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Der Stern

 

In einer Intensivstation des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien blickte die Krankenpflegerin Ariane Ortner durch das Fenster ihres Arbeitsraumes in das Krankenzimmer von Gerald Kastner. Der Patient mit dem dicken Kopfverband starrte regungslos zur Decke. Neben Schwester Ariane saß ein Polizist und schlief.

Sie blickte zur Uhr an der Wand. Noch eine halbe Stunde bis zum Ende eines ereignislosen Dienstes.

Dachte sie.

Stimmte aber nicht.

Plötzlich warf der Patient die Bettdecke zur Seite, zog sein Krankenhemd hoch, riss die Infusionskanülle aus seinem Arm und stach in seine Brust, ein Mal, zwei Mal, drei, vier, fünf tiefe Stiche.

Ortner konnte sich nur langsam aus ihrer Schockstarre lösen. Als sie schließlich ins Krankenzimmer lief, hatte Gerald Kastner bereits Verbindungslinien zwischen die Einstiche geritzt. Auf seiner Brust blutete ein Stern.

 

Die Keystone Cops

 

Am Tag darauf betrat im Wiener Sicherheitsbüro Chefinspektor Harald Ritter das Büro seiner Gruppe. „Leute, ich habe gerade erfahren, dass gestern etwas Seltsames vorgefallen ist. Ihr könnt euch doch sicher noch an den Pekovits-Fall erinnern …“

Nyoko Binder sprang auf und lief mit ihren knallroten Tretern aus der größten Turnschuhsammlung Wiens zum Aktenschrank. „Natürlich! Nichts ärgert mich so wie ein ungelöster Fall.“

Sie nahm einen Ordner heraus und knallte ihn auf Christian Humers Schreibtisch. Er war mit dem Temperament seiner Kollegin und Ex-Freundin bestens vertraut, hatte sich auch an den Platz in der Gefahrenzone neben dem Regal mit den ungelösten Fällen längst gewöhnt, und erschrak daher nicht. „Sei doch nicht so streng. Immerhin haben wir einen der beiden Täter gefasst und den zweiten werden wir auch noch aus dem Verkehr ziehen.“

„Versuch nicht, mich zu beruhigen! Das regt mich nur noch mehr auf! Ich sehe den Film der Überwachungskamera noch vor mir, als ob es gestern war … der Juwelier Pekovits reißt einem der beiden Räuber die Maske vom Kopf … sie schlagen ihn nieder … danach erschießen sie ihn und seine Frau … völlig unnötig, die Lage ist längst wieder geklärt … es war eine Hinrichtung. Darf man sich da bitte etwas ärgern?“

„Natürlich darfst du. Aber wenn unser Chef daneben zu Wort käme, um uns die Neuigkeiten zu berichten, würde uns das vielleicht bei der Suche nach dem zweiten Mann helfen.“

Sie setzte sich auf seinen Schreibtisch. „Entschuldigung, aber das war unser peinlichster Fall. Gerald Kastner zu ermitteln war ein Kinderspiel, nachdem ihm Pekovits die Maske vor der Kamera vom Kopf gezogen hat. Dennoch finden wir den zweiten Mörder nicht und Kastner sitzt schweigend im Gefängnis. Das kann doch nicht so schwer sein!“

Christian stupste ihren Oberschenkel. „Nyoko? Wolltest du nicht den Chef etwas erzählen lassen?“

Sie atmete tief ein. „Ich … äh … ja. Chef, was gibt es Neues? Hat Kastner endlich ausgepackt?“

Der alte Mann hatte sich in der Zwischenzeit an seinen Arbeitsplatz gesetzt. „Christian, willst du wirklich auf diese internationale Polizeimission gehen? Ich werde ein ganzes Jahr nicht zu Wort kommen. Gerald Kastner ist vor zwei Wochen im Gefängnis schwerst verprügelt worden. Ein unbekannter Mithäftling hat ihn mehrmals gegen den Kopf getreten …“

Nyoko sprang von Christians Schreibtisch. „Was? Wieso sagt uns kein Schwein etwas? Vielleicht sitzt sein Komplize auch dort und wollte seinen Mitwisser beseitigen.“

Christian nahm ihre Hand und zog seine Kollegin sanft wieder zu ihrem Stammplatz auf seinem Tisch. „Du solltest wieder mehr Zen-Meditation betreiben.“

Sie nahm diesmal die Lotussitz-Stellung ein. „Ich will auch nicht, dass du weggehst.“

„Ich werde nie verstehen, warum ihr beide euch als Ex-Paar bezeichnet“, sagte der Chef kopschüttelnd. „Die Kollegen vor Ort haben eher einen Zusammenhang mit Drogengeschäften in der Haftanstalt gesehen und die Motivation der Ermittler hält sich bei Gefängnisschlägereien in Grenzen. Kastner hat schwere Kopfverletzungen erlitten und ist operiert worden. Vorgestern ist er aus dem Koma erwacht. Er leidet jetzt an einer totalen Amnesie, aber gestern hat er sich mit einer Kanüle einen Stern in die Brust geritzt.“

Christian horchte auf. „Ein Stern? Fünf oder sechs Zacken?“

„So genau hat man mich nicht informiert. Spielt das eine Rolle?“

„Das weiß ich noch nicht. Sich etwas in die Brust zu ritzen klingt nach einem Bußritual. Bei einem Mörder finde ich das sehr interessant. Sagtest du nicht, dass er an einer Amnesie leidet? Wie ausgeprägt ist sie?“

„Anscheinend total. Er kann sich nicht einmal an seinen Namen erinnern.“

„Das ist sehr spannend. Als er sich an seine Tat noch erinnerte, gab er uns keinen Hinweis. Vielleicht macht er das jetzt.“

„Du sprichst in Rätseln“, raunte der Chef achselzuckend. „Wie soll das gehen?“

Christian kramte in seiner Schublade mit Zauberutensilien, nahm ein Kartenspiel heraus, mischte, fächerte sie auf und hielt sie Nyoko hin. „Zieh bitte eine Karte!“

Sie gehorchte. „Warum bekomme ich bei deinen Spielen jedes Mal eine Herz Dame?“

„Das hat wohl etwas mit Unterbewusstsein zu tun. Bitte hole den Hut des Chefs und gib die Karte hinein … sehr schön, du kannst so brav sein.“ Er nahm den Hut, drehte ihn um, der Bogart war leer, und gab ihn Nyoko zurück. „Ich habe die Herz Dame nicht gefunden. Such du sie.“

Sie fand etwas. „Das ist die Tarot-Karte XVII, der Stern. Wie hast du das gemacht?“

„Wo kommt der Stern her, wenn vorher alles leer war? Das ist hier die Frage.“

Nyoko sprang von Christians Tisch und lief zu ihrem Platz. „Deine Tricks sind immer so entspannend, um den Kopf freizubekommen. Dennoch möchte ich den Fall nicht mit Magie lösen. Ich erinnere mich, dass der zweite Täter den Juwelier mit einer Karatetechnik außer Gefecht gesetzt hat. Ich will mir das Video noch einmal anschauen.“ Sie rief den elektronischen Akt auf und spielte den Film ab. „Seht her, das ist Yoko-Geri, der Seitwärts-Fußtritt.“

„Wenn die Trägerin eines schwarzen Gürtels das sagt, muss es wohl stimmen“, meinte Christian, der seiner Kollegin zu ihrem Platz gefolgt war.

Sie spielte die Szene noch einmal in Zeitlupe ab. „Einen Kuro Obi besitzt der sicher nicht“, meinte sie nachdenklich. Sein Gürtel ist höchstens grün, Midori Obi. Er schlägt mit großer Kraft, aber sehr schlampig und unkonzentriert. Die Beinstellung ist eine Katastrophe. Man sieht an seiner Statur, dass er beim Bodybuilding fleißiger als beim Karate-Training ist. Obwohl er wahrscheinlich doppelt so stark wie ich ist, lege ich ihn innerhalb von zehn Sekunden auf die Matte. Wir haben damals in Karate-Klubs keinen Verdächtigen gefunden, dafür gibt es zu viele. Aber im Gefängnis ist der Personenkreis deutlich eingeschränkter. Wenn der Schläger der zweite Mann aus dem Überfall war, haben wir einen neuen Anhaltspunkt. Chef, wo ist eigentlich Johann?“

„Er probt mit der Polizeimusikkapelle, sollte aber bald kommen.“

„Sag ihm bitte, dass er sich das Gefängnis anschauen soll, vor allem die Neuzugänge. Hat jemand einen Bezug zu Gerald Kastner? Passt die Statur zu dem Mann im Video? Wer hat Karate trainiert?“

Der Chef neigte seinen Kopf nachdenklich zur Seite. „Bei der letzten Frage bin ich etwas skeptisch. Anhänger von Kampfsportarten sind in Gefängnissen überrepräsentiert, aber ich werde deinen Auftrag an den Herrn Kapellmeister weitergeben.“

„Danke! Er darf mir ruhig eine lange Liste schicken und ich werde bei jedem prüfen, wo seine Kenntnisse stehen. Vielleicht veranstalte ich ein Probetraining in der Justizanstalt. Und Klaus soll sich die Beweise von damals noch einmal anschauen, ob es bei Kastner einen Zusammenhang mit Sternen oder Bußritualen gibt. Christian, du willst sicher die Wundmale begutachten. Fahren wir ins Krankenhaus!“

Die Blicke des Chefs verfolgten seine Mitarbeiter beim Verlassen des Büros. Seit Nyoko für ihn arbeitete, musste er seine Gruppe nicht mehr antreiben. Er hatte nur noch Stress, wenn sie auch ihm einen Auftrag gab.

 

Im Krankenzimmer

 

Nyoko und Christian betraten das Krankenzimmer.

„Guten Tag, Herr Kastner! Können Sie sich noch an uns erinnern? Mein Name ist Nyoko Binder, das ist mein Kollege Christian Humer. Wir haben Sie damals verhaftet.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Was sollte ich verbrochen haben? Bin ich deshalb an dieses Bett gefesselt?“

„Sie sind fixiert worden, weil Sie Ihre Brust verziert haben. Dürfen wir das Kunstwerk betrachten?“

„Vor einer hübschen Chinesin ziehe ich mich gerne aus, aber muss er auch dabei sein?“

„Japanerin bitte, und das nur zur Hälfte. Die Triebe haben Sie anscheinend nicht vergessen. Wir werden einen Dreier machen. Ich hebe Ihr Krankenhemd hoch und er schaut sich Ihre Brust an.“

„Ich kann mich mit den Fesseln ja doch nicht wehren.“

Nyoko setzte ihre Ankündigung um. Christian betrachtete den entzündeten Stern. „Sehr interessant! Ich muss eine kleine Internet-Recherche machen.“

Die Polizisten gingen in den angrenzenden Raum. Christian schaltete seinen Laptop ein und surfte im Internet. Nyoko lief unruhig hin und her. „Recherchierst du aus persönlichem Interesse oder hast du eine Idee zum Fall? Ich fürchte, dass du dich in etwas verrennst. Auch wenn er hier ein seltsames Ritual veranstaltet hat, ist er kein spiritueller Mensch. Er hat so etwas im Fernsehen gesehen und mit seiner Kopfverletzung kommt jetzt irgendetwas hoch.“

„In so einem Zustand spielt man nicht irgendeinen Gruselschocker nach, weil es im Krankenbett so langweilig ist. Es hängt mit seinem Mord zusammen und in der Symbolik könnten Hinweise verborgen sein, die man auf dem ersten Blick nicht bemerkt …“ Während er redete, klickte er weiter auf seinem Computer. „… zum Beispiel, dass sein Komplize aus Sankt Georg im Seewinkel kommt.“

„Ich frage mich täglich, ob du genial oder völlig durchgeknallt bist.“

Christian grinste. „Findest du auch eine Antwort?“

„Jeden Tag eine andere. Bin gespannt, was heute herauskommt. Erkläre mir, wie du auf diesen Ort kommst.“

„Das Zeichen ist ein klassisches Pentagramm. Es ist ein Symbol für Jesus. Auf den Kopf gestellt ist es der Drudenfuß und steht für Satan.“

Nyoko setzte sich zu ihm, ihre Finger klopften hektisch auf den Tisch. „Ich glaube nicht, dass Gott oder der Teufel aus Sankt Georg im Seewinkel kommen. Lass bitte die kulturellen Erklärungen aus und komm auf den Punkt!“

„Das Bußritual führt uns zu Heinrich Seuse …“

Nyoko nahm ihr Smartphone. „… es geht ja doch etwas schneller! Ich lasse ihn sofort überprüfen. Wenn er der zweite Mörder ist, bekommst du einen dicken Kuss.“

„Seuse hat ein Alibi. Er ist seit 700 Jahren tot.“

„Christian! Bitte überspringe die nächsten Jahrhunderte, bevor ich explodiere!“

„Heinrich Seuse war ein mittelalterlicher Mystiker. Er hat Interessantes über das bildlose Bild geschrieben.“

„Du bist ein Meister der zeitlosen Zeit. Komm endlich in die Gegenwart!“

„Und du bist die Königin der geduldlosen Ungeduld. Seuse beschrieb in seinem Hauptwerk zahlreiche brutale Selbstkasteiungen, unter anderem ritzte er sich ‚IHS‘ in die Brust … hör auf zu zappeln … kannst du dich nicht an den Seuse-Skandal vor einigen Jahren erinnern? Der Pfarrer von Sankt Georg im Seewinkel war ein großer Anhänger des Mystikers und erzählte den Volksschulkindern sehr detailliert von den Kasteiungen. Die Eltern beschwerten sich wegen der traumatischen Folgen. Manche Kinder wurden von heftigen Albträumen verfolgt. Der Komplize könnte Kastner davon erzählt haben. Johann sollte prüfen, ob ein Häftling in Stein aus Sankt Georg kommt.“

„Ist das nicht etwas weit hergeholt?“

„Wenn man keinen dicken Strick hat, muss man einen dünnen Faden nehmen. Im Idealfall finden wir in der Strafanstalt Stein einen Häftling aus Sankt Georg, der sich mit Karate beschäftigt.“

 

Karate im Gefängnis

 

Am folgenden Tag stand Nyoko im weißen Karate-Anzug mit schwarzem Gürtel vor einer Gruppe von zehn gefährlich aussehenden Männern in Trainingsanzügen, auf deren Rückseite „Justizvollzugsanstalt Stein“ stand. 20 lüsterne Augen der Männergemeinschaft starrten auf die hübsche Frau. Hinter ihr standen Christian und Johann.

Sie fixierte jeden der Männer mit einem stechenden Blick, besonders lange den dritten in der Reihe, Reinhard Fuchs.

„Meine Herren, wir planen ein Projekt eines Häftlings-Karate-Kurses. Machen Sie sich keine Hoffnungen, dass Sie für Gefängnisschlägereien trainiert werden. Karate ist Konzentration und Selbstbeherrschung, Sie werden Ihr inneres Gleichgewicht finden. Wer das schafft, bekommt von mir ein handsigniertes Poster aus meiner Pin-up-Zeit.“

Das wirkte. Sie beobachtete, wie einer nach dem anderen sein Gehirn ausschaltete. „Hat jemand schon Erfahrung in Karate?“

Reinhard Fuchs trat vor. Er war zwei Köpfe größer als die Polizistin und dank seiner Muskelberge 40 Kilo schwerer. Sie ging ihm entgegen. „Sehr schön. Welcher Gürtel?“

„Grün.“

„Midori Obi. Der Samen keimt, ein Pflänzchen kommt. Sie haben noch einen weiten Weg vor sich. Ihre Haltung ist bucklig wie bei einem Dromedar. Sie müssen mehr Dehnungsübungen machen. Greifen Sie mich an! Ich will Yoko-Geri, den Seitwärts-Fußtritt, sehen.“

Fuchs startete die Attacke, ließ seinen Fuß gegen die Polizistin schnellen, mit ausreichend Schwung und Kraft, um sich selbst mit Nyokos Hilfe zu Boden befördern. Auf dem Bauch liegend spürte er die Knie der Polizisten im Rücken, die von der fernöstlichen Kampftechnik zur klassischen Polizeifixierung wechselte. „So ein Fußtritt ist eine mächtige Waffe. Dumm ist es aber, wenn man auf einem Bein Probleme mit dem Gleichgewicht hat. Johann, zeig ihm das Foto!“

Johann legte ihm einen Standbild-Ausdruck vom Juwelier-Überfall vor sein Gesicht. Nyoko lockerte ihren Griff, damit Fuchs die Aufnahme betrachten konnte. „Dieser Mann hat den gleichen Fehler gemacht. Die Statur und die Haltung passen auch zu Ihnen. Wollen Sie mir etwas darüber erzählen?“

„War dieses ganze Trainingsprojekt nur ein Fake, um mich zu testen?“

„Ich bin auf den Geschmack gekommen. Vielleicht mache ich tatsächlich einmal hier einen Kurs. Haben Sie Ihrem Komplizen die Schauergeschichten des Pfarrers aus Ihrer Kindheit erzählt? Er führt jetzt Bußrituale im Krankenhaus durch.“

„Jetzt hat mich dieser Idiot doch noch verpfiffen! Aber wieso konnte er meinen Namen nennen? Ich habe gehört, dass er sein Gedächtnis verloren hat.“

„Ich werte das als Geständnis. Das ist für mich ein organisatorisches Problem. Ich weiß nicht, ob ich jemand verhaften muss, der schon im Gefängnis sitzt.“

Nyoko stand auf, Johann half Fuchs auf die Beine.

Christian öffnete die Trainingsjacke des Häftlings.

Auf der Brust befand sich ein großes Tattoo.

Ein Drudenfuß.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.07.2020

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