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Die Nachtmenschen

„Hey! Warum bist du noch nicht im Bett? Die Dämmerung naht!“

„Ja, ja. Ich geh ja schon!“ Natürlich hatte ich alles andere aber nicht das vor.

Ich wollte die Welt entdecken. Den Tag erleben. Die, die immer den Tag erfahren dürfen, durften schließlich auch noch nachts wach bleiben, während wir nur zwischen Sonnenunter- und Sonnenaufgang das Bett verlassen durften. So sagte es das Gesetz. Wenn ein Nachtmensch nach Sonnenaufgang noch auf den Straßen war, wurde er von den Wächtern gnadenlos erschossen.

Ich legte mich komplett angezogen mit samt Schuhen ins Bett und pustete die Kerze auf meinem Nachttisch aus. Ich hatte noch nie einen Tagmenschen gesehen, aber das sollte sich jetzt ändern. Ich wollte gegen die bleierne Müdigkeit in meinen Gliedern ankämpfen, genauso wie gegen die Angst erschossen zu werden.

 

 

 

„Aufwachen, Süße. Es ist schon spät und du musst zur Schule.“ Die Stimme meines Vaters, der auf meiner Bettkante saß und mir liebe voll übers Haar strich, weckte mich. Verschlafen fuhr ich mir mit der Hand übers Gesicht, rieb mir die Augen und streckte mich.

„Guten Morgen“, murmelte ich. Mühsam stand ich auf und ging ins Bad. Als ich im Flur am großen, bodentiefen Spiegel vorbei kam stutzte ich. Auf meinem Gesicht waren lange schwarze Streifen und ich trug nicht meinen gelben, lieblings Schlafanzug. Da fiel es mir wieder ein. Ich hatte versucht wach zu bleiben und hatte es schon wieder nicht geschafft. Ich rannte den Flur entlang zum Fenster und zog die schweren Vorhänge weg.

Nichts. Nur die Schwärze der Nacht, durchbrochen von einzelnen Lichtern, die langsam durch die Straßenwanderten. Unter mir erwachte Mahnenrah zum Leben. Mahnenrah war die Kleinstadt, hinter der Mauer, in der ich lebte.

Na super. Nacht.

Ich ging weiter ins Badezimmer, zog mich um und wusch mir die langen Make-up streifen vom Gesicht, die mein unüberlegtes Augenreiben und der verschlafene Tag dort hinterlassen hatten. Danach ging ich in mein Zimmer zurück, nahm die Streichholzpackung, die neben der Tür hing und machte meine Kerzen an. Ich bürstete mir schnell meine langen, blonden Haare und machte mir einen neuen geflochtenen Zopf, den ich zu einem Dutt hochsteckte und trug ein bisschen Wimperntusche auf. Große dunkle Augen starrten mich im Spiegel an. Irgendwie fand ich meinen eigenen Anblick so gruselig, dass ich schnell meine Tasche nahm und nach unten zum Frühstück ging.

Das Frühstück bestand wie immer aus altbackenem Brot, das wir in Milch tunkten, um es zumindest ein bisschen weicher zu machen.

Auf dem Weg zur Schule traf ich viele meiner Mitschüler, ging aber trotzdem alleine weiter. Ich war noch zu sauer auf mich, das ich schon wieder eingeschlafen war und wollte meine Wut nicht an meinen Freunden auslassen. Zwar wusste ich, das sie mir wie treue Schafe hinterher laufen würden, aber es wäre trotzdem nicht nett. Also ging ich allein ins Gebäude und wurde direkt von einer Schar Mädchen aus den unteren Jahrgängen umringt, genauso wie ich viele fiese Blicke von den Mädchen der Mittelstufe bemerkte. Ich ging einfach weiter, ohne auf die Kleinen zu achten, die eine Gasse bildeten um mich durch zu lassen, bis zu meinem Klassenraum.

Dort wartete schon mein wundervolle Freund Erik. Erik war groß und hatte eine genauso helle Haut wie wir alle. Außerdem hatte er eine schmale Hüfte und breite Schultern. Er war muskulös, was ungewöhnlich war, da wir alle nicht genug zu essen hatten, und schon gar nicht Vitaminreiche Nahrung. Ich schaute zu ihm auf und sah dunkel braune, fast schwarze Augen, die ihm einen ausländischen Tick gaben. Noch während ich die Tür schloss um die Schafe draußen zu halten, nahm er mich in den Arm und beugte sich zu mir runter. Seine vollen Lippen streiften meine und ich stellte mich auf Zehenspitzen um seinen Kuss zu erwidern. Wie ganz selbstverständlich legten sich meine Arme um seinen Hals und seine Hände sich um meine Hüften.

„Guten Abend, Cass“, murmelte er mit den Lippen an meinem Ohr bevor er mich ganz frei gab und mich zu meinem Tisch führte, wobei er mir unauffällig meine schwere Tasche abnahm.

Als wir mein Pult erreichten mussten wir erst mal die Rosen, die wie üblich darauf lagen zum Waschbecken bringen und sie in eine Vase stellen.

„Hallo, Cassi!“

„Guten Abend, Cassi!“

„Hay, Cassi!“

„Abend, Cassi!“

„Hi, Cassi!“

„Hey, Cassi!“

Meine Mädels kamen zur Tür rein und begrüßten mich, wobei sie alle wie üblich Erik übersahen. Sie umarmten mich und zogen mich zu meinem Platz in der letzten Reihe. Ich drückte Erik noch schnell einen Kuss auf die Wange und sagte ihm das ich ihn liebte, dann ließ ich mich weg ziehen.

Der Herbstball stand kurz bevor und so wurde natürlich darüber diskutiert, wer mit wem und in welchem Kleid kommen würde.

„Ich habe so ein schönes Kleid bekommen! Es hat einen weiten Rock und einen großen Ausschnitt. Das bringt meine Oberweite gut zur Geltung. Wenn ich jetzt noch eine schöne Kette hätte…“,Stine bekam einen leicht verträumten Ausdruck, so wie immer wenn es um Kleider ging. Sie war auch die jenige, die selbst im tiefsten Winter noch mit einem Kleid zur Schule kam. Außer beim Sportunterricht bekam man sie nur äußerst selten in Hosen zu Gesicht.

„Du kannst meine silberne haben, wenn du möchtest“, bot ich ihr an. Ich wusste das sie die Kette liebt, außerdem stand sie ihr ausgezeichnet. Mein eigenes Kleid hatte ich schon vor Wochen gekauft. Es saß wie eine zweite Haut und betonte meine langen, dünnen Beine, da es auf der Hälfte meines Oberschenkels endete.

„Oh ja! Würdest du mir die wirklich leihen? Das wäre ja so was von perfekt! Dann könnte Hannes gar nicht anders als mich zu küssen!“ Jeder wusste, dass sie in Hannes verliebt war. Alle wussten es, nur er nicht. Wir tratschten noch weiter über den Ball, bis unsere Klassenlehrerin Frau Rischke in die Klasse kam, ihr übliches „SETZEN!“, brüllte und zügigen Schritten zum Pult marschierte. Sofort wurde es mucks Mäuschen still und alle setzten sich auf ihr Plätze.

„Cassandra! Hausaufgaben an die Tafel, aber zackig!“

Natürlich wurde ich wieder als erste angeschrienen. Die Rischke mochte mich einfach nicht. Ich stand also auf nahm mein Heft und ging nach vorne an die Tafel. Schnell und ordentlich schrieb ich die Hausaufgaben an und erklärte dabei meine Rechenwege. Als ich endete und wieder auf meinem Platz saß, sah ich, dass Frau Rischke schon die nächste im Visier hatte. Nora, die Mathe einfach nicht verstand, stammelte mit hoch rotem Kopf irgendwelche Formeln, die sie sich gerade erst ausgedacht hatte. Der Rest des Abends verlief ohne besondere zwischen Fälle.

Beim Mitternachtsessen war die Stimmung super. Es gab frisches Gemüse und ein großes Stück Fleisch für jeden. In so einen Genuss kamen wir nur selten. Im ganzen Land herrschte eine Lebensmittelknappheit.

Ich trug mein Tablett zu meinem Stammtisch in der Mensa. Dort wurde natürlich weiter über den Ball gesprochen. Ich stellte mein Tablett ab, löste meinen Zopf und ließ meine Haare, die nun leicht gewellt waren, über meine Schulter fallen. So schuf ich mir eine Art natürlichen Vorhang. Ich war unglaublich müde. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meinem Knie. Ich schaute auf und sah, wie Erik mich mit seinen ungewöhnlich weißen Zähnen anlächelte. Ich griff nach seiner Hand und verschränkte meine Finger mit seinen. Er drückte kurz meine Hand und fing dann an zu essen. Auf dem Weg nach Hause würde er mich mit fragen bombardieren. Eine gute Geschichte musste her. Es war unmöglich ihm zu sagen was ich versucht hatte.

Nach dem wir alle fertig gegessen und unsere Tabletts weggebracht hatten, nahmen wir unsere Taschen und gingen in den Arbeitsbereich unserer Schule. Dort mussten wir bis ca. 3 Uhr jeden Tag arbeiten. Es waren nur zwei ein halb Stunden, aber es war trotzdem anstrengend. Wir mussten Diamanten und andere Edelsteine schleifen. Ein klitze kleiner Fehler und man wurde bestraft. Diese Strafen konnten alles Mögliche sein. Die Härte der Strafe war abhängig von dem Wert des Steines, den wir beschädigt hatten. Die Jungs saßen in einem eigenen Raum und mussten Elektronik Geräte reparieren, die den Tagmenschen kaputt gegangen waren. Erik hatte von den tollsten, merkwürdigsten und gruseligsten Dingen erzählt. Diese Arbeit war die einzige Möglichkeit, sich etwas Getreide und ein paar Früchte für die eigene Familie dazu zu verdienen. Als wir ankamen hatte ich wie üblich eine riesige Angst, Erik oder einen Teil meiner Clique nie wieder zu sehen. Es war riskant, aber notwendig. Jeden Moment konnte einem ein Stein wegrutschen und kaputt gehen. Manche Strafen waren so hart, dass man an den Folgen sterben konnte. So wurde meine Freundin aus dem Kindergarten zum Beispiel ausgepeitscht, bis man von ihrem Rücken aus die Wirbelsäule sehen konnte. Sie war an den Verletzungen gestorben, als ich gerade 12 war. Das war jetzt schon 4 Jahre her, aber die Bilder gingen mir trotzdem einfach nicht aus dem Kopf.

„Ich komme wieder. Ich verspreche es dir.“ Erik hatte natürlich gemerkt, wie es mir ging.

„Ich liebe dich“, antwortete ich ihm mit einem leichten zittern in der Stimme. Er gab mir noch einen schnellen Kuss, dann gingen wir in unsere Räume.

Ein besonderer Morgen

Sie lief durch die Straßen und rief Namen. Namen ihrer Freunde. Namen ihrer toten Freunde. Die Leute starrten sie an, nicht nur wegen der Namen, die sie unaufhörlich ausstieß, sondern auch wegen ihrer Haut. Sie war nicht so weiß wie die der anderen Nachtmenschen, aber auch nicht so schwarz wie die der Tagmenschen. Sie lief. Und lief, und lief, bis sie in der Straße, die zu ihrem alten zu Hause führte, laut aufkreischte und auf die Knie fiel. Zwei Wächter kamen die Straße herunter. Als sie sie entdeckten liefen sie los. Sie fassten sie an den Schultern und zerrten sie mit sich. Sie wusste, dass sie nur diese eine letzte Chance hatte, um des Haus ihrer Eltern, ihre einzige jemals existierende Heimat, zu sehen. Sie riss sich los, rannte um die letzte Ecke und sah das Haus. Sie blieb stehen, überwältigt von den Gefühlen die über sie herein brachen.

Ein paar Sekunden später drückte sich ein feuchtes Tuch auf ihren Mund.

Chloroform.

Alles wurde schwarz.

 

 

 

Zum Glück ging alles gut bei der Arbeit und als ich aus der Werkstatt kam, wartete Erik schon mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf mich. Ich nahm seine Hand und wir gingen zusammen zu mir nach Hause.

Mein Vater war noch Arbeiten und Geschwister hatte ich keine. Wir waren also ganz alleine. Schnell kochte ich ein paar Nudeln zum Morgenessen, dann schalteten wir den Fernseher ein. Es lief irgend so ein komischer Actionfilm, den Erik gerne sehen wollte. Also zog ich meine Füße aufs Sofa und legte meinen Kopf auf seine Schultern. Er legte mir einen Arm um die Schultern. Ich war so müde, das ich kaum noch meine Augen offen halten konnte. Ich beschloss sie kurz zu schließen, da mich der Film eh nicht interessierte.

Als ich sie wieder öffnete lag mein Kopf in Eriks Schoß. Er spielte angespannt mit meinem Haaren und guckte konzentriert auf den Bildschirm. Ich drehte mich auf den Rücken und lächelte ihn an als er kurz zu mir runter schaute. Danach betrachtete ich sein Gesicht. Seine gerade Nase, seine vollen Lippen, seine weichen Gesichtszüge, mit den hohen Wangenknochen, seine dunklen, glatten Haare, die er ganz kurz geschnitten hatte. Ganz zum Schluss nahm ich mir die Augen vor, die umramt waren, von langen, dunklen Wimpern. Mein Blick blieb kurz an seinen Augen hängen, dann wanderte er weiter über seinen Hals, seine Schultern, bis zu seinem Arm, der auf der Sofalehne ruhte. Ich streckte mich und nahm seine Hand. Seine Hände waren groß und weich. Es war fast unmöglich nicht mit seinen Fingern zu spielen. So wartete ich, bis sein Film vorbei war und der Abspann auf dem Bildschirm zu sehen war. Dann streckte ich ihm die Arme entgegen und zog seinen Kopf zu mir runter. Er grinste, weil er meine Absicht aus meinen Augen las und küsste mich.

 Ich erwiderte seinen Kuss und vergrub meine Hände in seinen Haaren. Seine Arme legten sich um meinen Rücken und zogen mich auf seinen Schoß.

Mein Gewicht war gar nichts für ihn, da er viel schwerere Lasten gewohnt war.

Ich drückte meine Knie gegen seine Hüften, während seine Hände unter mein T-Shirt krochen und sanft über meinen Rücken glitten. Der Kuss wurde intensiver und ein leises Stöhnen entführ seinen leicht geöffneten Lippen. In meinem Kopf drehte sich alles und in meinem Bauch flatterte ein ganzer Schwarm Schmetterlinge. Sie Mund wanderte an meinem Hals entlang und ich zog ihn näher an mich ran.

„Was war heute Morgen los?“, fragte er schließlich noch mit deinen Lippen an meinem Hals. Mein Körper versteifte sich unwillkürlich. Ich hatte noch keine Zeit gehabt, mir eine Geschichte auszudenken, außerdem konnte ich ihn nicht anlügen.

„Nichts“, versuchte ich es. Vielleicht bohrte er ja nicht weiter.

„Komm schon. Ich weiß, dass es nicht nichts war.“ Er schob mich ein bisschen von sich, sah mir in die Augen und nahm mein Gesicht in seine Hände.

„Es war wirklich nichts. Ich war nur müde. Ich habe letzten Tag schlecht geschlafen.“

„Wollen wir das diesen Tag ändern?“ es breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.

„Ich wette ich könnte besser schlafen, wenn du da bleibst“, flüsterte ich, das stimmte zwar, war aber nicht der wahre Grund.

„Ich bleibe so lange wie du willst.“

Ich stand auf und zog ihn vom Sofa.

Zusammen gingen wir durch den Flur, bis vor meine Zimmertür. Dort ließ ich seine Hand los, sagte ihm, er solle schon mal rein gehen, ich würde gleich nachkommen. Also beugte er sich vor, küsste mich auf die Nasenspitze und ging in mein Zimmer. Ich lief schnell ins Bad und machte mich Bett fertig. Da ich meinen gelben Schlafanzug mit dem orangenen Ball drauf für nicht angemessen fand, zog ich ein altes, zu weites T-Shirt mit V-Ausschnitt und einer Jogginghose an. Danach ging ich zurück in mein Zimmer. Erik hatte alle meine Kerzen angemacht und lag nun, ein Buch lesend, auf meinem Bett. Seine Jacke hing an meinem Stuhl und seine Schuhe standen darunter. Langsam schloss ich die Tür und ging zu ihm ans Bett. Meine Füße erzeugten auf dem Teppichboden keine Geräusche und er war so in die Lektüre vertieft, dass er mich erst bemerkt, als ich direkt vor ihm stand. Er schaute auf und lächelte mich warm an. Ich hätte stundenlang so vor dem Bett stehen und ihn angucken können, doch er schlug die Decke zurück und bedeutete mir drunter zu kriechen. Diesem Anblick konnte ich nicht wiederstehen. Schnell kroch ich unter die Decke und zog meine Knie an. Er zog mich in seine Arme, beugte sich über mich und küsste mich. Doch ich wehrte mich so lange, bis er aufhörte und mich fragend ansah.

„Was ist?“

„Ich habe dir eine Jogginghose und ein T-Shirt von meinem Vater raus gelegt. Die Sachen waren ihm schon immer zu groß. Eigentlich müssten sie passen.“

„Ob ich die diesen Tag wohl brauche?“, er grinste mich schräg an, rollte sich an eine Seite von meinem riesigen Bett und stand auf.

Als er aus der Tür verschwand holte ich tief Luft. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich sie angehalten hatte.

Tatsächlich kam er ohne das T-Shirt und nur mit der Jogginghose wieder. Ich zog eine Augenbraue hoch.

„Was?“, fragte er, aus seiner Stimme triefte der Sarkasmus und auf seinem Gesicht breitete sich ein lächeln aus, das bis zum Mond und wieder zurück reichte. Sein Lachen war einfach ansteckend. Er lief zum Bett und lachte.

Zusammen lachten wir so lange, bis wir Bauchschmerzen hatten.

Ich lag zusammen gerollt auf dem Bett und hielt mir den Bauch, sah in an und fing sofort wieder an zu lachen.

„Was?“, fragte ich ihn und imitierte seinen Tonfall fast perfekt.

Das Klacken der Haustür ließ und augenblicklich verstummen.

„Scheiße. Mein Vater!“, zischte ich. „Versteck dich! Du dürftest gar nicht hier sein!“

Erik kroch unter meinen Schreibtisch, der gegenüber von meinem Bett stand und im dunklen lag, nachdem ich alle Kerzen, bis auf die auf meinem Schreibtisch ausgepustet hatte. Ich schnappte gerade nach meinem Buch, als auch schon die Tür auf ging und mein Vater rein kam.

„Guten Morgen, Cassi.“

„Hi. Wie war es bei der Arbeit?“

„Ganz gut und bei dir?“

„Auch ganz gut. Es ist alles gut gegangen und in der Schule haben wir ein neues Spanischbuch bekommen. Ich habe Nudeln gekocht. Sie stehen in der Micro“, zum Glück klang meine Stimme ganz normal.

„Okey. Danke. Schlaf schön, Süße. Bis morgen.“ Er beugte sich vor und gab mir einen Kuss auf die Wange.

„Guten Tag“, flüsterte ich noch, dann war er aus der Tür und Erik kroch unter meinem Tisch hervor. Es sah ein wenig ungelenkig und ungeschickt aus, aber bei seiner Größe wunderte es mich schon, das er überhaupt drunter gepasst hatte.

Er kam zu meinem Bett und legte sich neben mich. Ich kuschelte mich an ihn und schloss die Augen. Er war wie eine Heizung.

Ich spürte noch wie er mir einen Kuss auf die Haare drückte, dann schlief ich ein.

Der Stadtplan

Am nächsten Abend wachte ich von dem schrecklichen Klingeln meines Weckers auf. Noch ganz verschlafen tastete ich nach dem Knopf zum Ausschalten.

Plötzlich spürte ich unter meinen Fingern nicht wie erwartetet den Wecker, sondern Haut und Haare. Ein Gesicht!

Schnell stand ich auf, lief ums Bett herum und machte den Wecker aus.

Erik schlief noch. Zum Glück hatte er einen sehr tiefen Schlaf.

Den rot, weißen Pulli, die schwarze Hose und ab ins Bad.

Als ich wieder kam schlief Erik immer noch tief und fest. Ich beschloss ihn zu wecken.

„Guten Abend, Erik.“ Auf der Bettkante sitzend strich ich ihm mit den Fingern über die Wange.

Schläfrig stand er auf. Ich drückte mein Gesicht an seine Brust. Er sollte erst mal richtig wach werden, bevor ich ihn wegschicken musste.

Ich spürte, wie seine Arme mich an sich drückten und er seinen Kopf auf meinen legte.

Er war wirklich sehr groß, wie mir mal wieder auffiel. Ich meine ich war mit über 1,80 m schon sehr groß, aber erüberragte mch um locker noch einen Kopf.

So standen wir da, bis ich nach einer gefühlten Ewigkeit seufzte und mich von ihm löste.

„Wir müssen los. Du musst los.“

„Ich weiß. Kommst du mit?“

Ja! Schrie es in mir. Natürlich wollte ich mit. Ich liebte ihn. Mehr als alles andere auf der Welt, aber ich konnte nicht.

„Nein. Tut mir leid, aber ich muss schon in die Schule. Wir treffen uns dann da, okey?“

Das Leuchten in seinen Augen erlosch. Er nahm seine Sachen und ging ins Bad.

Ich plumpste auf meinen Teppich. Im Spiegel konnte ich zusehen, wie sich Tränen in meinen Augen bildeten. Schnell blinzelte ich sie weg. Weinen kam gar nicht in Frage. Also nahm ich meine Schultasche und lief zur Schule. Dort angekommen, ging ich durch einen Hintereingang, den normalerweise niemand benutzte und schlich auf einem riesigen Umweg zum Internetraum. Dort setzte ich mich vor den letzten PC in der hintersten Ecke. Ich wollte nicht, dass mich irgendwer sah. Das, was ich vorhatte, war Hochverrat.

Das Logo von IT SERV´S tauchte auf dem Bildschirm auf und ich startete den Browser. In das Suchfeld, das aufleuchtete tippte ich langsam und ungeübt „Mahnenrah Stadtplan komplett“ ein. Es erschienen einige Bilder, die abrupt auf einer Linie endeten. Das war natürlich nur unser Teil. Der Nachtmenschenteil.

Mahnenrah war nämlich in 2 Abschnitte geteilt. Der eine gehörte den Tagmenschen, der andere den Nachtmenschen. Natürlich war unser Teil viel kleiner.

Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass mir noch fast eine Stunde bis zum Unterrichtsbeginn blieb.

Ich suchte weiter, fand aber nur unseren Teil der Stadt. Als es klingelte fuhr ich den Pc runter und nahm meine Sachen. Auf dem Weg zu meinem Klassenraum war es seltsam still und leer. Niemand war zu sehen. Auch in den Räumen war keiner. Das seltsame Gefühl, das irgendwas schlimmes passiert war überkam mich und ich rannte los, immer schneller suchte ich in den Räumen nach irgendeiner Person. Bis ich plötzlich ein schrilles Kreischen hörte. Ich lief auf das Geräusch zu. Seine Herkunft wurde schnell klar. Auf dem Weg zu den Werkstätten stolperte ich ein paar Mal über Taschen, die achtlos im Weg lagen.

Etwas sehr schlimmes musste passiert sein.

Als ich näher kam hörte ich das leise Murmeln der Schaulustigen. Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge. Alle, die mich erkannten machten mir Platz. Nichts Ungewöhnliches. Mein Name wurde geflüstert und eine Gasse wurde gebildet.

Endlich kam ich problemlos durch und konnte sehen, was passiert war. Stine lag auf dem Boden. Vor ihr ein Haufen langer, blonder Harre. Auf ihrem Kopf fehlte dafür kein einziges ihrer sonst so perfekten Haare mehr. An einigen Stellen war die Haut eingerissen und blutete ein wenig. Ich rannte die letzten Meter, kniete mich neben sie und legte ihren kahlen Kopf auf meinen Schoß. Ein kleines schluchzen entfuhr ihr.

„Alles gut. Stine. Es ist nicht so schlimm. Das wächst nach“, versuchte ich sie zu trösten. Ihre Hand schoss nach vorne und krallte sich in ihre Haare.

Man hatte ihr das Heiligste genommen, was es für sie auf dieser und auf jeder anderen Welt gab.

So saßen wir eine ganze Weile da, selbst als alle anderen schon längst weg waren. Der Unterricht fing wieder an, aber es war uns egal.

Mitte der zweiten Stunde wurden wir dann doch vermisst. Hannes wurde los geschickt um uns zu suchen.

„Da seid ihr ja endlich!“, rief er als er uns gefunden hatte. Da wir nicht antworteten redete er mit seiner rau klingenden Stimme einfach weiter.
„Wo wart ihr denn? Ihr habt die ganze Erste und die Hälfte der Zweiten verpasst… Alles in Ordnung?“ Jetzt schien er zu merken, dass etwas nicht stimmte. Stine hatte immer noch keinen Laut von sich gegeben oder sich bewegt.

„Cassi, was ist los. Geht es dir… euch gut?“ das brachte das Fass zum überlaufen. Das er erst nach mir fragte obwohl es ganz klar war das Stine die jenige war, die den eigentlichen Schaden hatte. Blitzschnell war sie auf den Beinen, baute sich vor ihm auf und blickte ihn wütend an.

„Ja, es geht ihr gut. Warum habe ich mir eigentlich für so einen Arsch wie dich ein halbes Bein ausgerissen. Ich habe immer alles für dich gemacht, war immer am Lachen, immer fröhlich, weil du mal gesagt hast das du fröhliche Menschen magst. Ich habe Stunden damit verbracht mir auszumalen, wie es wäre wenn du mich auch mögen würdest. Aber damit ist jetzt Schluss. Ich hasse dich Hannes Reynjard.“ Sie spukte ihm die Worte förmlich ins Gesicht, dann rannte sie davon. Man konnte den Schock auf Hannes Gesicht genau sehen. Jedes von Stine´s Worten hatte gesessen wie eine Ohrfeige. Ich guckte dem pinken Rock noch kurz hinterher, bevor ich aufstand und an Hannes vorbei zum Unterricht ging.

„Kommst du?“, fragte ich ihn als er keine Anstalten machte mir zu folgen.

„Warte kurz. Ich komme sofort wieder.“ Er rannte los und kam mit eine Tüte in der Hand wieder zurück. Schnell packte er die Haare, die immer noch auf dem Boden lagen ein. Dann kam er mir nach. Schweigend gingen wir zu unserem Raum.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.09.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Freunde die mich immer unterstützen. Danke an Max O. für die ganzen Namen, auf die ich ohne deine Hilfe nie gekommen wäre.

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