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NURDUG UND DER ZAUBERSAND

Lukas und seine jüngere Schwester Lucy liegen schon wartend im Bett. Anders wie sonst waren sie heute ohne zu murren ins Bett gegangen, denn Oma Gudrun, die heute Abend auf sie aufpasst, weil ihre Eltern unterwegs sind, hatte ihnen versprochen, noch ein Märchen zu erzählen. Und Oma Gudruns Märchen hörten sie zu gern...
Und da kommt sie auch schon und beginnt:

„Schließt einfach eure Augen und folgt mir auf eine weite Reise in ein fremdes Land. Dort seid ihr noch nie gewesen, aber es wird euch bestimmt gefallen. Da es schon dunkel ist, sehen wir beim Landeanflug erleuchtete Hochhäuser glitzern und die taghell beleuchteten Stadtautobahnen bilden ein einziges fantastisches Lichtermeer, wie einst in Geschichten aus 1001 Nacht erzählt wurde.


Nun sind wir schon in einer der prachtvollen Straßen unterwegs zu unserem Hotel. Wir blicken in Schaufenster von Luxusboutiquen mit wunderhübschen orientalischen Kleidern und strahlend weißen Dishdashas, das ist die Nationaltracht der Männer, die hier leben. Diese haben einen Stehkragen und auf der Brust eine Leiste mit brillantenen Knöpfen. Die Tracht reicht fast bis an die Knöchel. Du, Lucy, würdest denken, sie haben lange Nachthemden an. Die Straße wird gesäumt von im Wüstenwind leise raschelnden Dattelpalmen. Vor den Mauern, die die dahinter liegenden Villen vor unseren Blicken verbergen, wachsen blühende Bougainvilleen, Jasmin und Mimosen, manchmal direkt auf dem Fußweg. Nun bekommen wir einen fantastischen Blick auf ein riesengroßes, vom Wind aufgeblähtes Segel, das uns in den gleißenden Strahlen der Scheinwerfer wie eine Fata Morgana erscheint, aber keine ist.


Es ist der „Arabische Turm“, ein über 300 Meter hohes Luxushotel, Burj Al Arab wird es genannt.


Wohin man auch in seinem Innern hinsieht, überall glänzt es wie Gold. Sogar die Wasserhähne sind aus Gold und die Betten sind drehbare Himmelbetten.... doch dort werden wir heute Nacht nicht schlafen, das könnten wir nicht bezahlen.

Kommt weiter, Kinder, wir wollen zum „Royal Mirage“, ein Hotel, das wie ein orientalischer Palast gestaltet ist. Herrliche Stoffe, Blattgold, marmorne Bögen und viele herrliche Farben lassen sich hier bewundern. Es wird euch bestimmt gefallen. Ihr seid doch sicher müde von der Reise. Morgen wartet ein richtiges Abenteuer auf euch, aber ich will nicht zu viel verraten. Setzt euch dort hinten auf die gold-rot gestreifte Couch, ich will nur schnell einchecken, damit wir ins Zimmer kommen.


Ich sehe euch noch auf die Couch zusteuern, ihr setzt euch zu einem kleinen Mädchen mit schwarzen Haaren, das irgendetwas ganz fest in ihren Händen hält, es sieht fast aus wie ein kleiner Eimer...



Ich wende mich ab und gehe auf die Hotelreception zu

und erledige die erforderlichen Formalitäten für uns. Dann drehe ich mich um......und erstarre vor Schreck: Die gold-rote Couch, auf die ihr euch gesetzt hattet, die ist nun leer!

Keine Spur von euch, auch nicht von dem kleinen, schwarzgelockten Mädchen, das dort ebenfalls gerade noch gesessen hatte. Wo bloß seid ihr hin? Ich suche stundenlang alles ab, kann euch aber nirgends entdecken. Auch das Hotelpersonal, das ich in großer Sorge um euch befrage, zuckt nur bedauernd mit den Achseln. Ja, sie hätten zwar euch beide auf die Couch zugehen sehen, aber dann....


An das kleine, schwarzgelockte Mädchen können sie sich überhaupt nicht erinnern. Nein, ein Kind von einem der Gäste könne es nicht gewesen sein, das würden sie wissen......“



An dieser Stelle des Märchens angekommen, sieht Oma Gudrun, dass Lukas und Lucy tief und fest eingeschlafen sind und möglicherweise das Märchen zu Ende träumen. Sie löscht das Licht im Kinderzimmer und schließt leise die Tür hinter sich. Sie wird noch etwas in einem Buch lesen und sich dann auch zur Ruhe begeben....

Am nächsten Morgen, es ist zum Glück ein Sonnabend und die Eltern wollten spätestens zum Mittag zurück sein, sitzen Lukas und Lucy am Frühstückstisch, den Oma Gudrun für sie drei gedeckt hat. „Na, habt ihr beide gut geschlafen? Erinnert ihr euch noch, was ich euch vor dem Einschlafen erzählt habe“, fragt sie.


„Na klar“, antwortet Lukas, „das war richtig spannend, als wir mit Nurdug und ihrem Papa im Landrover noch in der Nacht mitten durch die Wüste zu ihrer Wohnung in Hatta gebraust sind.


Selbst nachts habe ich schon gemerkt, wie toll das da ist. Wir konnten Felsschluchten im Scheinwerferlicht erkennen, sogar Flüsse mit Wasser und vor allem die Sandberge aus rotem Sand, die haben mir gefallen...“ „Du meinst Sanddünen...“unterbricht ihn Oma Gudrun und will beinahe fragen, wieso sie im Hotel kein Bescheid bekommen habe, dass die beiden mit jemandem mitfahren würden. Zum Glück fällt ihr noch rechtzeitig ein, dass Lukas ja hier berichtet, was er geträumt hatte.....Nun will Lucy natürlich auch erzählen: „Nurdug, so hieß das kleine Mädchen, das neben uns auf der Couch saß, hatte uns gesagt, das sie in ihrem Eimer Zaubersand aus einer Ghar in den Hajar-Bergen habe, die sie in der Nähe ihres Wohnortes entdeckt hat.


Als ich sie fragte, was denn ein Ghar sei, sah sie mich erst ungläubig an, doch dann fiel ihr ein, dass wir ja nicht von da waren. Sie sagte, das sei ein Loch in einem Berg – da wusste ich, dass sie wohl eine Höhle meinte.

Das mit dem Zaubersand wollte ich ihr aber nicht glauben, weil der Sand gar nicht wie Zaubersand aussah....“ „Doch, ein bischen schon“, unterbricht sie Lukas, „er war doch so rötlich, fast wie Gold sah er aus.“ „Egal! Jedenfalls wollte uns Nurdug beweisen, dass es Zaubersand sei und nahm eine Handvoll Sand aus dem Eimer und warf ihn in die Luft...“ „Gar nicht wahr! Sie streute uns den Sand in die Augen. Ich musste ganz schön reiben, um wieder sehen zu können. Und als ich es konnte, saßen wir schon im Jeep und fuhren aus der Stadt heraus,“ widerspricht ihr Lukas. „Gar nicht! Sie hat den Sand hochgeworfen und dabei so ganz komische Wörter gerufen, die ich nicht verstanden habe“, Lucy ereifert sich richtig, so dass Oma Gudrun schlichten muss.


„Am Besten ist, glaube ich, dass zuerst Lucy erzählt und dann bist du dran Lukas. Du bist schließlich der Ältere von euch beiden.“ „Immer Lucy“, schmollt Lukas aber gibt nach.


Lucy fährt fort:“Wir sind gar nicht mit einem Jeep gefahren, sondern Nurdug und ich saßen in einem Bus, zusammen mit Nurdugs Mutter, die in der Stadt einkaufen war. Du warst gar nicht da, Lukas. Ich wunderte mich, dass ihre Mutter mich gar nicht fragte, warum ich denn dabei sei. Dann aber merkte ich, dass sie mich gar nicht sehen und hören konnte. Da wusste ich, dass es wirklich Zaubersand war, den Nurdug in ihrem Eimer hatte. Natürlich wollte ich mir auch einen Eimer von diesem Zaubersand aus der Höhle holen. Und Nurdug würde mir den Zauberspruch sagen, damit ich auch Leute unsichtbar machen kann. Ich wusste auch schon genau wen als Erste, nämlich Frau Ludwig, die uns in der Vorschule immer so schwere Fragen stellt. Wir fuhren gar nicht so lange.


Ich durfte neben Nurdug schlafen – ihre Mutter merkte ja nichts - und wachte früh am Morgen auf. Natürlich wollte ich gleich zur Höhle, aber Nurdug sagte, dass das nur kurz vor Sonnenuntergang möglich sei.
Dann würde uns der Schatten einer hohen Dattelpalme am Rande der Oase den Eingang zur Höhle im Gebirge zeigen...Das war noch ganz schön lange bis dahin. Ich dachte nach und da erst fiel mir auf, dass ich ja auch die fremde Sprache des Mädchens verstand und sie meine. Das war wirklich toll. Neugierig geworden fragte ich Nurdug, ob sie denn mal ausprobiert habe, was ihr Zaubersand noch alles kann. Aber sie tat so, als wenn sie die Frage nicht gehört habe. In dem Moment wurde sie von ihrer Mutter gerufen und ich war für ein paar Augenblicke unbeobachtet. Da ich wusste, wo sie den Zaubersandeimer versteckt hatte, hielt ich ihn bald in der Hand, griff hinein und holte eine Handvoll vom Zaubersand raus und warf ihn in die Luft.


Da ich den Spruch von Nurdug nicht behalten hatte, sagte ich einfach „Abra- Kadabra, drei Mal roter Sand“ und wartete, jetzt doch etwas ängstlich geworden, was passieren würde....
Plötzlich stand Lukas vor mir! Ich riss vor Staunen die Augen auf - „wo-wo- kkkomst dddu ddenn her?“ stotterte ich völlig überrascht. „Was fragst du denn so dumm?“ sagte er, „ich war doch die ganze Zeit hier, hast du denn mich gar nicht gesehn?“
Das wollte ich ihm nicht glauben. Aber als Nurdug von ihrer Mutter zurück kam, wunderte sie sich gar nicht über Lukas. Nur ich hatte ihn bisher weder sehen noch hören können...“ Lukas unterbricht ihre Erzählung.“Aber ich saß doch zusammen mit dir im Jeep von Nurdugs Vater. Wir haben im Gästezimmer seines Hauses übernachtet. Das begreife ich alles nicht“, bekennt er sichtlich verwirrt. „Und gleich am Morgen sind wir zum Gebirge aufgebrochen, um aus der Höhle den Zaubersand zu holen. Davon weißt du alles nichts?“ Nun ist es wieder Lucy, die sich wundert.


„Wir haben den Zaubersand wirklich geholt? Nicht erst bis zum Abend gewartet? Das verstehe ich alles nicht.“
Jetzt blicken beide Oma Gudrun an, als ob sie in diese verzwickte Geschichte wieder Ordnung bringen könne. „Also, Kinder, das hört sich ja alles sehr geheimnisvoll an. Wie seid ihr denn überhaupt wieder zu mir zurück ins Hotel gekommen?“ Lucy sieht fragend Lukas an und Lukas genauso Lucy.
Dann sehen sie zu ihrer Oma und sagen, wie mit einer Stimme: „Wieso zu dir ins Hotel? Wir sind doch in unserem Zimmer aufgewacht!“ Und Lukas fügt hinzu: „Wo bleibt eigentlich Nurdug so lange? Sie wollte sich doch bloß noch ihr schwarzes Lockenhaar bürsten und dann zum Frühstück runter kommen...“

„Da bin ich schon“, ruft ein kleines Mädchen mit schwarzem Haar, noch halb auf der Treppe stehend, ihnen zu. Sie hält einen kleinen Eimer mit rötlich-goldenem Sand in der Hand.....



Impressum

Texte: Cover und Fotos auf S.16 f.: Yety.2008
Tag der Veröffentlichung: 29.11.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Enkelin Lucy

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