Johann Sturmaiers Finger trommelten auf den Schreibtisch. Der schwungvolle Dreivierteltakt des Schrammelmusikers veränderte sich im Laufe des Telefonates zu einer Kaskade, die von der Punkband seiner Tochter inspiriert schien. Die Lautstärke seiner Stimme entwickelte sich ähnlich, bis der auf das Telefon knallende Hörer die Klangcollage dissonant beendete.
Das Publikum dieser Darbietung bestand aus Johanns Chef Harald Ritter und seiner Kollegin Nyoko Binder. Die Kriminalpolizisten spendeten anstelle von Applaus fragende Blicke. Johann schaute nachdenklich in die Luft und sagte nichts. Nyoko wetzte unruhig hin und her. Die junge Frau hatte das Aussehen ihrer japanischen Mutter geerbt, aber nicht die asiatische Gelassenheit. Es gab aktuell keinen heißen Fall, so etwas machte sie stets unrund. „Mach es nicht so spannend! Gibt es etwas Neues?“
Johann griff zur Kontragitarre, die bei seinem Schreibtisch lehnte, um in hektischen Zeiten die Gedanken zu beruhigen und in weniger turbulenten Phasen für Unterhaltung zu sorgen. „Das picksüße Hölzl von Georg Dänzer wurde gestohlen.“
Der Chef hatte nebenbei unzählige Akten abgezeichnet. Er legte den Kugelschreiber zur Seite. „Ist das etwas Unanständiges? Hast du wieder einmal einen Hinweis aus dem Rotlicht-Milieu bekommen?“
Johann schüttelte verzweifelt den Kopf. „Es ist eine Klarinette, um genau zu sein, eine hohe G-Klarinette. Sie wird fast nur in der Wiener Volksmusik verwendet und aufgrund ihres hohen und dennoch sehr weichen Tons als ‚picksüßes Hölzl‘ bezeichnet.“
„Wir sind für Gewaltdelikte zuständig. Wieso hat der Herr Dänzer den Diebstahl bei dir angezeigt?“
Johann lachte. „Georg Dänzer hat den Einbruch nicht gemeldet, er ist nämlich 1893 gestorben. Er war der Klarinettist im legendären Quartett der Schrammel-Brüder, also ein Geburtshelfer dieser Musik. Der Musikinstrumentenhändler Robert Schieder, der auch mich zu seinen Kunden zählt, hat das Stück letzte Woche zwischen altem Gerümpel in seinem Lager gefunden. In der vergangenen Nacht ist jemand bei ihm eingebrochen und hat diese Klarinette gestohlen. Ich will bei der Ermittlung mitarbeiten.“
„Wer ist ermordet worden?“
„Chef! Bitte keine Zuständigkeitsdiskussionen!“ Johann wurde lauter. „Ich bin nicht nur Mordermittler, sondern auch Kapellmeister der Polizeimusik. Da fühlt man sich schon etwas zuständig, wenn ein historisches Musikinstrument gestohlen wird.“
„Johann! Für Einbrüche gibt es Spezialisten.“
„Die Gruppe von Rudolf Koglinger ist bereits vor Ort. Ich will den Fall nicht leiten, sondern unterstützen. Nicht einmal du hast gewusst, was ein picksüßes Hölzl ist, obwohl du schon öfter bei einem Konzert der Sturmaier-Schrammeln warst. Es gibt wohl nicht viele Polizisten, die es auf Anhieb erkennen.“
Johann hatte den Namen des leitenden Ermittlers nicht ohne Hintergedanken erwähnt. Die Strategie sollte rasch Erfolg zeigen. Nyoko mischte sich sofort in das Gespräch ein. „Mein ehemaliger Gruppenleiter bearbeitet den Fall? Ich will Johann begleiten.“
Nun wusste der Chef, dass er verloren hatte. Wenn Nyoko sich etwas einbildete, gab es kein Gegenmittel. Er stöhnte. „Wir sind sehr erfolgreich. Wenn wir uns nicht ständig um Dinge kümmern würden, die uns nichts angehen, wären wir das noch viel mehr. Wenn ihr unbedingt meint, dann geht halt und lasst mich mit den Akten alleine.“ Hilflos musste er zusehen, wie Nyoko Johann anlächelte und einen dankbaren Blick als Antwort bekam, bevor sie das Büro verließen.
Wenig später kämpften sich die beiden durch die Menschenmenge vor dem Musikfachgeschäft Schieder im 1. Wiener Gemeindebezirk. Der große Polizeieinsatz in und um das Geschäft hatte zum Gerücht über einen Mord geführt und zahlreiche Schaulustige angelockt.
Rudolf Koglinger diskutierte lautstark mit einigen Kollegen. Der Menschenandrang nervte ihn gerade gewaltig, als er seine ehemalige Lieblingskollegin heranstürmen sah. „Was macht ihr denn hier? Glaubt man jetzt im Sicherheitsbüro auch schon, dass hier jemand abgeschlachtet worden ist?“
Nyoko umarmte ihn und küsste ihn auf beide Wangen. „Natürlich nicht, aber Johann ist der Meinung, dass ein Kapellmeister den Tatort inspizieren muss, wenn ein Musikinstrument gestohlen wird, und ich wollte dich wieder einmal in Aktion sehen.“
„Du und nur zuschauen, das wäre ja ganz was Neues. Als du noch bei mir warst, hast du dich immer bei den Morden eingemischt, jetzt bist du bei der Gewaltkriminalität und kommst zu einem Einbruch.“ Er näherte sich und flüsterte in ihr Ohr. „Unter uns gesagt, meine derzeitige Gruppe ist etwas lahm. Ich wäre eigentlich dankbar, wenn dein Temperament hier etwas Feuer macht.“
Johann hatte inzwischen den Inhaber des Geschäftes begrüßt. Robert Schieder, der ähnlich lang und dünn wie eine Klarinette war, benötigte dringend die Beruhigung durch einen Bekannten. Der Polizist versuchte, die nervöse Spannung zu lockern, indem er Interesse an einer neuen Gitarre signalisierte, bis Schieder von einem Anruf unterbrochen wurde. Der Geschäftsmann stammelte kaum verständliche Worte ins Telefon, bis er seufzend den Hörer auflegte. „Das war die Redaktion der Zeitung ‚Unser Blatt‘. Bei ihnen ist ein anonymer Brief abgegeben worden. Der Schreiber behauptet, das picksüße Hölzl gestohlen zu haben. Er verlangt 100.000 Euro Lösegeld und die Zusicherung, dass die Klarinette nicht ins Ausland verkauft wird.“
Johann griff sich an den Kopf. „Ich bezweifle, dass das Ding so viel wert ist. Man kennt Georg Dänzer in der Schrammel-Szene, aber er war nicht Keith Richards. Was hat es mit der Zusatzforderung auf sich? Gibt es ausländische Kaufinteressenten?“
„In der Tat will ein japanischer Sammler das Instrument kaufen. Die Verhandlungen sind aber noch nicht abgeschlossen.“
„Interessant“, meinte Johann staunend. „Wer weiß davon?“
„Nicht sehr viele Menschen. Schrammel-Instrumente erregen heutzutage keine große Aufmerksamkeit.“
„Zum ersten Mal bin ich froh darüber“, meinte Johann mit einem entschuldigenden Blick. „Wir brauchen eine vollständige Liste. Wenn sie kurz ist, erleichtert das unsere Arbeit, und wir sollten schnell den Faden zum Täter verfolgen können.“
Nyoko hatte inzwischen den Tatort besichtigt und holte ihre Kollegen zur Seite. „Wir suchen übrigens keinen Profi. Die Einbruchsspuren an der Hintertür sind eher stümperhaft brachial. Der Täter hatte Glück, dass gerade die Alarmanlage kaputt war.“ Bei dem Wort „Glück“ richtete sie einen vielsagenden Blick nach oben. „Er hat nichts außer der historischen Klarinette gestohlen, die aber im Lager nicht besonders gekennzeichnet war. Er wusste von dem ausländischen Interessenten und wahrscheinlich auch vom kaputten Alarmsystem. War das Hölzl eigentlich hoch versichert?“
Koglinger schüttelte den Kopf. „Er hat das Instrument erst vor einigen Tagen entdeckt. Die Versicherungen wollten Gutachten über den Wert, das geht nicht so schnell.“
„Schade! Sonst hätte ich ihn gleich verhaftet. Aber warum sollte er sich selbst erpressen? Das ergibt alles keinen Sinn. Hier befinden sich viele Instrumente, die sicher einiges wert sind und leicht verhökert werden können, weil es keine historischen Einzelstücke sind. Der Einbrecher nimmt das einzige Stück, das man direkt mit der Tat verbinden kann und startet diesen abenteuerlichen Erpressungsversuch mit zwei verschiedenen Forderungen, die sich eigentlich widersprechen. Wenn er das Kulturgut aus Heimatliebe im Inland behalten will, warum verbindet er das dann mit einer illusorischen Lösegeldforderung? Geldgierige Leute hängen meistens nicht so an Heimatromantik. Ist es ein Ablenkungsmanöver? Der Täter ist entweder sagenhaft dumm oder so klug, dass wir ihn noch nicht verstehen. Wir müssen das Motiv herausfinden, dann wissen wir auch, wer der Einbrecher war. Will Herr Schieder auf die Lösegeldforderung eingehen?“
„Nein. Er kann sich das nicht leisten und es wäre ein Verlustgeschäft.“
„Ich verstehe das nicht und das geht mir auf die Nerven.“
Johann studierte am nächsten Tag die Zeitungsberichte zum Klarinetten-Fall und schlug mit der Faust auf dem Tisch. „Was ist denn das für eine kolossale Scheiße? Gestern hat noch kein Mensch gewusst, was ein picksüßes Hölzl ist, und heute soll es plötzlich ein heimatgefährdender Skandal sein, weil niemand die viel zu hohe Lösegeldforderung bezahlen will. Das picksüße Hölzl ist über Nacht zu einem Nationalsymbol geworden. Die Zeitung startet einen Spendenaufruf. Die Bundesregierung und der Wiener Landtag wollen die Spenden aufstocken, um das Lösegeld aufzubringen. Ich habe keinen von denen jemals bei einem Konzert der Sturmaier-Schrammeln gesehen. Wahrscheinlich haben sie bei Wikipedia nachgelesen, was für ein Verlust unsere Heimat ins Wanken bringt.“
Die Aufregung über den drohenden Verlust des heimischen Kulturguts hielt auch noch am nächsten Tag an, aber die Spenden hielten sich in Grenzen. So schlimm, dass man dafür Geld geben wollte, war es auch wieder nicht. Aber nach erst einem Tag konnte der Klarinettenentführer noch auf mehr Einnahmen hoffen. Er meldete sich dennoch schon jetzt, bestimmte den Ort und die Zeit der Lösegeldübergabe, und ließ sich die Summe ohne großen Widerstand herunterhandeln.
„Das stinkt zum Himmel“, meinte Nyoko bei der Lagebesprechung. „Er akzeptiert eine lächerliche Lösegeldsumme und veranstaltet ein Spektakel mit der Übergabe in einem öffentlichen Mistkübel wie in einem schlechten Krimi. Das zwingt uns zu einem Polizeieinsatz, der zehn Mal so viel kostet, wie die Klarinette wert ist. Was will der Mann?“
Koglinger lächelte, er hatte Nyokos Temperament seit ihrem Abgang aus seiner Gruppe schon oft vermisst. „Der Krimi ist wirklich sehr schlecht. Der Abfalleimer ist gut einsehbar, rundherum befinden sich Gebäude, von denen aus wir den Übergabeort beobachten können und die Fluchtmöglichkeiten sind auch begrenzt. Wenn er das Geld abholt, kann er uns sagen, warum er das so idiotisch organisiert hat.“
Nyoko schüttelte den Kopf. „So blöd kann kein Mensch sein. Es gibt nur eine logische Erklärung. Er will das Geld gar nicht abholen. Das ist aber noch unlogischer. Ich werde wahnsinnig, wenn ich über die Geschichte noch lange nachdenke. Am liebsten würde ich den Beutel mit dem Geld in den Mistkübel werfen, ohne teuren Polizeieinsatz verschwinden, und die Moneten am nächsten Tag wieder abholen.“
Koglinger lachte. „Das wäre aber auch peinlich, wenn uns ein dummer Verbrecher entwischt, weil wir nicht geglaubt haben, dass er ein Trottel ist. Wir werden das Spiel wohl mitspielen müssen und hoffentlich am Ende gewinnen. Machen wir einen Schlachtplan. Die Übergabe soll morgen um 10 Uhr vormittags stattfinden …“
Am Abend des folgenden Tages saßen Johann und seine Geschwister in einem Raum neben der Bühne eines Döblinger Nobelheurigen. Sie trugen die Tracht der Sturmaier-Schrammeln und bereiteten sich auf ihren Auftritt vor. Johann war schlecht gelaunt. Sein Bruder Anton versuchte, ihn aufzumuntern. „Nimm es nicht so tragisch. Fehlschläge gehören in unserem Beruf dazu.“
„Aber doch nicht so peinlich!“, rief Johann. „Wir machen einen Riesen-Polizei-Einsatz wegen einer Lösegeldübergabe und verhaften dann einen Straßenmusikanten, der zufällig mit einem Klarinettenkoffer vorbeigekommen ist.“
„Das wird sich schon wieder legen. Der Schieder hat es auch nicht so tragisch gesehen. Er war eigentlich ganz fröhlich, als er uns vorher hier besucht hat.“
Johanns Schwester Claudia öffnete ihren Instrumentenkoffer. „Das ist aber nicht meine Klarinette. Was soll ich mit dem alten Ding?“
Johann ging zu ihr und betrachtete das Teil. „Das darf doch nicht wahr sein! Jetzt ist mir alles klar! Wir sind die ganze Zeit nur verarscht worden. Das ist das picksüße Hölzl von Dänzer! Schieder hatte doch vorher einen Rucksack dabei und er war kurz alleine hier im Raum. Das wird ein Auftritt, den das Publikum nicht vergessen wird.“
Die Sturmaier-Schrammeln betraten die Bühne und begannen das Konzert mit einer Schrammel-Version des Banditen-Galopps von Johann Strauß. Schon bei der Ankündigung des Stücks wechselte Johann Blicke mit der im Publikum sitzenden Nyoko und lenkte dezent ihre Aufmerksamkeit auf Schieders Rucksack. Nach dem Stück bat er den Instrumentenhändler und Besitzer der gestohlenen Klarinette von Georg Dänzer auf die Bühne. Kaum war der vorne, schnappte sich Nyoko seinen Rucksack, den er unten gelassen hatte, durchsuchte ihn und fand eine Klarinette, die sie Johann zeigte. Der musizierende Polizist sprach mit Schieder auf der Bühne. „Erzählen Sie doch dem Publikum von Ihrem Plan, den Wert eines exotischen Instruments durch einen vorgetäuschten Einbruch und eine Scheinerpressung zu steigern.“
Schieder wurde nervös. „Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“
„Sie haben das picksüße Hölzl von Georg Dänzer gefunden, doch leider ist das Interesse an dieser schönen Musik nicht so groß, dass es eine beträchtliche Summe einbringen würde. Daher haben Sie die Geschichte inszeniert, um die Bekanntheit des Stücks und damit das Kaufinteresse zu steigern.“
„Sie reimen sich da etwas zusammen, um von ihrem peinlichen Misserfolg abzulenken.“ Schieder bemühte sich, gelassen zu wirken. „Warum sollte ich das tun? Es gibt bereits einen japanischen Interessenten.“
„Den gibt es nicht. Meine Kollegin Nyoko hat den Namen überprüft, sie hat gute Beziehungen in Japan. Sie haben ihn erfunden, um auf der Nationalgefühlsorgel zu spielen. So etwas funktioniert heutzutage gut. Jetzt, wo sich alle für das Instrument interessieren, wollten sie es wieder auftauchen lassen und haben es meiner Schwester in den Klarinettenkoffer gelegt.“
„Ihre Schwester hatte das picksüße Hölzl? Dann müssen Sie aber in Ihrer Familie ermitteln und nicht bei mir.“
Johann zeigte in den Publikumsraum, wo Nyoko eine Klarinette in die Höhe hielt. „Warum befindet sich dann Claudias Klarinette in Ihrem Rucksack? Sie haben sie ausgetauscht.“
„Das stimmt nicht. Dies ist ein Instrument aus meinem Geschäft. Ich wollte es hier einem Kunden zeigen.“
„Die Analyse des Instruments wird Spuren von Claudia zeigen. Verkaufen Sie oft Instrumente mit der DNA meiner Schwester? Sie sind verhaftet! Nyoko wird sie abführen.“
Johanns Kollegin holte Schieder von der Bühne und führte ihn aus den Saal. Das Publikum applaudierte und kam in den Genuss eines Konzertes mit dem originalen picksüßen Hölzl von Georg Dänzer.
Tag der Veröffentlichung: 25.07.2020
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