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Dieses Mädchen.... Wer ist sie? Wie heißt sie? Wo will sie hin? Nach Hause? Ich habe mich gerade neben sie gesetzt. Wir sitzen in einem Bus mit sehr vielen Leuten um uns herum. Alle sind so schrecklich laut und reden über unwichtige Dinge. Aber sie... sie ist anders. Einfach nur anders. Ihr Blick ist starr gerade aus gerichtet. Sie sieht wütend aus. Richtig böse.
Nein, sie schaut niedergeschlagen und traurig... Wütend UND traurig zugleich. Eine seltsame Mischung. Als ob ihre Stimmungen die ganze Zeit wechseln würden, und sie nicht wüsste, wie es ihr eigentlich wirklich geht. Was stimmt mit ihr nicht? Sie scheint, als ob sie gar nicht richtig da wäre. Völlig woanders und in den tiefsten Gedanken versunken. Über was sie wohl nachdenkt? Über die Schule? Über ihre Familie? Über ihre Freunde? Über das Leben? Über den Tod?! Sie scheint, als ob sie über alles gleichzeitig nachdenkt. Und sie... mein Gott, sie sieht aus, als wäre sie mit nichts zufrieden. Nicht mit sich selbst, nicht mit ihrem Leben. Aber sie ist doch so hübsch! Sie hat dunkle lange Locken, ein hübsches weibliches Gesicht, wohlgeformte rote Lippen und diese Augen! Sie sind grün. Richtig strahlend grün. Wenn die Sonne in ihre Augen scheint, sieht man, dass sie kleine gelbliche Flecken auf der Iris hat. Richtig schön sieht sie aus. Aber sie ist so düster angezogen. Ganz schwarz. Als ob sie nicht auffallen will. Richtig untergehen will sie unter den Leuten. Einfach nicht da sein. Sollen andere meinen, sie existiere nicht? Was bringt sie dazu, sich so zu verhalten? Sie ist wirklich unzufrieden mit sich. Man sieht es an ihrem linken Unterarm. Solche Male übersieht man nicht. Es sind Narben, die sich weiß und hellrosa in einem Zickzack-Muster über den ganzen Unterarm zeichnen. Sie hat sie sich selbst zugefügt. Wie ein Unfall sieht es zumindest nicht aus. Was bringt sie dazu, so etwas zu machen? Es ist doch krank, sich selbst zu verstümmeln. Hat sie Spaß daran?! Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Es sind sogar einige Narben direkt am Handgelenk. Ein erbärmlicher Versuch sich das Leben zu nehmen? Vielleicht. Wollte sie wirklich sterben? Ich glaube, dass weiß sie nicht mal selbst. Ist sie denn stark depressiv? Sie sollte eine Therapie machen, aber sie hat keine Lust dazu. Keine Lust auf den Mist. Sie hat Angst davor. Sie hat vor vielen Dingen Angst. Besonders vor dem Leben. Sie fühlt sich verarscht. Manchmal streichelt es dich und flüstert dir süße Worte ins Ohr, das andere Mal haut es dir mit der Faust mitten ins Gesicht. Ich kenne das. Ich verstehe dieses Mädchen sehr gut. Es starrt immer noch aus dem Fenster. Sie hat Kopfhörer im Ohr. Hört sie auch depressive Musik? Nein... man hört ganz schwach die rasenden Drums und die kreischenden Gitarren. Es klingt richtig aggressiv. Es passt zu ihr. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie manchmal auch rasend ist, wenn sie ihre Phasen hat. Hm, Phasen! Hat sie nur so Phasen , in denen es ihr so schlecht geht? Oder ist es ein chronischer Zustand? Im Moment sieht sie so aus, als ob sie noch niemals in ihrem Leben Freude oder Ähnliches gezeigt hätte. Ihr Gesichtsausdruck ist so kalt und gefühlslos, dass er mich fast einfriert. Richtig unheimlich. Sie starrt einfach nur aus dem Fenster und ist ganz still. So, als ob sie sich gleich in ein höllisches Gewitter verwandelt und alles niedermetzelt und kaputtschlägt, was ihr in den Weg kommt. Oder so, als ob sie gleich in Tränen ausbricht, und einen Ozean aus Tränen weint. Sie ist so undurchschaubar. Sie fasziniert mich richtig. Ich kann meinen Blick nicht von ihr abwenden. Ich fühle mich richtig zu ihr hingezogen. Als ob ich alles über sie wüsste. Ihre Depression oder Aggression ist chronisch. Ich weiß es einfach. Sie kann ihre Gefühle nur manchmal etwas betäuben. Sie ist eine von der seltsamen Gruppe Menschen. Die, die alles genau beobachten. Die, die sich bedroht fühlen, wenn man ihnen nur die Hand zur Begrüßung reicht, und die, die sofort explodieren, wenn man sie kritisiert. Sie scheint mir immer unheimlicher. Sie ist wahrscheinlich ziemlich sensibel und verletzbar. Weiß sie, dass ich die ganze Zeit über sie nachdenke? Was denkt sie über mich? Sie findet mich bestimmt lästig. Sie würde lieber alleine hier im Bus sitzen. Dann würde sie sich nicht so bedroht und eingeengt fühlen. Sie hat Angst vor Menschen. Man sieht es an ihrer Haltung. Sie hat ihr Füße ganz zum Fenster gestellt, ihre Hände hat sie fest zwischen ihre Knie geklemmt. Sie ist misstrauisch. Was ist mit ihr passiert, dass sie so ist? War sie schon immer so? Hat man sie schlecht behandelt? Ich würde gerne so viel über sie erfahren, aber sie scheint mir unerreichbar. Sie hat eine fette Stahlwand um sich herum gebaut, dass niemand an sie herankommt. Nicht einmal ihr eigener Schatten. Ihr ist es unangenehm, wenn ihr jemand zu nahe kommt. Man muss sich ihr langsam nähern und ihr Vertrauen erstmal gewinnen. So eine ist sie also. Sie gehört zu den Menschen, die sich in sich selbst verschließen und manchmal Angst vor sich selbst haben, wenn sie doch mal über ihre Mauer tritt. Ihre eigene Grenze. Ja, sie ist eine Grenzgängerin. Sie muss manchmal dort hin, um sich selbst wieder zu finden und sich wieder zu erkennen. Um sich wieder als ein Individuum zu fühlen. Im Moment ist sie eine leere Hülle hinter ihren dicken und undurchtrennbaren Mauern. Sie empfindet nichts. Keine Freude, keine Trauer... nichts. Nur Kälte. Deshalb auch ihr kalter Gesichtsausdruck. Sie ist gar nicht wütend, wie ich vorher die ganze Zeit dachte. Oh, sie will aussteigen. Sie erhebt sich langsam, schaut vorsichtig hinter sich. Sie kontrolliert, ob die anderen Menschen sie anschauen. Davor hat sie wahrscheinlich auch Angst. Sie geht langsam zur Tür, der Bus hält, sie steigt aus und ich folge ihr. Sie läuft zügig und bemerkt mich nicht. Ich bin ganz dicht hinter ihr. Ihre schwarzen Locken wehen ganz sanft im Wind. Ich sehe, wie sich ihr Blick richtung Boden senkt. Sie ist sehr schüchtern, wenn ihr jemand entgegenkommt. Kann sie anderen Menschen denn nicht ins Gesicht schauen und freundlich grüßen, wie es sich für normale Menschen gehört? Ihre Mauer ist einfach zu dick. Sie läuft immer zügiger, damit sie ihr Ziel so schnell wie möglich erreicht. Nach Hause will sie. Das Mädchen läuft durch einen leicht verwilderten Garten, der noch Spuren des kalten Winters trägt. Der Garten ist wie sie. Er zeigt auch Spuren harter vergangener Zeiten. Man sieht auch vereinzelte Blumen. Es sind rote und gelbe Tulpen. Zeigt das Mädchen auch mal ein freundliches Zeichen? Ein Zeichen frischen Lebens vielleicht? Sie steht an der Terrassentür und klopft. Ein kleiner Junge, ihr Bruder vielleicht, öffnet ihr die Tür und sie tritt ins Haus. Wieder folge ich ihr. Bis jetzt hat mich noch niemand bemerkt. Die Grenzgängerin legt ihren MP3- Player beiseite, und begibt sich in ein kleines Zimmer am Ende eines Ganges. Eine Frau sitzt vor einem Laptop und scheint irgendwas zu spielen. Ich kann ihr Gesicht nicht erkennen. Ich spüre, wie das Mädchen den Mund öffnet und ihre Mutter begrüßt. Es ist ein trockenes und emotionsloses „Hallo„. Die Mutter vor dem Bildschirm erwidert ein kurzes kaltes „Hallo„, ohne ihre Tochter mal kurz anzuschauen. Seltsame Familie. Das Mädchen begibt sich in die Küche und schaut sich um. Sie sucht nach einem Mittagessen. Dazu öffnet sie ein paar Schränke, bis sie sich schließlich für ein lausiges Käsebrot entscheidet. Sie setzt sich an einen Esstisch und isst es ganz langsam. So, als müsste sie sich das Essen richtig runterzwingen. Hat sie denn keinen Hunger? Ist ihr schlecht? Sie isst trotzdem die ganze Scheibe Brot. Sie sieht so aus, als würde sie das Essen gar nicht richtig wahrnehmen. Wahrscheinlich ist alles Routine bei ihr. Es läuft alles ganz von selbst ab. Leistet ihr beim Essen denn niemand Gesellschaft? Ganz alleine sitzt sie da und starrt auf den Balkon des Nachbarhauses, auf dem eine ältere Frau gerade Wäsche aufhängt. Das Mädchen scheint die Frau mit ihren Blicken richtig zu durchlöchern. Sie beobachtet. Aber sie ist mit ihren Gedanken ganz woanders. An was denkt sie denn die ganze Zeit nur? Sie scheint, als ob sie ihre ganze Umwelt überhaupt gar nicht richtig wahrnimmt. Das ist doch krank. Kann man sie aus dem Zustand irgendwie befreien? Ich will ihr helfen! Ich kann das nicht länger mit ansehen, wie leer sie die ganze Zeit dreinschaut. Tränen zeigen sich in ihren Augen. Oh mein Gott, sie wird jetzt doch nicht etwa weinen! Schnell steht sie auf, packt sich ihre Schultasche, die sie vorher in eine Ecke geworfen hat, öffnet eine Tür und geht eine Treppe runter. Wahrscheinlich geht sie in ihr Zimmer. Sie betritt ein Zimmer, dessen Wände mit Poster diverser Metal-Bands gekleidet ist. Ich hatte recht. Sie hat einen wüsten Musik-Geschmack. Sie schmeißt ihre Tasche wieder in eine Ecke und lässt sich mit dem Gesicht auf ihr Bett fallen. Jetzt liegt sie da auf dem Bauch. Ihr Gesicht in einem dicken Kissen vergraben. Was macht sie? Will sie jetzt schlafen? Sie schreit. Sie schreit in das Kissen hinein. Ist die denn wahnsinnig? Ich schaue ihr dabei zu, wie sie immer und immer wieder in das Kissen schreit und währenddessen mit geballten Fäusten auf das Bett einhaut. Sie ist aggressiv. Ich habe Angst vor ihr, trotzdem rücke ich näher zu ihr hin. Ich berühre sie ganz sanft am Rücken. Plötzlich ist sie still. Sie hat mich bemerkt! Sie unterlässt ihre Schläge auf das Bett und ist ganz still. Sie hört wieder in sich. Langsam richtet sie sich auf und setzt sich auf die Bettkante und starrt wieder. Ganz leer schaut sie noch. Sie ist tot. Gefühlstot. Zumindest für diesen Moment. Tränen laufen ihr über ihre hübsch geformten Wangen. Sie zeigt doch Gefühle! Trauer. Gerade war es noch Wut! Sie ist verrückt! Komplett verrückt. Das Mädchen steht auf, packt – wieder von Wut besessen! – ihre Schultasche, klappt einen Ordner auf, und fängt an einen französischen Text zu lesen. Ihre Hausaufgaben? Sie klappt den Ordner wütend zu und legt sich wieder ins Bett. Mit der Schule hat sie es wohl nicht so... Sie ist ihr unangenehm. Vielleicht auch eine große Last. Nun liegt sie da im Bett und deckt sich zu. Sie will schlafen. Einfach abschalten und der Realität entkommen. Sie erträgt die Wirklichkeit vielleicht nicht mehr. Sie tut mir leid. Ich möchte sie in den Arm nehmen, aber ihre Mauer ist zu undurchdringlich für mich. Ich komme nicht an sie heran. Ich bleibe einfach neben ihr sitzen und warte bis sie eingeschlafen ist.

Sie öffnet ihre Augen. Das auffallende Grün ihrer Augen zeigt in richtung Decke. Sie ist wach. Wie lange hat sie denn jetzt geschlafen? Eine halbe Ewigkeit. Es ist jetzt halb sechs am Abend. Will sie denn ihr ganzes Leben verschlafen? Erträgt sie ihr Leben nicht anders? Wieder kullern ihr dicke Tränen die Wangen hinunter. Sie hat realisiert, dass sie wieder wach ist. Am liebsten wäre sie nie wieder aufgewacht. Und wieder starrt sie einfach. Es ist gruselig, wie oft sie das am Tag macht. Richtig ungewöhnlich. Was macht sie denn jetzt? Sie steht auf, und geht ins Badezimmer. Und dann? Dann starrt sie wieder ewiglang in den Spiegel. Schaut in ihre grünen Augen, in ihr hübsches Gesicht. Sie verabscheut sich selbst. Mädchen was tust du da nur? Sie öffnet eine Schublade, in der sich einige scharfe Rasierklingen befinden. Eine davon nimmt sie heraus und schaut sie sich genau an. Ich weiß ganz genau, was jetzt kommt! Weiß sie das denn auch? Das ist gefährlich Mädchen! Leg das Ding aus der Hand! Ich schreie, aber sie hört mich nicht. Verzweifelt versuche ich, ihr das Teil aus der Hand zu schlagen oder das Mädchen zu rütteln. Aber ich komme nicht an sie heran. Hart pralle ich an ihrer Mauer ab.Sie legt das hässliche Ding an ihren vernarbten Unterarm. Sie drückt die Klinge tief in ihr Fleisch. Dann zieht sie die Klinge mit einem schnellen Ruck über ihren Arm. Sie ist verrückt! Einfach verrückt! Ich möchte gehen, aber ich kann nicht. Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Jetzt bin ich diejenige, die starrt. Ich kann es nicht fassen! Warum tut sie mir das an!? Sie tut mir damit weh! Blut läuft über ihr Handgelenk, bishin zu ihren Fingernägeln. Dort bleibt das Blut erst kurz hängen, dann tropft es ins Waschbecken. Es entstehen lauter kleine Blutkleckse, die ineinander laufend einen großen roten Klecks bilden. Nochmals legt sie die Rasierklinge an. Und wieder schneidet sie sich tief in ihren Unterarm. Der Klecks im Waschbecken wird immer größer. Sie schneidet und schneidet. Es tropft und fließt Blut. Jede Menge. Ich kann nicht mehr hinsehen und schließe die Augen. Ich fange zu weinen an. Schluchze ganz heftig. Ich versuche ruhig zu atmen. Ich atme tief ein, und ganz langsam wieder aus. Ich spüre ein leichtes Brennen auf meinem linken Unterarm. Langsam und vorsichtig öffne ich meine Augen. Und sehe Blut... überall Blut. Aber ich bin wieder da. Ich bin wieder ich selbst. Ich weine immer noch. Ich spüre das warme Blut auf meinem Unterarm. Dabei realisiere ich, dass ich das Mädchen bin, das ich den ganzen Tag beobachtete.

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Tag der Veröffentlichung: 27.04.2009

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