Hoch am Himmel droben,
Zwischen Wolken hervorgeschoben.
Ein Mond, getränkt von Blut.
Versteckt, der Gang lag offen,
Auf Rettung nicht zu hoffen.
Augen, getränkt von Blut.
Schwarze Flügel dringen tief.
Gefahr, Worte die Er rief.
Ein Schwert, getränkt von Blut.
Erinnerungen sind vergeben,
Der Mond wird sich neu erheben.
Ein Herz, getränkt von Blut.
Schweigend, der Schnee fällt
Drachenwind, die Nacht erhellt
Klauen, getränkt von Blut
Vraîthr Golaen
Lacrima Lunae. Die Tränen des Mondes. Einstmals schien der helle, runde, volle Mond über Vraîthr Golaen, der wichtigsten Stadt der Elfen. Mächtige Festungsanlagen und starke Zauberbanne schützten das Reich der höchsten der Hochelfen. Doch die Feinde der Elfen waren mächtig, zu mächtig für Vraîthr Golaen. Eine Armee der Nachtschatten zerstörte die Stadt, brannte sie auf die Grundmauern nieder, zerstörte das gesamte Wissen in den Bibliotheken und tötete die meisten Elfen. In jener Nacht erschien der Mond größer als sonst und schien beinahe weiß zu sein.
Weiß wie die Seelen derer, die in dieser Nacht Leid erfuhren, obwohl sie unschuldig waren.
Die Nacht war in Begriff, über sie herein zu brechen. Die Luft, die sich den ganzen Tag aufgeheizt hatte, war mittlerweile angenehm kühl geworden, und ein leichter Wind bewegte die Blätter die Bäume, die sich immer noch gut kenntlich gegen den dämmrigen Abendhimmel absetzten. Der junge Elf und sein Bruder standen auf dem höchsten Turm der Festung von Vraîthr Golaen und sahen in die Ferne. Der ältere der beiden hatte langes, weißes Haar und eisblaue Augen, an seinem silberbeschlagenen Ledergürtel baumelte ein Schwert, auf seinem Rücken war ein schmaler Eichenstab unter dem grünen Umhang zu erkennen. Sein Blick suchte angestrengt den Horizont ab. Der jüngere Bruder, gerade neunzehn Sommer alt, war groß und schlank. In seinen rehbraunen Augen standen Tränen, sein braunes Haar bewegte sich leicht im Abendwind. Er trug keinerlei Waffen, er war zu jung dazu. Seine Ausbildung zum Magier hatte noch nicht einmal begonnen. Und jetzt stand sein so kurzes Leben vor dem Ende. Eine stärkere Brise bewegte die Blätter der Bäume. Am Horizont erschien eine schmale, schwarze, sich bewegende Linie. Der ältere der Brüder seufzte tief.
„Sie kommen, Jarad.“ Dem angesprochenen jüngeren Bruder lief eine einzelne Träne über die Wange.
„Warum tun sie das? Warum wollen sie Golaen zerstören? Was haben wir ihnen denn getan?“ Der ältere Elf, gerade fünfundzwanzig Jahre alt geworden, nahm die Hand seines Bruders.
„Weil sie unsere Macht neiden. Weil sie fürchten, dass wir sie vernichten.“
„Aber warum? Es gibt doch keinen Anlass für einen Krieg… Luka…“ Der Wind trug den markerschütternden Ton eines Hornes zu den beiden Elfen heran. Lukamaru sah wieder zu der Linie, die mittlerweile keine mehr war. Einzelne Menschen waren zu erkennen, ein Banner war auszumachen. Schwarze, weit gespreizte Flügel zierten es.
„Jarad… Geh fort, solang du noch kannst. Nimm Mutter und Vihan und geh. Du hast keine Chance gegen sie.“
„Ich werde dich nicht allein lassen!“, rief der junge Elf bestimmt. Lukamaru wand sich ruckartig zu ihm um. Jarad wich ein Stück zurück.
„Hier.“ Lukamaru zog einen kleinen Silberdolch aus seinem Gürtel und überreichte ihn seinem Bruder. „Nimm den hier und geh endlich.“ Jarad zögerte einen Moment, dann nahm er den Dolch entgegen.
„Und was wird aus dir?“ Ein Lächeln huschte über Lukamarus feine Gesichtszüge.
„Ich werde Vraîthr Golaen beschützen. Sei ohne Sorge, ich werde Vihan, Mutter und dich finden. Ich komme wieder zu euch, in Sanctum. Nun lauf endlich!“ Jarad schluckte schwer, rang mit sich. Dann drehte er sich um und eilte zu der Treppe, die vom Turm hinab in das Innere der Feste führte. In das Innere der Feste, wo seine Mutter und seine Schwester auf ihn warteten.
Am Fuß der Treppe herrschte geschäftiges Treiben. Kinder weinten, Frauen schrien, Waffen klirrten, Männer liefen umher. Jarad sah sich um, sein Blick wanderte über die Massen der Elfen. Er suchte seine Mutter Jumai und seine Schwester Vihan. Er wollte Lukamarus Befehl Folge leisten, und seine Familie in Sicherheit bringen. Der Silberdolch an seinem Gürtel fühlte sich ungewohnt schwer an, er hatte noch nie eine Waffe getragen. Er zog sich den Umhang fester um die Schultern, dann hielt er eine der umherlaufenden Wachen an. Im Gesicht des Mannes spiegelte sich Panik. Jarad ließ die Hand des Mannes los, er eilte weiter. Der junge Elf sah in den Himmel hinauf und sandte ein Stoßgebet in Richtung des fahlen, großen Mondes, der in der Abenddämmerung so wundervoll schien. Dann eilte er los, von Angst getrieben, in Richtung der Burgtore.
Vraîthr Golaen, die Hauptstadt der Hochelfen, lag still vor ihm. Nur in wenigen Häusern brannte Licht, nur von innerhalb der Burg drangen Geräusche an Jarads Ohr. Die meisten Elfen waren geflohen, in die Sicherheit Sanctums, dessen Bannsiegel selbst die Nachtschatten nie würden brechen können. Nur wenige waren hier in Golaen geblieben, so auch seine Familie. Seine Mutter hatte nicht gehen wollen, weil sein Vater und sein Bruder die Stadt verteidigen wollten, koste es, was es wolle. Jarad lachte bitter auf. Selbst die hohen Magier waren verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Einzig die Krieger und Lukamaru waren geblieben, keiner der Magier hatte den Mut, sich den Massen der Nachtschatten zu stellen. Dabei hatten sie doch geschworen, die Beschwörung zu beenden, bevor…
Jarad eilte zu den Ställen der Burg, wo sein Pferd bereit stand. Das Haus seiner Eltern lag zu weit von der Burg entfernt, er musste sich beeilen. Zum Glück kannte er einen geheimen Pfad aus der Stadt hinaus, er war ihn oft gegangen, um sich nachts davon zu stehlen, wenn die Tore bereits geschlossen waren.
Im Stall der Burg wartete sein treuer Abu bereits auf ihn. Auf dem Rücken des Rappen lag eine rote, silberbestickte Decke, in der Mähne hing eine einzelne Pfauenfeder. Jarad zog sich auf den Rücken des Pferdes, beugte sich über seinen Hals und flüsterte ihm leise ein elfisches Wort zu. Das Pferd sprang los, jagte durch das offene Stalltor und rannte hinaus in die hereinbrechende Todesnacht. Abu galoppierte die Pflastertraßen Golaens entlang, den Burgberg hinab in die dunklen Gassen der äußeren Bezirke. Tausend Gedanken rasten durch Jarads Kopf. Nur eine Frage stand über allen, einer Beantwortung schuldig. Warum?
Vor dem Steinhaus seiner Eltern hielt Jarad seinen Rappen an und sprang von dessen Rücken. Er stieß die Tür auf und lief in das Haus seiner Kindheit hinein. Es war dunkel, keinerlei Licht und Leben durchdrang die mittlerweile hereingebrochene Dunkelheit. Jarad eilte die Treppe hinauf zum Zimmer seiner Schwester Vihan. Es lang verlassen da. Selbst das Kissen des kleinen Karfunkels war leer. Jarad fluchte leise, drehte um und lief die Treppe wieder hinab. Schnell durchsuchte er die Zimmer des Erdgeschosses, auch hier fand er nichts. Niemand war da, Jumai und Vihan hatten das Haus verlassen, zusammen mit ihrem wichtigsten Besitz: dem kleinen Karfunkel, den Jarad damals Vihan geschenkt hatte und dem kleinen Bild seiner Familie. Jarad ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen und strich leicht über Abus verschwitzten Hals. Er dachte nach, überlegte, wo seine liebsten sein könnten. Er sah hinauf zur Burg, die im fahlen Mondlicht auf dem Berg thronte, so nah an ihrem Untergang. Ein roter Lichtblitz durchzuckte den Abendhimmel. Jarad erstarrte. Die Schatten begannen ihren Angriff. Erneut zog der Elf sich auf den Rücken des Pferdes, flüsterte ihm wieder das Wort zu und hielt sich fest. Abu lief schnell wie der Nachtwind hinauf zur Burg, zurück in die trügerische Sicherheit der Mauern. Die Wachen rissen das Tor auf, als sie Jarad erkannten, ungehindert lief das Pferd in den Burghof hinein. Neben dem Zugbrunnen der Burg hielt Jarad das Pferd an und sah sich von seiner erhöhten Position aus um. Abu wieherte laut und legte die Ohren an. Er war nervös, Männer in Rüstungen hatte er noch nie gemocht.
Die Blicke der Elfen, die sich in die Burg geflüchtet hatten, richteten sich auf Jarad und sein treues Pferd. Abu schnaubte, während Jarad in dutzende angsterfüllte Gesichter sah.
„Jarad!“ Ein junges Mädchen mit braunen, langen Haaren löste sich aus der Menge und lief auf die beiden zu. Jarad glitt geschmeidig von seinem Pferd und öffnete die Arme.
„Vihan…“ Das junge Elfenmädchen umarmte ihren Bruder kurz, dann strich sie über AbuDuns Hals. „Vihan, wo ist Mutter? Wir müssen fliehen!“ Ein weiterer Lichtblitz erhellte den Nachthimmel.
„Mutter ist oben bei Luka. Sie will nicht gehen…“ Jarad blickte auf zum Turm, auf dem sich der Schemen seines Bruders abzeichnete.
„Gut… Luka wird auf sie achten… Komm, Vihan. Ich bring dich hier weg.“
„Aber…“ Jarad sah seine Schwester streng an.
„Keine Widerrede. Komm.“ Er hob das Mädchen auf Abus Rücken und schwang sich hinter ihr auf das Pferd. Dann schlang er einen Arm um die Taille seiner Schwester. Unter ihrem Umhang lugte ein pelziger Kopf eines kleinen Wesens hervor, ein Karfunkel. Ein Lächeln huschte über Jarads Gesicht.
„Jivá, Abu. Jivá!“ Abu wieherte laut, dann preschte er los, hinaus aus der Burg, wieder hinab in die dunkle Stadt. Jarad warf noch einen Blick über die Schulter und sah, wie ein weiterer roter Blitz über den Himmel zuckte.
Der Geheimgang, den Jarad so oft benutzt hatte, lag versteckt nahe der Stadtmauern. Dickicht bereitete sich vor dem Eingang aus, sodass er schwer zu finden war. Auf der anderen Seite lag der Ausgang weit hinter der Stadt in den Hügeln. Er würde ihnen eine sichere Flucht ermöglichen. Jarad saß ab und hob Vihan von Abus Rücken. Das Pferd schnaufte schwer, weißer Schaum hing an seinem Maul. Jarad klopfte sanft Abus Hals.
„Wo sollen wir hin?“, fragte Vihan leise. Jarad deutete auf das Gehölz.
„Da rein.“Abu schnaubte. Jarad strich dem Pferd über die Stirn. „Lauf, AbuDun. Lauf fort von hier.“ Abu lehnte sich leicht gegen Jarad, dann trabte er von dannen. Jarad zog den Dolch aus dem Gürtel und begann, einen Weg durch das Dickicht aus Stacheln und Ästen zu suchen. Wertvolle Minuten später waren seine Arme zerkratzt, aber der Weg zum Gang lag offen. Vihan war ihm gefolgt und hatte die Äste hinter ihnen wieder so drapiert, dass man den Gang von außen nicht sah. Jarad wischte sich seine blutigen Arme an seinem Umhang ab, dann schob er den schweren Stein beiseite, der den Eingang des Ganges blockierte.
Vom Stadttor wehte ein lauter Knall heran, Jarad fuhr zusammen. Er merkte, wie Vihan sich an ihn klammerte.
„Sie sind am Tor!“, flüsterte sie ängstlich. Sie zitterte.
„Golaen fällt…“ Ein weiterer Knall paarte sich mit einem hellen Lichtblitz. „Los, rein!“, rief Jarad, den Blick starr in Richtung Burg gerichtet.
Ein Turm fiel. Steine sprangen, Rauch stieg auf und mit gewaltigem Getöse fiel der Turm in sich zusammen.
„Jarad!“
„Lauf, Vihan!“
Das Mädchen schrie auf. Jarad wirbelte herum, hob den Dolch. Seine Sinne waren gespannt, er spürte Gefahr. Zwei riesige, schwarze Flügel füllten sein Blickfeld aus, er machte ein helles Glitzern einer Schwertschneide aus. Reflexartig sprang der Elf vor, den Dolch erhoben. Vihans Schrei verklang in seinen Ohren, als sie vornüber kippte. Die schillernde Schwertschneide war blutig. Jarad erstarrte. Ein Zischlaut erklang, er warf den Dolch-
Und keuchte auf. Das Schwert, das gerade seine Schwester durchbohrt hatte, zitterte leicht. Das Blut Vihans, das an der Klinge klebte, mischte sich mit seinem. Er sah auf. Rote, stechende Augen betrachteten ihn forschend. Dann riss der Nachtschatten das Schwert zurück. Jarad taumelte.
Aber er fiel nicht. Das Atmen fiel ihm wieder leichter. Der Schatten riss die Augen auf.
„Du!“, zischelte er. „Ungläubig betrachtete er seine Klinge. „Du lebst. Du…“ Er griff Jarads Schulter. „Diese Klinge kann dich nicht töten!“ Er hielt Jarad das Schwert vor Augen. „Weißt du, was hier vorgeht.“ Jarads Blick fraß sich an Vihans leblosen Körper fest.
„Nein…“
„Dein Volk hat seinen Untergang beschlossen! Und den Untergang aller… Wenn sie Zodiak beschwören, wird dessen Macht alles vernichten!“ Jarad hörte dem Mann gar nicht richtig zu. „Wo sind die Magier? Wo sind sie? Wir müssen verhindern, dass sie die Beschwörung beenden!“ Jarad deutete abwesend auf die Stadt.
„Ich weiß es nicht…“ Nur langsam wurde ihm die Tragweite all dessen, was dieser Fremde ihm erzählte, bewusst. Zodiak… Der Mächtigste. Der Fürst des Dunkels. Der Nachtschatten griff Jarads Hand und legte den Griff des Schwertes hinein.
„Hier. Nimm es und geh. Schnell.“ Jarads Blick wanderte die Klinge hinab. Sie war weiß wie Schnee und verströmte eine eigenartige Kälte.
„Es heißt Raureif. Es kann jenen, die frei von Schuld sind, keinen Schaden hinzufügen.“ Der Schatten deutete mit seiner knorrigen, dunklen Hand auf Vihan. „Sie war es nicht wert… Flieh! Schnell!“ Er stieß Jarad in den dunklen Tunnel, dann schob er den Stein vor den Eingang.
Valentin hatte es sich auf dem Fußboden vor der Couch gemütlich gemacht und beantwortete, den Laptop auf den Knien, private Nachrichten auf seinem Facebook-LetsPlay-Account. SarazarLP war selbst spät abends noch zu erreichen, im Gegensatz zu mir. Ich lag quer über der Couch, ein Buch in der Hand und versuchte, mich auf dessen Inhalt zu konzentrieren. Mein Hirn hielt allerdings nicht allzu viel von dieser Bemühung und warf immer wieder Gedankenfetzen zwischen die gedruckten Zeilen. Auf dem kleinen Couchtisch lag der Grund für meine Gedankenverlorenheit, ein kleiner, unscheinbarer Flyer eines französischen Museums. Ich wusste nicht genau, wo Valle den Wisch her hatte, aber jetzt war er da und brachte mich durcheinander. Zwischen weiterem Zettelkram, halb abgebrannten Kerzen, einigen Pizzaresten, Besteck, Gläsern und einer halb leeren Flasche Wodka lag der nächste Grund, wegen dem meine Gedanken durcheinander wirbelten. Ein kleiner, ovaler, schwarzer Stein. Der Seelenstein des Schwertmeisters…
„Und? Hast du dir was überlegt?“, riss Valles zartes Stimmchen mich aus meinen Gedanken. Ich klappte das Buch zu, richtete mich auf und legte das Buch auf den Tisch. Dann fuhr ich mir mit der rechten Hand durch das wirre, fast schwarze Haar.
„Ich… bin mir nicht ganz sicher, denke ich.“, brummte ich. „Wobei ich zugeben muss, dass die Idee mich durchaus reizt. Aber andererseits…“
„Als würdest du vor einem Einbruch zurückschrecken.“
„Ich bin kein Verbrecher, Valle.“
„Aber du bricht in das Haus eines Zirkels ein, um eine wichtige magische Schrift zu stehlen.“
„Das war was anderes!“ Valle klappte den Laptop zu, drehte sich zu mir um und bedachte mich mit einem skeptischen Blick.
„Achso?“ Die Stille, die darauf folgte, wurde nur durch das leise Knistern einer Kerze unterbrochen. Ich wich Valles Blick aus.
„Ich hasse es, wenn du das tust.“
„Wenn ich was tue?“
„Recht haben.“ Ich stand auf, stieg über Valle weg und fischte ein Glas aus der Anrichte. Dann griff ich nach der Wodka-Flasche und goss mir einen gepflegten Doppelten ein. „Auch was?“ Valle grinste.
„Danke, nein. Ich muss noch fahren.“
„Kannst doch auch hier bleiben.“
„Könnte ich. Was ist nun?“ Ich seufzte auf und setzte mich neben Valle auf den Boden.
„Naja… Im Endeffekt stiftest du mich hier zu einem Einbruch in ein Pariser Museum an, richtig?“
„Richtig.“
„Um einen Stein zu holen, der eventuell ein Seelenstein eines Magiegeists sein könnte, richtig?“
„Richtig.“
„Und unsere Chance, den Stein da raus zu holen, ohne erwischt zu werden, stehen bei etwa 20%, richtig?“
„Richtig.“
„Ich hab das Gefühl, dass du entweder betrunken bist, oder wahnsinnig, oder beides.“ Valle grinste.
„Spätfolgen.“ Er klappte den Laptop wieder auf und vertiefte sich in die nächste private Nachricht. Ich betrachtete ihn eine Weile. Eine schmale, feine Narbe zog sich von der Stirn quer über das linke Auge bis hinab zur Wange, geschickt verdeckt durch Strähnen des dunkelblonden Haares.
Es war meine Schuld, dass er dieses Zeichen trug, meine Schuld, dass er schlimmste Folter hatte ertragen müssen…
„Also, was ist nun?“ Valles Finger huschten über die Tastatur, während er eine Antwort tippte.
„Lass mich ein wenig darüber nachdenken, okay?“
„Gut, ist deine Sache.“ Schweigend tippte er weiter, ich trank mein Glas Wodka aus. Dann goss ich mir ein neues Glas ein.
„Erik?“
„Valle?“
„Meinst du nicht, dass wir Hilfe gebrauchen könnten? Also, wenn wir wirklich in das Museum einsteigen wollen…“
„Falls wir in das Museum einsteigen, Valle. Falls.“
„Schon. Aber an sich…“
„Und wen?“ Valles Finger stoppten. Er sah nachdenklich zum Fenster. „Ich möchte ungern auf die Hilfe der Gilde zurückgreifen müssen… Oder von sonst wem auf Montenique.“
„Und… von hier? Unseren Freunden? Vertraust du einen von denen so sehr, dass du sie einweihen würdest?“ Ich stellte das Glas beiseite und nahm einen Schluck direkt aus der Flasche. Vertrauen? Ja. Aber ich würde einem meiner Freunde niemals diese Last aufbürden, dieses Wissen tragen zu müssen… Die Welt, zu der ich gehörte, war so anders, so verschieden von dieser hier…
Valle nahm mir die Flasche aus der Hand und trank selber einen Schluck. Dann klappte er wieder den Laptop zu.
„Dass du dir das Zeug reindrehen kannst, ohne eine Miene zu verziehen…“
„Hab lang genug geübt.“ Wieder bereitete sich angenehmes Schweigen zwischen uns aus, während jeder seinen eigenen Gedanken nachging.
Valle wollte also in ein Museum einbrechen, und dessen neueste Attraktion stehlen, einen kleinen, ovalen, grünen Stein, in dem eine rötliche Vogeldaune eingeschlossen war. Und das nur, weil die geringe Wahrscheinlichkeit bestand, dass dieser Stein ein Seelenstein eines Magiegeists war. Und selbst wenn… Die Wahrscheinlichkeit, dass der Geist freiwillig mit mir zusammen arbeiten würde, war noch so viel geringer…
„Valle?“
„Hm-mh?“
„Wann öffnet die Ausstellung nochmal?“ Valle bedachte mich wieder mit diesem skeptischen Blick.
„Nächste Woche. Willst du etwa…?“ Ein Grinsen huschte über mein Gesicht.
„Jap. Wir holen den Stein.“ Wieder griff ich nach der Wodkaflasche. „Die is ja leer.“
„Du willst mir nicht erzählen, dass das das letzte Tröpfchen Alkohol in deinem Haus war?“
„Wohnung. Und nein, ich hab glaube noch im Gemüsefach eine Flasche. Oder zwei.“ Valle lachte.
„Erik der Trinker, was?“
„Valle, ich trinke nicht, ich saufe.“
„Schön, dass du das selbst erkennst.“ Ich stand auf, während Valle den Laptop wieder aufklappte. Ich tastete mich im Kerzenschein bis zur Küche und tastete nach dem Lichtschalter, den ich wie üblich nicht fand. Ich fluchte leise und tapste im Dunkeln über die Küchenfliesen bis hin zum Kühlschrank, wobei ich polternd einen Stuhl umstieß.
„Mensch, Erik, mach doch nicht immer alles kaputt!“
„Nichts passiert! War nur der Stuhl!“ Ich bekam die Kühlschranktür zu fassen und zog sie auf. „Ah. Da unten haben wir dich ja.“ Tatsächlich lag im Gemüsefach eine weitere Wodkaflasche. Ich zog sie heraus und ließ die Kühlschranktür hinter mir zufallen. In dem Moment, in dem ich wieder gegen den umgestoßenen Stuhl stieß, klingelte es an der Tür. Wieder kam ein unschöner Satz über meine Lippen, den ich hier nicht näher wiedergeben möchte.
„Valle, kannst du bitte mal aufmachen gehen? Ich hab hier ein kleines Stuhl-Problem!“
„Jaja, ich geh schon.“ Ich stellte die Flasche auf dem Tisch ab und tastete auf dem Boden nach dem Stuhl. Erneut klingelte es, während ich den Stuhl wieder an seinen angestammten Platz zurückstellte. Dann griff ich nach der Flasche und verließ die Küche, darauf bedacht, nicht wieder den Stuhl umzureißen. Stattdessen stieß ich mit dem Kopf gegen die offene Küchentür.
„Erik! Rat mal, wer das ist!“
„Mir ist jeder willkommen, der eine Kopfschmerztablette dabei hat.“, gab ich zurück und rieb mir die schmerzende Stirn. Im Wohnzimmer dominierte noch immer der flackernde Kerzenschein, sodass ich nur den Schatten Valles und des Besuchers erkannte. „Mach doch mal das verdammte Licht an.“ Mit einem leisen Klacken brandete die Deckenbeleuchtung auf. Valle grinste und neben ihm stand…
„Jad`Varashem Erik, Sinarél Valentin.“ Ich war sprachlos.
„Bevor ihr mir irgendwelche Fragen stellt, hört mir bitte erst einmal zu. Es ist wichtig, dass ich euch zunächst erzähle, was ich weiß.
Mein Name ist Jarad Na´Avanan. Ich bin Kleriker und Magier der Hochelfen, gehörte zum Orden der Kleriker unter Leitung der hohen Klerikerin Lysarya Ma´Savena. Allerdings stehe ich nicht mehr in den Diensten der Hochelfen, im Gegenteil, ich verfolge meine eigenen Ziele. Und mein Ziel, Jad`Varashem, bist du. Ich kenne die alten Schriften der Elfen, in denen du bereits erwähnt wirst. Ich wusste von deiner Existenz, auch wenn der Orden und der Zirkel nichts von meinen Ideen wissen wollte. Also verließ ich die Elfen, um dich zu suchen. Das wir uns nun so kennenlernten war Zufall… Ich muss zugeben, dass du mir fast zu unscheinbar schienst, um wirklich der Jad`Varashem zu sein. Aber… Dein, nun, Unfall im letzten Jahr hat mir das Gegenteil bewiesen… Und nun… Diese Narbe, Valentin, stammt von einer verzauberten Waffe. Nicht von einem Autounfall, wie du uns weißmachen wolltest. Und ich für meinen Teil denke, dass es durchaus soweit ist, euch zu erzählen, wer ich bin und was mein Ziel ist…“
„Und was ist dein Ziel genau?“, fragte Valle leise.
„Eine… sagen wir, Beschwörung. Es gibt Wesen, mächtige Wesen, die besser nie geweckt werden sollten. Doch genau das wird geschehen… Und du musst das verhindern, Erik. Du bist der einzige, der das drohende Schicksal dieser Welt abwenden kann, nachdem die Nachtschatten es nun nicht mehr können. Und ich werde euch begleiten, auf eurem Weg, die Mächte der anderen Welt zu bändigen.“
Schweigen folgte dieser Rede. In den braunen Augen meines Gegenübers funkelte Tatendrang, seine sonst so ruhige, dunkle Stimme hatte einen recht hellen Klang bekommen.
Jarad Na`Avanan… Ein Elf?
Dabei…
„Also, so ganz kann ich dir nicht folgen. Kein Rahmschnitzel? Sondern ein Elf?“ Valle brachte auf den Punkt was ich gerade dache.
Denn mir gegenüber saß ein alter Freund und Lets-Play-Kumpel Heiko. RahmschnitzLP.
„Maraven Shihuru. Ich möchte in Demut und Reue meine zukünftigen Sünden bekennen.“ Vor einer schlichten, hohen Figur aus Holz kniete eine Gestalt, in einen schwarzen Kapuzenumhang gehüllt, die Hände zum Gebet ineinander gefaltet. Die Holzfigur zeigte ein stilisiertes menschliches Abbild, deren Gesicht von einem wehenden Umhang verdeckt wurde. Die Figur strotzte geradezu vor Bewegung, in den wie fliegend wirkenden Händen waren Dolche zu erkennen, auf dem Rücken trug die Figur eine Armbrust.
„Maraven Shihuru“, erhob die Gestalt zu Füßen der Figur wieder ihre Stimme, „es verstößt gegen die Regeln des Ordens. Doch ich habe gesehen, was passieren wird, und ich kann es nicht zulassen. Vergibt mir, Maraven Shihuru.“ Die Gestalt hielt in ihren Ausführungen inne und lauschte. Die große, hohe Halle des Herrenhauses, in dem sich das religiöse Zentrum der Bruderschaft befand, war beinahe verlassen. Aber eben nur beinahe. Die Gestalt erhob sich federleicht und sah stur zu der Holzfigur auf.
„Ein Eingriff in das Schicksal der Welt steht uns nicht zu, Sha-Shihuru. Allein der Versuch, gegen diese Regel zu verstoßen zieht ewige Verbannung aus unserem Kreis nach sich. Willst du wirklich deine hohe Position aufs Spiel setzen, Sha-Shihuru? Du hast potential. Du kannst Ira-Shihuru werden. Vertu diese Chance nicht wegen eines Sterblichen.“ Der Meister der Bruderschaft, der Ira-vé-Shihuru, mühte sich nicht, seine Schritte zu verbergen. Offen ging er auf den höchsten Assassinen des Ordens zu. Dieser senkte den Blick.
„Meister, ich kann nicht zulassen, dass ein Unschuldiger zu Tode kommt und die Gemeinschaft des Jad´Varashem weiter zerfällt. Wir brauchen diese Männer und ihre Ziele, ihre Ideale. Nur sie können vereiteln, was der Blutmond bringt.“
„Du würdest es nicht wagen, dich gegen unseren Glauben zu stellen.“ Endlich wandte sich der Sha-Shihuru um und blickte den Meister der Assassinen geradeheraus an.
„Wenn der Blutmond nur auf diese Weise verhindert werden kann, stelle ich mich auch gegen die Bruderschaft.“
„Sich gegen die Bruderschaft zu stellen heißt, die Würde der Shihuru zu verlieren und nie wieder zu erlangen. Ist dies wirklich deine Absicht, Sha-Shihuru? Ist es dies, was du willst?“
„Was ich will ist, unseren Untergang zu verhindern, den die Elfen tausende Jahre zuvor heraufbeschworen. Das ist, was ich will, Ira-vé-Shihuru. Einzig das.“
Die beiden Sprecher rührten sich lange Zeit nicht und sprachen auch kein Wort miteinander. Erst, als ein lauer Nachtwind, still und leicht, zum Fenster hineinwehte, kam Leben in den Sha-Shihuru. Er trat leichten Schrittes neben seinen Meister, senkte den Kopf und verließ dann den hohen Raum, den Blick der gesichtslosen Holzfigur im Rücken.
Texte: By Yelava Yen´vela und NichtExistenz
Bildmaterialien: by NichtExistenz
Lektorat: by NichtExistenz
Tag der Veröffentlichung: 01.01.2013
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