„Das war kein Selbstmord! Das war kein Selbstmord!“
Nyoko Humer traute ihren Ohren nicht. Als die Chefin der Keystone Cops, einer Gruppe des Bundeskriminalamts Wien für besondere Fälle, mit ihren Kollegen Christian Humer und Johann Sturmaier den Tatort betrat, hörte sie die Stimme des Tatortanalysten Klaus Zimmermann aus zwei Richtungen. Sie folgte einem Kanal der Stereoübertragung und sah den Vogelkäfig mit dem berühmtesten Papagei Österreichs. Das Tier betrachtete die Polizistin mit japanischem Migrationshintergrund und krächzte „Konnichi wa!“
Nyoko staunte. „Was haben wir denn hier für ein schönes und kluges Sprachentalent?“
Klaus Zimmermann kam aus dem Nebenzimmer. „Guten Morgen, Chefin! Darf ich vorstellen: Papperlapapp. Der Papagei hat einmal in einem Sketch mit einem Landsmann deiner Mutter gespielt. Als Auslöser für den Gruß hat man anscheinend asiatisches Aussehen trainiert.“
„Hallo Klaus! Ich ahne, warum man das BKA zu einem Selbstmord gerufen hat. Ist es ein Promi-Fall? Wer ist der Tote?“
„Du bist schön und klug wie der Papagei. Das Opfer ist Jürgen Röschl vom Comedy-Duo ‚Röschl & Papperlapapp‘.“
Sie gingen in den angrenzenden Raum. Der tote Komiker lag seitlich auf einer Couch. In der Hand hielt er noch die Pistole, deren Projektil ein Loch in seiner Stirn hinterlassen hatte.
Nyoko inspizierte den Toten von allen Seiten. „Du bist mit Papperlapapp einer Meinung, dass es kein Selbstmord war. Ich sehe das auch so. Erklär es mir trotzdem.“
Klaus kniete sich auf die Couch neben den Toten und verdeutlichte seine Ausführungen mit ausladenden Gesten. „Jürgen Röschl hatte eine unter Menschen weitverbreitete Eigenschaft: Die Arme befinden sich auf der Seite. Daher schießen sich die meisten Selbstmörder in die Schläfe. Ihm ist in die Stirn geschossen worden, der Schusskanal verläuft gerade nach hinten. Versuch mal, eine Waffe so an deine Stirn zu halten. Gar nicht so einfach und man will sich ja in seinen letzten Sekunden nicht noch die Hand verrenken.“
„Er könnte die Pistole verkehrt gehalten haben“, meinte Nyoko grübelnd, während sie die Schusswunde betrachtete.
Klaus schüttelte den Kopf. „Die Waffe befindet sich noch immer in seiner Hand und das richtig. Hat er sie nach seinem Tod umgedreht? Papperlapapp wird es wohl nicht gewesen sein. Der war im Käfig eingesperrt.“
Nyoko schmunzelte. „Den hätte ich auch nicht verdächtigt. Du willst mir sicher etwas über die Schmauchspuren erzählen.“
„Ich finde keine an der Hand und an der Schusswunde, es war kein Nahschuss, schon gar nicht aufgesetzt. Neben der Verrenkung wäre also auch die Verlängerung des Armes nötig gewesen. Da ist es noch wahrscheinlicher, dass ein Papagei alle japanischen Schriftzeichen lernt. Einen derart schlecht inszenierten Selbstmord habe ich noch nie erlebt.“
„Wertsachen?“
„347 Euro in der Geldtasche, das Smartphone liegt auf dem Wohnzimmertisch“, Klaus deutete in die Richtung, „der Laptop ist ebenso noch da wie einiger anderer elektronischer Schnickschnack in transportabler Größe.“
Nyoko ging zum Tisch und nahm das iPhone, das bereits in einer Beweismitteltüte verpackt war, in die Hand. „Es war also kein Profi und kein Räuber, sondern vermutlich jemand aus dem privaten Umfeld. Gibt es eigentlich Zeugen?“
„Einen gibt es. In diesem Fall ist es der Zeuge, der hinter Gittern sitzt.“
„Wie bitte?“
Klaus erhob sich von der Couch und ging Richtung Tür. „Er befindet sich drüben im Vogelkäfig. Ein Nachbar hat die Nacht durchgefeiert und bei seiner Rückkehr in den frühen Morgenstunden gehört, wie Papperlapapp ‚Ich bringe dich um!‘ gerufen hat. Der Partylöwe hat die Polizei alarmiert und die Streife dann den Toten entdeckt.“
„Röschl ist also in der Nacht ermordet worden.“
„Nein, unser pathologischer Professor hat den Todeszeitpunkt auf gestern Nachmittag geschätzt, etwa zwischen 4 und 6 Uhr. Er ist schon auf dem Weg zu einer Vorlesung und lässt dich herzlich grüßen.“ Klaus machte eine kurze Pause. „Du bist sonst immer die Erste am Tatort und heute hat dich sogar der alte Mann geschlagen. Ist alles in Ordnung?“
„Ich mag keine Selbstmordfälle, aber das hat sich ja jetzt erledigt. Wir kennen die Tatzeit und vermuten, dass es jemand aus dem Bekanntenkreis ist. Darauf kann man aufbauen.“ In ihren Augen begann der Kampfgeist zu glitzern. „Christian!“
„Wer ruft? Meine Ehefrau oder die Chefin?“, tönte die Stimme des Gerufenen aus dem Nebenraum.
Sie ging hinüber. „Sei froh, dass du zuhause der gleichen Befehlskette wie im Büro gehorchen musst. Könntest du bitte Persönliches über das Opfer recherchieren?“
„Das habe ich doch schon längst gemacht.“ Christian reichte ihr ein Tablet, auf dem die Wikipedia-Seite zu Jürgen Röschl aufgerufen war. „Bei einem Prominenten ist das nicht so schwer. Röschl stammte aus Baden und zog erst vor Kurzem nach Wien. Seine Frau setzte ihn auf die Straße, nachdem seine Affäre Schlagzeilen gemacht hatte. Manuela Röschl ist übrigens eine bekannte Schlagersängerin. Die Aufmerksamkeit wegen der Ehekrise bescherte ihr einen Nummer 1-Hit. Er verlor dagegen seine Sendung im Kinderprogramm.“
Nyoko überflog den Artikel. „Die Familie kommt aus Baden? Gibt es Verwandte hier in Wien?“
„Nein“, antwortete Christian, „so weit ich die näheren Verwandten recherchiert habe, leben alle in der Badener Gegend.“
„Vielleicht haben wir Glück und das wird eine Kurzgeschichte und kein Kriminalroman.“ Nyokos Beine begannen zu zappeln, das Zeichen für ihre Mitarbeiter, dass nun die Stressphase begann. Ihre Augen zeigten die Konzentration der Shogi-Meisterin, der Körper die Spannung der Trägerin eines schwarzen Karategürtels. Stets bereit für den nächsten Angriff. „Ich wage einen Schuss ins Blaue und beantrage eine Funkzellenabfrage. Das Ergebnis gleichen wir mit Röschls Telefonbuch ab. Der Mörder hat den Suizid sehr dilettantisch inszeniert, vielleicht war er mit einem eingeschalteten Handy hier. Ich rufe gleich Staatsanwalt Brell an.“
Während Nyoko telefonierte, beschäftigte sich Johann Sturmaier, der neben seiner Ermittlertätigkeit auch die Polizeimusikkapelle leitete, mit Papperlapapp. Er pfiff ihm einige Melodien von Johann Strauß vor, die der Vogel sofort mühelos beherrschte.
„Nicht schlecht! Er trifft die Töne exakt und für den Walzer besitzt er ein Taktgefühl, als ob Papageien eine heimische Tierart wären.“ Johann probte mit dem Vogel weitere Musikstücke, von Mozart über Beethoven bis Mahler. „Unglaublich! Papperlapapp ist ein wandelndes Tonstudio.“
Christian betrachtete die Aufnahmesession. „Will der Herr Kapellmeister den Papagei für die Polizeimusik rekrutieren?“
„Das ist nicht möglich, weil er kein Polizist ist. Bei den Sturmaier-Schrammeln kann er auch nicht spielen, da er nicht mit mir verwandt ist. Schade um das Talent. Joseph Haydn hatte übrigens auch einen Papagei. Der hat bei festlichen Anlässen immer, wenn ein Toast auf den Kaiser ausgesprochen wurde, ‚Gott erhalte Franz, den Kaiser‘ gesungen.“
Nyoko beendete ihr Telefonat. Sie ging zu der Gruppe und klatschte in die Hände. „Liebe Kollegen! Papperlapapp gibt keine Autogramme. Könnt ihr bitte etwas arbeiten!“
Christian schaute nachdenklich den Vogel an. „Johann hat etwas Interessantes erzählt. Man kann die verbalen Äußerungen eines Papageis triggern, zum Beispiel mit einem Toast die Kaiserhymne, oder einen japanischen Gruß, wenn er eine Asiatin sieht. Papperlapapp rief ‚Ich bringe dich um!‘ und imitierte dabei vermutlich die Stimme des Mörders. Ich möchte ein Experiment starten. Dazu muss ich den Zeugen allein vernehmen.“
Er nahm den Vogelkäfig, ging damit in einen angrenzenden Raum, und schloss die Tür. Nyoko wurde nervös. Das kam selten vor, aber wenn ihr Mann bei der Entwicklung einer Strategie diesen schelmischen Blick zeigte, musste man mit allem rechnen. Die Kollegen warteten etwas gelassener. Sie mussten sich ja auch nicht überlegen, wie sie danach disziplinäre Maßnahmen umgehen sollten.
Plötzlich ein Schuss!
„Ich bringe dich um!“, rief eine unbekannte Stimme im Nebenraum.
Nyoko zog ihre Waffe und stürmte hinein. Ihre Kollegen folgten ihr. Christian stand mit seiner Pistole in der Hand neben dem Käfig und starrte auf den Käfig. Der Vogel lag regungslos auf dem Boden. Nyoko betastete den Tierkörper. „Christian, was hast du jetzt schon wieder angestellt?“
„Ich wollte eigentlich nur den Satz des Mörders mit einem Schuss triggern.“ Er wich dem strengen Blick seiner Chefin aus und ging zum Fenster, drehte allen den Rücken zu. „Das Experiment war erfolgreich, aber danach fiel der Vogel tot um. Papperlapapp war anscheinend etwas schreckhaft. Die Stimme des Mörders kam mir irgendwie bekannt vor. Ich weiß nur noch nicht, woher.“
Sie lief im Raum hin und her und kämpfte mit dem Drang, gegen irgendetwas zu treten. „Ich habe immer befürchtet, dass du einmal einen Zeugen zu Tode erschreckst. Manchmal frage ich mich, was schlimmer ist, deine Frau oder deine Chefin zu sein.“ Schließlich endeten ihre Runden bei Christian. „Du kannst doch nicht an einem Tatort herumballern!“, schrie sie ihn an.
„Für besondere Situationen habe ich immer ein paar Platzpatronen dabei. Ich zerstörte nichts …“, er blickte zum Käfig, „… fast nichts.“
Nyoko schüttelte den Kopf. „Was für ein Wochenanfang! Ein Mord an einem Prominenten und der Schrecken aller Vögel als Ermittler. Wie sollen wir das der Presse erklären?“
„Könnten wir das eventuell noch geheimhalten? In meinem Kopf reift eine Strategie. Ich denke, der Verblichene wird uns aus dem Jenseits bei der Lösung des Falles helfen.“ Da war wieder dieser schelmische Blick, der Nyoko so viel Angst machte. Würde sie irgendwann wie Papperlapapp enden.
Christian betrachtete die Goldene Schallplatte an der Wand von Manuela Röschls Wohnzimmer im einst gemeinsamen Haus des Ehepaares. Nach dem Medienrummel um die Affäre hatte das Lied „Tränen im Winter“ die Hitparaden gestürmt. Ursprünglich hätte der Song „Party im Sommer“ heißen sollen, aber nach der öffentlichkeitswirksamen Affäre hatte der Produzent den Text ändern lassen, das Tempo halbiert, den Song mit einem Streichorchester neu abgemischt, und schon hatte das ganze Land mit der betrogenen Sängerin gelitten. Christian hatte auf der Fahrt nach Baden das Video angeschaut, in dem die Sängerin permanent weinte und gleichzeitig mit glockenheller Stimme sang. Nun saß sie auf der Wohnzimmercouch und heulte genau so wie im Video.
Nyoko reichte ihr ein Taschentuch. Manuela Röschl schnäuzte sich mit einem Geräusch, das Papperlapapp auch nicht besser hinbekommen hätte. „Ich habe immer befürchtet, dass er einmal Selbstmord begehen wird.“
Noch mehr Tränen, ein weiteres Taschentuch von Nyoko. „Hat Ihr Mann an Depressionen gelitten?“
„Schon seit seiner Jugend hat er dagegen Medikamente genommen. Er ist oft den ganzen Tag bewegungslos hier auf der Couch gelegen und hat zur Decke gestarrt. Am Abend ist er dann auf die Bühne gegangen und hat das Publikum zum Lachen gebracht. Am Anfang war es politisches Kabarett. Er hat Politikersprüche parodiert und Papperlapapp sie nachgeplappert. Dann ist er für das Kinderfernsehen entdeckt worden. Auftritte waren eine Therapie für ihn. Die hat er dann auch verloren, als dieses dumme Verhältnis bekannt geworden ist.“
Nyoko kämpfte mit ihrer Ungeduld. Sie sah eine Schauspielerin, die ihre Tränendrüsen auf- und abdrehen konnte wie einen Rasensprenger. Bei solchen Menschen musste man langsam vorgehen, um das Gegenüber in Sicherheit zu wiegen. Den inneren Zappelphilipp zu kontrollieren kostete viel Kraft. Nyoko rutschte etwas näher zu Johann, um Röschls Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Dass dieses Gespräch ein Schauspiel werden würde, hatte sie schon vorher befürchtet, und dem Polizeikapellmeister eine Hauptrolle zugedacht. Aber Nyoko musste vorerst noch selbst den Star spielen. „Ihr Mann ist hier ausgezogen. Wie ist es dazu gekommen?“
„Ist das wichtig?“, fragte Röschl verwundert.
„Wir müssen bei einem Selbstmord alle Umstände klären, vor allem bei Prominenten“, antwortete Nyoko mit einem Ton, der klar machte, dass sie nicht lockerlassen würde.
Röschl drehte ihren Tränenrasensprenger wieder voll auf. „Nach meinem Video zu ‚Sexy Girl‘ habe ich hunderte Liebesbriefe bekommen, nur mein Mann hat sich nicht für mich interessiert. Zuerst habe ich gedacht, dass die Medikamente schuld waren, aber dann ist die Wahrheit ans Licht gekommen.“ Sie nahm ein weiteres Taschentuch.
Beim Dirigieren mit Blicken war Nyoko effizient und talentiert wie Karajan mit dem Taktstock am Pult der Wiener Philharmoniker. Sie drehte sich kurz zu Johann.
Röschl folgte ihrem Blick. „Ich überlege schon die ganze Zeit, woher ich sie kenne“, fragte die Sängerin.
Johann übernahm den Einsatz mit perfektem Taktgefühl. „Wir sind gewissermaßen Kollegen. Ich bin auch Musiker.“
Manuela Röschls Tränen stoppten sofort. „Natürlich! Die Sturmaier-Schrammeln! Wir wollten Sie als Begleitmusiker für meinen Song ‚Heimatliebe‘, aber Sie haben uns einen Korb gegeben. Dann haben wir das Lied mit Synthesizern aufgenommen, die klangen auch ganz authentisch. Hatten Sie nicht auch einen Hit mit einer Rockband?“
„Ja, mit den ‚Smoking Sheriffs‘. Wir haben damals einen Skandal verursacht, weil wir als Polizistenband in einem Puff aufgetreten sind. Die Diskussionen haben uns kurz in die Top Ten gebracht. Aber das war nichts im Vergleich zu ‚Tränen im Winter‘.“
Röschl lächelte stolz. Nyoko staunte, wie einfach die Sängerin aus der Rolle zu kippen war. Eine Vernehmung war eben doch schwieriger als ein Musikvideo. „Damit wären wir wieder beim Thema“, warf sie ein. Ihr Blick war jetzt streng auf die Sängerin fixiert. Wie ein Raubtier. „Wie war das Verhältnis zu Ihrem Mann nach der Trennung?“
„Wir haben uns kaum gesehen“, stotterte Röschl. „Falls doch, war er völlig teilnahmslos. Wahrscheinlich haben sie seine Dosierung erhöht.“
Christian war die ganze Zeit im Hintergrund geblieben. Er fragte sich, ob Manuela Röschl das Seelenleben ihres Mannes nur im Medikamentenspiegel betrachtete. Nun näherte er sich ihr von hinten. „Frau Röschl, wo waren Sie gestern am späten Nachmittag?“
Sie erschrak. „Was soll die Frage? Brauche ich ein Alibi, wenn mein Mann Selbstmord begangen hat?“
„Bezüglich der Suizidtheorie gibt es noch einige Zweifel.“
Manuela Röschl begann wieder zu weinen, Nyoko reichte ihr noch ein Taschentuch. Christian war nun ganz nah hinter ihr. „Frau Röschl, Ihr Mobiltelefon war während der Tatzeit in der Funkzelle bei der Wohnung Ihres Mannes eingeloggt. Dürfte ich es bitte sehen?“
„Das habe ich verloren.“
Nyoko sah in Röschls Gesicht nur Ratlosigkeit. Mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Die einstudierte Sinfonie musste nun der Improvisation weichen. Die Chefinspektorin nahm ihr Handy und wählte eine Nummer. Die Handtasche von Manuela Röschl auf dem Tisch begann „Tränen im Winter“ zu singen.
Christian lachte. „Wir haben es gefunden. Es ist in Ihrer Tasche.“
Röschl begann wieder zu weinen. Diesmal wirkten die Tränen echt. „Wie kann das sein? Ich habe es gestern den ganzen Nachmittag gesucht. In der Tasche war es sicher nicht.“
Auch Nyoko war verwirrt. Die Fakten schienen eindeutig, passten aber nicht zur Reaktion der Sängerin. Um das Dilemma zu lösen, musste sie weiter Druck machen. Sie stand auf. „Frau Röschl, ich muss sie informieren, dass sie in den Ermittlungen des Mordes an ihrem Mann nun als Beschuldigte geführt werden. Sie dürfen sich einen Rechtsbeistand nehmen. Falls sie das nicht tun, wird Ihnen aufgrund der Schwere des Deliktes ein Pflichtverteidiger gestellt.“
Manuela Röschl hatte kein Lied über Konfusion im Repertoire, daher konnte sie nicht auf einstudierte Posen aus einem Musikvideo zurückgreifen. Sie saß einfach nur da und wich Nyokos Blick aus, spürte gleichzeitig Christians Atem hinter sich. „Ich war es wirklich nicht, das müssen Sie mir glauben. Mein Handy war gestern nicht in dieser Tasche.“
Christian stützte sich auf die Rückenlehne des Sofas und sprach ihr direkt ins rechte Ohr. „Sie werden ausreichend Gelegenheit bekommen, alles zu erörtern. Bitte kommen Sie mit uns.“
Röschl zuckte zusammen. „Das geht nicht. Ich habe noch nicht geduscht.“
„Duschen können Sie auch im Gefängnis.“
Christian ging um das Sofa und stellte sich nun neben Nyoko. Manuela Röschl stand auf, griff sich an den Kopf und ließ sich wieder auf das Sofa fallen. „Mir ist plötzlich schwindlig. Ich möchte meinen Arzt sprechen.“
Christian nahm seine Handschellen. „Das ist einmal etwas Anderes als ein Anwalt.“
Nyoko hielt ihn zurück. Es war Zeit für Johann, als Musikerkollege mit künstlerischer Empathie dem Gespräch eine konstruktive Wendung zu geben. Ein Blick reichte und der Kapellmeister übernahm. „Frau Röschl, hat Sie gestern jemand vor und nach der Tatzeit besucht?“
„Du liebe Güte! Mein Bruder war zwei Mal hier, obwohl wir vorher Monate nicht miteinander gesprochen haben.“ Sie vergrub ihr Gesicht hinter ihren Händen. „Am Vormittag wollte er über eine Rolle in meinem nächsten Musikvideo sprechen. Das hat er sonst nie gemacht, nicht einmal als wir noch ein besseres Verhältnis hatten. Dann ist er völlig betrunken mitten in der Nacht gekommen und hat mir seinen Weltschmerz vorgelallt.“
Johann wechselte seinen Platz, setzte sich neben Röschl und gab ihr ein Taschentuch. Die Polizisten hatten vor dem Besuch das Video zu „Tränen im Winter“ gesehen, und sich entsprechend mit Vorräten eingedeckt. Johann nahm ihre Hand. „Ist ihr Bruder nicht der Schauspieler Andreas Stumpner?“, fragte der Kapellmeister in sanften Moll-Tönen. „Warum hatten Sie ein schlechtes Verhältnis?“
„Die Geliebte meines Mannes war die Freundin meines Bruders, also die Ex-Freundin nach Bekanntwerden der Affäre. Das hat Andreas aus der Bahn geworfen. Für ihn war ich sogar an seiner gescheiterten Beziehung schuld, weil ich seiner Meinung nach die beiden zusammengebracht habe. Ich als Kupplerin für eine Affäre meines Ehemannes! Er ist völlig paranoid geworden.“
Johann nahm einen kleinen Notizblock und einen Kugelschreiber in Form eines Taktsocks mit dem Aufdruck „Wiener Philharmoniker“ aus seiner Tasche. „Wissen Sie, wo sich Ihr Bruder gerade aufhalten könnte?“
„Er hat heute einen Drehtag für den nächsten Donaukanal-Krimi. Ich gebe Ihnen eine Karte der Produktionsfirma. Die können Ihnen sagen, wo sie genau sind.“ Röschl kramte in ihrer Handtasche.
Christian steckte die Handschellen wieder ein. „Der Donaukanal-Krimi! Eine Frau in Stöckelschuhen und ein Kettenraucher gewinnen jede Verfolgungsjagd, selbst wenn sie permanent über umgeworfene Regale hüpfen müssen.“
Nyoko stand auf, um sich zu verabschieden. „Sehr gut, danke! Sie sind jetzt keine Beschuldigte mehr, aber Johann wird bei Ihnen bleiben. Wir müssen sichergehen, dass Sie Ihren Bruder nicht warnen. Christian, komm!“
Christian prüfte zum zehnten Mal die Funktion des Sicherheitsgurtes. Wenn er etwas an seiner Frau nicht liebte, war das ihr rasanter Fahrstil. „Du musst nicht die Schallmauer durchbrechen. Wir erreichen Stumpner schon noch rechtzeitig“, stöhnte er.
Sie fuhr mit quietschenden Reifen durch eine Kurve. „Johann kann Frau Röschl nicht ewig festhalten. Wir müssen das abschließen.“
„Die beiden sind Musiker, vielleicht singen sie bereits ein Duett und Manuela Röschl bekommt doch noch ihre Schrammel-Begleitung.“
Nyoko fuhr auf die Autobahn Richtung Wien und trat voll auf das Gaspedal. „Gegen Stumpner gibt es derzeit nur Indizien, aber keine Beweise. Bist du sicher, dass er es war?“
„Papperlapapp hat seine Stimme perfekt imitiert. Ich weiß jetzt, woher sie mir bekannt vorkam, nämlich aus dem Fernsehen. Der einzige Beweis ist aber leider tot“, murmelte Christian und surfte dabei in seinem Smartphone.
„Erinnere mich nicht an diese Aktion“, schimpfte Nyoko, „das wird uns noch einige Schwierigkeiten bereiten. Stumpner hat zwei falsche Fährten gelegt, einen Selbstmord inszeniert, und für den Fall, dass das nicht funktioniert, das Handy von Manuala Röschl während des Mordes mitgenommen und nicht ausgeschaltet, damit es sich in einer Funkzelle beim Tatort einloggt. Beides ist in die Hose gegangen. Sein kriminalstrategisches Geschick ist ausbaufähig wie das schauspielerische Talent seiner Schwester.“
Christian steckte sein Telefon wieder ein und drehte sich zu seiner Frau. „Es reicht für ein Happy End, wenn wir unsere eigenen theatralischen Fähigkeiten einsetzen. Wir müssen in eine Tierhandlung und dann brauchen wir noch einen Film, in dem Stumpner mitspielt, am besten einen Krimi. Kannst du bitte einen Abstecher in die Shopping City Süd machen.“
Nyoko schüttelte den Kopf. „Das ist nicht dein Ernst.“
Christian grinste. „Hast du eine bessere Idee?“
Einige Stunden später trafen Nyoko und Christian auf dem Filmset ein. Christian hielt einen Vogelkäfig mit einem Graupapagei in seiner Hand. Sie fanden schnell Andreas Stumpner, der sich von einem Buffet auf einem wackligen Gartentisch bediente.
„Herr Stumpner, mein Name ist Nyoko Humer vom Bundeskriminalamt, das ist mein Kollege Christian Humer. Können wir Sie kurz sprechen?“
Stumpner vermied den Blickkontakt, als er den beiden die Hand reichte. „Guten Tag! Bundeskriminalamt? Kommen sie wegen des Selbstmords meines Schwagers? Was gibt es da zu ermitteln? Ich habe wenig Zeit. Der Dreh wird bald fortgesetzt.“
Nyoko machte einen Schritt in die Richtung, in die Stumpner schaute, und stellte sich seinem ausweichenden Blick in den Weg. „Sie werden sich Zeit nehmen müssen. Herr Röschl hat keinen Suizid begangen. Er wurde ermordet.“
Der Schauspieler griff sich ans Herz wie auf dem Höhepunkt eines Grillparzer-Dramas. „Ermordet? Oh mein Gott! Und ich habe gedacht, dass die Depression am Ende doch gesiegt hat.“ Er schaute zum Vogelkäfig in Christians Hand. „Ist das Papperlapapp? Was machen Sie mit ihm hier?“
Christian stellte den Käfig auf den Gartentisch. „Papperlapapp war Zeuge des Vorfalls. Er kann bekanntlich sehr gut Stimmen imitieren. Ich möchte Ihnen etwas vorführen.“
Christian klatschte, Papperlapapps Double bekam seinen großen Auftritt und imitierte Stumpners Stimme. „Deine letzte Stunde hat geschlagen!“
Stumpner versuchte, in der Stimmlage vom Drama zu Nestroy zu wechseln. „Wenn das ein Witz sein soll, kann ich nicht darüber lachen.“
Nyoko schaute ihm streng in die Augen. „Ich kann über Christians Witze auch oft nicht lachen. Haben Sie dazu etwas Ernstes zu sagen?“
Ein weiterer Schauspieler kam zum Gartentisch und schenkte sich aus einer Thermoskanne Kaffee in einen Pappbecher ein. Nyoko sah Stumpners koffeinsüchtigen Blick und deutete ihm, dass er sich auch einen holen könne. Als er beim Gartentisch ankam, reichte ihm sein Kollege die Thermoskanne. In diesem Augenblick packte Stumpner den Mann, holte eine Pistole aus seiner Jackentasche und richtete sie auf den Kopf seines Kollegen. Nyoko und Christian zogen ihre Waffen und gingen hinter einem Auto in Deckung.
Stumpner ging mit seiner Geisel langsam rückwärts. „Ihr werdet euch sofort aus dem Staub machen! Ich lasse mir keinen Mord anhängen.“
Christian kam hinter dem Auto hervor, zielte mit der Pistole weiter auf Stumpner. „Aber eine Geiselnahme, Sie Idiot! Die Waffe ist doch eine Filmrequisite, was soll der Blödsinn?“
Stumpner wich weiter zurück, hielt seine Waffe an den Kopf des anderen Schauspielers. „Das ist kein Spielzeug, sondern meine private Pistole.“
„Auch noch eine nicht angemeldete Waffe“, schrie Christian. „Da kommt einiges zusammen. Geben Sie auf!“
„Verschwindet endlich! Ich zähle bis Drei, dann erschieß ich ihn.“
Christians Stimme wurde wütender. „Und bei Zwei erschieße ich Sie.“
Die Geisel bekam Angst, dass Nyoko einen Schuss bei Eins androhen würde. Der Mann hatte keine Lust, im Kugelregen zu stehen. Er rammte Stumpner seinen Ellbogen in den Bauch. Der Mörder krümmte sich und lag nach einem Schlag auf dem Boden. Die Geisel kniete sich auf ihn. „Aber ich weiß, dass es eine Requisite ist. Ich bin nämlich der Kommissar in diesem Film.“
Nyoko legte dem Mörder Handschellen an. „Gut gemacht, Herr Filmkollege, aber wir sind in Österreich, Kommissar gibt es keinen.“
Christian schnippte mit den Fingern und der Papagei plapperte mit Nyokos Stimme. „Herr Andreas Stumpner, ich verhafte Sie wegen des Mordes an Jürgen Röschl.“
Am nächsten Tag besuchte Oberst Ernst Stockhammer seine Elite-Abteilung in deren Büro. „Nyoko, Johann, Christian, Klaus, das war gestern hervorragende Arbeit und sagenhaft schnell. Ihr legt die Latte hoch, beim nächsten Mal will ich die Verhaftung vor dem Mord sehen. Ich habe nur noch zwei Fragen: Warum habt ihr mit den Spesen eine Quittung über einen Papagei eingereicht? Und wieso beschwert sich Frau Röschl, dass sie von euch den falschen Vogel bekommen hat?“
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2020
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