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In einer längst vergangenen Zeit …

 

In einer längst vergangenen Zeit, als die Sonne noch unbehindert von Smog unerbittlich auf die idyllische Natur brannte, als glückliche Hirten ihre Nutztiere auf saftigen Weiden vor den Raubtieren aus den finsteren Wäldern beschützten und Menschen mit 40 Jahren an Altersschwäche starben, bevor sie mit jahrzehntelangen Krankheiten kämpften, lebte in einer kleinen Hütte an einem malerischen reißenden Fluss ein alter Mann namens Gowan.

Seine Behausung war im kalten Winter die einzige weit und breit, in der man ohne Lungenstechen tief durchatmen konnte. Nur hier gab es einem Kamin, während im nahen Dorf Löcher in den Dächern mehr schlecht als Recht den Rauch entweichen ließen. Mag sein, dass dies der Grund für Gowans hohes Alter bei bester Gesundheit war, die Dorfbewohner dachten das aber nicht. Sie glaubten vielmehr an die magischen Kräfte des Schamanen Gowan. Dieser Theorie konnte der alte Mann wiederum gar nichts abgewinnen, da der Ungläubige nur wider Willen sein geistliches Amt angenommen hatte. Er war ein Erfinder, der in seinem Leben schon viele für seine Mitbürger seltsame Dinge ersonnen hatte. Sein Meisterwerk war eine kleine Puppe auf einem Kochtopf, die beim Erhitzen durch den aufsteigenden Dampf in eine Drehbewegung versetzt wurde. Er hatte die Figur mit kunstvoll gestalteten Flügeln versehen, durch die der Dampf den Tanz der Puppe auslöste. Das war ein Fehler. Die Menschen glaubten sofort an ein Fabelwesen und verehrten Gowan als Schamanen, der mit der Kraft des Feuers die himmlischen Mächte beherrschte.

An einem kalten Wintertag saß Gowan in seiner wohlig geheizten Hütte und arbeitete an seiner neuesten Erfindung, als er Besuch bekam. Der Dorferste Cinead hatte den mühsamen Weg aus seiner verrauchten Hütte durch den Schnee genommen, um in der klaren geheizten Luft von Gowans Heim durchzuatmen. Wie üblich stürmte der Dorferste ohne Anklopfen hinein. „Sei gegrüßt, Schamane Gowan! Arbeitest du an einem neuen Wunderwerk?“

Der alte Mann würdigte seinen Besucher keines Blickes und arbeitete weiter an seinem Werkstück. „Das ist kein Wunder. Ich würde es als Technik bezeichnen. Soeben bin ich fertig geworden.“

Nun wandte er sich dem Dorfersten zu und zeigte ihm sein Werk. Der nahm die beiden Teile in die Hand und betrachtete sie kritisch. „Was soll das sein?“

„Das sind Zahnräder. Sie haben eine faszinierende Eigenschaft. Sieh her!“ Er nahm sie wieder in seine Hände und führte das erste Getriebe der Geschichte vor. „Wenn du das eine Rad drehst, bewegt sich das zweite in die andere Richtung.“

„Wozu soll das gut sein? Warum bewegst du nicht einfach direkt das zweite Rad? Was fasziniert dich so, wenn es sich in die falsche Richtung dreht?“

„Siehst du nicht die Möglichkeiten, die darin stecken? Wenn man noch mehr Zahnräder zusammenfügt, kann man interessante Apparaturen herstellen.“

„Wofür braucht ein Mann Apparaturen, wenn er mit der Macht des Feuers Dämonen bändigen kann? Das ist unnützer Kram. Ich wollte dich bitten, zu meiner Frau zu kommen. Sie ist krank und benötigt eine Geisteraustreibung.“

Gowan schüttelte verzweifelt den Kopf, kam aber zu keiner Antwort, da in diesem Augenblick ein großer Mann, dessen Blick noch finsterer als sein schwarzer Bart war, in die Hütte stürmte. Er hielt einen Holzknüppel in der Hand und hob die Waffe drohend gegen Gowan und Cinead.

„Gebt mir sofort eure Vorräte, sonst töte ich euch beide!“

Gowan erschrak. Das war kein Dämon, den er mit einem Dampfkessel bewegen konnte. Er hatte von dem Räuber schon gehört … und seine Opfer gesehen. Zuletzt war es eine junge Familie gewesen, zu der man Gowan als Schamanen gerufen hatte. Eine junge Familie, Mann, Frau, drei Kinder. Alle waren mit eingeschlagenen Schädeln am Boden gelegen. Die ganze Hütte voller Blut. Nun stand er dem Mörder gegenüber und sah seine letzte Stunde gekommen. Am ganzen Leib zitternd beobachtete er, wie der finstere Kerl mit dem Knüppel näherkam.

Cinead musste als Dorferster Stärke zeigen. Sollte er überleben, durfte er nicht als Schwächling gelten. Niemand würde ihn dann als Führer akzeptieren. Doch was konnte ein kleiner, dicker Mann gegen den kräftigen Hünen ausrichten? Er nahm die zitternden Hände des Schamanen und spürte, wie dieser verkrampft die Zahnräder hielt.

Der Mörder war schon ganz nahe und holte zu einem vernichtenden Schlag aus. Gowan ließ seine Erfindung fallen, Cinead bückte sich und entging so dem tödlichen Hieb. Er hob ein Zahnrad auf und hielt es dem Verbrecher entgegen. „Weiche!“

Der Räuber lachte verächtlich. „Vor euch jämmerlichen Kreaturen werde ich sicher nicht weichen!“

„Weißt du denn nicht, wen du hier überfällst? Das ist die Hütte des Schamanen Gowan, dem die mächtigsten Dämonen im Himmel und unter der Erde gehorchen.“ Cinead hob demonstrativ das Zahnrad in die Höhe. „Das ist ein Amulett des Sonnengeistes Apparatur. Wenn du nicht sofort verschwindest, verfluche ich dich und du bist dein ganzes Leben verdammt, dich im Kreis zu drehen. Kinder, Frauen und alte Menschen werden dich verlachen und schließlich wird dich der große Schwindel von innen auffressen.“

Der Mörder zögerte. Sollte er vor einem Geist zurückweichen? Oder könnte er diesen auch niederschlagen? Er hob noch einmal seinen Knüppel, Cinead streckte ihm das Zahnrad forsch entgegen. Der Räuber ließ seine Waffe fallen und lief aus der Hütte.

Cinead atmete auf, nahm einen tiefen Zug von der wieder friedlichen, warmen und dennoch klaren Schamanenhüttenluft, ging zu Gowan und gab ihm sein Zahnrad zurück. „Du hattest recht, Schamane. Die Dinger sind tatsächlich nützlich.“

 

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Tag der Veröffentlichung: 30.08.2020

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