Ich sitze in meinem Bienenstock auf meinem Thron aus Bienenwachs. Um mich herum summen fleißige Bienen und lesen mir jeden Wunsch von den Lippen ab. Sie alle gehören meinem Staat an, denn allein ich regiere. Verlange ich nach ihnen, sind sie sofort zu Stelle. Sie tun alles für mich. Alles, was ich will. Allerdings geschieht das nicht ohne Gegenleistung. Ich muss für Nachwuchs sorgen. Dafür erwähle ich aus meinem Staat eine dieser fleißigen Bienen, die mir am geeignetsten für diese ehrenvolle Aufgabe erscheint. Jedoch habe ich eine sehr große Auswahl an Bienen, die allesamt Männer sind und mir zu Füßen liegen. Ich bin die einzige Frau unter einem Schwarm von Männern, welche diese auch befehligt und tun und lassen kann, was sie will. Unter solchen Bedingungen ist es nicht sehr einfach gute von schlechten Bienen zu unterscheiden, da sich alle Bienen bis auf wenige Ausnahmen sehr ähneln.
Ich erhebe mich von meinem Thron, um mit meiner Suche zu beginnen. Man erwartet dies von mir. Mein ganzes Volk erwartet dies von mir. So schreite ich voran in dem Wissen, dass jeder Schritt, den ich vollbringe, jedes Wort, das ich ausspreche, und jedes noch so kleine Zucken meiner Augenwinkel beobachtet, analysiert und gewertet wird. Ein schleichender Prozess, von dem ich augenscheinlich nichts mitbekomme, aber er beschäftigt mich Sekunde für Sekunde. Mein Volk soll nicht enttäuscht von mir sein. Ich verlange Vieles von ihnen ab. Sie würden ihr Leben für mich geben und mein Leben würde ich genauso für sie geben. Im Grunde genommen wird davon ausgegangen, dass ich mein Volk bin, mein Volk verkörpere und für das Recht meines Volkes sogar mit meinem Leben einstehe. Ich lebe nur für sie, so wie sie für mich leben.
Die Augen aller sind auf mich gerichtet, auch wenn das nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist. Anmutig schreite ich rosigen Blumenblättern meines Weges entlang, scheinbar um die Arbeit meiner fleißigen Bienen zu betrachten. Jedoch habe ich mich nicht unter diesem Vorwand erhoben. Dessen bin nicht nur ich, sondern dessen sind wir alle uns sicher. Es ist Zeit. Die Paarungszeit kommt näher und ehe sie vorbei ist, muss ich jemanden aus meinem Volk erwählt haben. Es ist von äußerst wichtiger Bedeutung, dass ich Nachkommen zeuge, ansonsten droht uns der Untergang unseres Staates. Gar nicht will ich daran zurückdenken an die eine Zeit, wo die Paarung der Königin mit einem Untertan ausblieb. Fast wäre der gesamte Staat verstorben. Das darf nicht noch einmal passieren. Das weiß nicht nur ich, das wissen alle. Die Erwartungen an mich sind hoch und zerren an meinen Nerven. Mir bleibt nur die Möglichkeit, schnell jemanden zu finden, der dieser Ehre wert ist.
Am Ende des Raumes erblicke ich wenige Bienen, die die sechseckigen Waben formen und bauen. Beeindruckend, was meine kleinen Freunde so alles leisten. Jeder hier hat seine ganz eigene spezielle Aufgabe im Staat. Wenn er diese nicht ausführt, leiden alle darunter, auch wenn sie nur eine kleiner Teil in diesem riesigen Uhrwerk ist. Meine Aufgabe ist es, die nächste Generation Bienen zu sichern und wenn möglich eine neue Bienenkönigin diesem Schwarm von Männern zur Verfügung stellen zu können.
Ich bin müde. Das meine ich nicht im Sinne davon, dass ich mich zum Schlafen auf mein Rosenblätterbett legen, meine Äuglein schließen und mich sanften Träumen hingeben möchte, sondern dass meine Zeit gekommen ist. Das spüre ich von meinen Flügelspitzen bis hin zu meinen Füßlein. Ich seufze. Dieses Jahr fällt es mir besonders schwer diesen einen unter vielen zu finden. Summend, sirrend und vibrierend schweben um mich herum meine Bienen, mein Schwarm. Ich bin stolz darauf ihre Königin sein zu dürfen, aber dieses Jahr sind sie sehr ungeduldig. Wahrscheinlich spüren sie, dass ich müde bin, dass mein Schlaf bald ewig andauernd wird, dass ich bald nicht mehr unter den Lebenden verweilen werde. Umso mehr muss ich mich beeilen. Der Druck ist groß und die tuschelnden Stimmen lassen mir selbst im Schlaf keine Ruhe. Mein Volk soll nicht unter einen ungesicherten Zukunft leiden.
Angestarrt von zig tausend Augenpaaren gehe ich weiter. Plötzlich habe ich eine Eingebung. Einen Gedankenblitz. Meine Füßchen sind schneller, als meine Gedanken es je sein werden, und bringen mich dorthin, wohin mein Gefühl es verlangt hat. Am Ende meines Weges erstrahlt in der leuchtend roten Abendsonne eine einzelne Biene. Fernab aller anderen arbeitet diese seelenruhig inmitten dieser summenden und zitternden Geräuschkulisse. Die Ausstrahlung ihrer Ruhe zieht mich wie magisch an und ein Gefühl beschleicht mich, dass ich nur einmal im Jahr, an einem Tag, in einem ganz bestimmten Moment empfinde. Ich bemerke nicht die erwartungsfrohen Gesichtchen meiner Bienen, nicht wie die Arbeit zum Erliegen kommt und alles still wird. Mein Fokus liegt in diesem Moment einmal nicht auf dem Schwarm, nicht darauf, wie schwer ist es, die einzige unter vielen zu sein, sondern er liegt darauf, dass diese Biene diejenige ist, nach der ich solange suchte.
Meine Sorgen, überhaupt jemanden zu finden, scheinen nun unbegründet und waren es auch. Natürlich habe ich gewusst, dass hier in diesem Staat jemanden gibt, bei dem mein Herzchen höher schlägt. Alles erscheint nun in einem anderen Licht. Ich und alle anderen, wir alle, fühlen uns plötzlich befreit und lebendig, da die Zukunft aller in diesem Moment unter einem guten Stern steht. Alle gemeinsam entschweben wir nun der Abendsonne entgegen in die Lüfte und vollführen jenes bekannte Ritual, das all die Generationen schon vor uns schon kannten. Die Paarungszeit ist angebrochen.
Ich wandle durch die Straßen dieser Stadt ohne ein Ziel und ohne einen besonderen Nutzen und Zweck. Leichten Schrittes schreite ich voran und verliere mich in grauem Asphalt und den grauen, öden Betongebäuden um mich herum. Ab und an mal treffe ich auf ein paar wenige Menschen, die ihres eigenen unbestimmten Weges gehen. Ich frage mich nicht, wohin ich gehe und woher ich komme. Das Einzige, was in diesem Augenblick von Bedeutung ist, ist das ich gehe, einen Fuß vor den anderen setze.
Unbewusst erreiche ich jedoch ein Ziel, auch wenn ich es nicht als solches bezeichnen würde. Ein großes Backsteingebäude mit verwitterten, roten Steinen ragt vor mich und droht mich zu zermalmen mit seiner gewaltigen Erhabenheit. Ich bin diesem Anblick nicht gewachsen und will schon umkehren, als ich Stimmen aus dem Inneren des Gebäudes vernehme. Von der Neugier getrieben mache ich mich auf und trotze der Erhabenheit des Gebäudes, in dem ich eine knarrende, schlichte, braune Holztür öffne.
Immer weiter nähere ich mich dem besagten Stimmengewirr und je näher ich diesem bin, desto klarer höre ich eine einzelne Stimme über der Masse schweben. Mit derselben Gewalt, wie der des Gebäudes, dessen Decke über meinem Kopf ragt, nimmt die Stimme einem den Raum zum Denken und Atmen. Es ist alleine jene, die sich über alles in seiner Nähe erhebt und triumphiert, denn sie nimmt mit ihrem Klang und ihrer Farbe alles in der nahen Umgebung für sich ein.
Eingenommen und angezogen lasse ich mich von meinen Füßen zu dieser Stimme tragen, ja fast schon, so kommt es mir vor, schwebe ich über den Wolken in Faszination für das unmöglich Mögliche. In ihren Worten steckt soviel Wahres, soviel Unglaubliches und Unfassbares. Völlig gebannt starre ich auf die Person auf dem Podest. Ihre äußere Erscheinung stimmt mich milde. Man könnte sie als angenehm beschreiben, aber die Stimme erst, die sogar nicht zu dieser Person zu passen scheint, ist der Höhepunkt der gesamten Erscheinung. Jene verleiht der Person das gewisse Etwas, diesen Kniff, denn man nur vom lieben Gott geschenkt bekommen kann, sich aber niemals wird aneignen können.
Kurze Zeit später, vermute ich an dieser Stelle, verblasste jener Klang und jene Farbe, so als wären sie nie da gewesen. Enttäuscht, wie auch die Umstehenden, verlange ich nach mehr. Jedoch ein anderer reißt das Wort an sich und im selben Moment, wo der andere beginnt seinen ersten Satz zu formulieren, wende ich mich äußerst frustriert ab. Diese Stimme ist Nichts im Gegensatz zu der von vorhin. Ohne Leidenschaft, ohne die besondere Mischung von Farbe, Klang und Wort. Schon will ich gehen, als mein Interesse von etwas Neuem, diesmal etwas Anderem, geweckt wird.
Von irgendwoher holen die Menschen um mich herum Masken hervor und setzen sich diese auf. Es sind ulkige, witzige, traurige, abstrakte und groteske Masken mit viel zu großen Mündern, Nasen und Ohren. Farben spiegeln die jeweilige Stimmung wider, die auf den Masken unverkennbar zu erkennen ist. Rot für Wut, grün für Neid sind da nur wenige Beispiele. Ich befinde mich nun in einem Meer aus bunten, verzerrten Fratzen, die alle unterschiedlicher nicht sein könnten. Selbst die Personen auf dem Podest hat sich eine aufgesetzt.
Aus der Masse steche ich hervor. Allein ich habe keine Maske aufgesetzt.
Wie als wären alle Scheinwerfer auf mich gerichtet, starren mich wilde Augen von allen Seiten an. Sie fragen laut: „Wo ist deine Maske?“ Ich aber bleibe still, antworte nicht. Klammheimlich versuche ich mich aus dem Raum zu stehlen. Jedoch die mir zu teil gewordene Aufmerksamkeit verhindert dies. Die Fratzen drängen sich dichter und dichter um mich. Einen Moment verspüre ich sogar das Gefühl in diesem Chaos zu ersticken. Der Höhepunkt des Spektakels ist erreicht.
Jetzt ist alles still. Leise Musik spielt im Hintergrund. Eine wunderschöne und zärtliche Melodie. Die Masken tanzen miteinander. Alles um mich herum tanzt. Nur ich wieder nicht. Ich seufze. Ich gehe. Die Lichter werden gedimmt und ich verschwinde von der Bildfläche mit der leisen Ahnung, dass mein Platz woanders sein muss.
Gedankenverloren starre ich zum Himmel hinauf. Ein leiser Wind fährt durch mein Haar und streichelt meine Wangen. Ich fühle mich wohl und gebe eine zufriedenes Brummen von mir. Keiner hört mich, ich höre niemanden. Keiner sieht mich, ich sehe niemanden. Allein, aber gewiss nicht einsam, liege ich im grünen Gras, welches den Sommerduft noch trägt. Es ist Ende August und der Sommer neigt sich seinem wohlverdienten Ende. Die letzten, warmen und schönen Tage, so habe ich es beschlossen, werde ich genießen. Alle Zeit, die ich habe, werde ich hier draußen verbringen und um dem letzten Atemzug des Sommers zu lauschen.
Ich schaue wieder zum Himmel hinauf. Ich schaue den Wolken dabei zu, wie sie über meinen Kopf hinweg an mir vorbeiziehen getrieben vom Wind ohne eine Ahnung davon zu haben, wo man hinziehen wird. Ein Gefühl der Leichtigkeit erklimmt mein Innerstes und ich gebe mich der Vorstellung, mich einmal wie eine Wolke treiben zu lassen.
Unter mir mikroskopisch klein sind grüne Täler, Flüsse und kleine Häuschen mit beweglichen Pünktchen drumherum, den Menschen. Lächelnd beobachte ich ihr Spiel. Ich lasse mich treiben vom Winde, der mich gerade in nordöstliche Richtung weht. Die Sonne scheint in meinem Rücken und brennt auf meiner Haut. Aber die Kühle des Windes sorgt dafür, dass ich mich gleich wieder wohler fühle. Mein Gespür verrät mir, dass sich der Tag dem Ende neigt und als ich mich umsehe, erblicke ich die rot goldene Abendsonne, die mich ein letztes Mal wie zum Abschied auf der Wange küsst mit einem warmen Sonnenstrahl. Ich nicke ihr zu in dem Wissen, dass wir uns morgen sicherlich wiedersehen werden. Nun weht der Wind stärker und ich und meine Gefährten lassen uns treiben, ohne eine Ahnung davon zu haben, wohin uns der Wind trägt. Mein Herz pocht voller Erwartung in meiner Brust, aber ich kann nicht einmal erahnen, warum es das tut.
Vielleicht weiß mein Gefühl von etwas, was mein Verstand noch nicht weiß. Eine Antwort bekomme ich auf Nachfrage nicht von meinem Gefühl. Der Wind wird kühler, die Sonne verschwindet ganz am Horizont. Der Tag ist zu Ende. Die Nacht ist da. Ich sehe zu, wie sich vor mir ein Sternenhimmel auftut mit vielen funkelnden Pünktchen, den Sternen. Verzückt sehe ich ihnen bei ihrem Spiel zu und lächle. So frei fühle ich mich in diesem Moment.
Einige Zeit später erscheint der Mond, der kühlere Gegensatz zur Sonne, in meinem Blickfeld. Er wünscht mir einen schönen Abend und taucht mich in seinem silbrigen Glanz vollkommen ein. Aus einem Reflex heraus muss ich unwillkürlich grinsen, aber auch gähnen und bemerke sogleich, wie mich eine unglaubliche Müdigkeit überfällt. Der Tag ist lang gewesen. Es ist auch anstrengend, sich tagein und tagaus vom Wind umhertreiben zu lassen. Auch wenn dies nicht auf den ersten Blick verständlich ist. Zumindest ist jetzt die Zeit gekommen, schlafen zu gehen.
Doch wo soll ich mich schlafen legen? Gestern war einer meiner Gefährten so großzügig gewesen und hat seinen Schlafplatz mit mir geteilt. Aber nun ist dieser nicht mehr da. Also was nun?
Unentschlossen und verunsichert blicke ich mich um, aber alle Gefährten scheinen sich schon längst schlafen gelegt zu haben. Wenn ich mich nun nicht schlafen lege, dann werde ich morgen zu müde sein, um mit klarem Kopf reisen zu können. Ich will mich doch morgen mit wachen Blick erfreuen können an der klitzekleinen Welt unter mir.
Plötzlich durchfährt mich ein Geistesblitz. Meinem Freund, dem Wind, flüstere ich zu, dass er mich schneller als alle anderen tragen soll. Ich nenne ihm mein Ziel. Er kichert amüsiert, gibt meiner Bitte aber glucksend nach. Der aufkommende Wind lässt die anderen ein Augenlid heben, das sofort wieder fällt. Anscheinend sind sie zu müde, um wirklich wahrnehmen zu können, was sich hier gerade abspielt. Ich schwebe an ihnen vorbei bis hin zu einer riesigen Wolke, die ich als meinen Schlafplatz auserkoren habe. Dort angekommen gehe ich durch den Eingang dieses schlossähnlichen Gebildes und verkünde: „Ab jetzt ist dies mein Schloss. Mein Luftschloss. Ich zahle auch dafür.“ Ich grinse das Wolkengebilde an und murmelnd pflichtet es mir bei. Einen Schlafplatz habe ich somit käuflich erworben und gefunden. Glückselig lege mich in weiche Wolkenhimmelbetten, die den Schlaf schnell über mich kommen lassen. Alles ist jetzt gut.
In Gedanken versunken, von Fantasien und Vorstellung völlig eingenommen, schließe ich meine schwer gewordenen Augenlider und träume davon, den Wolken auf ihrer unbestimmten Reise zu folgen.
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Tag der Veröffentlichung: 05.11.2013
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