles gut werden….jetzt hoffte er es wieder.
Texte: Yety.2008
Bildmaterialien: Coverfoto: Yety.2008 (Bahnhofsuhr von Metlaoui, Tunesien)
Tag der Veröffentlichung: 01.04.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Beitrag zur 2. Runde im Kurzgeschichten-Turnier 2012