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Mitschrift der 100. Sendung des „Literarischen Frühschoppens“ im Kulturradio

(vom 1. Januar 2011)



Ansagerin:

“ Meine sehr geehrten Zuhörerinnen und Zuhörer. Ich begrüße sie zur 100. Ausstrahlung des „Literarischen Frühschoppens“ recht herzlich und übergebe sogleich unserem Moderator, Herrn Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“ , das Wort.“

G. di Lorenzo:

„Ja, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, sie erwartet heute zur Jubiläumssendung ein besonderer literarischer Leckerbissen. Zwar konnten wir Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller aus terminlichen Gründen nicht zu uns ins Studio verpflichten, doch es ist uns gelungen, virtuelle Schaltungen nach London, Moskau und Zürich vorzunehmen. An den Mikrofonen dort sitzen in diesem Moment Karl Marx, Maxim Gorki sowie Hermann Hesse und Max Frisch. Eine direkte Leitung verbindet uns außerdem mit dem amerikanischen Schriftsteller Orsen Rega Card in Washington D.C.. Ich hoffe, meine Herren, sie können mich gut verstehen? Sie kennen das Motto der heutigen Sendung „WAS sollte WIE ausgesprochen werden?“ Ich verrate unseren Zuhörern sicher nicht zu viel, wenn sie dazu doch recht divergierende Thesen vertreten. Ich freue mich auf eine interessante Runde und schlage vor, dass der jüngste in dieser Runde, der 1951 in Richland bei Washington geborene Orson Rega Card zuerst das Wort erhält. Ihr Geburtsname ist eigentlich Orsen Scott Card, richtig?“

O. R. Card:

„Yeah, that´s right. Ich habe zu Ehren meines Grandfather dessen Namen angenommen. Ich möchte zu Beginn meines Beitrages nicht versäumen, meinen Diskussionspartnern meine Hochachtung für ihre Leistungen auszusprechen.
Es ist mir eine besondere Ehre, meine Herren, ihnen das einmal persönlich sagen zu können. Allerdings erwarten sie wohl nicht im Ernst, dass ich heute auch nur einen Deut von meiner Position abzurücken gewillt bin. Ich behaupte folgendes:
Zu meinen kostbarsten Besitztümern gehören Worte, die ich niemals über die Lippen gebracht habe.


Im Klartext ausgesprochen: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Dieser Spruch aus dem Volksmund dürfte auch ihnen nicht unbekannt sein. Er hat sich auf der Welt schon millionenfach bewährt. Was heißt das? Wenn ich etwas für mich behalte, also nicht ausspreche, dann erfährt die andere Seite nichts davon, kann also nicht willkürlich etwas damit anfangen, worüber ich möglicherweise keine Kontrolle mehr habe. Was ausgesprochen ist, wird zum Allgemeingut, gehört mir nicht mehr allein. Es entzieht sich meiner unmittelbaren Einflussnahme.
Das eben Ausgesprochene kann ich zwar zurücknehmen wollen, es bleibt aber im Raum. Ich ahne schon ihren Widerspruch, meine Herren. Das habe ich mir selbst eingebrockt, weil ich nicht geschwiegen habe. Ich muss nun die Konsequenzen aushalten....

G. di Lorenzo:

“Mister Card, darf ich noch ergänzend fragen, weshalb sie eigentlich unausgesprochene Worte als ihr Besitztum ansehen? Kann man die überhaupt besitzen?“

O. R. Card:

„Ich verstehe ihre Frage nicht so ganz. Nehmen wir mal die aktuelle Affäre mit den Indiskretionen von Wikileaks. Hätten die diplomatischen Mitarbeiter ihre wenig schmeichelhaften Charakteristika für sich allein genutzt und nicht in den Nachrichtenpool des Außenministeriums eingespeist, wo sie offensichtlich nicht sicher genug geschützt waren, dann würde nicht jeder außenpolitische Kontakt zu einem solchen Spießrutenlauf ausarten, wie er sich nunmehr darstellt. Die andere Seite hat nun Kenntnis davon, wie sie in Wirklichkeit eingeschätzt wird. Das ist doch hochgradig peinlich, oder?“


G. di Lorenzo:

„Danke, Mister Card. Damit haben sie Herrn Frisch wohl eine sogenannte Steilvorlage für seine Position gegeben. Herr Frisch meldet sich aus Zürich. Haben sie dort ideales Skiwetter?“

M.Frisch:

“ Auf meiner Fahrt hier ins Rundfunkstudio begann es erneut zu schneien. Ja, Ski und Rodel gut, Herr di Lorenzo. Doch sie wollten ja meinen Standpunkt zum heutigen Thema der Sendung hören. Ja, Mister Card, das von ihnen erwähnte Sprichwort ist mir natürlich nicht unbekannt. In manchen Situationen bin ich selbst schon danach verfahren. Das will ich gern zugeben. Generell gilt für mich jedoch:
Man begnüge sich nicht damit, dass man dem anderen einfach seine Meinung sagt, man bemühe sich zugleich um ein Maß, damit sie den anderen nicht umwirft, sondern hilft; wohl hält man die Wahrheit hin, aber so, dass er hinein schlüpfen kann.


Was ist gemeint? Ja, man sage seine Meinung. Doch so, dass man niemandem vor den Kopf stößt.Die andere Partei muss die Wahrheit akzeptieren können, ohne das eigene Gesicht völlig zu verlieren.Verstehen sie? Um beim Beispiel der amerikanischen Diplomaten zu bleiben: Mister Card meint, sie hätten lieber ihr Wissen für sich behalten sollen, quasi als Herrschaftswissen. Das hätte ihnen auf dem glatten diplomatischen Parkett besser genutzt als nun diese Indiskretion.Klar, dieses Herangehen passt in die heutige Zeit nur allzu gut. Frau Chefin, ich weiß was...ich bin clever. So läuft das jetzt ab, nicht wahr? Das war nicht die Hohe Schule der Diplomatie, deren Zeuge die ganze Welt nun wurde, meine ich.
Da stimme ich mit ihnen ja überein. In diese im Grunde banalen Charakteristika aber wird wohl kein Politiker gern schlüpfen wollen.....

G. di Lorenzo:

“Vielen Dank, Herr Frisch. Wir wollen gleich in Zürich bleiben. Herr Hesse ist von seinem Wohnsitz im Tessin dort hingekommen. Herr Hesse, wenn ich Herrn Frisch richtig wiedergebe, plädiert er dazu, das das WAS? zwar die Wahrheit sein muss, aber das WIE? muss von der anderen Seite akzeptierbar sein. Was meinen sie dazu?

H. Hesse:

“ Ja, ich habe meinen Mikrofonnachbar auch so verstanden. Sie können es zwar nicht sehen, aber er nickt zustimmend. Das wird er bestimmt bei meiner Ansicht nicht wiederholen. Ich möchte nur zur Herausbildung dieser Position einiges aus meinem Lebensweg voraus schicken. Sie wissen vielleicht, dass ich schon als Heranwachsender unter immensen seelischen Problemen litt. In einer Heilanstalt wurde versucht, mich von der Melancholie zu befreien. Später rutschte ich von einer Lebenskrise in die nächste. Bald erhielt ich den Beinamen Autor der Krise, weil ich wegen der ständig wiederkehrenden Depressionen in psychoanalytischer Behandlung war. Zeitlebens habe ich mich drüber hinaus schreibend einer quälenden Selbstanalyse unterzogen.
Meine wichtigste Erkenntnis besteht darin:
Es wird immer gleich ein wenig anders, wenn man es ausspricht.


Glauben sie bitte jemandem, der freiwillig über 70 psychoanalytische Sitzungen über sich ergehen ließ. Ich habe dort über alles gesprochen, was mich tief im Innern aufwühlte. Sitzung für Sitzung fühlte ich mich danach anders, ein klein wenig nur, aber anders. Mir kam es so vor, als wenn dunkle Geister in meinem Hirn waren, die, wenn ich sie laut ansprach, flüchteten. Das Unausgesprochene blieb jedoch drin und quälte mich weiter. Es gelingt ja nicht immer, die richtigen Worte zu finden, doch man muss es versuchen, wieder und immer wieder. Das erste Wort ist ein kleiner Beginn, dem weitere folgen müssen. Wie heißt es im Chinesischen? Ein langer Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Schon beim ersten Wort kann es ein wenig anders werden, tut sich etwas.

G. di Lorenzo:

“Sie wollen damit ausdrücken, dass sie unter dem WAS? möglichst alles verstehen und mit dem WIE? meinen, man solle es laut aussprechen. Leise zu denken nütze nichts. Damit schalten wir nach Moskau, wo sicher schon Maxim Gorki wartet.“

M. Gorki:

“ Ich verstehe ja, dass sie nach dem Lebensalter aufrufen. Beginnend mit dem 1951 geborenen Card, zu dem von 1911 bis 1991 lebenden Max Frisch, dann Hermann Hesse, der von 1877 bis 1962 lebte nun ich, der von 1868 bis 1963 gelebt hat. Vor mir lebte nur noch der 1818 in Trier geborene und 1883 in London verstorbene Karl Marx. Nu schto, dann muss ich mich damit abfinden, erst jetzt gefragt zu werden. Iswinitje poschaluista, aber ich habe einen abweichenden Standpunkt:
Was gesagt wird, ist nicht immer wichtig, aber immer ist wichtig, wie etwas gesagt wird.


Ich habe meinen Vorredner aus Deutschland so verstanden – übrigens noch herzlichen Glückwunsch von mir zum 1946 völlig verdient erhaltenen Literaturnobelpreis – dass möglichst alles gesagt werden müsse. Herr Frisch schränkte ein, es solle nur die Wahrheit sein und Herr Card will am Besten gar nichts sagen. Prawilno? Meine mitgerechnet, haben wir schon vier abweichende Thesen und wie ich den Revoluzzer Marx kenne, kommt er uns mit einer fünften....Warum ist für uns Russen gar nicht so entscheidend, ob wir immer die Wahrheit aussprechen? Das hängt eng mit der tief in uns wohnenden russischen Seele zusammen, die ganz anders ist als die westeuropäische oder gar die amerikanische. Mittels ihr vermögen wir etwas mit tiefer Inbrunst auszudrücken, so wie ich es auch in meinen Romanen und Erzählungen getan habe. Natürlich entspricht das nicht immer der vollen Wahrheit, warum auch? Bei den vielen Problemen, die wir mit der unendlichen Weite unserer Russkaja Rodina geerbt haben, bringt uns absolute Wahrheit, so es sie denn überhaupt gibt, keinen Deut weiter. Das müssen sie einfach so glauben und verstehen. Choroscho? Wenn wir Russen mit etwas in voller Inbrunst, aus tiefstem Herzen verbunden sind, dann ist es für uns nicht so entscheidend, was wir sagen, sondern wie wir es sagen. Das Gesagte muss überzeugend klingen! Dann folgen einem die Leute, so wie sie Towaritsch Wladimir Iljitsch Lenin gefolgt sind. Auch wenn es schwer war, viele Opfer kostete. Das ist der beste Beweis für meine Ansicht!

O.R.Card:

„Wenn ich meiner These folgen würde, müsste ich mich jetzt ruhig zurück halten, kann das aber nicht. Das eben Gesagte schreit geradezu, etwas richtig zu stellen.
Was passierte denn nach der Leninschen Oktoberrevolution? Stalin missbrauchte seine Macht der Worte. Ihm fielen Tausende Unschuldige zum Opfer. Seine Reden waren weit entfernt von jeglicher Realität. Das muss hier deutlich gesagt werden. Da wäre Schweigen nicht Gold!“

G. di Lorenzo:

„Aber bestätigen sie damit nicht de facto die Position von Maxim Gorki, dass es mehr auf das WIE? ankomme? Herr Marx, was können sie zu diesem Widerspruch vermerken?“

K. Marx:

Jeder Mensch hat in verzweifelter Lage einmal das Bedürfnis, sich Luft zu machen. Er tut es aber nur mit Personen, denen er besonders ausnahmsweise Vertrauen schenkt.


Vielleicht vermag ja dieser, mein leider nur wenig zitierter Lehrsatz, den aufkommenden Streit zwischen ihnen beiden etwas zu mildern? Mein lieber Maxim, sehe es doch dem in imperialistischer Freiheit geborenen und aufgewachsenen jungen Amerikaner nach, dass er sich nicht in all diese komplizierten historischen Zusammenhänge dieser revolutionären Umwälzungen in Russland hinein denken kann. Und sie, verehrter Herr Card, versetzen sie sich doch für einen kurzen Moment in die ausweglose Lage eines russischen Schriftstellers zu dieser Zeit. Es herrschten unvorstellbare Not und Elend, ein erbarmungsloser Bürgerkrieg ließ das riesige Land darnieder liegen. Gorki hat daher das Recht, sich Luft zu machen. Er tut das heute hier, weil er Vertrauen zu uns hat. Genau wie ich das in meinem Lehrsatz ausgedrückt habe. Daher hat sich seine Richtigkeit in der Praxis bestätigt.

G. di Lorenzo:

„Danke meine Herren, für diese interessanten Ausführungen. Wir können das eben Gesagte vielleicht als verbindendes Schlusswort so stehen lassen. Nochmals Dank an diese einmalige Gesprächsrunde zu unserem 100. Literarischen Frühschoppen."


Impressum

Texte: Coverfoto:Yety.2008
Tag der Veröffentlichung: 02.01.2011

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