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Prolog

Es überlief ihn ein Schauer, als er zum ersten Mal in seinem so langen Leben diese heiligen Hallen betrat. Bisher war es ihm aufgrund seiner niederen Stellung nie gestattet gewesen. Dies hatte sich nach Constantins Krankheit geändert. So vieles hatte sich geändert, doch er musste es schaffen. Er durfte seinen Lehrmeister einfach nicht enttäuschen, egal ob dieser es sehen konnte oder nicht. Und dazu gehörte auch dessen Fehler zu bereinigen. Vielleicht hätte Constantin seinen verworrenen Plan tatsächlich durchführen können, aber er hatte ihn ihm nie mitgeteilt und allein war er dazu nicht in der Lage.

Ein winziger weiblicher Vampir mit kahlrasiertem Schädel, gekleidet in schwarze Tunika und Hosen kam gemächlich auf ihn zu und er neigte leicht den Kopf. Er musste sich beherrschen nicht auf die schwarzen, verschlungenen Linien zu starren, die jedes Stückchen sichtbare Haut zu bedecken schienen. Auch einem von Mutters direkten Dienern begegnete er gerade zum ersten Mal. Wenn einer von ihnen einmal die Residenz verlassen sollte, dann ließen sie niemanden zurück, der von ihrer Erscheinung berichten könnte.

„Mikhail der Russe, Mutter erwartet Euch bereits.“

Natürlich hatten sie ihn schon von weitem kommen sehen, das war schließlich ihre Aufgabe, dennoch war er überrascht so schnell empfangen werden zu können.

Mutter selbst hatte er tatsächlich schon einmal getroffen. Als sie Constantin den Auftrag erteilt hatte die Vampirjägerfamilie aufzuspüren und zu töten. Es war das einzige Mal gewesen, dass Constantin versagt hatte – nun, das stimmte jetzt nicht mehr ganz.

Er konzentrierte sich wieder auf das Hier und Jetzt und folgte dem kleinen Vampir mit lautlosen Schritten durch den Gang. Wüsste man nicht, dass man sich in einem Berg befände, so wären höchstens die fehlenden Fenster ein Hinweis darauf gewesen. Ein Schauer durchfuhr ihn. Er war nicht gerne unter der Erde. Unsterblichkeit machte nicht einmal mehr halb so viel Spaß, wenn man in einem Berg verschüttet war. Dann kamen sie an eine große Flügeltür vor der wieder kahlrasierte Vampire in der schwarzen Uniform und mit der bemalten Haut standen. Sie öffneten ohne Befehl mit einer selbst für ihn überraschend hohen Geschwindigkeit die Türen und er trat in den Raum dahinter. Es war der erste, bei dem man die blanke Decke aus Fels sehen konnte. Der Boden war wie in den restlichen Gängen blank und eben geschliffen und auf der gegenüberliegenden Seite, direkt aus dem Fels gehauen, befand sich ein grobschlächtiger Thron. Selbst von hier konnte er sehen, dass die Oberfläche uneben und die Kanten schräg waren. Dies war eindeutig nicht das Werk eines Vampirs gewesen. Doch viel wichtiger war der Vampir, der darauf saß. Mutter war der Vampir, der im höchsten Alter gewandelt worden war – zumindest seines Wissens nach. Die Falten, die sich durch ihr ganzes Gesicht zogen, ließen es aussehen, als bestände es aus zerknülltem Pergament. Ihr schneeweißes langes Haar war zu einer aufwendigen Frisur hochgesteckt, die ein schmales Band aus Gold und Perlen an seinem Platz über ihre Stirn hielt. Ihre altersgebeugte Gestalt wurde von einer wallenden, feuerroten Robe verhüllt und bot einen scharfen Kontrast zu ihren blauen Augen, die ihn scharf musterten.

Ehrerbietend fiel er vor dem Thron auf die Knie.

„Mikhail, Geschöpf des Constantin, was ist der Grund deines Besuchs?“, fragte sie mit ihrer alles durchdringenden Stimme und ihm ging ein Schauer über den Rücken.

„Es tut mir so leid Mutter, aber ich muss Euch von einer Verfehlung unterrichten.“

Für einen Moment musterte sie ihn, dann bedeutete sie fortzufahren.

„Es ist etwa fünf Wochen her, da fand ich das Mädchen nachdem ihr gesucht hattet und brachte es zu Constantin. Er jedoch entschloss sich dagegen Euch zu informieren, da er erst selbst herausfinden wollte, warum ihr Euch für diesen Menschen so interessiert. Ich sah keinen Schaden darin… aber dann ist es ihr gelungen zu fliehen. Sofort sandte Constantin Vampire nach ihr aus, doch dann befiel ihn diese seltsame Krankheit und… es tut mir so leid Mutter, aber ich war nicht dazu in der Lage das Mädchen wiederzufinden. Jedes Mal, wenn ich glaubte sie gefunden zu haben, war sie schon wieder fort.“

Schweigen erfüllte den Raum und Mikhail wagte es nicht den Blick zu heben.

„Sar!“, durchbrach dann Mutter mit ruhiger Stimme die Stille und der kleine Vampir von zuvor betrat den Raum.

„Du wirst Mikhail zurück nach Moskau begleiten und ihm helfen das Mädchen zu finden. Ihr Leben ist wichtiger als das eines jeden anderen.“

Dann wandte sie sich wieder ihm zu.

„Um deine Bestrafung und die deines Schöpfers werde ich mich kümmern, wenn das Mädchen gefunden ist. Und dieses Mal wirst du sie auf direktem Wege zu mir bringen. Keine Fehler mehr.“

 

 

ஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆ

 

 

„Warum musste ich dich hier treffen?“, fragte er den hochgewachsenen blonden Mann, der mit dem Rücken zu ihm auf den weiten Ebenen stand, gelangweilt.

Als der seine Stimme hörte, drehte er sich mit ernstem Gesichtsausdruck zu ihm um.

„Weil es dir nicht möglich gewesen wäre es zu glauben, wenn du es nicht mit eigenen Augen gesehen hättest.“

„Was ist hier los?“, fragte der kleine Mann plötzlich skeptisch.

Die beiden kannten sich schon so lange, aber mit einem derart ernsten Gesichtsausdruck hatte er den blonden Mann noch nie erlebt. Es beunruhigte ihn.

„Sag mir, was du fühlst“, meinte der hochgewachsene Mann.

Der Kleine konzentrierte sich und nahm seine Umgebung in sich auf. Im nächsten Moment leuchteten vor seinem inneren Auge dutzende und aber dutzende von Lichtern auf und er zog entsetzt die Luft ein.

„Das… das ist unmöglich…“, meinte der kleine Mann fassungslos, „sie… sie können doch nicht all die ganze Zeit einfach hier gewesen sein…“

„Es ist nicht deine Schuld“, meinte der hochgewachsene Mann und legte dem anderen beruhigend eine Hand auf die Schulter, „dieser Ort hier war bis vor Kurzem mit einem Bann belegt.“

„Um so einen Bann zu brechen muss entweder das Blut einer Hexe oder…“, wieder brach der kleine Mann entsetzt ab.

„Oder das Blut von jemanden, der so ist wie du, geflossen sein. Sie war hier.“

Der kleine Mann lächelte traurig und schüttelte den Kopf. Seine Schultern sanken erschöpft herab.

„Über sechstausend Jahre war ich hoffnungslos und jetzt, ganz plötzlich, erfahre ich, dass sie sie gar nicht getötet hat und das Mädchen ist auch noch am Leben. Es ist ein Wunder, ein Wunder, das zu schön ist um wahr zu sein.“

„Heißt das, du bist jetzt endlich bereit mir zu helfen?“, fragte der hochgewachsene Mann mit nur mühsam unterdrückter Aufregung in der Stimme.

Der kleine Mann ließ sich Zeit mit der Antwort, schloss für einen kurzen Moment die Augen und atmete tief durch, bevor er sich wieder gerade aufrichtete

„284 sind noch am Leben. Das sind 284 mehr, als ich noch bis vor kurzem gedacht hatte. Ich schulde es ihnen.“

Auf das Gesicht des blonden Mannes stahl sich ein siegessicheres Grinsen.

„Dann ist das hier wahrscheinlich auch der Ort, wo Kenan und Raven herkamen?“, fragte der kleine Mann abwesend und das Lächeln des blonden Mannes fiel sofort wieder in sich zusammen.

„Ja, das vermute ich auch.“

„Wie es wohl gewesen wäre, wenn wir die beiden gerettet hätten? Ob dann heute schon längst wieder alles so wäre wie es sein sollte?“

„Vielleicht, vielleicht aber hätte sie dann das Mädchen gefunden. Es ist gut so, wie es gekommen ist.“

„Aber du wirst trotzdem nicht deine Armee auf unsere Seite stellen.“

Es war eine Feststellung keine Frage. Der hochgewachsene Mann schüttelte entschuldigend den Kopf.

„Es tut mir leid, trotz allem, was passiert ist, bleibe ich bei meiner Meinung, dass das keine Sache der Elben ist.“

„Warum bist du dann hier?“, fragte der kleine Mann mit erschöpftem Gesichtsausdruck.

„Auch wenn du seit dem Vorfall nicht mehr gut auf mich zu Sprechen bist, so sind wir doch Freunde und ich möchte dir helfen. Besser spät als nie.“

Ein kleines, aber ehrliches Lächeln erschien auf dem Gesicht des kleinen Mannes.

„Machen wir uns auf die Suche nach ihr.“

 

Deutschland

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Kapitel 1 - Sinnen nach Rache

Ich hätte nicht gedacht, dass es mich so belasten würde. Nicht einmal ansatzweise gedacht, dass es mich so treffen würde, aber es war wie ein Stich ins Herz, wie ein Schlag ins Gesicht. Ich hatte meinen eigenen Bruder getötet. Egal was er jetzt gewesen war. Ich wusste, warum ich gewollt hatte, dass Luca ihn tötete. Ihn jetzt so leblos mit trübem Blick in meinen Armen zu halten, das zerbrach etwas in mir, aber ich war es ihm schuldig gewesen. Mit einer bedächtigen Bewegung zog ich den Assassinendolch wieder heraus und legte Andreas‘ Leichnam vorsichtig auf das Sofa. Dann setzte ich mich auf den Boden und wartete. Es dauerte nicht lange, dann kam Oswald zurück in den Raum. Er warf nur einen schnellen Blick auf meinen Bruder, bevor er sich wieder mir zuwandte.

„Du musst noch bestraft werden Kind.“

Verwundert hob ich den Kopf.

„Ich habe gesagt, ich verzeihe dir den Angriff auf mich, das habe ich auch ernst gemeint, aber trotzdem kann ich diesen Übergriff nicht unbeachtet lassen. Aber es ist gar nicht so leicht, dich zu bestrafen, Kind.“

„War es nicht schon Strafe genug meinen eigenen Bruder töten zu müssen?“

„Nein“, meinte Oswald schlicht, „aber mir wird schon noch etwas einfallen. Bis dahin würde ich gerne wissen, warum du Groll gegen Constantin hegst.“

Ich hatte gewusst, dass diese Frage kommen würde. Seit dem Moment, als es mir nicht gelungen war Constantin zu töten. Die Frage war nur, wie ehrlich ich in dieser Sache sein konnte. Diese ewige Frage.

„Er ist der Grund, warum ich Vampirjäger geworden bin. Er allein.“

Oswald schnaubte amüsiert.

„Nun, man muss dir wenigstens lassen, dass du weiter gekommen bist, als je einer vor dir Kind. Ich muss zugeben, ich hätte es nie für möglich gehalten, dass Constantin so leicht niederzubringen ist.“

„Was geschieht eigentlich mit den Leichen?“, wechselte ich das Thema.

„Wir werden beide an Mutter schicken.“

„Also darf ich meinen Bruder nicht wieder in seinem Grab beisetzten?“

„Er hat eine prisluga getötet. Sein Körper wird verbrannt und die Asche in die Mauern von Mutters Gefängnis eingemauert werden.“

Ich schluckte.

„Warum dieser ganze Aufwand für einen Menschen?“

„Weil die prisluga dazu ausersehen sind eines Tages verwandelt zu werden, Kind.“

„Das ist alles?“, fragte ich überrascht und Oswald lächelte.

„Natürlich nicht. Die prisluga sind Mutters Dienerinnen, ihre allein. Nur sie kann ihnen Befehle erteilen und nur sie kann ihnen Verbote erteilen. Als prisluga dürfen sie frei über das Leben eines jeden Vampirblut bestimmen, wurden sie aber erst einmal verwandelt, dann dürfen sie auch frei über das Leben eines jeden Vampirs bestimmen.“

Ein Schauer lief mir über den Rücken. Wie konnte nur jemand so viel Macht haben.

„Ja Kind, es ist genau die richtige Reaktion sich vor ihnen zu fürchten. Wenn sie auftauchen, dann heißt das nie, wirklich nie, etwas Gutes.“

„Das heißt also wir haben ein Problem.“

Ich fragte nicht, sondern stellte es fest.

„Ja. Es wird eine neue prisluga hierher geschickt werden, aber ich habe es dir schon einmal gesagt, Kind, wir nehmen die Zeit ganz anders war als ihr. Es sind auf jeden Fall noch ein paar Monate bis da hin, schließlich wachsen prisluga nicht auf Bäumen.“

Um ehrlich zu sein war ich in dieser Hinsicht nicht so zuversichtlich wie Oswald. Und dann fiel mir plötzlich etwas auf.

„Wenn ein Vampirblut einen Fehler macht, trägt ihn dann sein Schöpfer nicht die erste Zeit mit?“

Auf Oswalds Gesicht breitete sich ein großes Lächeln aus.

„Wie ich bemerken darf, hast du aufgepasst, Kind. Ja, genau das ist der Fall. Sollte Constantin also je aufwachen, erwartet ihn Folter durch die opekun und diese sind bereits sehr wütend auf ihn. Höchstwahrscheinlich wird er die Folter durch einen kleinen… Unfall nicht überleben.“

Oswald wandte seinen Blick mir zu.

„Wäre es nicht wunderbar, wenn er erwacht?“

Ich musste zugeben, diese Sache hatte etwas für sich. Zwar war mein Traum ihn selbst zu töten, aber sollte das nicht möglich sein, waren die opekun, was auch immer sie waren, sicher eine gute Alternative. Ich erwiderte Oswalds Lächeln.

„Sind die opekun grausam?“, fragte ich mit einem Glänzen in den Augen, dass ich nicht sehen musste, um zu wissen, dass es da war.

„Das Grausamste, was meine Welt zu bieten hat.“

Ich schloss für einen Moment genüsslich die Augen. War das nicht die perfekte Rache? Ich öffnete meine Augen wieder.

„Dann wäre fast noch ein Versuch angebracht ihn aufzuwecken.“

„Das würdest du für mich tun, Kind?“, fragte Oswald amüsiert.

„Nun, eigentlich hauptsächlich für mich selbst.“

„Jetzt würde mich wirklich interessieren, was genau er dir angetan hat, Kind.“

„An sich wahrscheinlich nichts großartig Besonderes: Er hat meine Familie getötet, einfach weil er es konnte und ich habe vor ihn zu töten, einfach weil ich es kann.“

Wie leicht mir doch Lügen über die Lippen kamen. Oswald lachte amüsiert.

„Wie schade, dass ich es nicht riskieren kann dich zu verwandeln. Deine Einstellung würde einfach fabelhaft zu uns passen, Kind.“

Ich versteifte mich sofort.

„Das war nie mein Bestreben.“

„Nur keine Angst, Kind.“

Ich hörte, wie sich eine Tür öffnete und sah Melisa hereinkommen. In ihrer Hand hielt sie eine Spritzflasche, gefüllt mit einer blauen Flüssigkeit.

„Ah, Melisa. Wie schnell du doch in der Lage warst es aufzutreiben.“

„Es ist in jedem Krankenhaus vorrätig.“

„Das ist Pfeilschwanzkrebsblut“, meinte Oswald, als er meine Ratlosigkeit bemerkte.

Nicht, dass mir das besonders weiterhalf.

„Aber es ist blau“, meinte ich verwirrt.

„Weil es auf Kupfer und nicht auf Eisen basiert, wie menschliches Blut. Und jetzt werde ich dir einen kleinen Trick vorführen. Melisa.“

Ich blickte mich gespannt zu ihr um. Sie trug inzwischen ein blaues Kleid aus wahrscheinlich viktorianischen Zeiten. Oder jeder anderen Zeit um diese Zeit, ich kannte mich da nicht besonders gut aus. Auf jeden Fall konnte sie in diesem Kleid, mit ihrem langen Haar und der für jedes Lebewesen extrem blassen Haut ohne Probleme als Geist durchgehen. Jetzt schraubte sie die Spritzflasche auf, und fuhr mit ihrem Fingernagel über ihr Handgelenk. Sofort begann dunkles, zähflüssiges Blut daraus hervorzuquellen, dass sie in die Spritzflasche tropfen ließ. Es brauchte nur ein zwei Tropfen, dann begann das blaue Blut auch schon zu gerinnen. Sofort schraubte Melisa die Spritzflasche wieder zu und zu meiner großen Überraschung zog sich Oswald den dünnen Metallstab, den er sich in die Assassinendolchwunde gesteckt hatte, heraus. Ich hatte nicht geahnt, dass sich dieser noch in seinem Körper befunden hätte. Und was die ganze Sache noch verrückter machte, war, dass Melisa nun mithilfe der Spritzflache das geronnene blaue Blut in die Wunde drückte.

„Das Blut von Pfeilschwanzkrebsen wirkt wahre Wunder für uns.“

Ich blickte fasziniert auf die Wunde, die sich blasenbilden schloss. Verwundert sah ich auf und bemerkte Oswalds verbissenen Gesichtsausdruck.

„Jedoch fügt es uns auch starke Schmerzen zu. Die Zugabe des Blutes eines anderen Vampirs, selbst wenn es nur ein Vampirblut ist, verringert diese Schmerzen zumindest ein wenig.“

„Aber, warum ist dieses Blut so besonders?“, fragte ich perplex.

Zu meiner ungemeinen Faszination zuckte Oswald mit den Schultern.

„Das war noch nie etwas, das mich besonders interessierte, Kind. Es funktioniert, das ist alles, was zählt.“

„Warum wird es dann nicht immer verwendet?“

„Was für ein neugieriges Wesen du doch bist, Kind, aber eigentlich hab ich dir die Antwort schon gegeben: Weil es uns Schmerzen zufügt. Nicht nur während sich die Wunde schließt, sondern auch noch lange danach. Dieses Blut zu verwenden ist ein Spiel mit dem Feuer. Nun, zumindest für Vampirblut und junge Vampire.“

„Warum erzählst du mir das?“

„Zwei Gründe: Erstens, es ist einen Versuch wert Constantin damit aufzuwecken.“

„Warum hat es dann noch keiner versucht?“

„Weil Constantin eben noch ein recht junger Vampir ist.“

„Jung?“

„Wenn ich mich nicht recht irre nicht weit über 2000 Jahre. Melisa?“

„2187 Jahre“, beantwortete sie ihm seine Frage.

Ich hatte nicht gewusst, dass Constantin so jung war. Nun ja, zumindest nach seinen Verhältnissen.

„Ah, genau. Nun, jedenfalls ist die Anwendung des blauen Blutes noch sehr gefährlich für ihn und die meisten Vampire lehnen es auch ab, weil es in dieser Weise vielleicht seit 20 Jahren angewandt wird. Sie haben Angst davor, diese Feiglinge.“

Mir würde es nichts ausmachen ihn ausversehen zu töten. Wobei der ausversehen-Teil optional war.

„Und zweites, ich möchte herausfinden, was passiert, wenn ich dein Blut mit dem des Pfeilschwanzkrebses mische.“

Wie durch Zauberhand hatte Melisa plötzlich einen verschraubten Becher mit blauem Blut darin in der Hand.

„Und was soll dieses kleine Experiment uns verraten?“, fragte ich mit hochgezogener Augenbraue.

„Tu es einfach Kind“, meinte Oswald plötzlich mit einem harten Gesichtsausdruck.

Anscheinend war er jetzt mit seiner Freundlichkeit mir gegenüber am Ende. Also zog ich einen meiner Dolche und stach mir in den Finger. Oswald beobachtete mir Argusaugen, wie sich der einzelne Blutstropfen von meinem Finger löste und hinunter in das blaue Blut tropfte. Für einen Moment hielt ich den Atem an. Nichts geschah. Oswald schien enttäuscht, als er seine Haltung wieder lockerte.

„Schade“, meinte er seufzend.

Ich presste meinen Daumen gegen den Finger, um die Blutung zu stoppen.

„Du kannst für heute gehen, Kind. Es sei denn du möchtest noch einen weiteren Versuch wagen mich zu töten?“

Ich schüttelte den Kopf, fiel auf die Knie und schlug meine Faust gegen die Brust. Dann ging ich hinauf in mein Zimmer. Erschöpft setzte ich mich auf mein Bett. Wieviel Zeit blieb mir noch, bis die Sonne aufging? Drei Stunden vielleicht. Ich hatte in dieser Nacht schon wieder viel zu viel erlebt. Und trotzdem fühlte es sich nicht so an, als wäre ich auch nur irgendwie in irgendeine Richtung vorangekommen. Stattdessen war ich verletzt worden. Die „Kratzer“, die mir Oswald zugefügt hatte, schmerzten. Ich würde definitiv Narben behalten. Fragte sich bloß, war für eine Geschichte ich mir dazu einfallen ließ. Ich hatte keine Ahnung, aber ich wusste auch, wann ich in meine alte, die „normale“ Welt zurückkehren würde, also hatte ich noch Zeit. Und ich würde Luca und Roman von heute Abend erzählen müssen. Das Tagebuch hatte ich bei dem ganzen Aufruhr schon beinahe wieder vergessen. Den Assassinendolch sollte ich auch noch erwähnen, genauso wie das Pfeilschwanzkrebsblut und meinen Übergriff auf Oswald. Und dass noch eine Strafe für mich ausstand. Was er sich wohl für mich einfallen lassen würde? Ich wollte gar nicht darüber nachdenken.

 

 

Kapitel 2 - Adieu

Als ich an nächsten Morgen erwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Ich konnte mich kaum dazu bewegen aufzustehen, aber es musste sein. Ich duschte und versuchte dabei möglichst wenig Wasser auf den Verband zu bringen. Ein unmögliches Unterfangen. Die Kratzer hatten sich etwas entzündet, aber im Großen und Ganzen sahen sie eigentlich ganz gut aus. Ich versorgte die Verletzung und legte mir einen neuen Verband um, dann zog ich mich an. Es kam mir komisch vor nur eines meiner normalen Oberteile anzuziehen, ich hatte mich so an die Lederweste gewöhnt gehabt. Ich erinnerte mich nochmals daran mir eine Neue anfertigen zu lassen. Als ich meine Waffen angelegt hatte, ging ich zu Luca ins Zimmer. Dort fand ich auch Roman.

„Hey Kleines, lang ist’s her“, meinte Luca mit einem breiten Lächeln.

„Wie lief dein Auftrag?“, fragte Roman.

„Der Vampir ist tot. Er hat mir etwas gegeben.“

Ich zog den Assassinendolch hervor und gab ihn Luca. Der schnalzte anerkennend mit der Zunge.

„Und ich hatte schon geglaubt diese Dinger wären nur ein Märchen.“

„Aus was sind sie gemacht?“, fragte ich neugierig.

„Keinen Blassen, Kleines“, meinte Luca schulterzuckend und schob den Dolch zurück in die Scheide.

„Und die Geschichte dazu?“, hakte ich weiter nach.

„Nun, der Name ist eigentlich schon die halbe Geschichte, Kleines. Es ist die Waffe, die vampirische Assassinen benutzen, um ihresgleichen zu töten. Warum sie überhaupt eine Waffe verwenden? Keine Ahnung. Allerdings bin ich auch noch nie einem begegnet.“

„Also sind sie auch nur wieder so ein Mythos“, seufzte ich schwer.

„Wo ist eigentlich deine Weste?“, fragte Roman schließlich skeptisch.

Natürlich war es ihm aufgefallen. Es ließ sich wohl oder übel nicht weiter hinauszögern. Ich musste es ihnen erzählen.

„Sie ist kaputtgegangen, als ich versucht habe Oswald mit dem Assassinendolch zu töten.“

Für einen Moment herrschte Totenstille im Raum.

„Bitte sag mir, dass das ein wirklich schlechter Witz war Kleines.“

„Nun, hätte ich gewusst, dass er zu alt dazu ist, um einen Dolch im Herzen auch nur zu bemerken, hätte ich ihn geköpft und wir säßen jetzt nicht mehr hier. Er hat es aber eigentlich ganz gelassen genommen, nachdem er mir die Bauchdecke aufgeschlitzt hatte.“

Luca schüttelte verständnislos den Kopf und beugte sich vor in meine Richtung.

„Der Typ ist einer der ältesten Vampire, die überhaupt existieren, Kleines. Und Köpfen ist sowieso die einzig wahre Alternative.“

Ich verdrehte die Augen.

„Oswald meinte jedenfalls, dass er jedem unter sich einen Akt der Rebellion gestattet und dass das meiner war. Jedoch werde ich noch bestraft werden.“

„Wie?“, fragte Roman tonlos.

Ich zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung, er wusste es selbst noch nicht.“

„Und wirklich nicht einmal der Assassinendolch hat etwas bewirkt?“

„Nun, doch. Für einen Moment hatte ich geglaubt, dass er davon zusammenbrechen würde, aber dann hat er die Wunde mit einem Metallstab gestopft. Das war alles ziemlich bizarr.“

„Nun, leider hab ich keine Erfahrung mit Assassinendolchen. Sie sind etwas, was bisher nicht aus der Welt der Vampire den Weg zu uns gefunden hat, aber ich schätze mal, dass sie etwas gefährlicher sind als unsere Waffen.“

Roman nahm den Dolch an sich und warf einen Blick auf die Klinge.

„Obwohl er eigentlich ganz gewöhnlich aussieht. Vielleicht ist er auch nur ein traditionelles Relikt aus uralten Zeiten.“

„Aber wieso hätte er mir dann gegeben werden sollen?“

„Ich dachte ich hätte mich verhört. Hast du wirklich gegeben gesagt, Kleines?“, mischte sich nun auch wieder Luca neugierig in die Unterhaltung mit ein.

„Ja. Es war ein… etwas bizarrer Vampir. Sehr vermenschlicht.“

Ich hatte nicht das Bedürfnis es näher zu beschreiben und vermittelte das durch meine Haltung auch deutlich. Sie schienen es zu akzeptieren.

„Es schien einfach, dass er und Oswald sich nicht gerade gut gesinnt waren. Ich vermute, ich habe ihn nur bekommen, weil es Oswald stört. Ich rechne damit, dass ich ihn abgenommen bekomme. Wobei jetzt, wo ich darüber nachdenke, es mich wundert, dass ich ihn noch immer habe.“

Damit hatte ich ihnen die erste Hälfte schon einmal gesagt, jetzt kam der schwere Teil. Wie leitete man so etwas ein?

„Kann mir einer von euch sagen, was eine prisluga ist?“

Während Luca mich nur fragend ansah, sah ich Roman auf den ersten Blick an, dass er Bescheid wusste.

„Wie kommst du so plötzlich darauf Sam?“, fragte er kritisch.

„Ich habe gestern eine hier kennengelernt…“

Weiter kam ich nicht. Im nächsten Moment war Roman auch schon beim mir und krallte seine Hände schmerzhaft in meine Schultern. Verwirrt sah ich zu ihm auf.

„Bist du dir auch ganz sicher?“, fragte er eindringlich, mit einem starken Hauch von Panik in der Stimme.

„Ja“, meinte ich vorsichtig und Roman ließ mich auch schon wieder los.

„Wir müssen hier weg, sofort!“

„Warum?“, fragte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ich würde mich nicht hier wegbewegen, obwohl ich wahrscheinlich schon wusste, warum er sich so vor ihnen fürchtete.

„Bitte Sam“, meinte er beinahe flehend, „können wir das nicht ein anderes Mal ausdiskutieren? Die prisluga sind wirklich gefährlich und wir können nichts gegen sie tun. Sollte sie herausfinden, wer wir sind, dann erwartet uns schlimmeres als der Tod.“

Sie ist tot“, erlöste ich Roman aus seinen Qualen.

„Wie?“, fragte er fassungslos.

„Mein Bruder hat die Sache in die Hand genommen.“

„Wirklich?“

Ich nickte.

„Es war noch genug von seiner Menschlichkeit übrig, es war ein guter Tod.“

„Die prisluga hat ihn getötet Kleines? Das tut mir leid für dich“, meinte Luca mitfühlend.

Ich schüttelte den Kopf und sah Luca mit ausdruckslosen Augen an.

„Nein, ich hab ihn getötet.“

Verwirrt blickte Luca in die Runde.

„Warum?“

„Ich bin mir sicher, dass dir das auch Roman sagen kann“, meinte ich und sah ihm mit dem gleichen ausdruckslosen Blick in die Augen, „nicht wahr?“

Ich sah ihm an, wie er sich innerlich sträubte uns weiteres ach so geheimes Wissen mitzuteilen und in diesem Moment begann ich ihn zu hassen. Ich hatte das Gefühl, dass ich über diese Tatsache hätte mehr überrascht sein müssen, aber ich war es nicht. Im Endeffekt machte es sowieso keinen Unterschied.

„Die prisluga sind Frauen, die zu Dienerinnen Mutters ausgebildet werden. Obwohl sie in der ersten Ausbildungsphase noch menschlich sind, haben sie außergewöhnliche Fähigkeiten, von denen Niemand weiß, woher sie kommen und sie haben von Mutter absolute Befehlsgewalt übertragen bekommen. Selbst die Alten fürchten sie und die Strafe auf die Tötung einer prisluga sind 100 Jahre Folter, aus denen man nur verrückt hervorgehen kann, wenn man nicht Glück hat und schon vorher während der Folter stirbt.“

„Ich dachte Mutters Dienerinnen heißen opekun?“, fragte Luca und kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf, „und dass sie… nun ja, Vampire sind.“

„So heißen sie, wenn sie den ersten Teil ihrer Ausbildung abgeschlossen haben und in Vampire verwandelt worden sind.“

Luca schnalzte mit der Zunge und wandte sich nun wieder mir zu.

„Das sind wirklich üble Dinger. Hab‘ gehört, die kommen so gut wie nie raus und wenn, dann lassen sie nicht viel übrig. Sollen die geborenen Tötungsmaschinen sein.“

„Aber die Angst vor ihnen sorgt dafür, dass die Vampire versuchen ohne Mutters Hilfe sich gegenseitig daran zu hindern aus der Reihe zu tanzen“, warf Roman ein.

War Oswald also eigentlich auch nichts weiter, als eine kleine Fliege, die eigentlich keinerlei Beachtung wert war? Ich meine, es war ja schön und gut die Geister seiner Vergangenheit vom Angesicht dieser Welt zu fegen, aber was brachte das eigentlich im Endeffekt? Wurden sie nicht einfach wieder ersetzt? Natürlich war es einmal ein Anfang die Alten zu töten, aber sollte man nicht eigentlich sein Augenmerk auf Mutter und ihre opekun werfen? Was würde passieren, wenn man den Regierungsstab der Vampire auslöschte? Wahrscheinlich Chaos, das die Zivilbevölkerung miteinschließen würde. War es das wert? Aus meiner Sicht schon, aber ich war es nicht, die die Befehlsgewalt darüber hatte. Eines Tages vielleicht, wenn ich den Platz meiner Großmutter im Großen Rat einnahm. Ich musste nur geduldig auf diesen Tag warten. Und mich möglichst in der Zwischenzeit nicht töten lassen.

„Ich finde, ihr solltet verschwinden“, kam ich plötzlich zu einem Entschluss.

Es überraschte mich selbst, aber nach allem, was in letzter Zeit passiert war, schien es mir das einzig Vernünftige zu sein.

„Wie bitte was, Kleines?“, fragte Luca und stieß sich von dem Tisch ab, an dem er gelehnt hatte, „Jetzt nochmal ganz langsam.“

„Ihr solltet von hier verschwinden. Wir wissen alle, dass Oswald nicht viel von menschlichen Dienern hält, deren Blut nicht als sein Snack dient.“

„Nein Sam, wir lassen dich ganz sicher nicht alleine hier! Wie kommst du nur auf diese hirnrissige Idee?!“, rief Roman aufgebracht.

„Das würde ich auch gerne wissen. Und hast du es schon vergessen, Kleines? War es nicht wir gegen den Rest der Welt?“

Luca klang ernsthaft verletzt und die vor der Brust verschränkten Arme wirkten nicht halb so eindrucksvoll wie sonst, jetzt, da er so viel Unsicherheit ausstrahlte.

Mich mag Oswald. Für ihn bin ich es wert, nicht ausgesaugt zu werden, aber bei euch steht die Sache anders und das wisst ihr auch. Besonders jetzt, da ich Mist gebaut habe, bin ich mir fast sicher, dass er euch an meiner statt bestrafen wird. Ich verspreche auch, dass ich mich an die Regeln halten und erst Informationen sammeln werde, aber ihr seid hier nicht mehr länger auch nur annähernd sicher.“

Weder Roman, noch Luca wirken überzeugt und ich seufzte schwer und fuhr mir mit der Hand erschöpft übers Gesicht. Wie konnte ich sie nur dazu bringen zu gehen? Vielleicht, wenn ich etwas mehr von der Wahrheit herausließ.

„Hört zu Leute, Oswald weiß, warum ich verfolgt werde, nun, zumindest weiß er den Grund, nicht dass ich tatsächlich verfolgt werde… versteht ihr, was ich meine?“

Die ganze Wahrheit konnte ich ihnen nicht erzählen. Es gab einen Grund, warum meine Eltern niemanden außer meiner Großmutter eingeweiht hatten. Die beiden waren zwar so etwas wie Freunde für mich, aber sie waren auch Jäger und bei uns gab es strikte Regeln, wo die Freundschaft aufhörte. Und mit mir ein magiebegabtes Wesen zu sein, war ich soweit drüber, dass ich die Regeln nicht mal mehr sehen konnte. Selbst Luca würde mich wahrscheinlich melden. Ich war… zu wertvoll? Konnte man das so ausdrücken? Aber vielleicht, ganz vielleicht, wenn ich ihnen nur sagte, dass die Möglichkeit bestand, dass auch die Vampirjäger hinter mir her waren… ich musste es versuchen.

„Er kennt also den Grund, Kleines?“, fragte Luca skeptisch mit hochgezogener Augenbraue und ich nickte, „was ist es?“

„Nun ja“, meinte ich und verknotete meine Finger ineinander, „ich kann es euch nicht sagen.“

„Warum?“, fragte Roman sofort.

Ich straffte meine Haltung und sah beide an.

„Weil ihr mich dann der Vereinigung melden müsstet. Weil mein Leben dann vorbei wäre.“

Es war, als ob die beiden mich mit ganz anderen Augen musterten. Jetzt war der kritische Augenblick. Wie würden sie sich entscheiden?

Kapitel 3 - Gebissen zu werden

Lucas Blick war bohrend, als wollte er allein mit der Kraft seiner Augen die Wahrheit aus mir herauslesen, während Romans Blick unsicher wirkte, als wäre er sich noch nicht sicher, was er von dieser Situation halten sollte. Es war Luca, der mich schließlich überraschte.

„Oswald kann dir helfen, nicht wahr Kleines?“

Ich lächelte schwach. Anscheinend hatte sein Blick doch so einiges drauf.

„Ja.“

„Helfen? Was soll das denn heißen?“, fragte Roman verwirrt, doch Luca winkte ab, ohne mich aus den Augen zu lassen.

„Das müssen wir nicht wissen. Das einzige, was wir wissen müssen, ist, dass sie ihn momentan lebend braucht und dass wir im Weg sind.“

„Du kannst doch unmöglich mit ihr einer Meinung sein, gerade du!“, rief Roman empört aus.

Er verstand es nicht. Vielleicht, weil er ein heres war, vielleicht auch wegen etwas ganz anderem. Wer wusste das schon.

„Luna würde uns nicht darum bitten, wenn es nicht unbedingt notwendig wäre.“

Er griff unter sein Bett und zog einen fertig gepackten Rucksack hervor. Ich schenkte ihm ein trauriges Lächeln. Ich selbst hatte gedacht, dass er es nicht verstehen würde.

„Es tut mir leid, dass wir unseren ursprünglichen Plan nicht wie geplant fortsetzen können.“

„Ich hab Vertrauen in dich Kleines. Meld‘ dich einfach, wenn du Hilfe brauchst. Mattia kann mich überall aufspüren.“

Roman öffnete und schloss dann den Mund wieder unverrichteter Dinge. Dann schüttelte er den Kopf.

„Ich verstehe euch einfach nicht!  War es dir nicht so unendlich wichtig Oswald zu töten?“

„Wir sind zwar famulus und es fällt uns schwer, aber manchmal gibt es wichtigere Dinge, weswegen wir unsere Pläne zeitlich etwas nach hinten verschieben müssen. Außerdem waren unsere Chancen an ihn ranzukommen sowieso gleich null, er hat uns nicht getraut und wird es wahrscheinlich auch nie tun, aber Luna vertraut er, eben genau weil er den Grund kennt, warum sie verfolgt wird. Er glaubt die Oberhand über sie zu haben und inzwischen bin ich so weit, dass es mir reicht, wenn er stirbt. Es muss nicht durch meine Hand geschehen.“

Roman blieb stur und schüttelte den Kopf.

„Du kannst ja gehen, aber ich werde hierbleiben!“

Ich warf Luca einen schnellen Blick zu. Wir verstanden uns wortlos. Ich zog einen meiner Dolche und schlug den Knauf gegen Romans Schläfe, noch bevor der überhaupt realisierte, was um ihn herum passierte. Luca fing ihn auf, als er leblos in sich zusammensackte.

„Viel Glück Kleines“, meinte er lächelnd, während er sich Roman über die Schulter warf und aus dem Zimmer verschwand.

Und weg waren sie. Ich war nicht dazugekommen das Tagebuch oder das Pfeilschwanzkrebsblut zu erwähnen. Vielleicht würde sich noch irgendwann die Möglichkeit dazu ergeben. Wenn nicht… nun ja, dann eben nicht. Ich hatte im Moment dringlichere Probleme. Wie zum Beispiel mein Versprechen an Constantin am Abend zuvor. Wie rasch würde sich die ganze Sache wohl in Bewegung setzten? Ich ging noch einmal kurz zurück in mein Zimmer, um mir meine Waffen anzulegen. Als ich in den Spiegel blickte und mich mit meiner einen Monat alten Version zu vergleichen versuchte… nun, ich hatte mich sehr verändert. Nicht nur die Frisur, mein Haar war auch stumpf geworden. Ich hatte abgenommen – deutlich – was besonders an meinen eingefallenen Wangen bemerkbar war. Aber war mich am meisten störte, war der harte Zug um meinen Mund. Nein, verhärmt traf es wohl besser. Ich musste das alles so schnell wie möglich hinter mich bringen, ewig würde ich das nicht durchhalten.

Ich straffte mich und verließ mein Zimmer wieder, um nach unten zu gehen. Als ich die Tür öffnete, wusste ich schon, dass etwas nicht stimmte. Der Flur war zwar nicht vollkommen mit Blut besudelt, aber es fühlte sich trotzdem genauso wie bei Melisas Ankunft an. Die feinen Härchen in meinem Nacken stellten sich auf und ich legte meine linke Hand vorsichtshalber um den Griff des Assassinendolchs. Dann bog ich um die Ecke.

Man sollte meinen, ich hätte schon einmal gesehen, wie sich ein Vampir an einem Menschen nährt, schließlich war ich schon eine Weile ein Vampirjäger. Fakt war aber, dass abgesehen von meinem ersten Zusammentreffen mit Vampiren an diesem Strand ich so eine Situation nicht wiedererlebt hatte und zu diesem Zeitpunkt war ich zu sehr damit beschäftigt gewesen zu überleben. Jetzt sah ich es aber gerade zum ersten Mal wirklich. Ich sah Oswald, gekleidet in schwarze Hose, schwarzes Hemd und polierte schwarze Halbschuhe, wie er seine Zähne in den Hals einer jungen Frau gebohrt hatte, die auf seinem Schoß halb saß, halb lag. Sie mochte ungefähr so alt sein wie ich, aber da endeten auch schon die Gemeinsamkeiten. Sie war groß, wenn sie aufrecht gestanden hätte, hätte sie mich mindestens um eineinhalb Köpfe überragt. Ihre Figur war perfekt, ihre langen Beine ragten aus dem kurzen schwarzen Kleid, das wirklich nur den allernötigsten Teil ihrer olivfarbenen Haut bedeckte, unendlich erscheinend hervor. Langes, seidiges schwarzes Haar floss über die Lehne des Sessels und ein paar Strähnen hingen ihr in ihr wunderschönes Gesicht. Ihr wunderschönes Gesicht, das zu einer angsterfüllten Fratze verzogen war, während sie mit weit aufgerissenem Mund schrie, ohne dass auch nur ein einziger Ton ihren Mund verließ. Der Rest ihres Körpers hing wie paralysiert über Oswald. Ich hatte zwar gewusst, dass die tatsächliche Nährung nichts mit der verklärten Schilderung in der einschlägigen modernen Vampirliteratur zu tun hatte, aber das hier… das war noch einmal um einiges schlimmer. Schlimmer, als ich es mir je vorgestellt hatte. Die Blutdiener lebten doch freiwillig bei den Vampiren und man konnte noch so masochistisch sein, keiner würde das hier freiwillig durchstehen. Diese Frau fürchtete eindeutig um ihr Leben. Nein, sie fürchtete sich nicht nur, sie war sich sicher, dass sie sterben würde. Und ich stand einfach da. Ich wusste, dass ich mich nicht einmischen durfte, es war noch nicht einmal zwölf Stunden her, dass ich Oswald verärgert hatte. Und ich war mir auch sicher, dass er sie nicht umbringen würde –  nun ja, fast.

Und während ich noch mit mir rang, was zu tun war, setzte er auch schon ab und ließ sie einfach auf den Boden fallen, während er sich mit einem aus seinem Hemdärmel hervorgezauberten Taschentuch den Mund abtupfte. Die Frau erwachte aus ihrer Paralyse und rappelte sich langsam auf, während sie sich eine Hand auf die Wunde am Hals drückte. Dann drehte sie sich um und verließ das Zimmer. Und lächelte glückselig dabei und zwinkerte mir zu, als sei ihr gerade etwas Wunderschönes widerfahren. Fassungslos schüttelte ich den Kopf. Oswald lachte leise.

„Die menschliche Rasse lässt sich so furchtbar leicht manipulieren, hab ich nicht recht? Es bedarf kaum Aufwand die unendliche Furcht, die sie gerade noch empfunden hat, in ihrer Erinnerung durch Euphorie zu ersetzten. Eines Tages wird das ihr Gehirn so sehr zerstört haben, dass sie A von B nicht mehr unterscheiden kann, aber bei ihrem Aussehen wird das keine Probleme darstellen.“

„Aber, warum?“, ich konnte nicht anders als zu fragen.

„Du warst eine Jägerin aber hast keine Ahnung?“

Meine Unwissenheit schien Oswald sehr zu amüsieren.

„Eurer Blut schmeckt am besten, wenn ihr glaubt zu sterben“, meinte er mit einem breiten Grinsen und ließ mich nicht aus den Augen, „genau gesagt befriedigt menschliches Blut uns nur dann.“

Das war mir neu. Ich ließ es mir äußerlich aber nicht anmerken.

„Und nicht alle meiner Rasse sind so… freundlich wie ich und ersetzen die Erinnerung. Das würde bei einem Blutdiener nämlich noch einmal die Qualität des Blutes erhöhen, aber ich persönlich finde es einfach nur anstrengend, wenn sie immer jammernd in den Ecken kauern und man sie einsperren muss.“

Das war einfach nur… pervers. Ich konnte ein Schaudern nur schwerlich unterdrücken.

„Jetzt sei nicht so entsetzt, Kind. Man könnte ja fast meinen du wärst eine Unwissende.“

Manchmal wünschte ich mir das auch.

„Möchtest du es ausprobieren?“, fragte er mich mit einem engelsgleichen Lächeln.

Sofort versteifte ich mich vollkommen.

„Nein“, sagte ich mit so fester Stimme wie möglich.

Er lächelte.

„Das ist wirklich schade, dabei hast du jetzt schon so große Angst. Euer Atheismus ist wirklich ein großes Geschenk an uns gewesen, nach dem ganzen religiösen Fanatismus. Die Menschen hatten nicht halb so viel Angst, als sie sich noch sicher waren, dass es ein Leben nach dem Tod gab. Wie ist das bei dir, Kind? Was glaubst du?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete ich wahrheitsgemäß und sein Lächeln wurde breiter.

„Das sind die, die am meisten Angst haben.“

„Warum?“, fragte ich verwirrt.

„Weil sie hoffen.“

„Macht Hoffnung uns nicht stärker?“

„Nur in Märchen und Gutenachtgeschichten, aber dir steht es natürlich frei deine eigene Meinung zu bilden, Kind.“

„Danke, aber ich verzichte.“

„Ich kann mich nur wiederholen, wirklich schade. Aber es wäre auch wirklich Verschwendung, wenn ich mich von dir bedienen würde, nachdem ich mich gerade erst gesättigt habe.“

„Wann brechen wir zu Constantin auf?“, wechselte ich angespannt das Thema.

„Sobald ich Melisa instruiert habe. Wieso, Kind?“

Nun konnte ich nur hoffen, dass ich doch besser lügen konnte, als er behauptete.

„Weil es ein Problem geben könnte, wenn Mikhail mich sieht.“

Ein tief amüsiertes Grinsen grub sich in Oswalds Gesicht und er faltete seine Hände ineinander.

„Wie macht sich ein so junger Jäger nur so schnell so viele mächtige Feinde?“, fragte er und ich bildete mir ein ihn glucksen zu hören.

„Es stand mir auf meinem Weg zu Constantin unweigerlich im Weg.“

„Ich verstehe. Und weiß er, dass du Constantin in seinen jetzigen Zustand versetzt hast, Kind?“

„Nein, und ich würde es begrüßen, wenn das auch so bleiben würde.“

„Wird Constantin es ihm nicht so oder so erzählen, wenn du es schaffst ihn aufzuwecken?“

„Damit beschäftige ich mich dann, wenn es so weit ist.“

„Du spielst also gerne mit dem Feuer, Kind?“

„Nein, aber ich weiß auch nicht, wie ich mich auf diese Situation vorbereiten sollte.“

„Ja, es ist wirklich eine Schande, dass er wieder in seinem Anwesen ist. Im Hospital hätte sich diese ganze Sache sicher um einiges leichter gestaltet. Aber es ist eine Herausforderung.“

Oswald lehnte sich genüsslich in seinem Sessel zurück, schaffte es aber irgendwie dabei trotzdem seine perfekte Körperhaltung beizubehalten.

„Nun, die Zwillinge sind auch dort“, warf ich mit in den Topf.

„Ich würde mich an deiner Stelle nicht auf sie verlassen, Kind. Hatte ich dir nicht bereits bei unserer ersten Begegnung gesagt, dass sie Fürsorge nur füreinander empfinden und sonst niemandem gegenüber? Constantin ist jetzt ihr Meister, daran werden sie sich halten.“

So viel zu Thema Treue.

„Nun, dann müssen wir beide eben reichen“, meinte ich betont lässig mit den Schultern zuckend.

„Ich dachte, ich nehme mir die beiden anderen Menschen als Frontkämpfer mit. So sind sie wenigstens einmal praktisch.“

Natürlich musste er sich gerade jetzt, wo ich sie fortgeschickt hatte, zum ersten Mal für sie interessieren. Fragte sich nur, wie ich diese Situation händeln sollte. Vielleicht mit der Wahrheit? Einen Versuch war es wert.

„Es tut mir leid, wir dachten es bestände kein Interesse an ihren Diensten. Sie sind auf die Suche nach den Ledoux Geschwistern gegangen.“

Oswald seufzte schwer und wirkte alles andere als begeistert.

„Sie waren zwar wirklich nutzlos, Kind, aber als Kanonenfutter hätten sie noch allemal eine gute Figur gemacht. Und irgendwie glaube ich auch nicht, dass sie von selbst auf diese Idee gekommen sind.“

Er schenkte mir ein strahlendes Lächeln, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

„Kind, ich dachte du hättest bereits begriffen, dass man meine Sanftmut nicht strapaziert. Sollte ich einem der beiden je wieder über den Weg laufen, dann wird das ihr endgültiges Ende sein, als Strafe dafür, dass sie fortgingen.“

Jetzt war es zu spät, um meinen Entschluss zu bereuen.

Kapitel 4 - Vor langer, langer Zeit

(Hey Leute, ich führe hier ein neues Element in meiner Erzählweise ein. Wie die Kapitelüberschrift schon verrät, spielt dieser Teil der Gesichte lange vor der Hauptstory. Diese Nebenstory wird parallel weitererzählt werden. Damit es euch leichter fällt zu unterscheiden, um welchen Handlungsstrang es sich handelt, wird bei einem Wechsel am Kapitelanfang der Name der jeweiligen Hauptperson genannt. Leider werde ich euch nicht noch nicht verraten, wie diese beiden Geschichten zusammenhängen, aber das erfahrt ihr schon noch früh genug :) )

 ~Tomomi~

Ein eisiger Windstoß fegte durch die Bäume und Tomomis Mutter zog fröstelnd ihren Mantel etwas fester um die Schultern. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, der Winter kam und er würde hart werden. Das spürte sie. Vielleicht noch 3 Tage, dann würde es beginnen zu schneien. Sie musste sich mit den Vorbereitungen auf den Winter beeilen. Mit etwas zügigerem Schritt machte sie sich daran weiter Feuerholz einzusammeln. Es würde wahrscheinlich nicht reichen, sie würde trotz allem noch einmal hierherkommen müssen, wenn der Schnee bereits hoch lag. Wie immer in solch einer Situation sehnte sie sich in so einem Moment nach ihrer Heimat an der Küste. Auch dort waren die Winter kalt und der Wind sorgte dafür, dass sie einem bis in die Knochen fuhr, aber der Schnee legte sich höchstens in einem weichen Flaum über alles. Man musste später nicht im Schnee nach dem Feuerholz graben oder niedrige Äste abreißen. Die Fischer wussten, wo sie auch im Winter Fische finden konnten und kamen nicht oft tagelang erfolglos aus dem Wald zurück. Es war ein einfacheres Leben, besonders, weil nicht auch durch den Winter hindurch Gaben an den Tempel gegeben werden mussten. Plötzlich hatte sie ein ungutes Gefühl und sah sich hektisch in dem Waldstück um.

„Tomomi?!“, rief sie und begann in Richtung der Lichtung zu laufen, „Tomomi meine Kleine, antworte mir!“

Nichts. Langsam wurde sie panisch und lief schneller, rannte jedoch nicht, weil sie das Feuerholz, das sie so mühsam zusammengesucht hatte, nicht verlieren wollte. Als sie näher an die Lichtung kam, hörte sie Stimmen und als sie sie erkannte, verlangsamte sie ihren Schritt, um zu lauschen.

„Ja, ich kann es kaum erwarten! Papi sagt, dass schon ganz lange niemand mehr die Prüfungen geschafft hat, aber ich schaff das. Ganz sicher!“, meinte eine feine, glockenklare Kinderstimme eifrig.

Sie konnte beinahe ihre leuchtenden Augen und ihre vor Aufregung geröteten Bäckchen vor sich sehen und schloss in einem stummen Seufzer für einen Moment die Augen.

„Was macht dich denn da so sicher?“, fragte die zweite Stimme, deutlich älter und furchterregend, zu dem Mädchen.

Sie erschauderte, doch ihre Tochter schien das nicht sonderlich zu stören. Sie hörte ihr helles Lachen.

„Papi sagt immer, manche Dinge weiß man einfach. Das weiß ich einfach.“

Sie sah sein hohles Lächeln, wie es sich auf seinem Gesicht ausbreitete, beinahe vor sich.

„Und du hast gar keine Angst? Schließlich weißt du ja nicht, was dich bei dieser Prüfung erwartet.“

Sie war jetzt nahe genug heran, um ihre Tochter mit den Schultern zucken zu sehen. Sie wirkte so klein und verloren vor dem großen Mann, der von Kopf bis Fuß in dunkle, kostbare Stoffe gehüllt war und mit eisigem Blick auf sie herabstarrte.

„Wovor sollte ich denn Angst haben?“, fragte sie, offensichtlich verwirrt.

„Vor der Prüfung selbst? Oder nicht auserwählt zu werden?“

Die Kleine legte den Kopf schief und dachte augenscheinlich angestrengt über diese Frage nach. Schließlich schüttelte sie fest entschlossen, beinahe energisch, den Kopf.

„Nein“, meinte sie mit fester Stimme.

Ihr gegenüber schien milde überrascht von dieser Antwort.

„Wieso nicht?“, fragte er und schien die Antwort wirklich wissen zu wollen.

„Papi sagt, bei dieser Prüfung sucht man nach jemandem, der besonders ist. Der anders ist, als die anderen Kinder. Ich bin anders.“

Für einen Augenblick, der ewig zu sein schien, musterte er die Kleine schweigend. Dann lächelte er und wandte seinen Blick der Frau, die noch immer versteckt im Wald stand, zu.

„Deine Tochter ist zu Großem bestimmt“, meinte er, strich der Kleinen sanft über den Kopf, und verschwand in den Wald.

Zitternd rannte die Frau, nicht mehr darauf achtend, ob sie Scheite des Feuerholzes verlor, auf die Richtung zu ihrer kleinen Tochter.

„Tomomi“, meinte sie, noch immer nicht dazu in der Lage ihre Stimme vollkommen zu beruhigen, „wo warst du denn?“

„Tut mir leid, Mami, ich hab mich mit ihm unterhalten. Ich glaube er wäre ein guter Lehrer.“

„Er unterrichtet nur das Kind, das die Prüfung besteht, das weißt du doch, Käferchen“, meinte sie und rückte das Feuerholz auf ihren Armen zurecht.

„Dann muss ich die Prüfung wohl bestehen“, meinte sie schulterzuckend.

 

Es war ein kalter Winter, wie sie es vorhergesagt hatte. So kalt, dass sie nicht einmal vor die Tür gingen, aber das machte der kleinen Tomomi in diesem Jahr überhaupt nichts aus. Freudig quietschend hüpfte sie durchs Zimmer. Nur dass das Zimmer eigentlich schon das ganze Haus darstellte.

„Beruhige dich, Tomomi“, meinte ihre Mutter streng und kniete sich vor das Feuer in der Mitte des Raumes.

„Aber Mami, das ist mein vierter Winter! Es ist endlich soweit!“

Der Zug um den Mund der Mutter verhärtete sich.

„Noch ist der Winter nicht vorüber“, meinte sie tonlos und stocherte mit einem Ast im Feuer.

Tomomi ging verwundert zu ihrer Mutter herüber.

„Warum freust du dich nicht, Mami? Sonst freuen sich doch immer alle.“

Ihre Mutter schenkte ihr ein trauriges Lächeln und hob eine Hand zu Tomomis Gesicht, um ihr sanft über die Wange zu streichen.

„Weil ich dich noch nicht hergeben möchte, meine Kleine“, meinte sie mit sanfter Stimme.

„Hergeben?“, fragte die kleine Tomomi verwirrt und zog die Stirn kraus.

„Wenn sie dich für würdig erachten, dann kommst du in den Tempel.“

„Kommst du dann denn etwa nicht mit mir mit? Du und Papa?“

Ihre Mutter wandte sich nun Tomomi ganz zu und sah ihr fest in die Augen.

„So gerne ich das auch wollte, ich dürfte es nicht. Deine Erziehung obliegt dann ganz ihm. Ihm und den Mönchen.“

„Aber Papa sagt immer, dass er ganz nett ist. Dass er etwas ganz Besonderes ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein netter Mensch dir nicht erlauben würde mitzukommen.“

Das Lächeln ihrer Mutter wurde wieder traurig.

„Ach Tomomi“, seufzte sie, „es wäre alles so viel leichter, wenn du die Prüfungen nicht bestehen würdest.“

„Also soll ich sie nicht bestehen?“, fragte die Kleine und plötzlich schüttelte ihre Mutter panisch den Kopf.

Mit einem Griff, der Tomomi schmerzte, packte ihre Mutter sie an den Armen.

„Hör mir gut zu, du darfst auf keine Fall absichtlich versagen! Hast du mich verstanden?“

„Mami, du machst mir Angst“, wimmerte Tomomi und sofort lockerte sich der Griff ihrer Mutter.

„Es tut mir Leid, mein Schatz“, meinte sie und schloss ihre Tochter fest in die Arme.

Die Tür öffnete sich und ein eisiger Windstoß zog herein. Hastig schloss der breitschultrige Mann, Tomomis Vater, die Türe hinter sich.

„Papi!“, rief die Kleine freudig und warf sich ihm in die Arme.

„Und?“, fragte die Mutter und sah ihrem Mann ernst, ungeduldig und furchtvoll zugleich in die Augen, „was haben sie gesagt?“

„Als du meine Frau wurdest, wurdest du Teil dieses Dorfes und damit auch unsere Tochter.“

Kraftlos sank die Mutter in sich zusammen und der Vater stellte Tomomi hastig auf ihre Füße.

„Sie einmal nach den Tieren, ja mein Schatz?“, meinte er zu der Kleinen, die sofort eifrig durch die zweite Tür verschwand, die zum Verschlag der Tiere führte.

Dann wandte er sich wieder seiner Frau zu.

„Ich verstehe nicht, warum es dich so stört, dass sie zu dieser Prüfung geht. Es wäre doch eine Ehre, wenn sie auserwählt würde.“

„Das sehen nur die Menschen in diesem Dorf so. Ich will nicht, dass meine Tochter zu einem Monster wird!“, rief sie aufgebracht, aber eindeutig nicht von Wut, sondern Verzweiflung herrührend.

Auch ihr Mann erkannte das.

„Ich dachte du hättest unsere Lebensweise akzeptiert, als du mit mir gekommen bist. Ich dachte, du hättest es verstanden. Und selbst wenn unsere Tochter die Prüfungen besteht, und das ist ein großes Wenn, dann würde sie nicht zu einem Monster werden.  Ja, sie wäre dann mehr als wir, aber doch nicht im negativen Sinne! Sie wäre… sie wäre wie ein Gott…“

„Ich will aber keinen Gott, ich will meine Tochter! Wenn sie die Prüfung besteht, dann wird man sie mir wegnehmen, eben weil ich nicht aus diesem Dorf stamme. Weil sie dann Angst hätten, dass ich sie mit meinem Gedankengut infiziere!“

„Hör auf! Du sprichst hier auch über meinen Glauben. Und was macht dich überhaupt so sicher, dass Tomomi diese Prüfungen bestehen wird?“

Die Mutter senkte betreten den Kopf.

„Es ist so ein Gefühl. Ich… ich weiß es einfach. Ich spüre, wie meine Zeit mir ihr zu Ende geht und dass ich es nicht aufhalten kann. Ich spüre, dass sie anders ist…“

Ihr Mann blickte sie überrascht an. Diese Worte, sie waren ein Eingeständnis. Ein Eingeständnis, dass seine Frau nun endlich auch den Glauben seines Dorfes angenommen hatte. Tatsächlich und nicht nur so halb, wie viele der anderen Dörfer es taten.

„Du glaubst sie wäre eine Geborene?“

Die Frau schüttelte den Kopf.

„Nein, das hätte er bestimmt schon längst bemerkt. Wobei, das hat er ja auch…“

Ihr Mann blickte sie überrascht an.

„Was meinst du damit?“

„Am Anfang des Winters, da bin ich ihm begegnet, als ich mit Tomomi im Wald war Feuerholz zu holen. Lange hat er einfach nur Tomomi angestarrt, dann hat er sich mir zugewandt und gemeint: ‚Deine Tochter ist zu Großem bestimmt.‘ Dann ging er einfach fort und es war, als würde mir seitdem die Zeit durch die Finger rinnen, wie Wasser, einfach nicht aufzuhalten. Er wird sie uns wegnehmen!“

„Beruhige dich!“, meinte der Mann, doch nun schien auch er nicht mehr zu zuversichtlich wie zuvor.

Seine Frau bemerkte es.

„Du…“, begann sie überrascht, „du willst auch nicht, dass sie auserwählt wird.“

Er knirschte widerwillig mit den Zähnen.

„Sie ist unser einziges Kind…“, sagte er, schüttelte dann aber entschlossen den Kopf, „Es wäre eine Ehre, wenn sie auserwählt würde.“

Sie krallte ihre Hände beinahe in seinen von der Kälte steifen Mantel und sah hoffnungsvoll zu ihm auf.

„Wenn wir von hier fortgingen, wenn wir einfach nicht mehr hier wären…“

Mit einer endgültigen Geste schnitt er ihr das Wort ab.

„Denk nicht einmal so, das ist Verrat an ihm! Egal wie sehr ich mir wünschte unsre Tochter bei uns zu behalten, ihn würde ich niemals hintergehen.“

Kapitel 5 - Von Legenden und Plänen

~Sam~

 Eigentlich hätte ich diese Reaktion von seitens Oswalds erwarten sollen, es war nicht besonders abwegig. Wahrscheinlich konnte ich froh sein, dass er nicht genügend Leute hierhatte, um jemanden den beiden nachzuschicken.

„Wenn du kein magiebegabtes Wesen wärst, dann hätte ich dich schon längst für deinen Ungehorsam umgebracht, ich hoffe das ist dir klar Kind.“

Bizarr an der ganzen Situation war, dass Oswald nicht das kleinste bisschen aufgebracht wirkte. Er stellte einfach klar und präzise fest und gerade das jagte mir einen Schauer über den Rücken.

„Aber kommen wir zu wichtigeren Dingen“, meinte er und streckte seine rechte Hand in meine Richtung aus, „gib mir den Assassinendolch.“

Ich folgte seiner Anweisung ohne zu zögern. Oswald nahm ihn vorsichtig entgegen und betrachtete ihn eingehend. Wonach suchte er?

„Kennst du die Legende der Assassinendolche?“, fragte er mich schließlich, ohne jedoch den Blick von der Waffe zu heben.

„Nicht wirklich. Ich weiß nur, dass sie die Waffen vampirischer Assassinen waren.“

„Diese Vampire waren nicht nur einfache Assassinen, zumindest wenn man den Legenden Glauben schenken darf.“

„Mehr?“, fragte ich, als Oswald nicht weitersprach.

Ich glaubte einen amüsierten Gesichtsausdruck für einen Moment bei ihm aufblitzen zu sehen.

„Um fair zu sein, sollte ich dich vielleicht vorwarnen, Kind. Diese Geschichte gehört zu den verbannten Legenden.“

Ich blickte ihn verwirrt an. Wovon sprach er hier?

„Auch wenn meine Welt nur eine einzige Regel kennt, so gibt es doch auch andere… Richtlinien, denen man folgen sollte, wenn man sein unsterbliches Leben schätzt. Wobei sich mir nicht eröffnet, weshalb man wegen einer so kleinen Geschichte solch einen Aufwand betreibt.“

„Vielleicht, weil sie wahr ist?“, merkte ich schulterzuckend an.

Oswald schenkte mir ein falsches Lächeln, das mir einen Schauer über den Rücken jagte.

„Nein, es ist eher so etwas, wie eure Bibel. Ein Gleichnis. Also, möchtest du es hören, Kind?“

Ich nickte.

„Ja.“

„Gut. Wie erwähnt, der Legende nach waren die Besitzer dieser 13 Dolche viel mehr, als einfache Assassinen, sie waren die Lehrmeister unseres Volkes, die Bewahrer unserer Geschichte. Und jedem dieser Dolche wurde eine besondere Fähigkeit zugesagt, den Teil der Geschichte, den sie bewahrten. Auch wenn die Assassinen sich sehr bedeckt darüber hielten, so sickerten doch einige hindurch: Ein Dolchträger bewahrte die Geschichte des Verrates, ein anderer die der Vergebung, ein dritter die des Krieges und ein vierter die der Liebe. Den Dolchen selbst wurde nach dem was sie bewahrten entsprechende Fähigkeiten zugesagt, so sollte man mit ihnen immer erfolgreich töten können, immer, wenn man mit der ihnen zugeteilten Emotion an den Gegner herantrat. Egal wie geringfügig die Wunde war, der verletzte starb.“

„Was ist mit ihnen passiert?“, fragte ich, schwer vermutend, dass Ludwig keiner dieser Assassinen gewesen war.

„Sie sind gestorben.“

„Wie?“, stocherte ich weiter nach.

„Das weiß niemand.“

Verwirrt sah ich Oswald an. Der seufzte schwer.

„Die Unwissenheit mancher Jäger ist manchmal einfach nur peinlich. Sie sind damals mit allen anderen gestorben“, versuchte er mich selbst auf die Antwort zu stoßen, aber mein Gesicht blieb weiterhin leer.

„Vor ungefähr sechseinhalbtausend Jahren starb beinahe die gesamte Vampirrasse auf einen Schlag aus, das solltest du wissen.“

Ich konnte nicht mehr tun als dumm dreinzuschauen. Nun, zumindest schien mir das die klügste Reaktion zu sein,

„Wie konnte das passieren?“, fragte ich verdattert.

„Das versuchen wir bis heute herauszufinden, nun, zumindest die unter uns mit zu viel Zeit.“

„Dich selbst hat es nie interessiert?“

„Wieso sollte es, Kind? Es ist nicht, dass ich die Vergangenheit mithilfe dieses Wissens ändern könnte.“

Ich erwiderte nichts darauf, auch wenn ich anderer Meinung war. Ich hätte Angst, dass diese Seuche oder was auch immer eines Tages zurückkam, aber ich persönlich, in meinem jetzigen Zustand, würde das sehr begrüßen, also hielt ich den Mund.

„Und außerdem sind diese Nachforschungen nicht gerne gesehen.“

Das war allerdings wiederum interessant, aber ich war mir nicht sicher, ob es eine so gute Idee war weiter nachzufragen. Oswald war zwar mir gegenüber sehr offen, aber ich hatte das Gefühl hier eine Grenze zu überschreiten, wenn ich weiter nachfragte, also wechselte ich das Thema.

„Wie kommen die Leichen eigentlich zu Mutter?“

„Oh, ich werde ein mir untergebenes Vampirblut herbeirufen. Es ist einfach ärgerlich, dass die Zwillinge fort sind. Sie waren so praktisch, aber ich werde einen Ersatz finden.“

„Sonst kann auch ich es tun.“

Oswald schenkte mir ein amüsiertes Lächeln.

„Kein lebendiges Wesen betritt Mutters Festung, Kind. Es sei denn, du willst sie nie wieder verlassen. Niemand verrät dem Feind, wo sein Hauptquartier liegt, auch wenn er auf deiner Seite zu sein scheint. Du magst vielleicht kein Mensch sein, aber du bist auch kein Vampir, also maße dir so etwas nie wieder an, hast du verstanden Kind?“

Ich nickte. Das wäre aber auch zu einfach gewesen, aber es nicht zu versuchen war keine Option gewesen. Also wechselte ich das Thema erneut.

„Die Legende über die Assassinendolche, für was ist sie ein Gleichnis?“

Oswalds Blick entwich für einen Augenblick in weite Ferne, aber er war gleich wieder zurück.

„Dass dir eine Tat immer gelingen wird, wenn deine Motive dahinter die Richtigen sind, egal wie stark dein Gegner ist.“

„Welche Emotion wohl zu diesem Dolch gehört?“, philosophierte ich und Oswald zog den Assassinendolch hervor.

„Nun, es ist auch der erste, den ich in meinem langen Leben in meinen Händen halte.“

Er betrachtete ihn eindringlich, wandte ihn in seinen Händen hin und her und winkte mich schließlich näher zu sich heran, um mir ein eingraviertes Emblem an der Klingenspitze zu zeigen. Es war winzig, sodass ich es wahrscheinlich übersehen hätte, wenn Oswald mir es nicht gezeigt hätte, und stellte zwei Hände dar, wobei die eine die andere von oben herab zu halten schien. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie eine so alte Waffe eine so feine Gravur haben konnte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es damals schon die Mittel dazu gegeben hatte.

„Was bedeuten die Hände?“, fragte ich.

„Ein weiteres Mysterium“, meinte Oswald kurz, aber ich ließ mich nicht davon beirren.

„Wie alt er wohl sein mag…“

„Es heißt, dass niemals neue angefertigt wurden.“

„Aber, dann müsste dieser Dolch doch über sechseinhalbtausend Jahre alt sein“, meinte ich und schüttelte ungläubig den Kopf, „Aus was für einem Material ist er gefertigt?“

Oswald lehnte sich seufzend zurück und schob den Assassinendolch zurück in die Scheide.

„Deine Neugier ist nur schwer erträglich, Kind. Vielleicht trägst du ja Pixieblut in dir, das würde so einiges erklären.“

War das etwa meine Antwort?

„Wir machen dies zur letzten Frage für die nächste Zeit, die ich dir beantworten werde. Dann konzentrieren wir uns darauf, dass du mir einige Fragen beantwortest. Um auf das Material des Assassinendolches zurückzukommen, so weiß ich es nicht, Kind, aber man sagt, dass sie das Geschenk eines Wesens waren, so mächtig, dass selbst wir nur davon träumen können, aus einem Stoff, der natürlich nicht gewonnen werden kann. Offensichtlich eine Geschichte, die sich ausgedacht wurde aus Ermangelung feststellen zu können, was dieses alte Metall ist. Meine persönliche Vermutung aber ist, dass sie aus einem Meteoriten geschmiedet wurden.“

Das klang tatsächlich nach einer logischen Möglichkeit. Und auch wenn mir noch tausend Fragen auf der Seele brannten, so hielt ich sie zurück. Oswald hatte es ja wirklich klar gemacht, dass jetzt erst einmal andere Dinge im Fokus standen.

„Nun geh‘ und packe deine Dinge zusammen, Kind, wir werden bald aufbrechen.“

Ich fiel auf ein Knie und schlug mit der rechten Faust gegen meine Brust, bevor ich mich auf machte in mein Zimmer, um zu packen. Jetzt war es endlich so weit, ich würde Constantin gegenüberstehen, ohne dass mich jemand aufhalten würde. Mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht lief ich die Treppe nach oben.

Zurück auf meinem Zimmer widmete ich mich aber erst einem anderen Gedanken, den ich zuvor unterdrückt hatte, damit ich nicht in Gefahr lief, dass Oswald ihn auf meinem Gesicht ablesen konnte. Denn er war ja nicht der erste gewesen, der die Ausrottung der Vampire mir gegenüber erwähnt hatte. Johannes hatte dies bereits getan, wenn auch in etwas anderem Zusammenhang. Er hatte erwähnt, dass sie ihre oberste Vampirherrscherin Mutter nannten, weil sie die einzige gewesen war, die die Große Schlacht, wie er es nannte, überlebt hatte. Damals hatte ich dieser Tatsache nicht sonderlich viel Beachtung geschenkt gehabt, aber heute wunderte ich mich doch über diese Formulierung. Als einzige, war das überhaupt möglich? Und wenn, dann wie? Das klang mir doch sehr suspekt in den Ohren. Wusste Oswald das auch und hatte mir einfach nicht die Wahrheit sagen wollen? Klar, ich hätte es auch nicht erzählt, wenn die Zahl der Vampire schon einmal auf eins dezimiert worden war. Es war sicher nicht gut publik zu machen, dass das schon einmal gelungen war. Wenn es der Wahrheit entsprach, Johannes war ja nicht gerade die vertrauenswürdigste Quelle gewesen. Allerdings stand er wiederum Mutter sehr nahe, was eigentlich heißen musste, dass er diese Art von Information am ehesten haben musste. Ich war ernsthaft verwirrt und ging einfach einmal davon aus, dass Johannes die Wahrheit sagte und dass diese Große Schlacht auch das war, von dem Oswald gesprochen hatte, womit auch schon geklärt wäre, wie es zur Ausrottung der Vampire gekommen war. Jetzt blieb nur noch offen, wer da gegen wen und warum gekämpft hatte. Wenn es gegen die Menschen gewesen wäre, dann hätte die Vampirjägervereinigung sicher Informationen darüber, allerdings war mir schleierhaft, wie wir vor sechseinhalbtausend Jahren dazu in der Lage hätten seien sollen gegen die Vampire anzukommen, wenn wir es heute nicht konnten. Was bedeuten musste, dass die Vampire gegeneinander gekämpft hatten. Ein Vampirkrieg also. Wozu die Vampirjägervereinigung eigentlich auch Aufzeichnungen haben musste… Moment… ich brauchte einen Moment, dann fiel es mir wieder ein und ich hätte mir am liebsten mit der Hand vor die Stirn geschlagen. Ale hatte mir von der Geschichte der Vereinigung erzählt und dass die erste Aufzeichnung erst fünftausend Jahre alt war. Allerdings, was machte das für einen Unterschied, die Vereinigung verriet einem ja sowieso nichts. Aber vielleicht, ganz vielleicht konnte mir meine Großmutter ja weiterhelfen. Nur leider hatte ich ihre Telefonnummer nicht, ich hatte ihr nur die meine gegeben. Vorerst würde ich also weiterhin alleine nachgrüben müssen und jetzt, wo ich damit angefangen hatte, kamen auch viele andere Überlegungen zurück, die ich bislang so erfolgreich verdrängt gehabt hatte. Wie die Frage, was ich genau war, was passieren würde, wenn ich es nicht schaffte die Portale zu öffnen, was geschah, wenn ich es schaffte die Portale zu öffnen. Ich würde so gerne ein anderes magiebegabtes Wesen treffen, das mir half, das mir Antworten gab, aber dieser Luxus schien eindeutig zu viel verlangt. Wieso konnten wir Mutter nicht einfach fragen? Ich war mir sicher, dass sie viele Antworten hatte. Klar, sie war das Oberhaupt der Vampire und selbst so jemand wie Oswald wollte sich nicht mit ihr anlegen. Ich seufzte schwer und ließ mich aufs Bett fallen. Es war schwer irgendwelche Antworten zu bekommen, wenn man keine Quellen hatte. Jetzt war ich schon fast wieder froh, dass ich Oswald an meiner Seite hatte, der mir mit meinen Nachforschungen helfen würde – wenn auch zu seinem eigenen Vorteil und nicht zu dem Meinen. Ich sollte vielleicht eine Prioritätenliste aufstellen. Was ich bereit war zu verlieren und wo ich unbedingt gewinnen musste. Ich überlegte für einen Moment und relativ schnell kam ich zu einem Schluss. Das wichtigste war es herauszufinden, wie diese Protalsache funktionierte, auch wenn mich die Erkenntnis für einen Moment überraschte. Aber meine Großmutter hatte ja gesagt, wenn es das magiebegabte Wesen nicht wollte, dann konnte ihm keiner folgen. Ich wusste zwar nicht, was mich auf der anderen Seite dieser Portale wirklich erwartete, aber ich hatte diese naive Hoffnung, dass die Wesen meiner Rasse mit mir kommen und mir helfen würden Constantin und Oswald zu töten. Zumindest einige wenige hoffte ich. Ich würde sie davon überzeugen, dass sie eingreifen mussten, dass sie unserer Welt helfen mussten, denn sonst würden wir sie verlieren. Vielleicht nicht morgen oder übermorgen aber eines Tages würden die Vampire den Grund vergessen, warum sie uns nicht angriffen und diesen Moment wollte ich nicht erleben.

 

Kapitel 6 - Aufblitzen

Es dauerte nicht lange zu packen, die Tasche lag ja eigentlich immer bereit, und ich musste mich viel zu schnell wieder zurück auf den Weg nach unten zu Oswald machen. Wieder spürte ich bereits an der Eingangstür, dass sich Melisa im Raum befand und bekam eine feine Gänsehaut. Oswald hatte mich direkt zurückbeordert, aber ich wollte möglichst nicht mit Melisa im selben Raum sein. Ich hatte die Warnungen meiner Großmutter nicht vergessen. Aber was für eine Wahl hatte ich denn? Ich atmete tief durch und betrat den Raum. Wenigstens war der Eingangsbereich noch nicht mit Blut besudelt, aber das Bild, das sich mir bot, als ich um die Ecke trat, war trotzdem etwas verstörend. Oswald saß wie gewohnt in seinem Sessel, jedoch saß Melisa zu seinen Füßen, ihr Kinn auf seinen Schoß gelegt und verträumt zu ihm aufsehend, während er ihr übers Haar strich. Ihr tiefrotes Kleid floss wie eine gewisse Flüssigkeit, die man bei Verletzungen verlor an ihr herunter. Ich schüttelte mich innerlich und versank in die Begrüßungsgeste, jedoch ignorierten mich die beiden einfach, also verharrte ich. Ich verstand sowieso kein Wort von dem, was sie sprachen. Oder…? Ich musste mich zusammenreißen nicht überrascht aufzublicken.

„Ja, ich werde darauf achten, dass sie alle nicht wegen den Ereignissen in Russland etwas Dummes anstellen“, gurrte Melisa beinahe.

Als nun Oswald wieder sprach, verstand ich ihn jedoch wieder nicht und war verwirrt. Warum sprach Melisa Englisch und Oswald nicht, was sollte das?

„Ich habe sie tatsächlich erreichen können, sie meinte, sie freut sich schon auf deinen Besuch.“

Ein feines Lächeln war auf Oswalds Gesicht zu sehen, als er antwortete und welches Melisa mit ihm teilte, als er zu Ende gesprochen hatte.

„Wie dumm sie doch ist“, kicherte Melisa.

Im nächsten flog sie durch die Luft und schlug hart gegen die gegenüberliegende Wand. Oswald hatte sich nicht erhoben, aber seine Stimme klirrte vor Kälte, als er zu Melisa sprach und sie schien mehr als verstört zu sein, während sie sich die Wange hielt, wo er sie geschlagen zu haben schien. Schließlich nickte sie ergeben.

„Ich verstehe… Meister.“

Es kam ihr kaum über die Lippen und ich fragte mich, wer es war, für dessen Beleidigung Oswald sein liebstes Wesen bestrafte und in seine Schranken wies. Melisa sah aus wie ein geprügelter Hund und inzwischen floss dunkles, dickflüssiges Blut zwischen den Fingern der Hand, die ihre Wange hielt, hervor. Nun endlich wandte Oswald seine Aufmerksamkeit mir zu.

„Wie ich sehe, können wir aufbrechen“, meinte er nun in Englisch an mich gewandt und ignorierte nun Melisa vollkommen.

Diese kauerte noch immer in der Ecke, als wagte sie es nicht sich zu bewegen. Ich erhob mich und folgte Oswald nach unten zu den Garagen. Dort wartete bereits ein reichlich nervös scheinender Vampir auf uns, der sich hastig auf ein Knie fallen ließ und sich ungeschickt mit der Faust vor die Brust schlug.

„Adrian, dir wurde mitgeteilt, was deine Aufgabe ist?“

Er nickte.

„Ja, Meister.“

„Die Leichen sind bereits verladen?“

Wieder nickte Adrian.

„Ja, Meister.“

„Dann los“, meinte Oswald und machte eine angedeutete scheuchende Bewegung mit der Hand.

Hastig sprang Adrian auf und öffnete die Tür für Oswald, dass dieser sich auf die Rückbank setzen konnte. Ich selbst setzte mich – ohne Hilfe – auf den Platz neben Oswald durch die andere Tür, während sich Adrian hinter das Lenkrad setzte. Dann fuhren wir auch schon los. Wie ich es mir gedacht hatte, waren wir kurz darauf an demselben Flughafen, von dem aus wir zuvor schon nach Russland aufgebrochen waren. Ebenso stand wieder Oswalds Privatjet auf dem Landefeld bereit. Kaum hatte der Wagen gestoppt, kamen schon drei breitschultrige, menschliche Angestellte aus dem Flieger. Einer öffnete Oswald die Tür und hielt einen schwarzen Schirm über ihm, während er ihn in den Flieger begleitete. Das letzte Mal war das nicht von Nöten gewesen, da wir im Schatten des Fliegers gehalten hatten. Die anderen beiden Muskelprotze öffneten den Kofferraum und nahmen dort die beiden Leichen heraus. Für einen Moment spürte ich ein Ziehen in der Brust, schließlich war eine dieser Leichen mein Bruder, aber ich stopfte meine Gefühle sofort wieder in den hintersten Winkel. Tot war tot. Hastig stieg ich vor ihnen ins Flugzeug und ließ mich auf einen der Sitze fallen. Schweigend beobachtete ich, wie sie die Leichensäcke an mir vorbei in den hinteren Teil des Flugzeuges trugen. Als der Erste die Tür aufstieß, erstarrte ich. Ich hatte es zwar nur für den Bruchteil eines Moments gesehen, aber ich war mir sicher. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Dieser Mann war ein Vampirjäger. Die Frage war nur, ob er war wie ich, oder ob er tatsächlich umgedreht worden war. Aber egal was, es war nicht gut, dass er hier war. Ich überlegte nicht weiter, sondern erhob mich einfach von meinem Sitz und ging ebenfalls durch die Tür. Ich stand in einem Gang, von dem weitere Türen abgingen, doch glücklicherweise stand eine davon offen. Ich trat hindurch und die beiden Männer drehten sich überrascht zu mir um. Ohne mich zu erklären griff ich nach dem Handgelenk des ersten Mannes und schob den rechten Ärmel des Sakkos nach oben. Da war sie, die Tätowierung – Untoter, Tot, Schicksal. Ich hob den Blick und sah dem Mann scharf in die Augen. Er erwiderte ihn schweigend.

„Nach was suchst du?“, fragte er nach einer Weile ruhig.

Ich ließ seinen Arm los, ignorierte seine Frage und drehte mich zu dem anderen Mann um.

„Hast du auch so eine?“, fragte ich scharf.

Sein Blick zuckte zu seinem Kollegen. Wenigstens wusste ich jetzt, wer hier der Boss war. Schließlich nickte er zögerlich.

„Ich bin Wolfram“, sagte der Anführer und ich blickte zurück zu ihm, „und das ist Daniel.“

Ein Grinsen breitete sich auf Wolframs Gesicht aus.

„Und du musst wohl Luna sein.“

Meine Hände zuckten zu meinen Waffen, aber ich zwang mich stillzuhalten.

„Und was bringt dich zu dieser Vermutung?“

„Der Kreis der bekehrten Jäger ist nicht sonderlich groß, Neuigkeiten verbreiten sich schnell.“

„Mein Mitgliedsausweis ist wohl in der Post verloren gegangen“, meinte ich trocken.

Natürlich wäre es schlauer mich mit ihnen gutzustellen, aber… nein, es gab nicht wirklich ein aber, ich wollte einfach nicht. Ich war nicht so tief gesunken wie sie.

Zu meiner Überraschung wurde Wolframs Grinsen noch breiter.

„Sie ist genau, wie du einmal warst, nicht wahr, Daniel?“

Auch Daniel grinste mich nun an und sprach auch tatsächlich zum ersten Mal.

„Ja, aber sie wird es noch verstehen. Ich spüre es.“

Okay, entweder sie waren verdammt gute Schauspieler oder total daneben. Ich tendierte zu letzterem.

„Wie auch immer“, meinte ich nur und ging zurück zu meinem Platz.

Mir gegenüber hatte, zu meiner großen Überraschung, Adrian Platz genommen. Der blickte schwach lächelnd auf, als ich mich in meinen Sitz fallen ließ.

Er konnte noch nicht lange ein Vampir sein, so unsicher, wie er da vor mir saß. Im Allgemeinen fiel mir nichts auf den ersten Blick auf, was ihn dafür qualifizierte verwandelt zu werden. Vielleicht war er ja hochintelligent. Das würde auch zu seiner schmächtigen Statur, dem wirren, brünetten Haar und der anscheinend mit wenig Bedacht ausgewählten Kleidung passen. Es war wirklich schwer einzuschätzen, wie alt er bei der Verwandlung gewesen war. Von einem erwachsen aussehenden 16-jährigen bis zu einem junggebliebenen Mitte Dreißiger war wirklich alles möglich. Das Flugzeug fuhr an und Adrian umklammerte erschrocken seine Armlehnen.

„Erster Flug?“, fragte ich mit einem nachsichtigen Lächeln.

Adrian schien für einen Moment verwundert zu sein, dass ich mit ihm sprach, nickte dann aber.

„Ja“, meinte er kurz.

Dann herrschte wieder Schweigen und er wandte seinen Blick zum Fenster. Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück und schloss für einen Moment die Augen. Nun hatte ich etwas Zeit darüber nachzudenken, was denn da vorher bei diesem Gespräch zwischen Oswald und Melisa losgewesen war. Wen hatte Melisa beleidigt, dass Oswald so wütend gegenüber ihr, ausgerechnet ihr, geworden war. Melisa, sein Engel, der nichts falsch machen konnte, er hatte sie geschlagen. Aber anscheinend hatte sie ihn selbst noch nie so erlebt, sonst wäre sie nicht in der Ecke gekauert. Ich konnte mir eigentlich nur vorstellen, dass sie Mutter selbst beleidigt hatte, aber so etwas Dummes würde Melisa sicher nicht sagen. Und dann wäre die Strafe wahrscheinlich auch härter ausgefallen. Wer war es also gewesen? Und während ich so überlegte, nickte ich irgendwann ein.

Ich genoss die Ruhe, als plötzlich etwas aufflackerte. Für einen Moment sah ich ein Bild, einen dunklen, weiten Raum mir spärlicher Beleuchtung, im nächsten Augenblick war alles wieder schwarz. Aber ich schlief auch nicht mehr wirklich, es war komisch. Dann flackerte die Szene wieder auf, blieb vielleicht eine Millisekunde länger bestehen, und verschwand dann wieder in der Dunkelheit. Ich brauchte einen Moment, aber dann verstand ich: Constantin versuchte mit mir Kontakt aufzunehmen. Aber wie war das möglich? Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken und ich spürte, wie sich mein Körper verkrampfte und meine Hände sich zu Fäusten ballten, aber ich konnte nichts tun, denn ich schlief ja noch. Constantin war in seinem eigenen Unterbewusstsein gefangen mit irgendeinem Wesen – oder vielleicht nur seinem Unterbewusstsein, wieso hatte ich das noch nie in Erwägung gezogen? – das ihn bewachte. Es sollte nicht möglich sein, aber da flackerte schon wieder diese Szene auf.

„Constantin?“, rief ich in die Dunkelheit hinein, auch wenn ich mir dabei ziemlich bescheuert vorkam.

Nichts antwortete mir und ich fragte mich, ob mir mein Unterbewusstsein einen Streich spielte und ich einfach nur träumte. Der Zeitpunkt dafür würde passen, schließlich beschäftigte es mich sehr und wir waren gerade auf dem Weg zu Constantin, aber gleichzeitig sagte mir mein Unterbewusstsein, dass es wahr war. Ich wusste nicht, ob ich mir glauben konnte.

„Constantin?“, versuchte ich es noch einmal, als das Bild gerade aufflackerte.

Doch es verging wieder, wie die anderen zuvor. Seufzend blickte ich mich in der Dunkelheit um, soweit dies ging, und stellte plötzlich überrascht fest, dass ich einen Körper hatte. Bis gerade eben war ich nur irgendwie im Raum geschwebt. Hatte mich also vielleicht doch jemand gehört? Ich war angespannt und wartete neugierig auf das nächste Flackern. Es kam.

„Constantin!“, rief ich nach ihm, doch dann war es auch schon wieder vorüber.

Seufzend stemmte ich mir die Hände in die Hüften. So würde das nichts werden. Wenn es tatsächlich Constantin war, der versuchte mich in seinen Traum zu ziehen, dann war er eindeutig zu schwach. Aber mal logisch denkend sollte ich mir vielleicht sorgen machen. Denn das hier bedeutete, dass er wieder stärker geworden war. Was hieß, dass diese komische Gestalt, dieser Diener des Todes, ihn gehen ließ. Soviel zu seinen großen Tönen, dass er diesen dreckigen Vampir mit sich nehmen würde. Wenn man wollte, dass etwas erledigt wurde, dann musste man es wohl oder übel selbst machen.

Das Bild erschien erneut, doch als es im nächsten Moment nicht sofort wieder verschwand, blickte ich mich neugierig um.

„Constantin?“, fragte ich in den Raum hinein.

Ich glaubte etwas zu hören, doch dann saß ich plötzlich wieder im Flugzeug. Und das war kein angenehmes Zurückkommen gewesen. Es war, als hätte mir jemand eine ordentliche Backpfeife verpasste und ich brauchte einen Moment, um dieses Gefühl zu verarbeiten. Was war das gerade gewesen? Ich hatte keine Ahnung, wie ich es einordnen sollte. Ausgehend von der Idee, dass es tatsächlich Constantin gewesen war, wieso hätte er sich diese Mühe machen und seine letzte Kraft aufbrauchen sollen, um mit mir zu sprechen? Das ergab keinen Sinn.

Eine Stewardess stöckelte mit einem breiten Grinsen den Gang entlang.

„Wenn sie sich bitte nur alle anschnallen würden, wir beginnen gleich mit dem Landeanflug.“

Ich zog meine Gurt an und blickte aus dem Fenster. Dann stockte ich.

„Wo sind wir?“, fragte ich Adrian, ohne meinen Blick von der Landschaft vor dem Fenster abzuwenden.

„Russland“, meinte er, kurz und keineswegs hilfreich.

„Ja, vielleicht etwas genauer?“

„In der Nähe von Salekhard“, meinte Adrian, als würde das alles erklären.

Ich warf ihm einen ausdruckslosen Blick zu. Den schien er zu verstehen.

„Am Ob, in der Nähe des Golfs des Obs.“

Ich blickte ihn weiter an.

„Karasee?“

Ich schenkte ihm noch immer keine Reaktion.

„Nordpolarmeer?“

Okay, das sagte mir was. Und ich wusste auch definitiv, dass das nicht in der Nähe von Constantins Anwesen lag. Was die Frage aufwarf, was zur Hölle wir hier machten.

Kapitel 7 - Eine Frage der Loyalität

Allerdings war Oswald von Fragen momentan nicht sonderlich begeistert und vielleicht war auch nur Mutter hier in der Gegend und nachdem Adrian mit den Leichen ausgestiegen war, ging es wieder zurück. Aber das war unlogisch. Oswald hatte seine große Ansprache, dass kein lebendiges Wesen zu Mutter gehen und überleben konnte, sicher ernst gemeint. Ich schrak aus meinen Überlegungen auf, als Wolfram mir eine dicke Skijacke reichte. Verwundert sah ich ihn an.

„Hier ist es kalt, glaub‘ mir, du wirst sie brauchen.“

„Danke“, meinte ich nur und schlüpfte in sie hinein.

Natürlich war auch eine Uschanka und Handschuhe dabei, in die ich sofort anzog. Dann öffnete sich auch schon die Tür und wir traten nach draußen. Wolfram behielt recht, es fegte ein eisiger Wind und ich zog die Jacke enger um mich, während ich die Stufen nach unten lief. Zum Glück wartete dort bereits ein Geländewagen. Der Fahrer war ein Vampir und hielt Oswald mit einer Verbeugung die Tür auf, während ich von der anderen Seite selbst Platz nahm. Wie es schien würden es nur wir beide bleiben, denn der Wagen setzte sich in Bewegung, ohne dass noch jemand zustieg. Hatte Constantin hier vielleicht auch noch ein Haus? Das wäre zumindest nachvollziehbar und entsprach auch tatsächlich mehr den Geschichten, wenn Vampire irgendwo im Nirgendwo lebten. Ich blickte durch die getönten Scheiben nach draußen, doch viel außer Schnee gab es tatsächlich nicht zu sehen. Es dauerte nicht lange, bis wir vor einem Hotel vorfuhren. Anscheinend hielt sich Oswald gerne in welchen auf. Ich verstand es zwar nicht ganz, aber… Oswald zischte ein Wort auf Russisch, woraufhin der Wagen sich wieder in Bewegung setzte. Er schlängelte sich weiter durch die Stadt bis wir schließlich an einem Fluss entlangfuhren und vor – ich konnte ja nur raten, verstehen tat ich die kyrillischen Schriftzeichen ja nicht – einer Kneipe kamen wir dann erneut zu stehen. Die Fassade konnte einen neuen Anstrich vertragen und auch sonst befand sich das Gebäude nicht gerade im besten Zustand. Die Fensterrahmen waren von der Kälte verzogen, das sah man von hier, sodass es wahrscheinlich drinnen zog wie Hechtsuppe. Obwohl ich hoffte dass nicht, gab mir Oswald mit einem Wink zu verstehen, dass wir in die Kneipe gingen. Drinnen war nicht viel los. Außer dem Barmann saß noch einer an der Theke und eine weitere Person an einem Tisch hinten in der Ecke. Ich konnte mich einiger amüsanter Gedanken nicht entwehren, die Szene in der zwielichtigen Kneipe und als wir auf die verhüllte Gestalt in der Ecke zugingen erinnerte einfach viel zu sehr an einen schlechten Film. Als sich Oswald setzte, blieb ich zu seiner Rechten hinter dem Stuhl stehen.

Als die Person den Kopf hob und ihre Uschanka abnahm, war ich dann doch etwas überrascht. Sie war nicht, was ich mir vorgestellt hatte. Und ja, wirklich sie. Eine Frau mit so zarten Gesichtszügen, dass ich glaubte, wenn ich sie berührte, würden sie sofort in sich zusammenbrechen. Ihre Haut hatte die Farbe von Porzellan, ihre Augen schienen die Hälfte ihres Gesichtes einzunehmen und waren von strahlendem Blau, während ihr runder Mund beinahe verschwand, weil er nur eine Nuance roter war als der Rest ihrer Haut. Ihr kahlrasierter Schädel zerstörte etwas ihre so sonst perfekte puppenhafte Erscheinung.

„Oswald“, riss mich ihre überraschend raue, wenn auch hohe Stimme aus meiner Träumerei.

„Prisca“, antwortete er mit einem feinen Lächeln, „du hast die Zeit gefunden.“

„Warum hast du mich hierher bestellt?“, ignorierte Prisca seine Höflichkeitsfloskeln.

Wieso hatte sie so überhaupt keine Angst vor ihm? Sie war doch nur… Ich blickte sie mir noch einmal genauer an. Sie sah aus wie ein Mensch, war sie also noch so eine prisluga? Ich bekam ein ungutes Gefühl.

„Deine Sinne sind in den Höhlen wohl verkümmert“, meinte Oswald amüsiert, „oder siehst du wirklich nicht, was da hinter mir steht?“

Ihr Blick zuckte zu mir und musterte mich scharf. Nur für einen Sekundenbruchteil weiteten sich ihre Augen, bevor sie sich zurück an Oswald wandte.

„Du hast also tatsächlich eines gefunden, nach so langer Zeit.“

Oswald grinste nun breit.

„Woher hast du sie?“

„Sie kam aus Pascals Diensten. Er hatte keine Ahnung, was er da zu mir schickte.“

„Wer weiß noch davon?“

„Melisa, Aryeh und Tigris.“

„Sind die Zwillinge nicht inzwischen in Mikhails Diensten?“, fragte Prisca mit gefurchten Augenbrauen.

„Ja, aber du kennst sie ja. Solange man sie nicht explizit nach etwas fragt, erzählen sie auch nichts. Das sollte also kein Problem darstellen.“

„Ich mache mir auch eigentlich mehr Sorgen um dein Vampirblut.“

Das Grinsen gefror auf Oswalds Gesicht.

„Melisa ist kein Problem“, meinte er bedrohlich langsam.

Wieder einmal wünschte ich mir zu wissen, warum sie Oswald so viel bedeutete.

„Wenn du davon überzeugt bist. Aber vergiss nicht, dass das wahrscheinlich unsere einzige Chance ist.“

Okay, jetzt kamen wir anscheinend zum interessanten Teil des Gesprächs. Mich würde nämlich auch interessieren, warum wir ans Ende der Welt geflogen waren, um mit dieser Frau zu sprechen.

„Das ist mir durchaus bewusst, keine Sorge Prisca.“

„Ist es das?“, fragte sie trocken.

„Wenn du auf die kleine prisluga anspielst, die zu mir geschickt wurde, dann sag es einfach.“

„Gut“, meinte Prisca und verschränkte die Arme vor der Brust, während sie Oswald direkt in die Augen sah, „Wie hast du die Sache mit Glory geregelt?“

„Sie ist tot. Das arme Ding hat ein junges Vampirblut erschreckt. Tragische Sache.“

„Wie jung?“

„Oh, kaum gewandelt.“

Prisca musterte Oswald durch zusammengekniffene Lider. Dann schnaubte sie plötzlich amüsiert und sank zurück gegen ihre Stuhllehne.

„Wessen Vampirblut war es denn?“

„Constantins.“

Prisca schnalzte anerkennend mit der Zunge.

„Manchmal überrascht selbst du mich noch mit deiner Hinterlistigkeit.“

„Man lebt nicht so lange wie du und ich, wenn man immer nach den Regeln spielt.“

Ich glaubte nicht, was ich da hörte. Das konnte nicht sein. Diese Frau war eindeutig menschlich, das sagten mir meine Sinne und doch hatte Oswald angedeutet, dass Prisca näher an seinem Alter lag als an meinem. Aus dem Augenwinkel heraus versuchte ich die vampirischen Anzeichen bei ihr zu entdecken.

„Ich biege die Regeln, du lässt einfach andere sie für dich brechen, das ist ein Unterschied.“

„Ist mit mir hier zu sitzen nicht ein Regelbruch?“

„Nein, tatsächlich wurden einige von uns ausgeschickt.“

Oswald schien an seinem Platz zu gefrieren. Jegliches Feixen und jegliche Lockerheit waren wie weggewischt. Er schien… Angst zu haben. Konnte das sein?

„Warum?“, fragte er eindringlich.

„Nicht wegen dir, beruhige dich. Nein, es ist wegen Mutters persönlicher Vendetta.“

Oswald entspannte sich sichtlich. Leider empfand keiner der beiden das Bedürfnis mich genauer aufzuklären, aber ich war sowieso damit ausgelastet irgendein Anzeichen zu finden, das Prisca ein Vampir war. Bisher hatte ich keinen Erfolg gehabt und das machte mich nervös. Normalerweise erkannte ich das auf den ersten Blick.

„Es ist wirklich peinlich, dass das noch immer nicht vollendet wurde. Was, wenn das Mädchen sich inzwischen schon fortgepflanzt hat? Dann muss eigentlich wieder von vorne angefangen werden.“

„Deshalb ja die Großoffensive.“

„Ich verstehe nicht, warum das so unglaublich wichtig ist. Wer wurde denn so besonderes durch diese Familie getötet?“

Prisca zuckte mit den Schultern.

„Mutter spricht nicht darüber, aber sie will den Rest dieser Familie so schnell wie möglich tot sehen. Nachfragen sind nicht erwünscht.“

„Und was glaubst du, Prisca?“

„Dass eines ihrer direkten Kinder unter den Getöteten war.“

„Ich dachte ihr kennt alle davon?“

Oswald schien skeptisch.

„Ja, aber das ist nicht im Bereich meiner Zuständigkeit und wie gesagt, Nachfragen sind nicht erwünscht. So wichtig ist es dann auch wieder nicht, dass ich für diese Information mein Leben aufs Spiel setzen würde.

„Ich weiß nicht, ich glaube, dass mehr dahinter steckt und du auch, wenn du ehrlich bist.“

„Weil sie das Mädchen lebend will?“

„Genau.“

„Das ist nicht weiter ungewöhnlich, Oswald, und das weißt du auch.“

„Ein Rudel opekun hinter ihr herzuschicken auch?“

Das war also eine opekun?! Eine vampirische Dienerin Mutters. Warum intrigierte sie hier mit Oswald? Anders konnte man es nicht nennen, denn allen Gesprächsanzeichen nach war es ihr nicht erlaubt dieses Gespräch jetzt mit Oswald zu führen. Warum tat sie es also? Und für was?

„Das hat dich nicht zu interessieren“, schmetterte sie Oswalds Frage ab, als hätte sie meine Gedanken gehört und wollte wenigstens einen Rest Loyalität zu Mutter beweisen.

Aber den wichtigsten Gedanken hatte ich gerade einfach übergangen. Denn damit diese ganze Situation hier zustande kam, musste erst einmal Oswald untreu gegenüber Mutter stehen. Das warf ein ganz anderes Licht auf seine Existenz. Aber bevor ich diesen Gedanken weiterspann, sollte ich vielleicht erst einmal herausfinden, wie untreu Oswald gegenüber Mutter war, schließlich konnte es sich hier eigentlich auch nur um Kinderstreich Niveau handeln. Apropos, es wäre ganz nett langsam herauszufinden, was genau wir hier eigentlich machten.

„Aber du hältst wenigstens dein Versprechen mir gegenüber?“

„Natürlich“, meinte Prisca, ohne dabei jedoch empört zu klingen, „du hast eines gefunden, ich bringe dich zu ihm. Den zweiten Teil deiner Versprechung hast du hoffentlich nicht vergessen?“

„Wie könnte ich?“

„Sag es.“

„Ich werde dich mitnehmen. Ich werde dich aus deinen Fesseln befreien.“

Es war beinahe, als könnte ich Tränen in Priscas Augen sehen. Tränen, die von so unglaublich viel Leid erzählten, dass ich den Blick abwenden musste.

„Ich werde frei sein“, flüsterte sie wie zu sich selbst.

„Es muss erst einmal funktionieren“, meinte Oswald.

Wenigstens wusste ich jetzt Oswalds Treuegrad einigermaßen einzuschätzen, denn eine opekun aus Mutters Diensten zu befreien – so hatte ich es zumindest verstanden – das war ganz sicher kein Kavaliersdelikt. Das war eine Infragestellung von Mutters Regime. Ich konnte ein Lächeln kaum verhindern. Oswald wurde immer interessanter.

„Das wird es. Wir haben alles, was wir brauchen.“

„Es könnte trotzdem Jahrzehnte dauern.“

„Dann wird es eben Jahrzehnte dauern“, meinte Prisca mit einem eisigen Ausdruck auf dem Gesicht, „ich werde diese Chance nicht durch meine Finger gleiten lassen. Niemand wird sie mir nehmen, hast du das verstanden Oswald?“

Kapitel 8 - Der Grund

Für einen Moment herrschte Stille, in der Oswald Prisca einfach nur betrachtete. Schließlich wandte er den Blick ab und schüttelte den Kopf, nur um im nächsten Moment aufgesprungen zu sein und eine Hand um ihre Kehle geschlungen zu haben.

„Mich interessiert es nicht, was du bist, Prisca. Gegenüber mir zeigst du gefälligst Respekt“, zischte er kaum hörbar, „Ich war es, der dich mit dieser Situation aufgesucht hat, es ist mein Plan also unterstelle mir nie wieder, dass ich ihn nicht ausführen werde. Hast du das verstanden?“

Prisca nickte so gut sie konnte und im nächsten Moment saß Oswald auch schon wieder auf seinem Stuhl, auf seinem Gesicht ein feines Lächeln. Prisca räusperte sich.

„Was für eine Lebensspanne hat sie denn?“

„Ich habe sie noch keinerlei Tests unterzogen.“

Ich wusste nicht, ob mir gefiel, was ich da hörte. Okay, es gefiel mir ganz und gar nicht.

„Dann sollten wir uns wohl langsam auf den Weg machen“, meinte Prisca und erhob sich flink von ihrem Stuhl.

Oswald folgte ihrem Beispiel und ich folgte den beiden zum Wagen. Prisca wartete in meinem Schatten, die Uschanka tief ins Gesicht gezogen, während Oswald ein paar Worte zu dem Fahrer sagte, woraufhin dieser die Kneipe betrat. Im nächsten Moment saß auch schon Prisca hinter den Steuer und ich beeilte mich auf der Rückbank Platz zu nehmen. Ich hätte so gerne Fragen gestellt, aber ich wusste, das gerade wirklich kein guter Zeitpunkt dazu war, also schwieg ich, während wir im Licht der untergehenden Sonne… verwirrt blickte ich auf die Uhr im Armaturenbrett. Es war schon beinahe elf Uhr nachts. Es dauerte einen Moment, bis ich darauf kam, dass wir uns wahrscheinlich schon am Polarkreis befanden und deshalb die Sonne wahrscheinlich überhaupt nicht untergehen würde. Das hatte ich schon immer einmal erleben wollen. Mit neuer Faszination blickte ich aus dem Fenster während wir aus der Stadt  und über weite weiße Ebenen hinwegfuhren. Jetzt verstand ich auch den Geländewagen, denn je weiter wir uns von der Stadt entfernten, desto schlechter geräumt waren die Wege. Trotzdem würden wir so wahrscheinlich nicht mehr lange vorankommen.

Das Summen eines Handys traf mich vollkommen überraschend und ohne nachzudenken Griff ich gewohnheitsmäßig in meine Jackentasche, auch wenn ich eigentlich wusste, dass ich gerade kein Telefon an mir trug. Es war Prisca, die ein Handy aus dem Getränkehalter fischte und den Bildschirm entsperrte. Wie hatte sie hier oben nur Empfang? Aber schon im nächsten Moment war dieser Gedanke mein kleinstes Problem, denn sie öffnete eine Nachricht und ein Foto erschien auf dem Bildschirm. Um genauer zu sein ein Bild von einer jungen Frau Anfang zwanzig mit langem blondem Haar, die glückselig und nichtsahnend in die Kamera lächelte oder um es kurz zu machen: Ein zwei Jahre altes Foto von mir. Das Foto, das von mir bei offiziellen Behörden vorlag. Bis jetzt hatte Prisca noch nicht auf den Bildschirm gesehen, sondern nur blind den Bildschirm entsperrt und die Nachricht aufgerufen, aber jetzt drehte sie den Kopf. Ich konnte nicht mehr verhindern, dass sie das Bild sehen würde. Aus den Wagen zu springen war auch keine Alternative. Hier irgendwo im Nirgendwo, nur weite offene Flächen um mich herum, ich hatte keine Chance zu entkommen. Allerdings würden sie mich wirklich umbringen? Eine zarte Hoffnung keimte in mir auf, dass vielleicht, ganz vielleicht mein Todesurteil mir diesem Foto doch nicht unterschrieben war.

Als Prisca das Foto erblickte, veränderte sich ich Gesichtsausdruck nicht das kleinste Bisschen. Sie betrachtete es für vielleicht eine Sekunde, bevor sie es zurück in den Getränkehalter stellte. War es das etwa gewesen? Hatte sie mich etwa nicht erkannt? Klar, meine Haare waren jetzt kurz und ich trug deutlich mehr Eyeliner, aber hey, ich war noch immer dieselbe Person. Dann sah ich, wie sie mich im Rückspiegel musterte und hatte meine Antwort. Ja, sie wusste, dass ich die Frau auf dem Foto war, jetzt wäre es nur noch interessant für mich zu wissen, warum sie dieses Foto von mir hatte geschickt bekommen.

„Vielleicht haben wir doch keine Jahrzehnte zeit, Oswald“, meinte Prisca, mich noch immer im Rückspiegel betrachtend.

Skeptisch hob Oswald den Blick.

„Wieso?“

„Magiebegabtes Mädchen, wie heißt du?“, wandte sie sich an mich.

„Luna Ekaterina Lya Steel.“

„Und davor?“

Etwas in Oswalds Blick veränderte sich. Es sah aus, wie eine böse Vorahnung. Für einen Moment dachte ich darüber nach zu lügen, aber was hätte das für einen Sinn? Prisca kannte die Antwort anscheinend bereits.

„Samantha Ariane Anderson.“

Zu meiner Überraschung schüttelte Oswald lächelnd den Kopf.

„Eigentlich hätte ich es mir ja denken können“, meinte er mehr an sich selbst gewandt, „sie hat das richtige Geschlecht, die richtige Nationalität und das richtige Alter.“

Ich war noch immer angespannt, aber ein Recht auf Aufklärung brachte mir das leider nicht ein.

„Du wolltest einfach glauben, dass sie dein eigener, ganz außergewöhnlicher Fund ist.“

„Da hast du wohl recht“, seufzte er.

„Leider setzt uns das unter Zeitdruck.“

„Wie viele von euch wurden denn hinter ihr hergeschickt?“

Für einen Moment schien Prisca mit sich zu ringen.

„30“, sagte sie schließlich knapp und Oswalds Augen weiteten sich vor Überraschung.

Ein ungewöhnlicher Gesichtsausdruck für ihn.

„Dann weiß sie wirklich, um was es sich bei dem Mädchen handelt. Die Frage ist nur: Wie?“

„Auch keiner von uns hat sie etwas davon gesagt. Wenn sie es wirklich weiß, dann spielt sie ein gefährliches Spiel. Nicht nur ich kann einen Menschen von einem übernatürlichen Wesen unterscheiden.“

„Und trotzdem hast du es nicht gemerkt, bis ich dich darauf aufmerksam gemacht habe“, merkte Oswald folgerichtig an.

Prisca musterte mich erneut durch den Rückspiegel.

„Es ist nicht sofort offensichtlich, trotzdem, es ist ein Risiko.“

„Wieso? Als ob eine opekun groß plappern würde.“

„Wir dienen Mutter so ausnahmslos, weil sie uns nicht belügt. Sie schenkt uns Vertrauen und wir geben es ihr zurück.“

Auch Oswald schien diese Worte zum ersten Mal zu hören und ein deutlich amüsierter Ausdruck zeigte sich auf seinem Gesicht. Prisca ignorierte ihn.

„Vielleicht vermutet sie es auch nur“, verteidigte sie ihre geliebte Herrscherin.

Dies war mir nicht ganz ersichtlich, da sie doch auf der anderen Seite so unbedingt frei von ihr sein wollte.

„Vielleicht“, sagte Oswald und dieser Teil des Gesprächs schien beendet zu sein, doch dann wandte er sich an mich, „hattest du vielleicht noch einen anderen Namen zuvor?“

Das war tatsächlich eine schwere Frage. Denn hier war ich nicht dazu gezwungen eine Antwort zu geben, weil keiner von ihnen sie bereits wusste. Mein erster Instinkt war also zu verneinen, allerdings könnte eine wahre Antwort vielleicht damit helfen schneller herauszufinden, was ich war. Allerdings würden sie dann auch herausfinden, wer ich war. Wobei, würden sie das? Ich konnte mir auch nicht wirklich erklären, warum sich Oswald so sicher war, das Mutter es wusste.

„Lennox“, meinte ich schlich, überzeugte mich aber dann doch davon weiterzusprechen, „aber warum bist du so sicher, dass Mutter weiß, dass ich ein magiebegabtes Wesen bin?“

Ich wusste, dass ich eigentlich momentan keine Fragen stellen durfte, aber das hier war nicht einfaches rumgefrage. Zu meinem Glück schien auch Oswald es als begründete Frage zu empfinden.

„Mutter führt eine Vendetta gegen deine Familie, weiß du, was das bedeutet?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Nicht wirklich.“

„Eine Vendetta ist eine Blutrache. Sie will so die Vampire sühnen, die deine Familie getötet hat, indem sie den ganzen Familienzweig auslöscht. Mutter ist sehr gründlich mit dieser Art von Rache, aber dich will sie unbedingt lebend und 30 opekun loszuschicken um dich zu finden… ein Mensch ist diesen Aufwand nicht wert. Was nur einen logischen Schluss zulässt angesichts unseres Wissens: Dass auch Mutter sich der Tatsache bewusst ist, dass es sich bei dir um ein magiebegabtes Wesen handelt.“

Ganz abwegig war die Theorie tatsächlich nicht. Das würde tatsächlich so einiges erklären. Eigentlich würde es so ziemlich alles erklären.

„Wie lang weiß sie es wohl schon?“

„Es kann noch nicht lange sein“, warf Prisca ein, „bis vor kurzem hat Mutter deine Existenz noch nicht wirklich interessiert.“

„Constantin war mit der Auslöschung deiner Familie beauftragt, richtig?“, fragte Oswald.

Ich nickte steif und Oswald blickte nachdenklich auf die Rückseite des Sitzes vor ihm. Ich dachte er würde noch etwas sagen, aber er schien vollkommen abwesend zu sein.

„Warum wurde Ihnen mein Foto geschickt?“, wandte ich mich an Prisca.

„Wie Oswald schon erwähnt hatte, hat Mutter uns wegen der Vendetta ausgeschickt, um dich zu holen. Dies geschah alles relativ kurzfristig und Mutter wollte nicht, dass wir auch nur eine einzige Sekunde verschwenden. Nachdem die Datenbank gehackt wurde, hat man uns dann das Foto geschickt und da wir schon vor Ort sind, können wir direkt mit der Suche nach dir beginnen.“

„Wie lange haben wir, bis sie mich finden?“

„Nun, unter normalen Umständen würde ich sagen ein bis zwei Jahre, aber so wichtig wie Mutter dein Fall ist würde ich sagen maximal ein Halbes.“

Ich konnte es mir nicht vorstellen, dass 30 Vampire die gesamte Erde in nur einem halben Jahr komplett abgesucht hatten. Ich meine, es waren nur 30.

Prisca stoppte den Wagen und blickte überrascht aus dem Fenster. Dort, direkt vor mir, stand ein Haus. Ein Haus umringt von nichts. Verwirrt folgte ich Prisca, als diese ausstieg. Sie ging aber nicht zur Eingangstür sondern direkt zum Anbau. Diese Tür war überraschenderweise nicht abgeschlossen. Allerdings würde ich das wahrscheinlich auch nicht, schließlich waren die nächsten Nachbarn mindestens 50 Kilometer entfernt. Und hinter der Tür warteten zwei Hundeschlitten, vor jeden bereits sechs Huskys gespannt, die freudig hechelnd aufsprangen, als wir eintraten. Jetzt wusste ich wenigstens, wie wir dem Straßenproblem entkamen. Ich war noch immer am Verarbeiten der Informationen, als Prisca auch schon das Tor öffnete und die Hunde folgsam die Schlitten nach draußen zogen. Hastig folgte ich ihnen, da Oswald bereits den Wagen in den Anbau fuhr.

„Setz dich“, meinte Prisca und deutete auf den vorderen Teil ihres Schlittens, auf den sie sich bereits gestellt hatte.

Da ich keine Ahnung hatte, wie man das Ding lenkte, setze ich mich folgsam und klappte die Ohren meiner Uschanka nach unten. Im nächsten Augenblick stand Oswald auch schon auf seinem Schlitten.

„Wohin fahren wir eigentlich?“, fragte ich jetzt doch endlich und Prisca sah mich überrascht an.

„Das weißt du nicht?“

Sie klang verwundert und ich zuckte mit den Schultern.

„Wir fahren zu Pjotr.“

Wow, sie schien, was das betraf, ein genausoer Geistesblitz wie Adrian zu sein.

„Wer ist Pjotr?“

Sie lächelte schwach und ich glaubte ein wenig traurig.

„Pjotr ist der bekannteste Vampir nach Mutter, du hast wirklich noch nie von ihm gehört?“

Ich schüttelte den Kopf und verfluchte wieder einmal die Vampirjägervereinigung.

„Pjotr war der erste Vampir, der sich damals eine Vampirblutarmee erschaffen hat.“

Ich schluckte schwer. Nein, von so etwas hatte ich tatsächlich noch nie etwas gehört.

„Und der erste Vampir, der für die Taten seiner Vampirblut mitbestraft wurde.“

Mir ging ein Licht auf, aber ich schwieg und ließ Prisca zu Ende erzählen.

„Er war der Erste, der dafür mit 100 Jahren Folter durch die opekun bestraft wurde und der einzige, der es jemals überlebt hat.“

 

Kapitel 9 - Der Abend, der alles veränderte

Okay, ich verstand jetzt, was diesen Vampir so besonders machte, dass ein jeder seiner Welt ihn kannte. Trotzdem war mir nicht klar, was wir bei ihm wollten. Aber als ich den Mund öffnete, um zu sprechen, fuhren wir über einen für uns unsichtbaren Buckel im Schnee und meine Zähne schlugen hart aufeinander. Deshalb hielt ich erst einmal den Mund und betrachtete die Welt um mich herum. Die Tageszeit herauszufinden war für mich inzwischen unmöglich, da ich keine Ahnung von diesem Dämmerlichtzustand hatte, aber zumindest der Theorie nach müsste es mitten in der Nacht sein. Klar, die beiden Vampire mussten sich keine Gedanken deswegen machen, aber jetzt hier so eingemummt in Decken zu sitzen machte mir klar, dass es eigentlich Schlafenszeit für Menschen war. Aber hier ein Nickerchen zu machen? Ich wusste nicht, ob das so eine gute Idee war. Allerdings wusste ich auch nicht, was mir noch bevorstand und ob ich doch besser ausgeruht sein wollte. Allerdings, wenn diese beiden Vampire mich hätten töten wollen, dann wäre das schon längst geschehen und hier Draußen in dieser… Schneewüste war ich sowieso ihrer Gnade ausgeliefert. Also schloss ich die Augen und döste rasch ein.

 

Ich träumte und stellte überrascht fest, wie enttäuscht ich war, als nicht wieder der dunkle Raum aufflackerte. Stattdessen schien es wieder eine Erinnerung zu sein. Ich blickte in einen Spiegel, was ganz praktisch war, weil ich so sofort erkennen konnte, um welchen Tag in meinem Leben es sich hier handelte. Ja, dieser eine einzige Blick reichte aus um die Kleidung zu erkennen, die ich an dem letzten Tag getragen hatte, als meine Welt noch in Ordnung gewesen war. Ein dünner weißer Rollkragenpullover und darüber die ärmellose Lederjacke mit den Motorradhosen. Damals hatte ich das auch als alltagstaugliches Outfit empfunden. Mein langes, blondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, das Make-Up saß perfekt. Ich wusste nicht, was ich da gerade im Spiegel bemängelte.

„Sammy!“, rief meine Mutter aus der Küche und ich wandte mich seufzend vom Spiegel ab.

Ich ging die wenigen Schritte aus dem Gang hinein in den offenen Wohn-, Ess- und Kochbereich und blickte meine Mutter an.

„Ja?“, fragte ich sie und mein Blick glitt aus einem unerklärlichen Grund aus dem Fenster.

„Machst du die Kerzen an?“, fragte sie, während sie über den Töpfen hantierte.

Es war dunkel draußen und ich konnte nicht wirklich etwas erkennen, trotzdem blickte ich weiter durch das Fenster, als wüsste ich bereits, dass da draußen etwas war.

„Muss das sein?“, stöhnte ich unwillig.

Meine Mutter seufzte schwer.

„Es sind doch nur ein paar Kerzen, Sammy.“

„Ein paar vollkommen unnütze Kerzen. Mom, wir haben Lampen über dem Tisch, die brauchbares Licht produzieren, warum brachen wir da Kerzen?“

„Schon gut, schon gut“, meinte sie ergeben und ich ließ mich aufs Sofa plumpsen.

Ich schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Kanäle, aber trotzdem wanderte mein Blick wieder unerklärlicherweise aus dem Fenster. Wieso hatte ich es an diesem Abend noch nicht bemerkt? Das hätte mir doch auffallen müssen, dass ich so oft nach draußen sah. Vielleicht hatte es aber auch überhaupt nichts zu bedeuten. Vielleicht war das Programm tatsächlich so langweilig, dass man aus dem Fenster sah, hinter dem alles schwarz war. Vielleicht aber hatte ich es auch schon geahnt.

„Denkst du deine Brüder werden es dieses Mal schaffen?“

Ich zuckte mit den Schultern, auch wenn sie es nicht sehen konnte.

„Keine Ahnung, ich kenn ihren Stundenplan nicht, aber so spät sind auch eigentlich keine Vorlesungen mehr. Wahrscheinlich hängen sie noch mit Freunden ab.“

Jetzt, da ich wusste, dass meine Brüder auch Vampirjäger gewesen waren, sah ich solch eine Bemerkung in einem ganz anderen Licht. Klar, ich hatte schon damals gedacht, dass ‚schaffen‘ ein komisches Wort in diesem Zusammenhang war, aber nun ergab die Formulierung schon viel mehr Sinn. Und auch, warum sie immer so spät nachhause gekommen waren, auch wenn ihre Vorlesungen niemals solange dauerten: Sie waren noch auf der Jagd gewesen. Und ihre ganzen Schrammen und blauen Flecken, die waren wahrscheinlich auch nicht vom Rugby mit den Jungs gekommen… was man alles nicht sah, wenn man es nicht sehen wollte.

Ich sah aus dem Augenwinkel, wie sich meine Mutter mit der Hand erschöpft übers Gesicht fuhr. Was wahrscheinlich Angst um meine Brüder war, interpretierte ich ganz falsch.

„Keine Sorge Mom, sie haben das Essen nicht vergessen, ich hab sie gestern extra nochmal daran erinnert“, meinte ich mit einem beruhigenden Lächeln, das meine Mutter natürlich sofort erwiderte.

„Danke, Schätzchen“, meinte sie und ich ließ mich zufrieden zurück aufs Sofa sinken und blickte auf den Bildschirm.

Nach kurzer Zeit wanderte mein Blick wieder aus dem Fenster und ich schien Gedanken nachzuhängen, als ich einen Schlüssel im Türschloss hörte.

„Siehst du“, meinte ich breit lächelnd an meine Mutter gewandt.

„Hallo!“, tönte es aus dem Flur und kurze Zeit später kamen meine Brüder durch die Tür in den Wohnraum hinein.

„Mmmmmm, das riecht ja lecker“, meinte Tom und stellte sich sofort neben meine Mutter, um aus den Töpfen zu naschen.

Andreas ließ sich erschöpft neben mir aufs Sofa plumpsen.

„Na“, meinte ich grinsend, „wie war dein Tag?“

Er schnitt eine Grimasse und schnappte sich die Fernbedienung.

„Professoren hören sich viel zu gerne selbst reden.“

Ich nickte das Ganze ab, schließlich entsprach das ja auch oft der Wahrheit, und blickte dann wieder auf den Bildschirm, denn das Gespräch war beendet. Ein wenig später setzte sich auch Tom zu uns und folgte meinem Blick, der inzwischen wieder aus dem Fenster gewandert war. Als er jedoch erkannte, dass es da draußen nichts Interessantes zu sehen gab, richtete er seinen Blick wieder auf den Fernseher.  Warum hatte ich da nur die ganze Zeit rausgestarrt? Das machte mein jetziges Ich ganz verrückt. Warum hatte meine Familie, die ja nur aus Vampirjägern bestand, nichts gemerkt?

Ich stand auf und ging in die Küche, um mir eine Flasche Wasser zu holen und lugte dabei meiner Mutter über die Schulter.

„Die Steaks sehen aber schon ziemlich gut aus“, kommentierte ich, schon wieder halb aus der Küche heraus.

„Danke, du kannst übrigens schon mal den Tisch decken, Sammy.

Seufzend kehrte ich mitten in der Bewegung um und ging zurück in die Küche, um die Teller zu holen.

„Ihr könnt mir übrigens ruhig helfen“, merkte ich in die Richtung meiner Brüder an, aber diese ignorierten gekonnt.

Ich verdrehte die Augen und platzierte die Teller auf dem Tisch. Als ich fertig war, ließ ich mich wieder aufs Sofa plumpsen. Natürlich hatten meine Brüder inzwischen das Fernsehprogramm gewechselt und es lief „Das Leben des Brian“.  Ich brauchte keine Minute um schon wieder aus dem Fenster zu starren. Dieses Mal lag es aber wirklich am Film – nicht gerade einer meiner Favoriten.

„Oh, Mom, übrigens, die Lis kommen dieses Wochenende zu uns zum Essen“, meinte Tom so ganz nebenbei einmal.

Die Lis, wie hatte mein jetziges Ich sie nur vergessen können?

„Was?“, meinte meine Mutter überrascht und blickte sogar vom Herd auf, „Und das sagst du mir erst jetzt?!“

„Tut mir leid, Mom…“, meinte Tom und kratzte sich verlegen am Kopf.

Die Familie Li. Xia war bereits seit vier Jahren Toms Freundin gewesen, als er gestorben war. Er hatte sie an seinem ersten Tag an der Universität kennengelernt, die Geschichte der beiden war wie aus einem Märchen gewesen. Ich hatte mich nie darum gekümmert, was aus ihr geworden war. Aus ihr oder ihrer Familie. Aber wenn ich jetzt so darüber nachdachte… ich war mir fast sicher, dass sie auch Vampirjäger gewesen waren. Wie klein doch die Welt war. Wie viel ich doch ignoriert hatte.

„Eigentlich sollte ich dich selbst kochen lassen“, grummelte meine Mutter, während sie das Gemüse aus dem Garer holte.

„Haben wir das wirklich verdient, Mom?“, fragte Andreas, „Ich meine, wir haben doch nichts getan...“

Tom rammte ihm für diesen Kommentar einen Ellenbogen in die Seite und ich schmunzelte. Ja, Toms Kochrepertoire war tatsächlich sehr begrenzt, aber vielleicht eher deswegen, weil immer entweder Mom oder Xia für ihn kochten. Mit etwas Übung, wer wusste schon was dabei vielleicht noch herausgekommen wäre.

„Das Essen wäre jetzt übrigens fertig. Holt einer von euch euren Vater?“

Meine Brüder und ich blickten uns an.

„Wie lange bist du nochmal schon zuhause und hattest Zeit dich zu entspannen?“, fragte Tom und hatte den Kopf übertrieben nachdenklich auf seine Hand gestützt.

Ich streckte ihm die Zunge heraus, stand aber trotzdem auf und lief die Treppe nach oben in das Arbeitszimmer meines Vaters. Dies war tatsächlich der einzige Raum in unserem Haus gewesen, wo man anklopfen musste. Wie viele Vampirjägersachen sich wohl in diesem Raum befunden haben mussten? Und wieder einmal: Wie blöd ich gewesen sein musste um so absolut überhaupt nichts zu bemerken.

„Herein“, rief mein Vater, nachdem ich einmal laut an die Tür geklopft hatte und ich schlüpfte hinein.

Wie auch damals fühlte ich mich sofort tiefenentspannt, als ich den Raum betrat. Das hatte damit zu tun, dass mein Vater oft nächtelang in diesem Büro gearbeitet hatte und als ich klein gewesen war und Albträume gehabt hatte mich immer hier hierher zu ihm geflüchtet hatte. Auch wenn es ein kleiner Raum war, mit einem winzigen Fenster, das sich eigentlich nicht einmal so schimpfen durfte, und dessen Ausstattung nur aus Schreibtisch, Stuhl und Rechner bestand, ich liebte ihn.

„Das Essen ist fertig“, meinte ich mit einem entspannten Lächeln, das mein Vater sogleich erwiderte.

„Ich bin gleich da“, meinte er und beugte sich wieder über seine Papiere.

Mein Lächeln wurde breiter.

„Okay, aber beeil dich. Ich hab’s dir gesagt, also wird Mom nicht auf mich böse.“

Noch immer Lächelnd verließ ich den Raum wieder und schüttelte den Kopf. Mein Vater würde es nicht von alleine rechtzeitig zum Essen schaffen, meine Mutter würde noch einmal jemanden hochschicken müssen, wenn das Essen bereits auf dem Tisch stand.

„Und?“, fragte meine Mutter, als ich unten angekommen war.

„Er ist gleich da“, meinte ich und half ihr das Essen auf den Tisch zu stellen.

Ich behielt recht, denn als alles stand und meine Brüder sich endlich vom Sofa erhoben und an den Tisch gesetzt hatte, war mein Vater noch immer nicht zu uns gestoßen. Seufzend stellte sich meine Mutter an den Fuß der Treppe.

„Scott!“, rief sie, reichlich angenervt, „Das Essen wird kalt!“

„Komme!“, kam es dumpf von oben und kurz darauf hörten wir glücklicherweise wirklich meinen Vater, wie er die Treppe herunterlief.

Meine Mutter schenkte ihm einen strengen Blick, als er sich endlich zu uns setzte, dem mein Vater geschickt auswich, indem er anfing das Gemüse auf unsere Teller zu verteilen.

„Na Kinder, wie war euer Tag?“

Wir gaben einige undefinierbare Geräusche von uns.

„So gut gleich?“, fragte unser Vater trocken amüsiert, während er mit den Steaks weitermachte.

„Macht einer von euch bitte die Terrassentür auf?“, fragte unsere Mutter, „Es dürfte draußen inzwischen wieder kühl genug sein.“

Andreas und ich sprangen auf und gingen die paar Schritte.

„Dafür brauch man nicht zwei Leute, das weißt du schon?“, witzelte er, den Kopf zurück in meine Richtung gedreht.

„Ich geb‘ Mom nur eine gute Gelegenheit Dad ohne zu viele Zeugen zu tadeln.“

„Klar“, meinte Andreas, noch immer amüsiert, und legte die Hand auf den Griff.

Dann geschah es. Ich wusste, dass es kam, aber trotzdem überraschte es mich. Nur dass ich dieses Mal auch hörte, was der Rest meiner Familie in diesem Moment gehört hatte: Ein leises Klicken, wie das einer Bombe mit Zeitschaltung, das über eine altmodische, analoge Uhr lief. Mein damaliges Ich Schnitt meinem Bruder noch eine Grimasse, während er schon reagierte. Andreas riss die Tür auf, packte mich an meinem linken Arm und warf, ja warf, mich hinaus und schloss die Glastür sofort wieder, nur um mit der anderen Hand zu beginnen den Rollladen herunterzulassen. Mein jetziges Ich bemerkte dies auch wieder nicht, da es nur aus dem Augenwinkel zu beobachten war und zu sehr damit beschäftigt war hart auf dem Steinboden aufzukommen. Leider hatte mir zu diesem Zeitpunkt noch niemand beigebracht gehabt, wie man einen Sturz richtig abfederte und es tat höllisch weh. Zumindest dachte das mein damaliges Ich, denn im nächsten Moment traf der Druck der Explosion die Glasfront und zerbarst sie. Die Glassplitter erreichten mich ungefähr zur selben Zeit, als die Druckwelle auch mich noch einmal aufnahm und einige Meter weiterwarf, wo ich noch unglücklicher auf dem Boden aufkam und mir auch hart den Kopf anschlug, sodass ich in eine selige Ohnmacht glitt.

Das war das Ende und es wurde Schwarz in meiner Erinnerung und ich rechnete damit gleich aufzuwachen. Nur wenige Momente später öffnete ich tatsächlich meine Augen, aber ich sah keine weiten Ebenen aus Schnee und den Ural in der Ferne vor mir. Nein, es war der Boden einer Steinterrasse und schwelende Reste eines Hauses, die da vor mir lagen. Das einzige Problem mit dieser Situation war, dass ich mich nicht daran erinnerte noch einmal am Haus aufgewacht zu sein. Danach sollte eigentlich sofort das Krankenhaus, ein paar Tage später kommen. War das hier vielleicht doch nicht nur eine Erinnerung?

Kapitel 10 - Jeder muss sterben

Nun, zumindest tat mir alles weh und ich schmeckte Blut in meinem Mund, von dem ich mir nicht sicher war, ob es auch von dort kam oder ob es von der Lache war, die sich um meinen Kopf gebildet hatte. Es fühlte sich zumindest ziemlich real an, aber das hatten Constantins Traumbesuche ja auch. Ich versuchte meinen Kopf zu bewegen, doch sofort verspürte ich einen scharfen, stechenden Schmerz an meinem Hals und brach stöhnend ab. Was mir auch Schmerzen bereitete. Ich atmete ein paar Mal ruhig ein und aus, bevor ich mich wieder an die Bewegung machte. Ich musste mein Zuhause – oder was noch davon übrig war – sehen, unbedingt. Warum? Weil ich musste. Meine eigenen Augen wollten sehen, was noch übrig war – etwas, das ich im echten Leben nie getan hatte. Ich hatte es nicht über mich gebracht zum Haus zurückzugehen. Es war sowieso nichts heil geblieben.

Ich nahm all meine Kraft zusammen und machte mich wieder an die Bewegung, die eigentlich nur ein Drehen des Kopfes war, und mir doch in diesem Moment solch einen Kampf bescherte. Ich hob den Kopf an und der Schmerz schickte mich beinahe zurück in die Ohnmacht, als ich den Hals dann doch endlich weit genug gedreht hatte, war es der Anblick, der sich mir bot, der mich beinahe über die Kante stieß. Das Erdgeschoss war so in seinen Grundpfeilern erschüttert worden, dass das Obergeschoss an einigen Teilen eingesackt war. Vielleicht zu meinem Glück auch am verglasten Essbereich, ich hätte es nicht ertragen meine Familie in diesem Zustand zu sehen… Am oberen Bad schien das Fenster unbeschadet geblieben zu sein, aber das schien auch so ziemlich das einzige zu sein. Vereinzelt brannten kleine Feuer und das ganze Haus schien zu schwelen. Ich sah die Sterne über dem Haus nicht mehr. Aus irgendeinem Grund stimmte mich das besonders traurig. Ein Rascheln ließ mich aufhorchen. Ich versuchte um Hilfe zu rufen, aber nur ein Röcheln kam hervor. Für einen Moment herrschte Totenstille, dann ein erneutes Rascheln und schließlich Schritte, die auf mich zukamen. Ich drehte meinen Kopf zurück und merkte in diesem Augenblick, dass ich keine Gewalt hatte über das, was ich tat. Es war nur Zufall gewesen, dass ich genau dieselben Entscheidungen getroffen hatte wie… wie mein damaliges Ich? War das hier doch ein Teil meiner Erinnerungen? Die Explosion war ein traumatisches Ereignis gewesen, es wäre also nicht ungewöhnlich, dass ich etwas vergessen hatte. Mein Gedankengang wurde unterbrochen, als sich die Person neben mir in die Hocke begab. Spätestens jetzt wäre mir klar gewesen, dass ich keine Macht über diesen Körper hatte, denn – ich ging jetzt einfach einmal davon aus – mein damaliges Ich blieb vollkommen ruhig, während sich meinem jetzigen Ich die Nackenhaare aufstellten, als ich den Vampir erkannte.

„Lebst du etwa noch Mädchen?“, meinte er tadelnd und schüttelte noch den Kopf, um dies zu unterstreichen.

Mein damaliges Ich versuchte wieder zu sprechen, aber die Atemwege waren einfach zu gereizt von dem Rauch. Warum hatte ich keine Angst? Wie konnte man nur so naiv sein.

„Warum machst du es dir so schwer?“, meinte er und schnalzte mit der Zunge, als er an mir hinabblickte, „Und du bist auch noch so furchtbar schwer verletzt…“

Er beugte sich über mich, um mich noch genauer betrachten zu können und jetzt wurde es auch endlich meinem damaligen Ich suspekt. Ich versuchte mich wegzudrehen, aber der Schmerz, der dabei in meiner nach oben liegenden linken Seite ausbrach, brachte mich dazu endlich einen Laut aus meiner Kehle hervorzubringen. Bevor der Schrei richtig begonnen hatte, hielt mir der Vampir auch schon den Mund zu.

„Schhhhh“, gurrte er, „alles wird gut, bald ist es vorbei.“

Ich späte über meine Schulter, um meine Seite zu betrachten und keuchte entsetzt auf. Zum ersten Mal sah ich die unzähligen Glassplitter, die sich tief in meine Haut gebohrt hatten. Einige gingen sogar durch meinen Arm komplett hindurch und ich keuchte entsetzt auf. Der Vampir schenkte mir ein träges Lächeln.

„Glaub mir, dieses bisschen Glas ist wahrscheinlich dein kleinstes Problem. Die Wucht der Druckwelle hat deinen Brustkorb eingedrückt, als du aufgeschlagen bist, das sehe ich von hier, und mit großer Wahrscheinlichkeit sogar ein paar Organe punktiert. Du wirst sehr schnell sehr tot sein.“

Der Vampir lächelte schwach. Mir bot sich endlich eine Antwort darauf, warum mir das Atmen so schwer fiel. Jetzt machte mein damaliges ich sich auch endlich die Mühe den Kopf so zu drehen, dass ich das Gesicht des Vampirs richtig betrachten konnte, was gar nicht so leicht war. Nicht nur wegen der Schmerzen sondern weil er ja auch noch immer die Hand auf meinen Mund gepresst hatte. Tatsächlich erkannte ich ihn und wäre mein jetziges Ich im Besitz meines Körpers, so hätte ich gelacht. Es war einer dieser Momente, in denen man dieses eine Stück des Puzzles fand, was einem einen komplett neuen Abschnitt eröffnete. Auch wenn mein damaliges Ich noch nicht in der Lage war ihn zu identifizieren, so war ich es doch sehr wohl: Kinnlanges, dunkelbraunes Haar, markante Gesichtszüge und graue Augen, die mich schon mehr als einmal überlistet hatten. Mikhail. Also war er bei dieser Aktion auch schon dabei gewesen. Warum ich das so lustig fand, konnte ich mir nicht erklären.

Mein damaliges Ich räusperte sich und unterbrach damit meinen Gedankengang.

„Hilfe“, brachte ich röchelnd gegen seine Hand hervor.

Kaum hörbar für einen Menschen, aber ich wusste, dass Mikhail es klar und deutlich vernahm.

„Ich helfe dir schon, indem ich dich hier sterben lasse.“

Ich war verwirrt. Damalig als auch heute, aber aus sehr verschiedenen Gründen wahrscheinlich. Damalig war leicht zu erklären: Was war das denn für eine Hilfe?! Mein heutiges Ich, nun das war eine ganz andere Schiene. Ich versuchte herauszufinden, warum er nicht einfach nach seinem geliebten Herren rief, warum er auf seine Art und Weise so gütig zu mir war. Das entsprach so überhaupt nicht dem Vampir, den ich drei Jahre später getroffen hatte. Der hatte mich ohne Umschweife weitergeleitet. Was hatte sich in dieser Zeit verändert? Ein besonders starker Schmerz traf mich, als ich einatmete, und Tränen schossen mir in die Augen und ich wimmerte gegen Mikhails Hand. Gott, ich hatte solche Schmerzen. Das Adrenalin musste begonnen haben abzuklingen, denn es wurde mit jedem Atemzug schlimmer.

„Nur noch ein paar Minuten“, meinte Mikhail und sah mir dabei direkt in die Augen.

Es war komisch zu beobachten, wie er seine Kräfte anwandte, und nichts zu spüren. Sehr verwirrend um genau zu sein, aber ich spürte, wie mein damaliges Ich ruhiger wurde und musste ihm zähneknirschend meinen Dank aussprechen. Jetzt konnte mich auch wieder auf eine sehr wichtige Frage konzentrieren: Wenn das hier tatsächlich eine Erinnerung war, wieso lebte ich dann noch? Das ergab keinen Sinn und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Mikhail dann doch noch Mitleid bekam und mir einen Krankenwagen rief. Falls das überhaupt noch helfen würde, denn selbst ein Blinder würde erkennen, dass ich im Sterben lag.

„Eine Sache würde mich interessieren“, wandte er sich zu meiner Überraschung an mich und mein damaliges Ich blickte ihn träge an, „Warum du nicht?“

Mein damaliges Ich verstand nicht. Mein jetziges sehr wohl. Er wollte wissen, wieso ein Kind aus einer Vampirjägerdynastie selbst nicht an der Familientradition teilnahm. Adoptiert, magiebegabtes Wesen waren die Dinge, die mir so darauf einfielen. Mikhail seufzte, als der verwirrte Blick von meinem Gesicht nicht verschwand.

„Zu Schade, dass wir das nicht mehr herausfinden werden. Das wird mich sicher das nächste Jahrzehnt beschäftigen.“

Mein damaliges Ich schaute noch immer dämlich, während mein jetziges Ich die Tatsache, dass ich einem Vampir den Schlaf rauben würde, sehr amüsant fand.

„Warum?“, stellte mein damaliges Ich röchelnd eine überraschend sinnvolle Frage.

Ich hätte mich in diesem Moment nicht für dazu in der Lage gehalten eins und eins zusammenzuzählen. Aber Augenblick, vielleicht wollte ich auch nur wissen warum er mir nicht half und nicht, warum er meine Familie umgebracht hatte.

„Die anderen nicht herzurufen ist eine Sache, die überleben zu lassen eine ganz andere“, ging er auch mit der einleuchtenderen Vermutung.

Mein Körper zuckte zusammen. Doch ich wusste nicht wieso und erschrak fürchterlich.

„Schhhh“, beruhigte mich Mikhail sofort wieder, „Das ist ein gutes Zeichen, das heißt, dass es gleich vorbei ist.“

Okay, mein damaliges Ich begann ein kleines bisschen auszuticken. Wer würde das nicht, wenn er mit neunzehn im Sterben lag? Die Tatsache, dass meine ganze Familie tot war, war noch nicht so wirklich eingesickert und ich wollte einfach nur leben. Heulend in der Ecke zu sitzen kam erst eine Woche später.

Mikhail seufzte schwer. Anscheinend war seine Geduld nur gespielt und er würde mir am liebsten direkt den Hals umdrehen. Gute Frage eigentlich, warum tat er es nicht einfach?

„Ich hab dir die Schmerzen genommen, aber ich kann sie dir auch wieder geben“, drohte er entnervt, wie man es mit einem kleinen Kind tat.

Dass schien dann doch einzusickern und mein damaliges Ich beruhigte sich, während stumme Tränen meine Wangen hinunterflossen. Es herrschte Stille, während meine Glieder immer schwerer und meine Atemzüge immer gestoßener wurden. Mikhail sah mir schweigend dabei zu, etwas gelangweilt, aber meinem damaligen Ich tat es einfach gut, dass ich nicht allein war. Jämmerlich, ja, aber hey, ich lag im Sterben also ließ ich mir das durchgehen. Auch wenn ich keine Schmerzen hatte, so war es doch ein bizarres Gefühl zu spüren, wie sich meine Lungen mit Flüssigkeit – wahrscheinlich Blut – füllten und jeder Atemzug etwas weniger Sauerstoff mit sich brachte und etwas schwerer wurde. Trotz der Mattigkeit verwandte ich alle meine übriggeblieben Kraft darauf meinen geschundenen Körper zu drehen. Mein damaliges Ich wollte dann doch nicht mit dem Blick auf den Steinboden und einen Fremden, der einen nicht rettete, sterben. Also drückte ich mit meiner rechten Hand fest gegen den Boden, bis mein Körper sich schließlich schleppend bewegte und ich auf dem Rücken lag. Für einen winzigen Augenblick konnte ich noch einen Blick auf den von Rauchschwaden verschleierten Sternenhimmel werfen, bevor ich merkte, dass ich den nächsten Atemzug nicht mehr schaffen würde. Ich hatte meine letzte Kraft dazu aufgebraucht die Sterne zu sehen, den einzigen positiven Anblick in dem Desaster, in dem ich mich befand. Es war wirklich bizarr zu fühlen, wie man starb. Besonders, weil mein jetziges Ich sich bis auf das Mitfühlen eigentlich gut fühlte. Und jetzt, da mein damaliges Ich starb, fühlte es sich ein bisschen so an, als ob ich mich vom Körper löste, wie ein Geist… ein wirklich ekliges Gefühl, dass mich zum Schaudern gebracht hätte, wenn ich einen Körper besessen hätte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich Mikhail seufzend aus seiner Hocke erhob. Was wohl bedeutete, dass mein Herz aufgehört hatte zu schlagen und mein damaliges Ich tot war. Was mein jetziges Ich ziemlich verwirrte, denn es gab ja ein jetziges Ich. War das am Ende doch keine Erinnerung? War das ein Traum in dem ich meinen bizarren Alltag verarbeitete? Nun, ich verstand dann aber meine Methode nicht so ganz. Was sollte das bitteschön bringen? Mich selbst tot zu sehen und trotzdem aus irgendeinem Grund nicht hier wegzukönnen?! Ja, man könnte sagen ich war ziemlich angepisst.

Es war, als würde ich angestupst. Verwirrt versuchte ich mich umzublicken, nur um wieder festzustellen, dass ich keine Körper hatte und noch immer in meinem damaligen Ich festsaß. Ein weiter Stupser und ich stellte fest, dass es… okay, ich wurde irre, der Geist – Seele, oder wie auch immer man das nannte – von meinem damaligen Ich war, der da angestupst wurde. Der letzte Rest, der noch übrig war. Ein weiter Stupser, wieder keine Antwort. Dann hörte ich ein Flüstern. Ich bekam eine Gänsehaut, denn Mikhail stand zwar noch da, da ja noch keine Sekunde vergangen war, seit er aufgestanden war, aber er hielt eindeutig den Mund. Ein weiteres Flüstern. Leider war es zu leise, als dass ich irgendetwas hätte verstehen können, ich konnte nur den Tonfall deuten und der war sehr bestimmend. Noch ein Flüstern, dieses Mal tadelnd. Noch eins, ängstlich. Ein weiteres, verzweifelt. Dann wieder das bestimmende Flüstern. Und plötzlich war die Hölle los. Es war, als wäre ein Bienenschwarm in meinem Kopf. Hunderte Stimmen redeten gleichzeitig, übereinander hinweg, schienen sich zu streiten. Ich fing nur einige Wortfetzen auf.

„…leben…“

„…länger warten…“

„…nicht richtig…“

„…von uns…“

„…lange gewartet…“

„…nächste Chance…“

„Genug!“, rief eine Stimme so laut, dass ich innerlich zusammenzuckte.

Als sie weitersprach, war das Flüstern wieder so leise, dass ich nichts mehr verstand, außer, dass es ernste Worte waren, die sie an die anderen richtete. Ich fühlte, wie sie alle ihre Aufmerksamkeit meinem damaligen Ich zuwandten, wie ich da so leblos lag, nur noch einen Funken Leben in mir. Und ich fühlte, wie sie eine Entscheidung trafen, so komisch es auch war, ich fühlte, was ich eigentlich sehen sollte. Und so spürte ich es auch, wie sie alle auf diesen Funken Leben, der noch in meinem damaligen Ich war, zugingen. Es hätte bedrohlich sein können, mit dem Ernst, mit dem sich die flüsternden Stimmen bewegten, aber etwas in mir sagte mir, dass sie alles richten würden. Dass diese Stimmen die Macht hatten mich zu retten und dass sie auch genau das tun würden. Der Kreis um den Funken Leben war geschlossen und sie alle streckten sich danach aus, nicht im wörtlichen Sinne. Es war verwirrend das alles zu fühlen, doch dann glomm der Funke auf, wuchs und wurde heller und heller und ich hörte, wie mein damaliges Ich scharf die Luft einsog. Plötzlich war der Schmerz wieder da, tausend Mal schlimmer als zuvor, aber etwas schützte mein damaliges Ich davor in die Ohnmacht abzudriften. Ich hörte, wie Mikhail auf dem Absatz kehrt machte und verwirrt neben mir niederkniete. Dann konnte mein damaliges Ich endlich wieder sehen, aber die Sicht veränderte sich. Es war, als würde ich mit hundert Augen gleichzeitig sehen und wandte meinen Blick Mikhail zu, der sofort zurückschreckte, jedoch nicht dazu in der Lage war den Blick abzuwenden. Als ich den Mund öffnete, war es, als würde jede einzelne der Stimmen mit mir sprechen:

„Bring mich in ein Krankenhaus.“

Und zur größten Überraschung meines jetzigen Ichs hob er mich sofort und ohne Widerworte vom Boden auf, wie in Trance. Mein Körper zitterte, aber noch schienen die Stimmen nicht fertig zu sein.

„Danach kehrst du hierher zurück und es ist nie geschehen.“

„Ja“, antwortete Mikhail tonlos.

War das etwa eine Spur von Furcht in seiner Stimme? Bevor ich das weiter eruieren konnte, verließ mich meine Kraft und ich sank in eine Ohnmacht.

Kapitel 11 - Zurück zu den Fragen

Ich erwachte und dieses Mal sah ich endlich das unendliche Weiß vor mir. Das Unendliche und mindestens genauso viele neue Fragen. Die erste: War das eine wirklich eine echte Erinnerung gewesen? Denn dieser Frage stellten sich alle anderen Fragen hinten an. Allerdings hatte ich mich schon immer gefragt, wie genau ich die Gasexplosion überlebt hatte. Die Ärzte hatten mir gesagt, dass ich schwer verletzt gewesen war, Himmel, ich war drei Monate im Krankenhaus gewesen. Man hatte mir erzählt, dass ein Krankenwagen mich gebracht hatte. Sie sagten, sie seien einem Notruf nachgefahren, aber dieser war im Verzeichnis nicht gefunden worden, als ich danach gefragt hatte. Ich hatte unbedingt jemandem danken wollen. Damals hatte ich mir nichts weiter gedacht, es kam schon einmal vor, dass so eine relativ unwichtige Aufzeichnung nicht sofort katalogisiert wurde. Vielleicht hatte der Notrufabsetzer auch einfach nicht seinen Namen genannt, das vergaßen viele in der Aufregung hatte man mir gesagt. Jetzt stand da natürlich noch eine ganz andere Möglichkeit im Raum: Mikhail hatte sie becirct zu glauben, dass sie einem Notruf gefolgt waren. Das ergab erschreckend viel Sinn. Aber das eigentliche Problem, wenn diese Sache wahr war, war, wie ich überlebt hatte. Die Stimmen. Noch nie zuvor hatte ich sie so klar gehört. Vielleicht, weil ich dieses Mal Zeit gehabt hatte ihnen zuzuhören. Damals am Strand hatten sie gerade erst begonnen zu wispern, als die Vampirjäger kamen und im Hospital bei meinem Kampf mit Nikolas war ich… abgelenkt gewesen. War das das erste Mal gewesen, dass ich sie ‚gehört‘ hatte? Waren sie der Grund für die Gewissheit in diesen Situationen gewesen, dass ich nicht sterben würde? Hatte mein Unterbewusstsein sich doch an den Abend der Gasexplosion erinnert und wusste, dass sie kommen würden um mich zu retten? Wenn das alles wahr war, blieb nur noch die Frage übrig, was diese Stimmen waren. Und war damit vielleicht sogar die größte Frage, denn eigentlich war ich mir sicher, dass sie echt und kein Hirngespinst waren.

Ich schüttelte den Kopf und blickte in den Himmel. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wie lange ich wegen dieses Traumes geschlafen hatte, aber das Gebirge – vermutlich der Ural –  war deutlich näher gekommen.

„Wie lange noch?“, fragte ich an Prisca gewandt.

„Vielleicht eine Stunde“, meinte sie und deutete mit dem Finger irgendwo in die Weiten, „dort müssen wir hin.“

Ich kniff die Augen zusammen, konnte jedoch nichts erkennen. Trotzdem blickte ich weiterhin gespannt in die Richtung, wenn auch nur, um mich von dem Traum abzulenken. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis ich glaubte eine unnatürliche Erhebung am Fuß des Gebirges zu sehen. Es konnte mir allerdings auch nur so vorkommen, weil ich schon lange darauf starrte. Eine knappe weitere halbe Stunde später waren wir an den ersten Ausläufern des Gebirges angekommen und Prisca und Oswald verlangsamten das Tempo der Schlitten deutlich. Dann endlich sah ich eine zarte Rauchsäule, die versteckt in einer Felsspalte aufstieg, und auf die wir direkt zuhielten. Wir umrundeten noch einen weiteren Hügel und dahinter, zwischen den Hügeln eingeklemmt, war eine kleine Hütte, aus deren Kamin der Rauch aufstieg. Wobei Hütte eher wegen der Größe zutraf, denn die Wände waren aus solidem, verputztem Mauerwerk. Der Grundriss konnte allerdings keine 25m² betragen. Prisca brachte den Schlitten fast direkt vor der Eingangstür zum Stehen. Ich erhob mich mit steifen Gliedern, verkniff es mir jedoch mich zu strecken. Irgendwie kam mir das wie ein Eingestehen von Schwäche vor. Deshalb folgte ich Prisca einfach artig, als diese an die Tür trat und zivilisiert klopfte. Wir warteten einige Momente, nichts rührte sich. Prisca klopfte erneut, dieses Mal um einiges bestimmter.

„Pjotr, ich bin es, Prisca“, meinte sie und ich vernahm eindeutig die Ungeduld in ihrer Stimme.

Wieder blieb alles in der Hütte still. Prisca schloss ihre Augen und sog tief die Luft ein. Dann öffnete sie sie wieder.

„Ich weiß dass du da bist, mach die Tür auf!“, rief sie, ärgerlich, aber noch immer beherrscht.

Einer der Hunde kläffte fröhlich und schwanzwedelnd die Tür an und Prisca hämmerte erneut gegen die Tür.

„Pjotr, ich würde nur ungern die Tür aus den Angeln reißen, aber ich werde es tun, wenn du mir nicht sofort öffnest.“

Die Drohung schien gewirkt zu haben, denn ich hörte – wenn auch leise – Schritte auf die Tür zukommen. Priscas Haltung entspannte sich. Dann hörten wir, wie ein Riegel vorgelegt wurde. Sofort war Prisca auf hundertachtzig.

„Pjotr, was soll das?“, fragte sie mit überraschend ruhiger Stimme.

Und endlich, vernahmen wir eine Stimme aus der Hütte. Sie war tief und ruhig, aber auch bestimmt. Leider aber auch sprach er in einer mir unbekannten Sprache. Ich vermutete Russisch, wenn auch eine ältere Version, aber ich hörte, dass er Oswalds Namen erwähnte.

„Es ist nicht er für den wir hier sind. Bitte, ich brauche deine Hilfe. Bist du mir das nicht schuldig?“

Pjotr antwortete und klang dabei – zumindest war das meine Ansicht – uneinsichtig. Priscas Haltung bestätigte das. Und dann wurde seine Stimme wütend.

„Und doch komme ich hierher“, meinte sie, vollkommen ruhig, ihrer Haltung trotzend, „immer und immer wieder.“

Für einen Moment herrschte Stille.

„Mutter wird dich für deinen Ungehorsam töten. Sie wird euch alle töten“, meinte er auf Englisch und mit schwerem Akzent.

Es war eindeutig, dass er wollte, dass ich mithöre. Es war eine Warnung. Aber es war auch ziemlich deutlich gewesen, dass das hier unsere einzige Anlaufstelle war. Entweder Pjotr oder bei null anfangen und das konnten wir uns offensichtlich nicht erlauben. Es war Priscas amüsiertes Schnauben, das meinen Gedankengang unterbrach

„Wenn ich gehe, dann werden andere kommen, das weißt du, Pjotr. Die Frage ist nur: Wer ist dir lieber?“

Für einen Moment herrschte Stille bis auf das Hecheln der Hunde und mein Atmen. Die Vampire bewegten sich keinen Millimeter.

„Ich spreche mit der Frau. Ihr geht.“

Ich erwartete eine Szene. Dass Oswald die Tür eintrat und Pjotr dazu zwang uns zu helfen.

„Einverstanden“, willigte Prisca zu meiner großen Überraschung ein.

Dann trat sie von der Tür weg und im nächsten Moment waren sie und Oswald auch schon verschwunden. Ich schüttelte den Kopf und trat an die Tür. Zu meiner großen Überraschung fand ich sie unverschlossen vor und so stieß ich sie einfach auf. Ein Schwall warme Luft kam mir entgegen und ich trat schnell einen Schritt nach vorne, um die Tür schließen zu können, damit nicht die gesamte Wärme des Raumes sich nach draußen stahl. Währenddessen nahm ich das Bild auf, das sich mir bot. Ein schlichter Raum mit Holzdielenboden und cremefarben verputzten Wänden. Am mir gegenüberliegenden Ende des Raumes befand sich ein prasselnder Kamin, die komplette restliche Wand war von aufgestapelten Holzscheiten verdeckt. Davor stand ein Schaukelstuhl, auf dem ein Mann mit dem Rücken zu mir saß. Ich beachtete die kleine Küchennische zu meiner Linken oder das Bett an der Holzscheitwand nicht weiter sondern lief weiter auf den Mann zu. Er konnte nicht sonderlich groß sein, kaum größer als ich. Sein langes schwarzes Haar war in seinem Nacken zu einem Zopf geflochten und fiel ihm bis zwischen die Schulterblätter. Die Kleidung war schlicht – und keine moderne Winterkleidung. Mich würde es nicht überraschen, wenn er sie selbst angefertigt hatte. Wie aufs Stichwort entdeckte ich rechts neben der Tür eine Werkbank, als ich einen schnellen Blick über die Schulter warf.

„Du musst keine Angst haben“, meinte Pjotr und seine Stimme hörte sich sehr erschöpft an.

Ich beeilte mich die letzten Schritte zu gehen, damit ich sein Gesicht sehen konnte und ich sah etwas, dass ich nicht für möglich gehalten hatte: Narben. Pjotrs gesamtes Gesicht war durchzogen von – wenn auch hauchfeinen – Narben. Eine Unperfektheit des Körpers. So etwas hatte ich nicht mehr gesehen seit… seit Régine. Allerdings bezweifelte ich irgendwie, dass Pjotr damit geboren worden war.

„Für Menschen sind sie nicht erkennbar“, meinte Pjotr, als hätte er meine Gedanken gelesen.

„Wirklich?“, fragte ich ertappt.

„Auch das Fleisch von Vampiren kann unwiderruflich geschädigt werden“, war alles, was er darauf antwortete.

„Aber wie?“

Ich konnte mir diese Frage einfach nicht verkneifen. Pjotr wandte den Blick von mir ab und sah ins Feuer.

„Mit Methoden so grausam, dass selbst allein der Gedanke daran mir wochenlang den Schlaf raubt. Glaub mir, wenn auch nur der geringste Teil Güte in dir steckt, dann könntest du es so oder so nicht anwenden.“

Darauf hatte ich wirklich nicht hinaus wollten, aber ich berichtigte ihn nicht sondern nickte nur. Ich wusste, dass er es aus dem Augenwinkel sah, aber nun wandte Pjotr mir sowieso wieder seinen Blick zu.

„Ein magiebegabtes Wesen“, meinte er wie zu sich selbst und schüttelte den Kopf, „dass ich so etwas noch einmal erleben darf.“

„Sie haben also schon einmal jemanden wie mich kennengelernt?“, unterbrach ich aufgeregt seinen Monolog.

Pjotr schenkte mir ein schwaches Lächeln.

„Das Problem ist, dass wir Vampire uns viel zu sehr auf unseren Geruchssinn hierbei verlassen und vergessen, dass die magiebegabten Wesen alle zusammen leben, sich vermischen. Ihre Arten haben keinen so klaren Geruch wie ein Mensch oder ein Vampir.“

Ich verstand nicht wirklich, also schwieg ich. Zumindest hatte ich das vor, bis mir etwas einfiel.

„Einer von Oswalds Gefolgsleuten konnte anhand meines Geruches feststellen, dass mein Bruder nicht mein leiblicher Bruder war.“

Pjotr schnalzte missbilligend mit der Zunge.

„Er hat gerochen, dass du kein Mensch bist, nicht mehr. Wenn man den Geruch einer Person kennt, dann kann man sie auch wiederfinden und von anderen unterscheiden, ja, aber einen Verwandtschaftsgrad daran erkennen? Das ist Humbug.“

Okay, dann war das anscheinend geklärt.

„Worauf ich aber hinaus wollte ist, dass wenn verschiedene Spezies sich vermischen, das nicht unbedingt in einer Mischung aus ihren charakteristischen Geruchseigenschaften resultiert, es kann auch etwas ganz anderes dabei herauskommen. Ich weiß nicht, ob die Gerüche, die ich kenne, von einem reinblütigen magiebegabten Wesen abstammen.“

Ich nickte und nahm mir Zeit über seine Worte nachzudenken. Das waren ernüchternde Worte. Aber warum hatte Oswald dann unbedingt gewollt, dass wir hierher kommen?

„Warum dachte Prisca dann, dass Sie uns helfen können?“

Kurz erschien ein freudloses Lächeln auf Pjotrs Gesicht.

„Weil es für das, was sie will, egal ist, welche Art von magiebegabtem Wesen du bist. Hauptsache du bist dazu in der Lage ihr ein Portal zu öffnen.“

„Warum?“, fragte ich endlich die Frage, die mir so sehr auf der Seele brannte, „Warum geht sie diese großen Risiken ein durch ein Portal zu gehen?“

Pjotr setzte sich in seinem Stuhl auf und seine harten Gesichtszüge schienen noch angespannter zu werden, als er sich leicht zu mir beugte.

„Ist das nicht offensichtlich?“

„Neugier?“, meinte ich unsicher und schüttelte gleich darauf den Kopf, „nein, das kann Prisca nicht ihr Leben wert sein…“

Pjotr gab mir keine Chance weiter darüber nachzugrübeln.

„Weil es etwas ist, das Mutter verzweifelt versucht, jedoch niemand anderen versuchen lässt. Weil Mutter Angst vor den Wesen hat, die durch das Portal kommen. Wir Vampire mögen vielleicht für euch wie eine geeinigte Front aussehen, aber wir sind innerlich gespalten wie jedes andere Volk, das tausende Jahre unter demselben Herrscher gelebt hat, von dem man nicht weiß, warum er an der Macht ist.“

Jetzt, wo ich es laut ausgesprochen hörte schämte ich mich für meine Engstirnigkeit – für die Engstirnigkeit der Vampirjäger. Wie ich es schon bei Régine gemerkt hatte, nicht jeder Vampir war von Grund auf böse. Man konnte nicht von einem auf den anderen schließen.

„Wieso wird Mutter dann nicht einfach gestürzt? Ich meine, so haben die Menschen das geregelt.“

„Oh, das haben schon mehr versucht, als ich zu zählen vermögen würde. Und wie die Gegenwart zeigt, sind sie alle gescheitert. Mutter ist mächtiger, als jeder andere Vampir.“

„Ist sie denn so viel älter?“, fragte ich, weil das meines Wissensstandes nach die einzige logische Erklärung war.

„Niemand kennt ihr wirkliches Alter, aber sie hat als einziger Vampir die große Schlacht gewonnen und das spricht eigentlich schon für sich.“

Kapitel 12 - Die tatsächlich mächtigsten Wesen

„Ich habe schon einmal davon gehört, allerdings wurde mir dabei nicht gesagt, was die große Schlacht genau ist.“

„Es war ein Kampf unter uns Vampiren selbst… blutig und grausam. Damals waren wir in zwei Gruppen gespalten. Warum, das weiß keiner mehr. Nur noch, dass sich die Seiten hassten und der Streit eines Tages außer Kontrolle geriet. Es gab nicht viele von uns und in dem Krieg um etwas, an das sich keiner mehr erinnert, hätten wir uns beinahe selbst ausgerottet. Nur Mutter überlebte. Sie wollte nicht, dass so etwas je wieder geschehen konnte, deshalb übernahm sie selbst das Zepter und so ist es bis heute.“

„Und glauben Sie an Mutter?“

Die Frage schien Pjotr zu amüsieren.

„Es stimmt, dass ich früher nach Macht gestrebt habe, aber ich war nie so dumm an Mutters Thron zu sägen.“

Pjotr schien Freude daran zu haben mir meine Fragen nicht richtig zu beantworten.

„Früher?“

„Mutters Kerker, die opekun – das verändert einen.“

„Und doch wurde ich zu Ihnen gebracht.“

Ein freches Grinsen erschien auf seinem Gesicht.

„Nun, ich habe überlebt, oder etwa nicht?“

Vorher war er so zaghaft und ängstlich gewesen mich hereinzulassen. Inzwischen glaubte ich, dass er so nur eine Gelegenheit haben wollte mit mir allein zu sprechen. Und das sagte ich ihm auch.

„Sie haben gar keine Angst vor Mutter, hab ich Recht?“

„Du hast Recht“, meinte er, noch immer grinsend, „wenn auch einen gesunden Respekt. Ich wage es sogar zu behaupten, dass ich der einzige Vampir bin, der das von sich behaupten kann.“

„Oswald fürchtet sich vor Mutter?“

„Natürlich.“

Ich blickte Pjotr verwirrt an. Es ergab keinen Sinn.

„Das verstehe ich nicht.“

„100 Jahre durch die opekun gefoltert zu werden nimmt dir nicht nur die Angst vor dem Tod… es verleiht dir den Wunsch danach. Und wenn man erst einmal mit dem Tod im Bunde ist, dann fürchtet man nichts mehr.“

Ja und vielleicht nahmen einem diese 100 Jahre auch einen Teil des Verstandes, denn für mich ergab das so noch immer keinen Sinn. Außer vielleicht, dass er eben weil er verrückt war keine Angst mehr vor Mutter hatte während jeder andere sich vor ihr logischerweise fürchtete.

„Wieso sind Oswald und Prisca so fest davon überzeugt, dass Sie uns helfen können?“, fragte ich erneut, denn seine bisherigen Antworten waren alle sehr ausweichend der eigentlichen Frage gegenüber gewesen.

Pjotrs Mundwinkel versteiften sich etwas. Er sah mich an, aber sah mich nicht. Sein Blick war in weite Ferne gerichtet.

„Wenn man lange genug lebt, dann entstehen Legenden um die eigene Person und wenn man zu diesem Zeitpunkt noch jung und naiv ist, tut man nichts dafür sie einzudämmen, sondern bestärkt sie sogar noch…“

„Und die wäre?“, hakte ich nach, als er nicht weitersprach.

Ich hatte sein Ausweichen langsam satt und das hörte man meinem Ton auch an.

„Dass ich einem Elb das Leben schenkte und dieser mir zum Dank zeigte, wie man ein Portal öffnete“, beantwortete er mir zu meinem großen Erstaunen genau die Frage, die ich ihm auch gestellt hatte.

„Und was an dieser Geschichte ist wahr?“

„Nun, ich schenkte dem Elb tatsächlich sein Leben und er verschwand durch ein Portal, aber er blieb nicht stehen, um mir zu erklären wie genau das funktionierte. Er tat es einfach und ich sah ihm dabei zu.“

Ich wusste, dass ich mich einfach auf die Fakten konzentrieren sollte, aber ich war auch unglaublich neugierig. Wie zum Beispiel wann das überhaupt gewesen war, warum er ihm das Leben geschenkt hatte und wie andere davon erfahren hatten. Aber das war jetzt nicht das entscheidende.

„Ich glaube nicht, dass wenn das wirklich alles wäre, man mich hierher gebracht hätte.“

Pjotr musterte mich eingehend.

„Wieso sollte ich lügen?“, fragte er mich schließlich.

Ja, wieso? Nun, das war eigentlich für mich nicht die Frage.

„Wieso sollten Sie nicht? Es scheint nicht wirklich, dass Sie etwas dadurch gewinnen würden. Wenn Sie tatsächlich wüssten wie man ein Portal öffnet und Interesse daran hätten hindurchzugehen, dann hätten Sie sich schon vor langer Zeit selbst auf die Suche nach einem magiebegabten Wesen gemacht.“

Pjotr schüttelte amüsiert den Kopf.

„Nun, du liegst zumindest nicht ganz falsch.“

Ich zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. Ein breites Grinsen erschien auf Pjotrs Gesicht.

„Bist du bereit ein Geheimnis zu erfahren?“

Okay, das war gruselig. Dieses breite Grinsen, die weit aufgerissenen Augen und diese Frage, die wie eine Drohung klang. Oder vielleicht eine Herausforderung.

„Was wird mich dieses Geheimnis kosten?“, fragte ich, da ich mir sicher war, dass so etwas nicht umsonst kam.

„Einen Gefallen.“

Natürlich.

„Was für einen Gefallen?“

„Das sage ich dir, wenn der Zeitpunkt gekommen ist.“

„Nein“, meinte ich schlicht.

Pjotrs Grinsen fiel in sich zusammen und er blickte mich überrascht an, aber mal ehrlich, wer war denn so dumm einem Vampir einen uneingeschränkten Gefallen zu gewähren? Mit so etwas fing ein jeder schlechter Film an.

„Du willst es also wirklich nicht wissen.“

„Doch, aber ich will vorher abgeklärt haben, was ich dir dafür schule.“

Pjotr setzte sich in seinem Stuhl auf und blickte nachdenklich ins Feuer.

„Gut“, meinte er schließlich nach einer Weile, ohne mich jedoch anzublicken.

Ich blickte Pjotr an und wartete auf eine Antwort. Ich wollte schon sprechen, als er sich dann doch endlich zu mir umwandte.

„Ich will, dass du sie nicht mitnimmst.“

Ah, jetzt verstand ich, warum er nicht gewollt hatte, dass Prisca und Oswald während dieses Gesprächs hier waren. Nun, das war keine allzu schwere Bitte. Ich nickte.

„Wenn sich Ihr Geheimnis als äquivalent zu dieser Bitte erweist.“

„Äquivalent“, wiederholte Pjotr amüsiert und lachte auf, „diese beiden durch Mutters Hand sterben zu sehen, weil sie dich haben davonkommen lassen, ist es mir wert dir zu verraten, wie ich die Folter durch die opekun überlebt habe. Das könnte eines Tages für dich nützlich werden.“

Ich konnte nicht verhindern, dass sich meine Augen leicht vor Überraschung weiteten. Natürlich hatte ich mich gewundert, wie er es geschafft hatte als einziger Vampir diese Strafe zu überleben, aber ich hatte angenommen, dass er einfach stärker gewesen war als die anderen. Warum auch immer. Oder dass sie vielleicht beim ersten noch nicht so streng gewesen waren, weil es eben der erste war, auch wenn mir das schon immer unrealistisch vorgekommen war. Dass es tatsächlich einen Weg gab die Folter zu überleben, daran hatte ich nicht einmal gedacht.

„Die Narben“, murmelte ich und warf seinem Gesicht einen genaueren Blick zu.

Irgendwie war ich mir sicher, dass sie etwas damit zu tun hatte. Und wie zu meiner Bestätigung erschien ein Lächeln auf Pjotrs Gesicht.

„Schuldig“, meinte er.

„Sie sind also doch nicht durch die Folter entstanden?“

„Oh doch. Allerdings sind sie auch das einzige, was entstanden ist.“

Ich konnte nicht verhindern, dass ich eine Gänsehaut bekam, als ich so die Narben betrachtete und seine Worte dazu hörte.

„Wie?“, war alles, was ich hervorbrachte.

Pjotr ließ sich gemütlich in seinen Stuhl zurücksinken.

„Eine Hexe“, sagte er mit ruhiger Stimme, als wäre es nichts.

Ich hatte das Gefühl mich setzten zu müssen und zog einen Schemel, der neben dem Kamin stand, heran und ließ mich auf ihm nieder.

„Soweit ich weiß wurden die Hexen ausgerottet.“

„Was weißt du denn über Hexen?“, fragte Pjotr nachsichtig, als hätte ich etwas Dummes gesagt.

„Hexen sind eigentlich streng genommen Menschen, man kann sie nicht von ihnen unterscheiden. Ihr ‚Gen‘ wird rezessiv vererbt, aber nur wenn es bei Frauen zusammenkommt, dann werden sie zu einer Hexe.“

Pjotr nickte.

„Und zu ihren Fähigkeiten, weißt du etwas darüber?“

„Nun, sie wurden ausgerottet, weil ihre Fähigkeiten die von Menschen und Vampiren bei weitem übertrafen… und weil sie jedes Mal etwas verrückter wurden, wenn sie ihre Fähigkeiten benutzten.“

Pjotr nickte erneut.

„Und nach allem, was du mir hier gerade erzählt hast, glaubst du wirklich, dass wir in der Lage wären sie auszurotten?“

„Nun, sie sind und bleiben Menschen“, wiederholte ich schulterzuckend Romans Worte, „sie sterben sehr leicht.“

Pjotr lachte auf. Ich blickte ihn überrascht an.

„Hexen sterben leicht, das ist wirklich zu amüsant.  Und wahrscheinlich so wahr wie ‚Wasser fließt bergauf‘. Du vergisst, dass Vampire auch einmal menschlich waren. Sind wir deshalb auch leicht zu töten?“

„Aber Hexen sind doch noch Menschen gewesen…?“

Ich war verwirrt.

„Ja, aber Menschen, die die Fähigkeit besaßen Magie zu nutzen, oder wie man es auch nennen mag.“

„Also wie magiebegabte Wesen“, stellte ich fest.

Pjotr schüttelte den Kopf. Das Lächeln auf seinen Lippen war verschwunden.

„Nein, das ist etwas vollkommen anderes. Magiebegabte Wesen wie du, ihr habt einen natürlichen Zugang zu euren Fähigkeiten, sie sind ein Teil von euch. Aber bei den Hexen, es kostet sie jedes Mal einen Teil von sich, wenn sie ihre Fähigkeiten benutzen. Und glaub mir, wenn du einmal eine Hexe ihre Fähigkeiten hast benutzen sehen… es ist anders.“

„Aber wie hat sie das schwerer zu töten gemacht?“

„Nun, um sich zu schützen reagieren Hexen nicht nur mit ihrem Körper reflexartig, sondern auch mit ihren anderen Fähigkeiten und diese sind eigentlich immer tödlich, auch für einen Vampir.“

„Wie konnten sie dann überhaupt einmal besiegt werden?“, fragte ich skeptisch.

„Bauernopfer, viele davon. Aber wir kommen vom Thema ab. Du hast mir die entscheidende Frage noch immer nicht gestellt.“

Natürlich, ich war zu abgelenkt davon gewesen endlich mit jemandem zu sprechen, der tatsächlich eine Hexe getroffen hatte.

„Was hat die Hexe für Sie getan?“

Kapitel 13 - Der Zauber einer Hexe

Pjotrs Lächeln wurde breiter.

„Sie schenkte mir Unsterblichkeit.“

Ich blickte Pjotr an, während ich versuchte zu verstehen. Das ergab keinen Sinn. Vampire waren bereits unsterblich. Was sollte das? Pjotr sah meine Verwirrung und erläuterte.

„Damit meine ich wahre Unsterblichkeit und nicht nur die Abwesenheit eines natürlichen Todes, wie es meiner Spezies von Natur aus gegeben ist.“

Oh…

„Das heißt also, wenn ich Ihnen einen Pflock ins Herz rammen würde…“

„… empfände ich Schmerz, aber würde nach wenigen Sekunden wieder zum Leben erwachen, noch schneller als andere Vampire und auch den Pflock in meinem Herzen stecken zu lassen würde nichts bringen. Den Kopf abzuschlagen würde übrigens auch nichts bringen, genauso wenig mich zu verbrennen. Meine Asche würde wieder zueinander finden.“

Ein kalter Schauer kroch mir langsam den Rücken hinauf und ich bekam eine Gänsehaut. Am liebsten wäre ich sofort aus diesem Haus hinausgestürmt. Jetzt verstand ich, warum er keine Angst vor Mutter hatte – wieso sollte er auch? Nichts auf dieser Welt konnte ihn töten.

„Aber…“, begann ich, doch meine Stimme war so dünn, dass ich mich räusperte und neu ansetzte, „aber was ist der Haken an dieser Sache?“

Pjotr warf mir einen fragenden Blick zu.

„Mir wurde gesagt, dass Hexen einem einen Wunsch nie ganz so gewähren, wie man es sich gewünscht hat. Dass sie Freude daran haben diese Wünsche auf eine perverse Weise zu verdrehen“, erklärte ich.

„Oh, das“, meinte Pjotr und lachte freudlos auf, „nun, die Hexe musste meinen Wunsch nicht ändern, um ihn gleichzeitig zu einer Strafe für mich zu machen: Ich bin unsterblich, wahrlich unsterblich. ‚Nichts auf dieser Welt kann diesen Zauber brechen, auf ewig‘ – das waren die Worte der Hexe selbst.“

„Und Mutter hat damit kein Problem?“, war erstaunlicherweise das erste, was mir dazu einfiel.

„Hast du mir nicht zugehört?“, meinte Pjotr und seufzte schwer, „Das ist ein Geheimnis. Mutter weiß nicht, dass eine Hexe mir wahre Unsterblichkeit geschenkt hat. Die opekun glaubten nur, dass ich über außergewöhnliche Selbstheilungskräfte verfüge. Wahrscheinlich, weil der Gedanke an wahre Unsterblichkeit zu furchteinflößend gewesen wäre.“

„Warum haben Sie mir Ihr Geheimnis verraten?“, fragte ich, was mir auf der Seele brannte, denn in meinem Kopf konnte ich kein Szenario konstruieren, in dem er mir dieses Geheimnis verriet.

„Nun, du meintest vorher, dass wenn ich wirklich Interesse daran hätte ein Portal zu öffnen, dass ich mich selbst auf die Suche nach magiebegabten Wesen gemacht hätte.“

Ich nickte.

„Aber dieser Ansatz ist… schwer durchführbar. Magiebegabte Wesen, die durch die Portale kommen, kommunizieren nicht sonderlich mit uns. Ihr Instinkt ist es vor uns zu fliehen. Die Chance von ihnen Hilfe zu erhalten ist gleich null. Wonach man auf der Suche sein muss ist etwas, das viel seltener ist: Magiebegabte Wesen, die, aus irgendeinem Grund, als Menschen aufgewachsen sind. Wesen wie du.“

„Das erklärt noch immer nicht, warum Sie mir dieses Geheimnis anvertraut haben.“

„Du bist mit idealistischen Werten aufgewachsen, du glaubst noch an das Gute in der Welt. Aber für dich bin ich nicht das Gute, sondern das Böse in der Welt. Wenn ich also sicher gehen will, dass du mich mit durch dieses Portal nimmst, dann muss ich dir einen guten Grund dafür nennen.“

Der sich mir leider immer noch nicht eröffnete.

„Die Hexe sagte ‚nichts auf dieser Welt‘. Versteh mich nicht falsch, ich möchte nicht sofort sterben, aber es wäre doch schön, wenn ich es wenigstens wieder könnte.“

Ja, ich musste zugeben, das war ein wirklich guter Grund ihn mitzunehmen. Und ich war geschockt festzustellen, dass ich es trotzdem nicht tun würde. Mir war es nicht bewusst gewesen, aber anscheinend hatte mein Kopf von Anfang an vorgehabt alleine durch dieses Portal zu schreiten. Mit Mühe versuchte ich das Erstaunen über diese Entdeckung nicht auf meinem Gesicht zu zeigen.

„Also könnte die Hexe selbst es auch nicht zurücknehmen?“, lenkte ich von der Antwort auf seine Frage ab.

„Der Zauber einer Hexe ist so stark wie diese selbst, also nein. Sie könnte es nicht.“

„So stark wie sie selbst? Heißt das etwa, dass wenn die Hexe stirbt…“

„… auch all ihre Zauber ihre Wirkung verlieren? Das kommt auf den Zauber an, denn jeder Zauber muss an etwas gebunden werden. Und manchmal, ja, da binden Hexen diese Zauber an sich selbst, aus… Versicherungsgründen.“

„Und Ihr Zauber?“

„Wurde an meinen Körper gebunden.“

„Und da Ihr Zauber sie unsterblich macht besteht keine Chance dass er zerstört werden kann.“

Pjotr nickte.

„Genau.“

„Verlangen Hexen eigentlich auch eine direkte Gegenleistung?“

Das hatte mich schon beschäftigt, seit Luisa mir von ihnen erzählt hatte. Damals hatte ich es mich nicht getraut nachzufragen, ob und was ihre Familie für diesen Zauber gezahlt hatte.

„Sie lieben Gefallen aber auch direkte Gegenleistungen kommen vor.“

Ich sah ihn erwartungsvoll an.

„Ich versprach ihr ihr Leben.“

Im ersten Moment nickte ich nur. Dann breitete sich das flaue Gefühl in meinem Magen mit rasender Geschwindigkeit aus und ich spürte, wie ich bleich wurde.

„Dass wir nicht dazu in der Lage wären die Hexen auszurotten, das war also nicht nur eine Vermutung von Ihnen?“, fragte ich mit dünner Stimme.

„Sei nicht so entsetzt. Ja es stimmt, die Meisten der Hexen wurde getötet, aber nur die Schwachen, die sich selbst nicht unter Kontrolle hatten oder haben würden in der Zukunft.“

„Ich dachte die Ausrottung der Hexen wären das Einzige, bei dem sich Menschen und Vampire jemals einig gewesen waren.“

Pjotr zuckte mit den Schultern.

„Wir haben gelogen.“

„Wie viele Hexen gibt es denn noch?“

Pjotr dachte einen Moment nach, bevor er antwortete.

„Vielleicht eine Handvoll, auf jeden Fall nicht viel mehr.“

„Das ist wirklich wenig.“

„Nun, sie sind sterblich.“

„Aber können sie sich mit ihren Kräften nicht selbst am Leben erhalten?“, fragte ich verwirrt.

„Doch.“

Ich zog die Stirn kraus.

„Das verstehe ich nicht.“

„Die Hexen haben eine Redensart: ‚Der Tod findet einen, wenn die Zeit abgelaufen ist. Egal wie jung der Körper ist, in dem man sich versteckt.‘“

„Also können sie ihr Leben doch nicht erhalten.“

„Nun, sie können jung bleiben, aber dann fallen sie eines Tages einfach um und sind tot, ohne die geringste Vorwarnung.“

„Was hatte dann Ihr Versprechen der Hexe gegenüber bedeutet?“

„Eben genau diesen Tod zu verhindern.“

„Und?“, fragte ich, als er nicht weitersprach.

„3681 Jahre, 234 Tage.“

„Was?“, fragte ich verwirrt.

„Solange ist es her, dass sie gestorben ist.“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also schwieg ich, aber es musste ihn sehr belasten, wenn er noch immer so genau wusste, wann es passiert war.

„Ich habe mir dieses Datum nicht freiwillig gemerkt“, meinte Pjotr, als hätte er meine Gedanken gelesen.

Was er wahrscheinlich auch getan hatte, weil ich ihm gerade in die Augen gesehen hatte. Sofort fokussierte ich meinen Blick wieder auf sein Kinn, was mir ein schwaches Lächeln von Pjotr einbrachte.

„Natürlich gab es eine Strafe für den Fall, dass ich bei der Erbringung meiner Gegenleistung versagen sollte.“

Er erhob die Hand und deutete auf sein Gesicht.

„Ja, ich überlebe noch immer alles, aber ich behalte Narben.“

„Das ist alles?“, rutschte mir heraus, bevor ich es verhindern konnte und meine Augen weiteten sich vor Entsetzen.

Es gab dumme Reaktionen, haarsträubende Reaktionen und dann gab es, was ich da gerade getan hatte.

„Du bist wahrlich noch nie einer Hexe begegnet“, meinte Pjotr trocken amüsiert.

Ich schüttelte den Kopf, während Adrenalin durch meinen Körper schoss. Es schien zwar nicht so, als ob Pjotr mich angreifen würde, aber ich hielt mich trotzdem lieber bereit.

„Du meintest doch, dass wenn ich Interesse an Portalen hätte, ich mich selbst auf die Suche nach Wesen, die es öffnen könnten machen würde.“

Ich nickte, unklar worauf ich hinaus wollte.

„Und wir haben auch etabliert, dass ich Interesse daran habe durch ein Portal zu gehen.“

Wieder nickte ich, wenn auch zögerlich.

„Und du fragst dich nicht, warum ich mich dann nicht selbst in den letzten dreieinhalbtausend Jahren auf die Suche gemacht habe?“

Er hatte da einen Punkt.

„Warum?“, fragte ich.

Er öffnete den Kragen seines Leinenhemdes und zog den Ausschnitt so zur Seite, dass ich eine Tätowierung auf seiner rechten Brust sehen konnte. Es waren Schriftzeichnen in einer nach innen gerichteten Spirale angeordnet, allerdings hatte ich nicht den geringsten Schimmer zu welcher Sprache sie gehörten. Trotzdem musste er mir nicht sagen, was es war, ich wusste es einfach: Es war die Manifestation des Zaubers auf seinem Körper.

„Was heißen diese Schriftzeichen.“

„Unsterblich, unverwüstlich, mein Wächter auf ewig.“

Das wusste ich bereits, aber was hatte das mit seiner Strafe zu tun.

„Was ich nicht verstand, als ich diesen Handel mit der Hexe einging, war, was ihr Wächter auf ewig zu sein bedeutete.“

„Ihr Leben zu schützen?“

Pjotr lachte freudlos auf.

„Das glaubte ich auch, leider lag ich damit nicht ganz richtig.“

„Wächter…“, murmelte ich vor mich hin, aber mir ging kein Licht auf.

„Magiebegabtes Wesen, warum glaubst du, dass ich hier draußen in dieser Einöde lebe und sie niemals verlasse?“

Wächter, natürlich. Jetzt begriff ich. Luisa hatte Recht gehabt, Hexen waren wie die Dschinn in den Geschichten, sie fanden jedes Schlupfloch.

„Sie ist hier, hab ich Recht? Sie ist hier begraben.“

Pjotr nickte mit verbissenem Gesichtsausdruck.

„Und ich muss über ihr Grab wachen, bis an dem Tag, an dem ich sterbe.“

Kapitel 14 - So klein ist die Welt

Bloß dass dieser Tag niemals kommen würde.

„Aber… könnten Sie dann überhaupt mit mir durch das Portal kommen?“

„Es ist nicht so, dass ich gegen eine unsichtbare Barriere laufe, wenn ich versuche mich von ihrem Grab zu entfernen. Es ist nur, dass je weiter ich mich von ihr entferne, desto mehr schmerzt mein Herz… Sie hielt das für den passenden Ort, an dem es mich schmerzen sollte.“

Sein Ausdruck wurde, wenn möglich, noch verbissener, deshalb enthielt ich mich des Kommentars, dass durch ein Portal in eine andere Welt zu gehen wahrscheinlich weiter war, als jede Distanz, die er hier zurücklegen konnte. Wenigstens konnte ihn der Schmerz nicht umbringen.

„Wie viel davon weiß Prisca?“

„Sie weiß nur, dass ich das Grab der Hexe nicht verlasse, nicht warum. Von meinem Deal weiß natürlich sonst auch niemand und ich würde es begrüßen, wenn es so bleibt.“

„Natürlich“, meinte ich und nickte, „aber wie geht es jetzt weiter?“

„Nun, ich hatte Zeit zum Nachdenken und ich glaube, ich habe eine ganz passable Strategie entworfen, die leider zwei Variablen unterliegt.“

Das gefiel mir ganz und gar nicht.

„Und die wären?“

„Nun, zum einen das magiebegabte Wesen – also du – aber das hat sie ja bereits geklärt und zum anderen benötigen wir für unser Vorhaben noch eine Hexe.“

Ich öffnete meinen Mund, schloss ihn dann aber wieder unverrichteter Dinge und schüttelte den Kopf. Das konnte doch nicht sein Ernst sein.

„Und wo kriegt man eine Hexe her?“, fragte ich, als ich mich schließlich wieder gefangen hatte.

„Nun, das ist nicht so schwer, wie man glauben möchte, wenn man nur weiß, wo man suchen muss.“

„Wofür benötigen wir überhaupt eine Hexe?“, fragte ich, noch immer etwas perplex.

Pjotr schenkte mir ein Lächeln.

„Ein paar Geheimnisse muss ich doch noch für mich behalten, sonst lässt du mich am Ende hier zurück und ich werde mir diese Chance auf keinen Fall entgehen lassen.“

Ich überlegte einen Moment, ob ich weiter auf eine Antwort beharren sollte, ließ es aber dann doch bleiben. Bei dem was er mir bereits erzählt hatte, wollte ich vielleicht gar nicht wissen, was er als noch größeres Geheimnis betrachtete als seinen Handel mit der Hexe also nickte ich.

„Gut, aber dann müssen wir trotzdem noch immer irgendwo eine Hexe herbekommen.“

„Wie gesagt, wenn man weiß wo zu suchen ist, ist das gar kein Problem.“

„Und wo muss man suchen?“

Pjotr lächelte ein breites Lächeln.

„In der Nähe mächtiger Vampire.“

Für einen Moment ergab es Sinn… dann wieder keinen, schließlich sollten die Vampire an der Macht nicht so dumm seinen einen Handel mit einer Hexe einzugehen. Allerdings konnten sie einem anscheinend auch sehr viel ermöglichen.

„Masao bemüht sich immer Zugang zu einer Hexe zu haben – aus irgendeinem Grund werden in Japan besonders viele Hexen geboren, er hat ein ziemliches Monopol auf sie. Allerdings hat er sie ziemlich fest in der Hand und teilt nicht gerne. Er würde viel zu viele Fragen stellen. Die Hexe in Mutters Kreisen können wir natürlich ausschließen und dann weiß ich tatsächlich auch nur noch von einer, obwohl ich ihr wirklich gerne aus dem Weg gegangen wäre…“

„Welchem Vampir steht sie nahe?“, fragte ich, weil Pjotrs Blick in die Ferne abgedriftet zu sein schien.

„Constantin und auch wenn er sicher keine Probleme damit hätte sie mir auszuleihen, so bezweifle ich doch, dass die mir einen Handel anbieten würde.“

Mein Gesicht war weißer wie der Schnee vor der Hütte geworden. Natürlich, bei meinem Glück hätte ich es wissen müssen. Aber Moment, ich hätte fast den zweiten Teil des Satzes durch meinen Schock überhört.

„Wieso würde Sie ihnen keinen Handel anbieten?“, fragte ich verwirrt.

„Nun, sie ist eine Nachfahrin der Hexe, mit der ich den Handel abgeschlossen hatte.“

„Aber das ist doch schon dreieinhalbtausend Jahre her, woher weiß sie das überhaupt noch?“

„Hexen sind ein nachtragendes Völkchen und natürlich ist dieses Stück Information nicht während unserer Verfolgungsjagden auf sie verloren gegangen.“

Pjotr zuckte mit den Schultern.

„Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie tatsächlich eine direkte Nachfahrin ist, aber sie hält sich zumindest dafür und hasst mich deswegen.“

„Also doch die Hexe von Masao“, meinte ich und versuchte meine Erleichterung zu verbergen.

Zu meiner großen Enttäuschung schüttelte Pjotr den Kopf.

„Nein, Constantin wird sie schon überzeugen können.“

Natürlich wusste er es nicht, wie sollte er auch? Abgeschieden von der Welt wie er lebte.

„Das könnte problematisch werden…“, begann ich und Pjotr war sofort alarmiert, „denn im Moment leitet Mikhail Constantins Geschäfte.“

„Warum?“, fragte er wie aus der Pistole geschossen und war so angespannt, dass es so aussah, als würde er jeden Moment aus dem Stuhl aufspringen.

„Nun, Constantin liegt in einer Art… Koma.“

„Koma?“, meinte Pjotr und dieses Mal schien er ernsthaft verwirrt.

„Oder tiefer Schlaf, wie man es auch nennen möchte.“

Pjotr fluchte in einer mir unverständlichen Sprache. Dann schüttelte er seufzend den Kopf.

„Ich hatte ihn gewarnt, dieser dumme Junge.“

Das ließ mich dann doch wieder aufhorchen.

„Sie hatten ihn gewarnt?“

„Und natürlich hat er keinem erzählt, war er da betreibt, dass ihm auch ja niemand helfen kann“, sprach Pjotr weiter vor sich hin und ignorierte mich komplett.

„Pjotr“, sagte ich etwas lauter und er richtete seine Aufmerksamkeit endlich wieder auf mich.

„Hm?“, machte er, aus seinem Gedankengang gerissen.

„Sie wissen, was mit Constantin nicht stimmt?“, fragte ich ihn mit einem unguten Gefühl im Magen.

„Oh natürlich, Entschuldigung. Ja, ich weiß, was mit ihm nicht stimmt. Der dumme Junge hat seinen Geist vom Körper abgelöst.“

Pjotr sagte es zwar einfach so, aber für mich war das eine riesige Sache. Ich meinte…

„wie kann man denn so überhaupt noch am Leben sein?!“

„Unsterblichkeit – wenn auch nur die unechte Variante – hat so seine Vorzüge. Der Geist hat nirgendwo anders hinzugehen, also bleibt er in der Umgebung des Körpers. Leider nur findet er alleine nicht zurück an seinen Platz.“

„Wieso sind Sie sich so sicher, dass es das ist?“

„Weil Constantin mit Traumbesuchen experimentiert hat. Ich hatte ihm gesagt, dass er es nur mit ausgesuchten Personen anwenden soll, bis er es vollständig unter Kontrolle hat, aber hier habe ich den Beweis, dass er nicht auf mich gehört hat. Ich sollte ihn als Strafe noch mindestens ein Jahrzehnt so vor sich hin vegetieren lassen, damit er seine Lektion lernt.“

Er konnte also aufwachen. Ich musste mein Gesicht nicht sehen um zu wissen, dass jegliche Farbe aus meinem Gesicht gewichen war. Aber Halt, warum machte er mir noch solche Angst? Stand ich jetzt nicht im Schutz viel mächtigerer Vampire? Wusste ich nicht inzwischen auch, warum er nach mir suchte? Und dass er meinen Vater wahrscheinlich kannte, weil dieser ein Vampirjäger gewesen war? Diese Angst war irrational und trotzdem ließ sie mich nicht los. Er war das Erste gewesen, vor dem ich mich in meinem Leben jemals wirklich gefürchtet hatte und wie es schien wollte mein Kopf das nicht vergessen… niemals. Ich atmete tief durch.

„Sie können ihn also aufwecken?“, fragte ich Pjotr und stellte fest, dass er meinen inneren Kampf genauestens beobachtet hatte.

„Ja, aber mir scheint, dass du davon nicht allzu begeistert wärst. Wieso?“, schloss er folgerichtig.

Pjotr hatte mich mit Ehrlichkeit überrascht und ich würde sie ihm zurückgeben.

„Er ist der Grund, warum ich damals Vampirjägerin geworden bin. Und auch er ist der Grund, dass ich schließlich und endlich hier gelandet bin.“

„Eine famula also. Das macht die Tatsache, dass du bei Oswald gelandet bist nur noch faszinierender.“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Ich hatte Fragen und er versprach mir Antworten, nachdem es mir misslungen war ihn zu töten.“

Für einen Moment sah mich Pjotr mit großen Augen an, dann lachte er schallend.

„Ich mag Zweckgemeinschaften“, sagte er, als er sich wieder beruhigt hatte, „man weiß immer genau woran man ist. Leider – so wichtig mir unsere Zweckgemeinschaft auch ist – muss ich Constantin aufwecken, denn ohne den Zugriff auf die Hexe in seinem Umfeld wird es ziemlich kompliziert werden. Besonders, da ich annehme, dass wir unter Zeitdruck stehen?“

Er formulierte es als Frage, aber eigentlich wusste er die Antwort schon. Ich nickte.

„Prisca meinte vielleicht ein halbes Jahr. Mutter sucht schon nach mir.“

Pjotr nickte vor sich hin.

„Das hatte ich mir schon gedacht. Jemand wie du bleibt nicht lange ein Geheimnis. Und unsere Zeit wird sich noch einmal drastisch verkürzen, wenn du erst einmal Constantin hierhergebracht hast.“

Ich soll ihn hierher bringen?“, fragte ich mit hochgezogener Augenbraue.

„Nun, ich kann schlecht zu ihm gehen. Die Schmerzen würden mich davon abhalten mich zu konzentrieren.“

„Aber wie soll ich ihn überhaupt hierher bekommen? Mikhail würde das niemals zulassen – er ist mir auch noch in meiner Vampirjägerzeit begegnet.“

Pjotr machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Mikhail wird kein Problem sein. Er hat keine Ahnung von Traumbesuchen und wird deshalb Constantin ins Hospital gebracht haben. Nikolas lässt mit sich reden. Er weiß, dass ich damals durch meinen Handel mit der Hexe viel Zeit mit ihr verbracht habe und sie mir so einiges beigebracht hat. Er wird verstehen, dass ich Constantin nur helfen will.“

Langsam kam es mir so vor, als ob ich eine Schneise der Verwüstung hinter mir gelassen hatte, die mich zukünftig nur umso schlimmer behindern würde.

„Was Nikolas angeht…“, begann ich und kratze mich verlegen am Hinterkopf.

Pjotrs Miene verlor jeglichen Ausdruck.

„Was?“, fragte er tonlos.

„Nun… er ist tot… und Oswald hat als Vergeltung das Hospital abgemetzelt. Constantin ist jetzt wieder auf seinem Anwesen.“

Ich versuchte mich an einem entschuldigenden Lächeln, ließ das aber ganz schnell wieder. Pjotr sah alles andere als glücklich aus.

„Dann bleibt dir wohl nichts anderes übrig als ihn Nachts aus seinem Bett zu stehlen“, meinte er, ohne einen Hauch von Ironie in der Stimme.

 

Kapitel 15 - Keine Ausreden

Trotzdem wartete ich einen Moment, ob sich das Ganze nicht doch als Scherz herausstellte.

„Können wir nicht einfach Mikhail anrufen und ihn fragen Constantin vorbeizubringen?“, schlug ich vor, aber hatte irgendwie Zweifel daran, dass dieser wunderbar einfache Weg auch nur in Erwägung gezogen werden würde.

„Mikhail traut mir nicht und das wird sich nicht gerade verbessern, wenn er erfährt, dass etwas, das ich Constantin beigebracht habe, Schuld an seinem Zustand ist.“

Pjotr zuckte mit den Schultern.

„Ich bin mir sicher du schaffst das.“

„Wie?“, fragte ich und warf die Hände in die Höhe, „Constantins Anwesen ist eine Festung. Ohne Hilfe von Innen ist es nicht möglich für mich hineinzukommen und dann mit Constantin wieder da rauszukommen ohne dass ich erwischt werde. Warum schicken Sie nicht Prisca? Sie könnte wahrscheinlich durch den Haupteingang hineinspazieren und ihn hochoffiziell mitnehmen.“

Er schüttelte den Kopf und warf mir einen nachsichtigen Blick zu.

„Glaubst du nicht, dass Mikhail bei Mutter nachfragen würde, warum Constantin geholt wurde?“

„Nein“, meinte ich ehrlich und Pjotr blickte mich überrascht an.

„Wieso?“

„Weil sogar Oswald Mutter nicht selbst kontaktiert und ich würde mal schwer vermuten, dass er deutlich höher in der Hierarchie steht als Mikhail.“

„Diese Situation würde ihn dazu bringen Mutter zu kontaktieren, glaube mir. Constantin ist der Mittelpunkt seines Daseins und nach dem, was ihr im Hospital getan habt, könnte ich mir sogar vorstellen, dass er sich einer opekun widersetzen würde.“

„Was lässt Sie dann glauben, dass ich Erfolg haben würde?“

„Weil dir mehr an der Sache liegt.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Das glaube ich nicht. Prisca liegt viel mehr daran.“

„Dann muss ich es dir anscheinend einmal genauer erklären: Prisca hat einen Ort, an den sie zurückkehren kann. Ja, sie hasst diesen Ort, aber ihr Leben ist nicht vorbei. Bei dir sieht die Sache anders aus. Wenn du diese Welt nicht verlässt, dann wirst du in Mutters Hände fallen und dann erwartet dich nur noch ein Leben voller Folter, dessen einzige Erlösung der Tod ist. Und den wird sie dir so lange wie möglich nicht schenken, das kannst du mir glauben.“

„Das hilft mit trotzdem nicht dabei in das Haus hineinzukommen.“

Pjotr erhob sich aus seinem Stuhl und ging hinüber zur Küchenzeile. Ich blieb wo ich war und beobachtete ihn dabei, wie er eine Schatulle von dem Regal nahm und wieder zurückkam. Wieder sitzend öffnete er die kleine Holzschatulle und reichte mir einen Bund Schlüssel, an dem sich fünf gewöhnliche Schlüssel und ein elektronischer Schlüssel, wie für ein Garagentor, befanden. Ich schloss für einen Moment die Augen und lachte leise auf.

„Sie haben einen Schalter für die Fassadengitter?“

Ein kleines Lächeln erschien auf Pjotrs Gesicht.

„Natürlich. Woher weißt du davon?“

„Ich bin schon einmal aus diesem Haus ausgebrochen… so lange ist es noch gar nicht her. Aber da hatte ich auch Hilfe.“

„Und diese Quelle kannst du nicht reaktivieren?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Das war eine einmalige Sache, da bin ich mir sicher.“

„Schade“, meinte Pjotr schlicht.

Anscheinend schien er noch immer nicht die Schwere dieser Aufgabe zu begreifen.

„Außerdem kenne ich mich in dem Haus nicht einmal aus. Es ist riesig, ich weiß nicht einmal, ob ich Constantins Zimmer finden würde.“

„Oh, das ist leicht: der östliche Turm.“

Ich seufzte.

„Glauben Sie wirklich, dass es nicht weniger Aufwand wäre Masao um Hilfe zu bitten?“

„Definitiv.“

Ich gab auf.

„Okay, gehen wir einmal davon aus, dass ich es in das Turmzimmer schaffe – wahrscheinlich an der Fassade hochgeklettert – und wie durch ein Wunder die Wachen besiege, soll ich mir dann Constantin einfach auf den Rücken schnallen und mit ihm die Fassade wieder herunterklettern? Ich würde fallen.“

„Nun, das wäre definitiv schneller und kraftsparend. Vielleicht könntest du so fallen, dass du ihm seine Beine brichst, dann könntest du ihn um einiges leichter um dich binden.“

„Und dann durch den Wald mit ihm nach Moskau rennen?“, fragte ich trocken, auch wenn ich mir sicher war, dass er es wieder ernst nehmen würde.

„Das wäre wahrscheinlich die klügste Variante.“

Der hatte doch nicht mehr alle Tassen im Schrank. Erwartete er wirklich, dass ich das machen würde?!

„Und Oswald ist nicht zufällig mit diesem Masao befreundet und könnte eine Hexe von ihm bekommen?“

„Masao ist Freundschaft egal, wenn es ums Geschäft geht. Keine Vorzugspreise oder -behandlung, nichts. Ein kluger Schachzug, wenn man darüber nachdenkt. Niemand kommt sich je benachteiligt vor und hegt deshalb Groll gegen ihn. Dafür hat er aber Freunde, die ihm nicht ganz so gewogen sind.“

„Und warum noch einmal können wir nicht ihn um eine Hexe bitten? Was für Fragen würde er denn stellen?“

„Nun, die problematische Frage seinerseits wäre, wofür wir die Hexe benötigen.“

„Wofür benötigen wir sie denn?“, fragte ich jetzt doch noch einmal nach.

„Das einzige, was du zu wissen brauchst, ist, dass es ohne eine Hexe nicht funktionieren wird.“

„Und eben das verstehe ich nicht. Ich bin doch ein magiebegabtes Wesen, ich dachte das reicht um ein Portal zu öffnen.“

„Wenn du diese Fähigkeit einmal gemeistert hast, ja, aber bis es so weit ist, brauchst du die Hilfe einer Hexe.“

„Warum hat eigentlich Oswald keine Hexe?“, meinte ich aufgebracht von der ganzen Situation

„Weil er einer der Initianten der Hexenjagd war. Die Hexen schauen bei uns restlichen Vampiren gnädig über diese dunkle Zeit hinweg, aber Vampiren wie Oswald verweigern sie ihre Dienste grundsätzlich.“

Das hatte ich nicht gewusst und es ließ mich sofort wieder ein paar Stufen abkühlen. Ich musste mich wohl oder übel damit abfinden, dass ich zurück zu Constantins Anwesen musste… schon wieder. Zum dritten Mal in so wenigen Wochen und dieses Mal auch noch so etwas… Wann war das alles endlich vorbei?

„Was, wenn ich scheitere? Was geschieht dann?“

„Nun, ich denke du wirst wohl oder übel in Mutters Hände fallen. Wie heißt es so schön? Ach ja: Game over. Das ist die einzige Chance.“

„Kann ich nicht vielleicht jemanden mitnehmen, der mir hilft? Ich sehe nicht die Notwendigkeit, dass ich das alleine mache.“

„Nun, ich bin mir sicher Oswald will mit der Tat nicht in Verbindung gebracht werden, also scheiden seine Bediensteten aus. Wenn du auf die Schnelle selbst jemanden findest, sollte das kein Problem sein, aber die Sache sollte so schnell wie möglich erledigt werden.“

Nun, jemanden in Moskau aufzutreiben, der mir helfen würde, sollte doch nicht allzu schwer sein. Es war ja auch nur das Zentrum der Vampirjäger – unser Mekka könnte man fast sagen. Die ersten beiden Namen, die mir in den Sinn kamen waren natürlich Luca und Roman. Jedoch wollte ich nicht, dass Roman dabei war – er würde es nicht verstehen, das wusste ich ja bereits. Und Luca war sicher mit Roman zusammen, dass hieß, dass Roman merken würde, dass etwas nicht stimmte, wenn Luca einfach so verschwand. Ich könnte versuchen mich an Mr Kosloff, Romans Vater, direkt zu wenden. Allerdings glaubte ich nicht, dass er mir jemanden zur Seite stellen würde, wenn ich ihm nicht genau sagte, warum ich diese Hilfe brauchte und ich scheute mich davor, meine wahre Identität preiszugeben. Es gab einen Grund, warum meine Eltern es auch vor den Vampirjägern geheim gehalten hatten. Also brauchte ich jemanden, der mir vertraute und mich begleiten würde ohne Fragen zu stellen. … Das war schwerer als ich dachte. Die einzige Person, die mir sonst noch in den Sinn kam war Darius, aber war es eine schlaue Idee ihn hierher zu holen? Ich war mir ziemlich sicher, da er eine bekannte Verbindung zu mir besaß, dass Mikhail ihn überwachen ließ. Er würde es definitiv nicht nach Russland schaffen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen…

„Sie kennen nicht zufällig jemanden, der mir helfen könnte?“, wandte ich mich an Pjotr.

„Leider nein, sonst hätte ich es dir bereits angeboten“, meinte er entschuldigend.

Jetzt wäre es wirklich praktisch eine heres zu sein und die damit einhergehenden Verbindungen zu genießen. Wenigstens ein paar Vampirjäger mehr zu kennen… Xia. Es war einen Versuch wert – wenn ich mit meiner Vermutung richtig lag, dass sie tatsächlich auch ein Vampirjäger war.

„Hier draußen hat man nicht zufällig Empfang?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort dazu eigentlich schon kannte.

Pjotr lachte.

„Nein, aber ich kann dir mein Satellitentelefon leihen, wenn du möchtest.“

Er stand auf und trat wieder an die Küchenzeile, aber dieses Mal öffnete er eine der Schubladen und holte dort ein Satellitentelefon hervor, das er zu mir brachte.

„Danke“, meinte ich ehrlich und tippte die Nummer der Lis ein. Xia wohnte dort wahrscheinlich nicht mehr, aber ihre Eltern konnten mir sicher weiterhelfen und mal ehrlich, wer merkte sich schon Handynummern?

Mir fiel beim zweiten Klingeln auf, dass ich keine Ahnung hatte, wie viel Uhr es an der Westküste war, aber jetzt war es zu spät, um mir Gedanken zu machen. Und es war hier gerade spät abends also sollte es eigentlich auch passen. Nach weiterem fünfmaligen Klingeln nahm endlich jemand ab.

„Li“, antwortete eine Männerstimme, die ich beinahe nicht erkannt hatte.

Aber es war auch schon sehr lange her, dass ich mit Xias Vater Yang gesprochen hatte. Ich brauchte einen winzigen Moment, bevor ich sprechen konnte.

„Guten Tag Mr Li, hier ist Sam, Sam Anderson.“

Für einen Moment herrschte überraschte Stille am anderen Ende der Leitung.

„Sam, es ist lange her. Wie geht es dir?“

„Ganz gut, ich habe das Familiengeschäft übernommen. Und ihnen?“

„Wir können uns nicht beklagen. Du hast also dein Studium abgeschlossen und leitest jetzt das Bauunternehmen? Schön zu hören.“

„Nicht dieses Familienunternehmen, Mr Li.“

Für einen Moment herrschte Stille am anderen Ende der Leitung.

„Warum rufst du an, Sam?“, fragte er und klang plötzlich angespannt.

Anscheinend hatte ich recht, die Lis waren ebenfalls Vampirjäger.

„Ich könnte Xias Hilfe gebrauchen… ich stecke etwas in der Klemme und ich weiß nicht, wem ich sonst vertrauen kann.“

Ich hörte Mr Li schwer am anderen Ende der Leitung seufzen.

„Und das, obwohl deine Eltern alles getan haben, um dich da rauszuhalten.“

Ich hatte ihm die Wahrheit gesagt. Über diese vier Jahre, in denen ich die Lis gekannt hatte, hatte ich sie sehr gemocht. Ich war mir sicher gewesen, dass Xia meine Schwägerin geworden wäre. Allerdings hatten sie und Tom eben nie geheiratet. Die Lis waren nicht Teil meiner Familie und niemals gewesen, sie mussten mir nicht helfen, sie hatten keinerlei Verpflichtung dazu.

Wieder seufzte Mr Li schwer.

Ich konnte nicht einordnen, wohin dieses Gespräch ging, aber trotzdem zweifelte ich nicht – wie naiv von mir.

„Wohin soll Xia kommen?"

Kapitel 16 - Abtrünnige Vampirjäger

 

Ich gab Pjotr das Telefon zurück.

„Du bist also nicht auf dich allein gestellt?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Auf Familie ist immer Verlass.“

Pjotr schien für einen Moment amüsiert, bevor er den Mund öffnete und bewegte… und nichts kam. Verwundert sah ich ihn an.

„Ich habe Oswald und Prisca gesagt, dass wir hier fertig sind.“

„Also waren sie doch noch in Hörweite?“, fragte ich stirnrunzelnd.

Pjotr schüttelte den Kopf.

„Ich habe es ihnen gerade in einer Tonlage mitgeteilt, die um ein Vieles tiefer ist, als bei einem normalen Gespräch.“

Ich verstand es nicht, aber für ihn schien diese Antwort so logisch zu sein, dass ich mich einer weiteren Nachfrage enthielt. Dann öffnete sich auch schon die Tür und Oswald und Prisca traten ein.

„Und, hilfst du uns?“, fragte Prisca, bevor die Tür ins Schloss fallen konnte.

„Ich habe der Frau schon erklärt, was sie noch zu tun hat.“

Ein feines Lächeln erschien auf Priscas Gesicht.

„Freut mich, dass du es eingesehen hast. Was brauchst du denn noch?“

„Constantin.“

Sowohl Priscas, als auch Oswalds Gesichtsausdruck versteiften sich für einen winzigen Moment.

„Wie bitte?“, mischte sich nun auch Oswald in das Gespräch ein, „Das kann nicht dein Ernst sein, Pjotr.“

„Sehe ich aus, als ob ich Witze mache?“, meinte dieser nur trocken.

„Wofür brauchen wir denn Constantin?“

„Minerva“, war alles, was Pjotr darauf antwortete.

Ein wissender Ausdruck trat auf Oswalds und Priscas Gesicht.

„Sie hasst dich“, warf Prisca in den Raum.

„Auf Constantin wird sie hören.“

„Constantin ist momentan nicht in der Verfassung, in der er irgendjemandem etwas befiehlt“, meinte Oswald spöttisch.

„Die Frau hat mich schon darüber unterrichtet. Dieses kleine Problem kann ich beheben.“

Ich hatte einen Namen, aber das schien gerade nicht von Interesse zu sein. Oswald zog überrascht eine Augenbraue in die Höhe.

„Wirklich? Wie?“

„Mit Praktiken, die du zu lernen nicht bereit warst. Mehr brauchst du nicht zu wissen.“

„Ich nehme mal an das magiebegabte Wesen soll ihn holen“, mischte sich Prisca in die Unterhaltung ein.

Wahrscheinlich um die beiden anderen Vampire beim Thema zu halten, denn Oswald sah so aus, als würde er Pjotr jeden Moment an die Kehle springen.

„Da Mikhail keinen von uns besonders schätzt, ja.“

Prisca schloss für einen Moment die Augen.

„Ich bringe sie zurück nach Salekhard“, meinte sie und war auch schon wieder halb aus der Tür.

Rasch folgte ich ihr, ohne vorher Oswald meine Ehrerbietung zu zeigen. Diese Tage waren vorbei.

Die Hunde schienen kein Problem damit zu haben schon wieder rennen zu müssen.

„Du weißt, wie du rein und raus aus dem Anwesen kommst?“, fragte mich Prisca, als wir schon eine Weile unterwegs gewesen waren.

„Ja“, bestätigte ich, auch wenn das nicht die hundertprozentige Wahrheit war, „ich war schon dort.“

„Das ist gut“, meinte Prisca und sagte den Rest der Schlittenfahrt nichts mehr.

Mir solle es Recht sein.

Ich saß schneller wieder im Privatjet, als ich es begreifen konnte. Zu meiner größten Überraschung begleitet mich Prisca auf dem Flug nicht. Vertrauten sie mir etwa auf einmal? Aber wir hatten ja auch ein gemeinsames Ziel vor Augen. Nach Erreichen würde die Sache sicher wieder ganz anders aussehen. Dafür waren aber wieder die beiden abtrünnigen Vampirjäger da, auf die ich gerne hätte verzichten können. Und da dieses Mal keine Vampire an Bord waren, kamen sie nach vorne zu mir in den Passagierraum.

opekun Prisca hat uns von deinem Auftrag erzählt“, meinte Wolfram strahlend und ich hätte ihm am liebsten mit der Faust ins Gesicht geschlagen, „sie meinte wir sollen dir helfen.“

„Nein“, meinte ich kurz angebunden und kaschierte damit mein Entsetzen.

Ich hatte meine Grenze. Ich konnte mich mit Vampiren abgeben, ich konnte sogar für sie arbeiten, aber mit abtrünnigen Vampirjägern?! Das würde nicht geschehen. Sie kamen für mich sogar noch nach den Futtertrogen der Vampire, denn Vampirjäger wussten es besser.

„Der Auftrag wird auch so schon schwer genug sein, du brauchst Hilfe.“

„Habe ich schon.“

Ich blickte aus dem Fenster und hoffte, dass sie sich einfach so in Luft auflösten.

„Wer?“

Vielleicht, wenn ich dafür betete?

„Jemand, dem ich voll und ganz vertraue.“

„Warum vertraust du uns nicht? Ich meine, wir arbeiten alle für Oswald.“

Okay, eine höhere Macht wollte mir hier anscheinend auch nicht aus der Klemme helfen. Seufzend wandte ich den beiden meinen Blick zu.

„Das ist kein Grund jemandem zu vertrauen. Ich weiß nichts über euch, außer dass ihr der Vampirjägervereinigung den Rücken gekehrt habt und jetzt für einen Vampir arbeitet.“

„Ist das nicht schon so einiges?“

Ich lachte freudlos auf.

„Das ist nichts“, meinte ich mit einem harten Gesichtsausdruck und wandte meinen Blick wieder aus dem Fenster.

„Warum hältst du dich für etwas Besseres?“, fragte zu meiner großen Überraschung Daniel, sodass ich ihm meinen Blick doch wieder zuwandte.

Ja, er hatte Recht, aber das hier war sicherlich nicht die richtige Umgebung dafür, meine wahren Gründe zu nennen.

„Du hast Recht, ich hätte zumindest eine Frage stellen sollen, bevor ich euch verurteile: Warum arbeitet ihr für Oswald?“

„Weil ich zwei Jahrzehnte lang getötet habe, ohne nachzufragen und viele Unschuldige getötet habe. Vampire sind nicht von Grund auf böse. Natürlich gibt es auch unter ihnen schreckliche Kreaturen, aber die gibt es auch unter uns Menschen. Mit meiner Arbeit für Oswald begleiche ich meine Sünden, denn er ist einer von den Guten.“

Oswald einer von den Guten? Ich musste verhindern, dass ich laut auflachte. Wie dumm und naiv konnte man nur sein? Ich hoffte, dass es sich um einen Scherz handelte, aber keiner der beiden lachte. Was den Rest anging, dafür konnte ich sie nicht verurteilen. Ich selbst hatte ja Régine kennengelernt und angefangen zu zweifeln. Wäre ich länger dort gewesen, dann wäre ich vielleicht auch wie sie geworden, allerdings musste man in diesem Zusammenhang auch bedenken, dass Régine tatsächlich eine Ausnahme war. Ganz im Gegensatz zu Oswald. Von ihm hätte ich mich nicht von meinem Weg abbringen lassen. Ich hätte nicht für eine Sekunde an meinem Vampirjägerdasein gezweifelt und ich tat es auch jetzt nicht. Aber bevor ich mich damit wieder befassen konnte, hieß es erst einmal mein eigenes Überleben zu sichern und dafür brauchte ich ihn leider noch. Was wiederum bedeutete, dass ich diese beiden hier nicht zu sehr vor den Kopf stoßen sollte, auch wenn es mir die Eingeweide umdrehte.

„Und um das zu teilen muss ich und freundlich und kommunikativ sein?“, fragte ich trocken und hoffte, dass sie mich endlich in Ruhe lassen würden.

„Nein, aber es würde dir guttun“, meinte Daniel mit einem nachsichtigen Gesichtsausdruck, „Wir sind die einzigen, die dich verstehen. Die wissen, wie hart es ist seine Familie zu verlieren und all seine Freunde, weil sie es einfach nicht begreifen wollen…“

„Ich bin keine heres“, unterbrach ich ihn, als ich begriff, worauf er hinaus wollte.

Natürlich waren diese beiden heres. Wahrscheinlich waren ihre Familien schon seit Jahrhunderten stolze Vampirjäger… und nun musste ihre Familie sie töten, wenn sie wieder aufeinander trafen. Und die Familie würde viel Ansehen in den Augen der Vereinigung verlieren, mit einem abtrünnigen Familienmitglied. Nein, Ansehen verlieren traf es nicht ganz. Die Familie würde in Schande leben, bis das abtrünnige Familienmitglied tot war. Aber meine Gedanken schweiften ab und ich hätte beinahe den überraschten Gesichtsausdruck auf den Gesichtern von Wolfram und Daniel verpasst.

„Also nein, ich halte mich für nichts Besseres. Ich habe nur nichts gemein mit euch.“

„Aber…“, begann Wolfram, „…wenn du keine heres bist, dann müsstest du ja eine famula sein…?“

Er schien die Welt nicht mehr zu verstehen. Ironisch, da er ja glaubte, dass die Vampirjäger im Unrecht und er im Recht wäre. Anscheinend waren in seinen Augen famulus nicht dazu in der Lage diese ‚Wahrheit‘ zu verstehen.

„Und?“, fragte ich unbeeindruckt.

Wolfram war drauf und dran zu sprechen, aber zu meiner großen Überraschung hob Daniel die Hand um ihm Einhalt zu gebieten.

„Ein famulus verlässt die Vampirjägervereinigung nicht“, meinte er schlicht und mit vollkommen veränderter Haltung gegenüber mir.

Er war darauf gefasst, dass ich ihn jeden Moment angreifen würde. Eigentlich gar keine so schlechte Idee. Ich meine, Oswald konnte mir nicht allzu böse sein, ihm waren Menschen doch nichts wert, oder? Allerdings war ein Kampf auf so engem Raum immer ein Risiko… und ich merkte gerade, dass mein Umgang mit Oswald einen schlechten Einfluss auf mich hatte. Ich sollte besser in meiner Rolle bleiben und die beiden abtrünnigen Vampirjäger weiter auf Abstand halten.

„Ja, ich habe diese Logik auch noch nie so verstanden. Ich meine, als heres wächst man damit auf, wie die Vampirjägervereinigung funktioniert. Für mich als famula allerdings, ich hatte schnell die Schnauze voll von dieser ganzen Heimlichtuerei und den Lügen. Als ich keine Ahnung mehr hatte, was wahr war, bin ich einfach davon ausgegangen, dass sie bei allem gelogen haben.“

Es war keine vollkommene Lüge, weshalb sie mir wahrscheinlich so leicht fiel. Ja, ich war kein Fan der Vampirjägervereinigung, aber das bedeutete noch lange nicht, dass ich pro-Vampire war. Hoffentlich fiel ihnen dieses kleine Detail nicht auf.

„Also willst du dich eher an der Vereinigung rächen, als dich für Vampire einzusetzen?“

„Nicht dass es euch etwas angeht, aber wäre das ein Problem für euch?“

Das Gespräch hatte eine überraschende Wendung genommen. Ich hatte mich dazu hinreißen lassen mein Schweigen zu brechen, aber mich interessierte auch wirklich die Antwort auf diese Frage. Wie pingelig waren sie mit ihren Ansichten? Reichte es ihnen, wenn man an ihrer Seite kämpfte oder musste man auch wirklich ihre Ideologie teilen?

„Wir müssen diese Entscheidung Meister Oswald überlassen“, meinte Wolfram mit kalter Stimme.

Das war also die Antwort auf meine Frage, aber was hatte ich auch erwartet? Sie hatten ihr Leben zurückgelassen und alle Brücken eingerissen, nur um Oswald zu dienen. Wäre es besser gewesen, wenn sie keine Probleme mit meiner erlogenen Einstellung gehabt hätten? In meinen Augen schon, denn dann wären sie vielleicht noch zu retten gewesen – nicht hundertprozentig Oswald verschrieben. Allerdings musste ich entscheiden, ob ich etwas mit diesem neuen Wissen tun sollte. Als anständiger Vampirjäger war es eigentlich meine Pflicht sie entweder an ihre Familien auszuliefern oder sie zu töten. Bei der ersten Option allerdings müsste ich dann in Moskau mit der Vampirjägerzentrale Kontakt aufnehmen und wenn Oswald von dieser Aktion erfahren würde, dann wäre er wahrscheinlich nicht mehr so freundlich mich am Leben zu lassen. Aber es gab da ja noch die zweite Option. Diese würde nicht unbedingt meine noch bestehenden Bande zur Vampirjägervereinigung verraten. Ich hatte Vertrauen darin in der Lage zu sein es mit beiden aufzunehmen, wenn auch nicht unbedingt während wir noch in diesem Flieger waren. Allerdings wusste ich nicht, wie mein Gewissen mit so einer Tat klarkommen würde. Ja, sie waren Verräter der übelsten Sorte, aber sie waren immer noch Menschen. Ich hatte noch nie in meinem Leben einen Menschen getötet und ich hatte eigentlich auch nicht vorgehabt heute damit anzufangen.

Kapitel 17 - Qual der Wahl

„Okay“, meinte ich bloß.

Sollten sie doch tun, was sie nicht lassen konnten. Ich hatte wirklich genug davon zu hören, was aus den Mündern dieser beiden kam. Ich hatte mich schon seit einer Weile nicht mehr so sehr wie ein… klassischer Vampirjäger gefühlt dadurch, da ich die ganze Zeit von Vampiren umgeben gewesen war, denen ich auch noch dienen musste. Aber diesen beiden gegenüberzustehen verdeutlichte mir, dass mich diese Zeit keinesfalls verweichlicht hatte. War Eigennutzen ein Motiv hinter dem, was ich vorhatte zu tun? Ein bisschen. Ich wollte nicht, dass sie mit Oswald sprachen. Wer weiß auf was für dumme Ideen sie ihn oder Prisca bringen würden. Momentan lief alles in eine einigermaßen ordentliche Richtung. Ich musste herausfinden was ich war und niemand würde mir Steine auf den Weg dorthin legen, ich hatte schon genügend aus dem Weg geräumt… ich wusste nicht, ob ich tatsächlich eine Seele besaß, aber was ich vorhatte zu tun würde sie auf jeden Fall unwiderrufbar beschmutzen. Nein, ich sollte sie einfach ausliefern. Xia konnte auch die Vampirjägervereinigung informieren. Oswald würde sehr wütend sein, sollte er herausfinden, dass ich meine Hände dabei im Spiel gehabt hatte, aber ich musste einfach darauf vertrauen, dass ich wichtig genug war, dass er mich am Leben ließ.

Ich erhob mich aus meinem Sitz und ging nach vorne, die beiden Abtrünnigen ignorierend.

„Entschuldigung“, meinte ich mit einem zuckersüßen Lächeln zu der Stewardess, „Sie haben doch sicher ein Telefon an Bord.“

„Natürlich“, meinte diese perplex und holte ein Satellitentelefon aus einem der Schränke hervor.

„Danke“, meinte mich und ging in die Toilette hinten im Flugzeug, um in Ruhe telefonieren zu können.

Das Telefon klingelte nur fünfmal, bevor Xia abhob.

„Hey Sam.“

Ich konnte nicht beschreiben, was es in mir auslöste, als ich ihre Stimme wiederhörte. Es brachte so viele Erinnerungen an mein altes Leben auf einen Schlag zurück, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Aber ich musste mich konzentrieren, also riss ich mich zusammen. Wenn das alles vorbei war konnte ich anfangen sentimental zu werden.

„Hey Xia.“

„Was ist los?“

„Bist du schon am Moskauer Flughafen?“

„Ja.“

„Dann müsstest du mir noch einen Gefallen tun.“

„Schieß los“, meinte sie, ohne auch nur einen einzigen Moment zu zögern, dabei wusste sie noch nicht einmal, was ich von ihr wollte.

„Kannst du dich mit der Moskauer Vampirjägerzentrale in Verbindung setzten? Ich bin mit zwei abtrünnigen Jägern unterwegs und ich bringe es nicht über mich mich der Sache selbst anzunehmen.“

„Klar“, meinte Xia bloß und stellte wieder keine weitere Nachfragen, wie warum ich nicht selbst diesen Anruf tätigte.

Warum hatte ich nur so lange gewartet mich mit ihr in Verbindung zu setzten? Ich hatte freiwillig auf einen Teil meiner Familie verzichtet. Diesen Fehler würde ich nicht noch einmal machen.

„Danke.“

„Immer“, meinte Xia schlicht und legte auf.

Ich schloss die Augen und lehnte meinen Kopf zurück gegen die Wand. So einfach war es also den Tod von zwei Menschen zu besiegeln. Natürlich bestand noch eine winzige Chance, dass sie nur eingesperrt wurden, aber war das wirklich besser? Ich verließ das Badezimmer nicht, bis es Zeit für den Landeanflug war. Dann setzte ich mich auf meinen Platz und schwieg. Meine Dadao hatte ich zuvor in eine große Sporttasche gepackt, da sie auf meinem Rücken zu auffällig waren. Die Messer waren aber noch immer da, wo sie hingehörten – sicher war sicher. Und schon war es an der Zeit den Flieger zu verlassen.  Kaum setzte ich einen Fuß vor die Tür, sah ich sie. Eine Gruppe von sechs Vampirjägern, direkt hinter der Glaswand, die das Rollfeld vom Inneren des Flughafens trennte. Warum sie mir so schnell aufgefallen waren? Ich erkannte den blonden Lockenschopf, der zu einer schlanken, hochgewachsenen Frau gehörte, sofort. Für einen Moment stockte mein Schritt, bevor ich zügig weiterlief. Dann drehte sich die Frau endlich um, nachdem einer ihrer Kameraden in meine Richtung genickt hatte. Ihre blauen Augen weiteten sich vor Überraschung und sie trat sofort durch die elektrischen Schiebetüren und kam auf mich zu. Die anderen Vampirjäger folgten ihr hastig.

„Sam“, meinte sie mit einem traurigen Lächeln und fiel mir freudig um den Hals.

Überrascht erwiderte ich ihre Umarmung. So war die Situation nicht geplant gewesen.

„Was machst du denn hier?“, fragte ich perplex, noch immer in Irinas Umarmung gefangen.

„Das gehört zu meinen Aufgaben im Vampirjägerrat. Ich muss sicherstellen, dass die Abtrünnigen unversehrt bleiben, bis zu ihrer Verhandlung.“

Endlich löste Irina die Umarmung.

„Als ich hörte, dass es Oswalds Maschine war, hatte ich schon so ein Gefühl, dass ich dich sehen würde“, meinte sie mit einem schiefen Lächeln.

„Du hast doch nicht Roman erzählt, dass ich hier bin?“, fragte ich skeptisch und Irina schüttelte energisch den Kopf.

„Nein. Unser Vater hat ihn direkt nach Südamerika geschickt, als er zurückkam, damit er etwas Abstand gewinnen kann. Niemand soll ihn dabei stören.“

Ich schenkte ihr ein erleichtertes Lächeln.

„Danke.“

„Weißt du, es hat ihn ziemlich geschafft, als du ihn nicht mehr bei dir haben wolltest.“

„Er hat dir erzählt, was alles passiert ist?“

Irina schüttelte den Kopf.

„Nein, das war Luca. Er hat Roman auch nach Südamerika begleitet.“

Ich schloss für einen Moment die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Dann sah ich Irina wieder in die Augen.

„Sie mussten gehen, es war zu gefährlich. Eines Tages wird er es verstehen.“

„Das hoffe ich doch. In meinen Augen bist du noch immer die Topkandidatin, um meine Schwägerin zu werden.“

Für einen Moment wurden meine Augen groß und Irina tätschelte mir beruhigend meine Schulter.

„Ich erwarte nicht, dass ihr morgen heiratet, aber wenn du deinen Rachefeldzug oder was auch immer beendet hast, solltet  ihr euch wenigstens Aussprechen. Oder ist das zu viel verlangt?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Natürlich nicht.“

Roman hatte ein Recht darauf, dass ich ihm noch einmal erklärte, warum ich ihn so dringend loswerden wollte, dass Luca ihn dafür bewusstlos geschlagen hatte. Was den Rest von Irinas Wünschen betraf… ich hasste es zu sagen, aber Roman war zu sehr heres und ich war zu sehr famula. Ich bezweifelte, dass uns die Zukunft bevorstand, die Irina sich wünschte. Für jetzt aber schenkte ich Irina nur ein kleines Lächeln.

„Okay, zurück zu meiner Arbeit. Wo sind die abtrünnigen Jäger?“

„Noch im Flieger“, meinte ich und deutete auf den Privatjet.

Irina nickte.

„Okay. Wir sollten wahrscheinlich besser warten, bis sie rauskommen. Ich hasse es in beengten Räumen zu kämpfen.“

„Ihr wollt hier kämpfen?“, fragte ich skeptisch und zog eine Augenbraue in die Höhe.

„Keine Sorge, niemand wird uns sehen. Wir haben diesen Teil des Flughafens räumen lassen.“

Irina sagte das, als wäre es nichts, einfach mal den halben Moskauer Flughafen räumen zu lassen. Ich schüttelte den Kopf. Und da hörte ich Schritte auf der Treppe des Fliegers und drehte mich sofort um. Es waren Wolfram und Daniel und ich sah, wie sie am Fuß plötzlich in ihren Bewegungen erstarrten. Irina trat an mir vorbei auf sie zu.

„Wolfram Kast, Daniel Wellinger, im Namen der Vampirjägervereinigung seid ihr unter Arrest für den Bruch eures Schwurs als Vampirjäger und Unterwerfung gegenüber eines Vampirs.“

Die sechs Vampirjäger, die Irina begleiteten, gingen langsam auf die beide zu, die einfach nur fassungslos Irina und mich anstarrten.

„Legt eure Waffen nieder und euch erwartet ein fairer Prozess. Erhebt eure Waffen gegen uns und ihr werdet sterben, hier und jetzt. Die Wahl liegt ganz bei euch.“

Es war das erste Mal, dass ich diese Art von Konfrontation sah. Darius hatte mir davon erzählt. Er selbst hatte ein paar davon gesehen. Allerdings waren es bei ihm jedes Mal Liebespaare gewesen und deshalb die Zusammentreffen… blutig. Konfrontationen im Allgemeinen waren selten aber tatsächliche Gefangennahmen und Verhandlungen… soweit ich wusste, waren diese ohne Probleme auflistbar. Vielleicht, weil jeder wusste, dass es bei der Verhandlung nur zwei mögliche Resultate gab: Tod und lebenslange Haft im Vampirjägergefängnis. Ja, Singular. Denn es gab nur ein einziges Vampirjägergefängnis. Eine winzige Insel mitten im Pazifik, auf der es keine Gesetzte gab. Da war der Tod eine bessere Alternative, denn selbst ich hatte nur Furchtbare Geschichten gehört. Wäre ich in Wolframs und Daniels Position… ich würde mich nicht ergeben. Wieso hatte ich vorher nicht daran gedacht? Wahrscheinlich, weil ich einfach nicht diejenige sein wollte, die alleinig ihren Tod verantwortet hatte. Hier hatten sie wenigstens die Möglichkeit sich zu entscheiden – auch wenn die Wahl keine echte war. Sie hatten sich bereits in dem Moment entschieden, als sie der Vampirjägervereinigung den Rücken gekehrt hatten.

„Das ist also deine Entscheidung?“, fragte Wolfram und blickte mir direkt in die Augen.

Ich erwiderte seinen Blick ausdruckslos.

„Nein, das ist eure Entscheidung. Ich musste nie eine treffen.“

Natürlich verstand er, was ich damit meinte und die Züge um seinen Mund herum wurden hart.

„Das ist es also? Der einzige Grund, warum du zu Oswald gekommen bist, war um uns auszuliefern?!“

Was sollte ich sagen? Die Wahrheit? Oder einem Sterbenden seine Illusion lassen. Außerdem gab es noch sieben weitere Menschen um mich herum, die dieses Spektakel mit verfolgten und die leben würden, um meine Worte weiterzugeben, also musste ich sie sorgfältig wählen. Auch wenn ich darauf vertraute, dass Irina den Mund halten konnte, so kannte ich doch die restlichen sechs nicht.

„Nein“, entschloss ich mich die Wahrheit zu sagen und schüttelte den Kopf, „es tut mir leid, aber ihr seid einfach nur jemand, der zur falschen Zeit am falschen Ort war.“

„Oswald wird davon erfahren!“, rief Daniel wütend und ich wandte ihm meinen traurigen Blick zu.

„Und was glaubt ihr wird er tun? Etwa zu eurer Rettung eilen?“

Wenn sie wenigstens noch begreifen würden, was für einen Fehler sie begangen hatten… Das würde mir helfen.

„Nein, natürlich nicht“, zischte Wolfram.

„Tränen über euren Fortgang vergießen?“

„Er ist dich die Art Mensch, die…“

„Exakt“, unterbrach ich ihn, „er ist kein Mensch, er ist ein Vampir und für ihn seid ihr nichts anderes als niedere Schachfiguren, Bauern. Nicht da, um das Ende des Spiels zu sehen, sondern nur um den Weg freizuräumen, egal zu welchem Preis.“

Ein wütender Schrei entfuhr Wolframs Kehle und er stürzte sich vor, auf mich zu. Ich konnte nicht sagen, dass ich überrascht war, weshalb ich auch den Reisverschluss meiner Tasche offen gelassen hatte. Ich zog meine Dadao und ging in Kampfhaltung. Sein Anderthalbhänder schlug hart gegen meine Dadao, die ich vor meiner Brust gekreuzt hatte. Hart, aber nicht hart genug, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen, obwohl er mit seiner ganzen Kraft und Anlauf darauf angewandt hatte und ich sah Angst in seinem Gesicht aufblitzen. Ich hingegen fühlte mich nur traurig. Ich hatte gehofft, dass er wieder zu sich kommen, dass er begreifen würde, dass Oswald kein Heiliger war. Stattdessen hatte Wolfram beschlossen für Oswalds Ehre zu kämpfen. Wie es schien war er nicht mehr zu retten.

Mit dem vorderen Dadao schlug ich ihm seinen Anderthalbhänder aus den Händen, es war viel zu einfach. Wolfram starrte mich einfach fassungslos an und trat voller Angst einen Schritt zurück.

„W… was bist du?“, fragte er mit zittriger Stimme.

Zwei der anderen Vampirjäger kämpften mit Daniel, der Rest stand in einer Art Kreis um uns herum und beobachtete und hörte genau, was wir taten und sagten, also musste ich meine Worte mit Bedacht wählen. Ich trat einen Schritt näher an den jetzt unbewaffneten Wolfram heran, die Spitzen meiner Dadao in Richtung Boden gerichtet.

„Dasselbe, was du einmal warst: Ein Vampirjäger.“

Es war… komisch. Wenn ich mit Vampiren kämpfte, dann waren sie niemals wehrlos, hatten niemals Angst vor mir. Aber wie Wolfram jetzt so vor mir zurückwich und mich ansah, als wäre ich der Tod… ich wusste nicht, ob ich es über mich bringen würde ihn zu töten… nein, es fühlte sich mehr an wie ermorden. Ich hörte den Schuss, aber ich hatte keine Zeit mehr mich rechtzeitig umzudrehen und den Schützen zu identifizieren.

Kapitel 18 - Haru

~Tomomi~

Geschmolzener Schnee tropfte von den ersten Knospen, die dem doch noch sehr kalten Wetter zum Trotz bereits erblüht waren. Tomomis Mutter schenkte ihnen keine Beachtung und stapfte weiter in Richtung des Tempels. Dort, am Fuße der Eingangstreppe, war die einzige Blume gepflanzt, die sie interessierte. Die Menschen hier nannten sie einfach nur Haru, denn wenn sie erblühte, dann war der Winter zu Ende und damit die Zeit der Prüfung gekommen. Sie hätte auch darauf warten können, dass die Mönche zu ihr kamen, aber Tomomis Mutter konnte einfach nicht länger zuhause sitzen und abwarten. Es war noch früh, die Sonne lugte noch nicht über dem Horizont hervor, aber das erste Tageslicht erhellte bereits die Welt um sie herum. Ihre Schritte wurden schneller. Bald würden auch die Mönche nach ihrem ersten Gebet vor den Tempel gehen und nach der Blume sehen. Tomomis Mutter wollte vor ihnen einen Blick erhaschen. Einfach vor ihnen wissen, ob heute der Tag war. Sie erklomm den Hügel und erblickte die Blume, als sich die Sonne endlich über den Horizont schob. Diese kleine, feine zarte Blume, die es trotz allem schaffte den Wintern zu trotzen, lag nun nur noch wenige Schritte vor ihr in einem reich verzierten Steinkreis. Ihr Stiel war dünner als ein Finger und ragte blattlos ungefähr bis zu ihrem Knie auf. Dann, direkt unterhalb der Knospe, befand sich ein Kreis aus grünen, beinahe transparenten Blättern, die annähernd rechteckig waren. Und die Knospe, die alle Farbschattierungen von Feuer in sich trug, war geöffnet. Ergeben fiel Tomomis Mutter vor dem Steinkreis auf die Knie. Der Tag war gekommen.

Bevor die Mönche auch nur aus dem Tempel kommen konnten sprang sie auf und rannte davon.

 

Tomomi saß mit ihrem Vater vorm Haus und sah ihm dabei zu, wie er einen Sikahirsch häutete, als plötzlich einer der Mönche vor ihnen stand. Sofort ließ ihr Vater seine Arbeitsgeräte fallen und verneigte sich.

„Mönch, was verschafft uns die Ehre?“

Der kleine Mönch schenkte ihm ein ehrliches Lächeln.

„Haru ist erblüht.“

Für einen Moment rührte sich Tomomis Vater nicht, dann nickte er, putzte sich die blutverschmierten Hände an einem Tuch ab und hob seine Tochter von der Bank.

„Es ist so weit meine Kleine“, meinte er mit einem eingefrorenen Lächeln und strich ihr das Haar aus dem Gesicht, „der Tag deiner großen Prüfung ist gekommen.“

„Ja“, meinte sie gelassen und nahm ihren Vater bei der Hand.

Mit einem schmerzerfüllten Ausdruck im Gesicht löste er sich wieder von ihr.

„Es tut mir leid Tomomi, aber ich kann leider nicht mitkommen.“

„Wieso?“, fragte Tomomi verwirrt.

„Weil du dich bei der Prüfung sehr konzentrieren musst, weshalb nur du und die Mönche anwesend sein werdet.“

„Oh“, meinte sie nur und wandte sich dem Mönch zu, „ich bin fertig.“

Der Mönch schmunzelte.

„Dann können wir ja gehen Tomomi. Keine Sorge, ich werde Ihnen Ihre Tochter wohlbehalten zurückbringen.“

Etwas in Tomomis Vaters Kopf flüsterte ihm zu, dass der Mönch sein Versprechen nicht würde halten können.

 

Als sie durch das Dorf liefen standen überall die Leute vor den Häusern und starrten sie an. Tomomi wurde nervös und versuchte alles, um es sich nicht anmerken zu lassen.

„Ganz ruhig Kind, sie fragen sich nur, ob du wohl die Nächste sein könntest, die ihm auf seine Position folgt.“

„Es ist gruselig“, war alles, was Tomomi darauf einfiel  und der Mönch lachte ein stummes Lachen.

„Da hast du wohl recht.“

„Bin ich eigentlich die Einzige?“

„Ja, dieses Jahr bist du die Einzige, die getestet wird.“

„Hmmm“, machte Tomomi, „und was mache ich dann heute?“

„Das darf ich dir vorher nicht sagen.“

„Warum?“

„Weil es uns wichtig ist zu sehen, wie du reagierst.“

„Oh, ich verstehe“, meinte die Kleine und der Mönch lächelte wieder.

„Keine Sorge, dir wird nichts passieren.“

„Versprochen?“, fragte Tomomi und blickte dem Mönch fest in die Augen.

„Versprochen“, meinte dieser mit feierlicher Stimme.

Und da waren sie auch schon am Tempel angekommen. Es würde das erste Mal sein, dass Tomomi ihn betrat und sie war furchtbar aufgeregt. Sie waren gerade am Fuß der Treppe angekommen, als sich die großen Tore öffneten. Tomomis Augen wurden groß, während sie die Treppen hinaufstieg und schließlich die karge Steineingangshalle betrat. Es herrschte ein diffuses, dämmriges Licht, in dem Tomomi das Ende des Raumes nicht sehen konnte und ängstlich suchte sie nach der Hand des Mönches – und griff ins Leere. Dann schlug plötzlich das Tor mit einem lauten Knall zu und Tomomi fuhr überrascht zusammen. Tränen sammelten sich in ihren kleinen Äugelein, während sie vorsichtig weiter in den nun fast vollkommen dunklen Raum hineinschritt.

„Hallo?“, flüsterte sie mit brüchiger Stimme, „ist da noch jemand?“

Eine Fackel flackerte am Ende des Raumes auf und beleuchtete eine Tür. Zögerlich lief Tomomi darauf zu und betrachte sie für einen Moment. Dann drückte sie dagegen, doch die Tür bewegte sich nicht. Tränen flossen ihr über die Wangen, während sie sich nun mit ihrem ganzen kleinen Körper gegen die Türe lehne.

„Bitte“, wimmerte sie gegen das Holz, „bitte, Herr Mönch, helfen Sie mir!“

Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, da gab die Tür auch schon nach und sie fiel quiekend in einen Innenhof. Dabei schürfte sie sich an dem Steinboden ihre Handballen auf. Tomomi schluchzte.

„Mami!!“, wimmerte sie und war so abgelenkt, dass sie nicht hörte, wie sich eine andere Tür öffnete.

Erst als sie hörte, wie etwas über den Steinboden schliff, hob Tomomi den Kopf. Mit dem Ärmel wischte sie ihre Tränen fort um besser sehen zu können, nur um in die Augen eines Tigers zu blicken. Es waren seine ausgefahrenen Krallen gewesen, die das Geräusch verursacht hatten. Tomomis Herzschlag begann zu galoppieren vor Angst. Ihr Vater hatte ihr immer gesagt, wie gefährlich diese Tiere waren. Sie wollte weglaufen, aber ihre Beine waren wie festgefroren. Sie konnte sich nicht von der Stelle rühren und starrte den Tiger einfach weiter an. Und je länger sie ihn so anblickte, desto ruhiger wurde sie. Schließlich stoppten sogar ihre Tränen und sie schaffte aufzustehen. Als sie sich dabei auf ihre verletzten Handflächen aufstützte, wimmerte sie auf. Das Geräusch riss den Tiger aus seiner Starre und er stürzte vor – nur um mitten in der Bewegung wieder zurückgerissen zu werden. Dann war der Raum plötzlich voll mit Mönchen, die den Tiger zurückdrängten und eine beruhigende Hand legte sich auf Tomomis Schulter. Als sie sich umblickte, war es der kleine Mönch von zuvor.

„Du hast dich wirklich gut geschlagen“, meinte er.

„Aber er hat mich angegriffen.“

„Nicht sofort.“

Der Mönch sagte es in einem ehrfurchtsvollen Tonfall und Tomomi sah ihn verwirrt an.

„Dieser Tiger hat einen Monat lang gehungert in Vorbereitung auf den heutigen Tag“, erklärte der Mönch ihr, „und trotz seines großen Hungers hat er dich nicht sofort angefallen. Er hat erkannt, dass du zu höherem bestimmt bist.“

Tomomi schüttelte den Kopf.

„Ich will jetzt nachhause“, meinte sie und umschlang mit ihren Armen ihre Brust.

Ein entschuldigendes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Mönches.

„Tomomi, der Tiger hat dich als außergewöhnlich anerkannt. Das letzte Mal, dass ein heiliger Tiger das getan hat, war bei ihm. Es ist dir vorherbestimmt seinen Platz einzunehmen.“

Wieder traten Tomomi Tränen in die Augen.

„Ich will zu meiner Mami“, schluchzte sie.

Der Ausdruck des Mönches wurde hart.

„Tomomi“, meinte er mit ernster Stimme, „du wurdest auserwählt. Diese Aufgabe, nicht jeder kann sie übernehmen und er hat schon so lange auf jemanden gewartet, der ihn ablöst. Hasst du ihn etwa?“

Hastig schüttelte Tomomi den Kopf, wie man es ihr eingeschärft hatte.

„Willst du, dass deine Eltern ein angenehmes Leben führen können?“

Sie nickte.

„Dann nimm dein Schicksal an. Folge ihm auf seinen Platz.“

Kapitel 19 - Die Philosophie der Jagd

~Sam~

Die Kugel bohrte sich durch Wolframs Stirn, ohne dass ich es verhindern konnte. Ein zweiter Schuss, noch bevor ich mich umdrehen konnte. Ich musste es nicht sehen, um zu wissen, dass die Kugel Daniel getroffen hatte. Dann hatte ich endlich den Kopf gedreht und sah den Schützen.

„Hallo Sam“, meinte Xia mit einem feinen Lächeln und steckte ihre Pistole zurück in den Halfter unter ihrer Jacke.

Für einen Moment war ich wie erstarrt. Die Situation war zu surreal, ich konnte es einfach nicht ganz umreißen. Sie sah anders aus. Die roten Strähnen waren aus ihrem glatten, schwarzen Haar verschwunden, in einen schulterlangen Bob geschnitten. Ihr Gesicht war schmaler geworden, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte, aber der Blick ihrer fast schwarzen Augen hatte nichts an seiner Intensität verloren und ein Schauer lief mir über den Rücken, als sie mich so musterte. Es war Irina, die mich aus meinen Gedanken riss.

„Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“, fragte Irina, die noch immer nicht ganz ihre Kampfhaltung aufgegeben hatte, genauso wie die anderen Vampirjäger.

Nicht dass sie irgendeine Chance gegen eine Pistole gehabt hätten.

„Xia Li, Mitglied des China-Zweigs der Vampirjägervereinigung“, meinte Xia lässig, öffnete den obersten Kopf ihrer Hose und zog sie an der rechten Seite herunter, damit man das Tattoo auf ihrer Hüfte sehen konnte.

Vom Stil her war es wie meines angelegt, allerdings sahen die Schriftzeichen anders aus und es waren keine Punkte um es herum angelegt.

„China?“

Irina schien verwirrt.

„Was haben Sie dann hier zu suchen?“

„Sie ist hier, weil ich sie darum gebeten habe“, mischte ich mich nun endlich in die Unterhaltung ein.

Irina musterte mich skeptisch.

„Ich kenne sie von zuhause“, erklärte ich weiter und Irinas Gesichtsausdruck glättete sich etwas, wenn auch nur wenig.

„Es ist nur selten Mitglieder des China-Zweiges hier in Europa zu sehen“, meinte Irina ominös.

Ich zog die Stirn kraus. Um mich herum hatten sich die anderen Vampirjäger bereits daran gemacht die beiden abtrünnigen Vampirjäger in Leichensäcke zu stecken und die Blutflecken zu entfernen. Ich wandte den Blick ab.

„Warum?“, fragte ich nach, doch es war nicht Irina, die mir antwortete.

„Weil wir eine andere Jagdphilosophie vertreten“, kam ihr Xia zuvor und zog ihre Jacke zur Seite, um nochmal ihren Pistolenhalfter zu zeigen.

Irinas Ausdruck verhärtete sich wieder.

„Eine um einiges gefährlichere Philosophie.“

Ich war verwirrt. Xia hatte angedeutet, dass sie Schusswaffen für die Jagd benutzten. Das einzige Problem, das ich damit hatte, war, dass man mir gesagt hatte, dass die Projektile nicht die Haut der Vampire durchdringen konnten. Klar, es hatte sich schon immer etwas bizarr angehört, allerdings hatte ich auch nicht gedacht, dass man mich bei sowas belügen würde. Anscheinend hatte ich mal wieder falsch gelegen. Wieso wunderte mich das überhaupt noch?

Xia seufzte schwer.

„Das ist eure Meinung. Allerdings erzählen die Vampirzahlen eine andere Geschichte.“

„Moment!“, mischte ich mich ein und hob die Hand.

Das musste ich jetzt klären, nicht dass ich hier etwas missverstanden hatte. Die beiden wandten mir ihren Blick zu.

„Ich dachte Schusswaffen wären wirkungslos gegen Vampire, weil sie nicht durch die Haut dringen können.“

Xia zog ein Magazin aus ihrer Gesäßtasche und warf es mir zu. Überrascht fing ich es auf.

„Sieh dir die Patronen an.“

Ich tat, wie sie sagte und nahm mir eine der Patronen aus dem Magazin. Sofort sah ich den Unterschied: Der Kopf der Patrone verjüngte sich nach vorne hin zu einer hauchfeinen Spitze und erinnerte mich damit an den Assassinendolch, da ich auch hier das Ende der Spitze nur im richtigen Licht sehen konnte. Ja, eigentlich war diese Lösung logisch. Ich warf Irina einen fragenden Blick zu.

„Warum verwenden wir keine Pistolen?“, stellte ich ihr diese berechtigte Frage.

„Es gibt ungeschriebene Regeln“, antwortete sie mir, sah dabei aber Xia an, „an die sich beide Seiten halten.“

Xia schnalzte abschätzig mit der Zunge.

„Es hat nichts mit ungeschriebenen Regeln zu tun, dass die Vampire keine Schusswaffen verwenden und alles mit ihrem Ego und ihrem Stolz in ihre vampirische Existenz. Wenn ihr weiter sterben wollt wie die Fliegen mit euren mittelalterlichen Kampfmethoden, bitte, aber ihr könnt uns nicht dazu zwingen dasselbe zu tun. Uns ist nämlich das Leben eines Jägers noch etwas wert.“

Ich spürte, dass die Stimmung am Kippen war. Auch wenn die anderen Jäger nicht aktiv mitzuhören schienen, so war ich mir sicher, dass auch sie inzwischen bemerkt haben mussten, dass hier etwas gewaltig nicht stimmte. Wahrscheinlich wussten sie auch schon um was es ging, schließlich hatten sie auch Xias andere Tätowierung gesehen, von der ich mir jetzt sicher war, dass sie einfach auf Chinesisch anstelle von Japanisch war.

„Fakt ist aber, dass du ich gerade auf europäischem Boden befindest“, meinte Irina und ich sah deutlich, wie sehr sie sich zusammennehmen musste, um nicht auf Xias letzten Kommentar einzugehen.

„Auch das ist Definitionssache“, sagte Xia schlicht und Irinas Hand ballte sich zu einer Faust, „aber das ist ein Thema für ein anderes Gespräch.“

Sie wandte sich von Irina ab und kam auf mich zu.

„Das hätte ich beinahe vergessen“, meinte Xia und umarmte mich fest.

Xia hatte ungefähr meine Größe, weshalb ich meinen Kopf auf ihre Schulter legen konnte, während ich die Umarmung erwiderte, und schloss für einen Augenblick die Augen. Im Moment war es das nächste zu nachhause zu kommen für mich und ich genoss den Augenblick. Xia hob eine Hand und strich mir sanft übers Haar, bevor sie die Umarmung schließlich wieder löste.

„Es ist schön dich wiederzusehen, Sam. Es ist zu lange her.“

Ich schenkte ihr ein glückliches Lächeln.

„Viel zu lang. Ich muss zugeben, ich habe länger gebrauch zu begreifen, dass deine Familie auch Jäger sind, als man guten Gewissens sagen kann.“

Xia lächelte schief.

„Wir haben uns auch die größte Mühe gegeben es vor dir geheim zu halten.“

Einer der Vampirjäger trat an unsere Dreierrunde heran.

„Wir wären dann fertig, Mrs Kosloff.“

Irina nickte.

„Danke Ivan.“

Dann wandte sie ihren Blick wieder mir zu.

„Meine Aufgabe hier ist erledigt. Wie lange wirst du in Moskau bleiben Sam?“

„Sobald ich meinen Auftrag erledigt habe bin ich wieder weg.“

Irina warf Xia einen Seitenblick zu. Dann seufzte sie schwer und zog eine Karte aus der Innentasche ihrer Jacke, die sie mir reichte. Etwas überrascht nahm ich sie entgegen. Auf ihr stand nur eine Nummer, sonst nichts.

„Ruf diese Nummer an, falls ihr in Schwierigkeiten geraten solltet, egal ob in Moskau oder anderswo. Oder einfach, falls du doch noch mehr Unterstützung möchtest.“

„Wen erreiche ich damit?“, fragte ich mit krauser Stirn.

„Einen perekupshchik.“

„Einen was?“

Was sollte denn das schon wieder heißen?

„Das heißt Mittelsmann. Normalerweise ruft man ihn an, wenn man will, dass Dinge geschehen, aber seine Verbindungen sind auch von Vorteil, wenn man einfach nur Hilfe bracht.“

„Und er weiß darüber Bescheid was wir hier tun?“

„Menschen wie er sind der Grund, dass es der Rest der Welt nicht weiß.“

Ich nickte und steckte die Karte ein.

„Sollte ich etwas im Umgang mit dieser Person beachten?“, fragte ich, einem inneren Unwohlsein in mir folgend.

„Regle die Bezahlung unbedingt bevor er etwas für dich tut.“

„Wird es sonst sehr teuer?“

„Nicht geldtechnisch. Du schuldest ihm dann einen Gefallen und der kann dich viel mehr kosten als ein paar Scheine.“

Ich nickte.

„Danke“, meinte ich und machte mir eine innerliche Notiz diese Nummer nie zu wählen.

Weg warf ich sie aber trotzdem nicht – man sollte das Schicksal nicht herausfordern.

„Okay“, meinte Irina und schenkte mir ein schwaches Lächeln, „ich muss dann auch los, tschüss Sam. Und pass auf dich auf.“

Irina umarmte mich kurz und war dann auch schon auf ihrem Weg. Ich sah ihr nach, bis sie im Flughafengebäude verschwunden war. Als ich mich wieder Xia zuwandte, fiel mir etwas ein und mein Blick zuckte mit schockgeweiteten Augen zum Flugzeug.

„Das menschliche Personal!“

Wie hatte ich sie nur vergessen können. Zu meiner Verwunderung legte mir Xia beruhigend eine Hand auf die Schulter.

„Mach dir keine Sorgen. Ich bin mir sicher sie arbeiten schon lange genug für Oswald, um zu wissen, dass sie eine solche Situation ignorieren sollten.“

„Bist du dir da sicher?“, fragte ich skeptisch.

Xia nickte.

„Ja, schließlich war es nicht ihr Boss, den du angegriffen hast. Und solche Leute wie das Personal von Fliegern machen diese Jobs meistens sowieso nur wegen dem Geld.“

„Sie wollen also keine Vampire werden?“, fragte ich mit hochgezogener Augenbraue.

„Nein, aber ein fünfstelliges monatliches Gehalt lässt so manchen über die Absonderlichkeiten seines Arbeitgebers hinwegsehen.“

Es war bizarr, aber wenigstens stellten sie kein Problem dar und das war im Moment gut genug für mich. Mir hatte es gereicht, dass Wolfram und Daniel heute hatten sterben müssen. Die Tatsache, dass das Flugpersonal auch nicht während des Kampfes aus dem Flieger gekommen, die Tür noch offen und kein sonstiges Personal gerufen wurde, bestätigte Xias Theorie. Ich war einfach nur erleichtert und schulterte die Tasche mit meinen Dadao.

„Also ich wäre dann soweit“, meinte ich und ließ meine Schultern kurz kreisen, „suchen wir uns ein Hotel, wo ich dir alles Genauere erklären kann.“

„Ich habe bereits in einem direkt hier am Flughafen eingecheckt.“

Das war umsichtig von Xia gewesen.

„Na dann los“, sagte ich und wir setzten uns in Bewegung.

Dann stockte ich. Mist, natürlich vergaß ich immer etwas.

„Müssen wir eigentlich durch eine Sicherheitsschläuse?“

„Keine Sorge“, meinte Xia und zog einen Zettel aus ihrer Jackentasche, „ich hab eine Waffengenehmigung. Du solltest dir auch dringend eine zulegen. Man kann sich nicht immer darauf verlassen, dass man Sicherheitspersonal kennt oder bestechen kann.“

„Das mache ich. Sobald das alles hier vorbei ist.“

 

Kapitel 20 - Die Vereinigung

Es war komisch und vertraut zugleich mit Xia auf einem der Betten in unserem Zimmer im Schneidersitz zu sitzen. Sie war ein Einzelkind und hatte sich immer eine kleine Schwester gewünscht – zumindest hatte sie das zu mir gesagt – und als sie mit Tom zusammenkam, hatte sie mir diese Rolle zugeteilt. Und dann starben Tom und der Rest meiner Familie…

„Arbeitest du oder jagst du nur?“

„Ich bin Assistenzärztin in der Neurochirurgie.“

„Und dann hast du noch Zeit zum Jagen?“

„Kaum. Aber ich erfülle meine Quote.“

„Quote?“

Ich war verwirrt. Davon hatte ich ja noch nie etwas gehört.

„Keine Sorge, du hast nichts verpasst“, meinte Xia beruhigend, „das ist eine Sache des China-Zweiges. Je nach Fähigkeit, Alter, Beruf und Wohnort bekommen wir eine Quote an Vampiren zugeteilt, die wir töten sollten – damit wir unsere Aufgabe nicht schleifen lassen. Wir glauben auch nicht an eure westliche heres und famulus-Aufteilung. Unserer Meinung nach bringt so etwas nur Probleme.“

„Und wie regelt ihr dann die Sicherheitsstufen?“, fragte ich neugierig.

„Nach einem System, das nicht tausende Jahre alt ist. Egal ob man in eine Jägerfamilie geboren wird oder nicht und von dort aus schon Unterricht erhalten hat, man muss eine zweijährige Ausbildung in unserem Hauptquartier ablegen. Davor gibt es natürlich einen Vergangenheitscheck, den man auf Unbedenklichkeit bestehen muss. Während der Ausbildung wird nicht nur körperliche Fähigkeit sondern auch mentale Stabilität getestet. Am Ende werden einem dann entsprechend der Ergebnisse Aufgaben zugewiesen. Die dafür notwendigen Informationen bekommt man dann. Alle notwendigen Informationen und außerdem wo man, wenn nötig, andere Informationen finden kann. Einmal pro Jahr darf man eine Prüfung ablegen, wenn man seinen Arbeitsbereich wechseln will. Darin hinein zählen aber auch die Leistungen, die man im vergangenen Jahr erbracht hat – das wäre in meinem Fall zum Beispiel auch die Erfüllung meiner Quote. Es ist eine klare Hierarchie, in der man sich hocharbeiten kann, egal ob Jägerfamilie oder nicht.“

„Das klingt auf jeden Fall um einiges leichter als die Strukturierung der Vampirjägervereinigung hier.“

„Die westliche Jägervereinigung hat keine Struktur. Deshalb haben wir uns nie ganz mit ihr zusammengeschlossen.“

„Seid ihr nicht aus der westlichen Vampirjägervereinigung entstanden?“, fragte ich überrascht.

Xia schmunzelte amüsiert.

„Was glaubst du haben wir die aberhunderte von Jahren mit unseren Vampiren getan, bevor die Europäer nach Asien gekommen sind? Tee getrunken? Nein, wir haben uns eigenständig entwickelt. Im Laufe der Globalisierung sind die beiden Vereinigungen aufeinandergetroffen und haben sich offiziell zusammengeschlossen, um den Informationsaustausch zu begünstigen. Allerdings fanden wir eure Herangehensweise an die Jagd… tut mir leid: einfach dämlich. Ich finde kein anders Wort. Deshalb existiert der Zusammenschluss eigentlich nur auf dem Papier, besonders da die Vampire nur selten ihre Lokalitäten von Europa nach Asien oder umgekehrt verlagern – sie verlassen nicht gerne ihren Kulturraum.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Ich hatte mich schon gewundert, wie alle Jäger der Meinung sein konnten, dass wie wir es handhaben, die beste Art und Weise ist.“

Xia schmunzelte.

„Ja, wir haben relativ viele Zuläufer.“

„Es gibt also Jäger, die die Vereinigung wechseln?“

„Nun, streng genommen ziehen sie einfach um und fallen damit dann in unseren Einzugsbereich. Wir mischen uns hier bei euch nicht ein – das würde einfach für zu viele Probleme sorgen und uns von unserer eigentlichen Aufgabe abhalten.“

„Aber du hast am Flughafen eine Pistole benutzt… und du jagst doch auch in Nordamerika…“

Ich war verwirrt und Xia tätschelte mir lächelnd die Schulter.

„Am Flughafen habe ich Menschen erschossen, keine Vampire. Das ist eine Grauzone. Und was meine Jagdpraktiken in Amerika angeht, selber Fall. Denn wenn auch Nordamerika hauptsächlich von Europäern besiedelt wurde, so muss sich die Vereinigung auch hier an die Regeln der Einheimischen halten. Und die Indianer haben gesagt ihnen ist es egal. Da ihre Zahl aber aufgrund verschiedener Gründe stark dezimiert wurde und sie sich selbst nicht für die Vampirjagd interessieren, hat eigentlich die westliche Vampirjägervereinigung ganz Amerika unter ihr System gestellt – inoffiziell. Und das ist das kleine, entscheidende Wort, weshalb ich dort jagen darf wie ich will. Aus Respekt behalten wir aber dieses kleine Detail für uns.“

Schön, dass ich das auch mal erfuhr. Aber eine Sache, die Xia gesagt hatte, verwunderte mich.

„Wieso interessieren sich die Indianer nicht für die Vampirjagd?“

„Sie haben eine etwas andere Einstellung gegenüber Vampiren. Die Indianer betrachten die Existenz von Vampiren nicht als… unnatürlich. Sie glauben, dass sie zu unserer Welt gehören, wie jedes andere existierende Lebewesen.“

Ich zog skeptisch eine Augenbraue in die Höhe und Xia hob abwehrend ihre Hände in die Höhe.

„Hey, nicht meine Meinung. Damit stehen die Indianer alleine da.“

„Wie kommen sie auf diese Idee?“

Ein freudloses Lächeln erschien auf Xias Gesicht.

„Auf diese Frage antworten sie immer nur mit einer Gegenfrage: Wie sind Vampire entstanden?“

Ich öffnete den Mund um eine Antwort zu geben, schloss ihn dann aber wieder unverrichteter Dinge. Dann wandte ich Xia meinen fragenden Blick zu. Die zuckte nur mit den Schultern.

„Ich dachte zuerst an die Verwandlung, aber das meinen die Indianer damit nicht, hab ich Recht?“

Xia nickte.

„Sie wollen mit dieser Frage eigentlich wissen, warum diese Verwandlung überhaupt stattfindet, warum Vampire überhaupt entstehen können.“

Es war nicht so, dass mir diese Frage noch nie durch den Kopf gegangen war, aber ich hatte sie nie festgehalten, um weiter darüber nachzudenken. Und das aus gutem Grund. Solche Gedanken ließen einen nur zögern und in dem Leben eines Jägers bedeutete Zögern nur allzu oft Tod.

„Wieso lassen sie uns dann überhaupt Jagd auf Vampire machen?“

„Für sie ist es einfach nur ein Krieg zwischen zwei Völkern, in den sie sich nicht weiter einmischen. Und sie erkennen an, dass wir Vampire töten, von denen wir wissen, dass sie einen Menschen getötet haben.“

„Sie behandeln sie also wie Menschen?“, fragte ich mit hochgezogener Augenbraue.

„Menschen: ja. Einer von ihnen: nein. Soweit ich weiß dulden sie keine Vampire in ihren Reservaten.“

Das ergab keinen Sinn und das sagte ich Xia auch.

„Nun, streng genommen wollen sie uns ja auch nicht in ihren Reservaten, von daher sehe ich darin keinen Widerspruch zu ihren Ansichten.“

„Mich würde interessieren, ob Vampire schon vorher in Amerika gewesen waren, oder ob sie tatsächlich erst mit uns dorthin gekommen sind.“

Xia zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung.“

„Haben die Vereinigungen sie das nicht gefragt?“

„Ziemlich sicher sogar, aber das ist tatsächlich eine Frage, die ich mir sonderlicherweise noch nie gestellt habe und deshalb auch noch nie um eine Antwort darauf gebeten habe. Aber ich bezweifle, dass sie Vampire für natürlich gehalten hätten, wenn erst die Europäer sie zu ihnen gebracht hätten.“

Xias Antwort ergab Sinn. Aber wenn sie tatsächlich Vampire schon vorher gekannt hatten, dann hätten sie doch eigentlich auch eine Art Jägervereinigung gründen müssen, oder? Überall sonst war es geschehen, wieso nicht in Amerika… wobei?

„Wie ist es eigentlich mit Südamerika?“

„Es ist gleich in ganz Amerika, keine Differenzierungen in Nord, Meso oder Süd. Alle Ureinwohner glauben, dass Vampire natürliche Wesen sind, wobei aber über die Jahrhunderte trotzdem einige zu der Überzeugung gelangt sind, dass ihre Spezies zumindest in Schach gehalten werden sollte.“

Ich schüttelte den Kopf und stütze mich zurück auf meine Hände.

„Faszinierend, wie ich eine nordamerikanische Vampirjägerin bin und das alles zum ersten Mal höre.“

„Von uns wissen das auch nicht allzu viele, wenn dich das beruhigt. Die zweijährige Ausbildung ist sehr praxisorientiert. Nur wenige raffen sich danach noch zu einem Kurs in Vereinigungsgeschichte auf – ganz zu schweigen von einem Kurs zur Geschichte anderer Vereinigungen. Ich selbst hab das auch nicht getan und weiß nur ein paar allgemeine Sachen von meinem Vater. Er hat ein gewisses Interesse an der Geschichte entwickelt, nachdem er als untauglich für die Jagd befunden wurde.“

Ich war zwar noch interessiert an den Einstellungen der Indianer, aber ich musste an dieser Stelle doch eine Zwischenfrage einwerfen.

„Untauglich?“

„Wie gesagt, wir haben nicht heres und famulus, also keine Gruppen, für die es entweder ein Job oder eine Lebensaufgabe ist. Ab 40 werden bei einem aktiven Jäger jedes Jahr seine Reflexe und seine Kraft getestet. Erfüllt man die Mindestanforderungen nicht mehr, wird man aus dem aktiven Dienst zurückgestellt und die Vereinigung gibt einem andere Aufgaben. Meinem Vater ist das mit 46 passiert, worauf er wirklich stolz sein kann, die meisten werden direkt mit 40 aussortiert und dann in der Ausbildung eingesetzt.“

„Und was macht dein Vater jetzt?“

„Analysiert die Entwicklung der westlichen Vampirjägervereinigung im Vergleich zum China-Zweig auf nordamerikanischem Boden. Deshalb sind wir auch in die USA gezogen.“

„Wow“, war alles, was mir dazu einfiel.

Xia schmunzelte.

„Mein Vater hat ursprünglich einmal Nordamerikanische Geschichte studiert in Harvard, deshalb hat es sich angeboten.“

Ich hatte gewusst, dass Mr Li in den USA studiert hatte, aber das war eine neue Information für mich. Ich war beeindruckt.

„Also weiß dein Vater wahrscheinlich auch, ob es schon vorher Vampire dort gegeben hat.“

Xia nickte und zog ihr Handy hervor. Das hatte ich eigentlich nicht mit meinem Kommentar bewirken wollen, aber ich nahm es dankend an.

„Hey Dad.“

„Ja, ich bin gut angekommen, keine Komplikationen, aber ich hätte da mal eine Frage an dich: Sag mal, haben eigentlich erst die Europäer Vampire nach Amerika gebracht oder gab es die da vorher schon?“

„Das ist einfach nur eine Frage Dad“, meinte Xia und seufzte.

… … …

„Okay, danke. Ich meld‘ mich dann wieder. Bye.“

„Und?“, fragte ich neugierig, nachdem sie aufgelegt hatte.

„Mein Vater meinte, dass die Indianer an sich wussten, was ein Vampir war, aber nur aus überlieferten Erzählungen.“

Ich runzelte die Stirn.

„Das ist komisch.“

„Nicht das Wort, das ich verwenden würde, aber okay.“

„Welches Wort würdest du denn verwenden?“

„Grauenhaft.“

Das fand ich nun doch etwas extrem?

„Wieso ein so starkes Wort?

„Weil die Vampire in Amerika anscheinend ausgestorben waren und die Siedler sie wieder zurückgebracht haben.“

Kapitel 21 - Pläneschmieden

Ich schüttelte den Kopf.

„Das ergibt keinen Sinn. Wie sollen die Vampire denn bitte dort ausgestorben sein?“

„Wer weiß, vielleicht hatten die Menschen früher bessere Methoden sie zu töten, aber allzu genau weiß mein Vater es auch nicht. Die Legenden wurden nie niedergeschrieben, aber er meinte, dass einige Indianerstämme sie noch immer erzählen.“

„Keine einzige ist niedergeschrieben?“, fragte ich skeptisch.

„So gut wie keine“, gab Xia zu, „aber diese Geschichten werden auch keinen Außenstehenden erzählt. Sie sind heilig. Und anscheinend auch der Grund, dass die Indianer Vampire für natürlich halten.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Wenn sie uns ihre Gründe nicht erklären, wie können sie dann erwarten, dass wir sie verstehen?“

Xia lächelte schwach.

„Ja, du hast Recht, aber Sam“, meinte Xia mit ihrem feinen Lächeln, „glaubst du nicht, dass wir lange genug herumgeredet haben?“

Für einen Augenblick war ich verwirrt, dann fiel mir endlich wieder ein, dass wir ja aus einem bestimmten Grund hier waren. Einem Grund, den Xia noch immer nicht kannte.

„Oh, klar. Ich weiß gar nicht, wie ich dir das sagen soll…“

„Gerade heraus würde sich anbieten. Wofür brauchst du meine Hilfe denn? Mein Vater meinte nur, dass du in der Klemme steckst und da du mit Oswalds Privatjet und zwei abtrünnigen Vampirjägern hier angekommen bist, male ich mir die ganze Zeit schon die schlimmsten Szenarien aus.“

„Okay, gerade heraus also: Ich will Constantin aus seinem Anwesen entführen und zu Oswald bringen.“

Es schien als wäre Xia eingefroren. Fast eine ganze Minute saß sie regungslos da und starrte mich einfach nur an.

„Aha“, meinte sie, als sie sich schließlich kopfschüttelnd wieder gefangen hatten, „ich glaube, ich hätte doch gerne noch etwas Kontext.“

 Kontext, das war die große Frage. Wie viel davon wollte ich ihr geben? Wie viel davon konnte ich ihr geben? Bei Roman und Luca hatte ich Angst gehabt ihnen etwas zu erzählen, weil sie der Vereinigung treu verschrieben waren. Xia war das auch, aber ich wusste nicht, wie der China-Zweig mit jemandem wie mir umgehen würde. Ob sie die Vereinigung vor mich stellen würde. Ich starrte Xia in die Augen und versuchte in ihnen die Wahrheit zu finden. Ich wollte ihr vertrauen… und gleichzeitig wusste ich, dass ich mir dieses Vertrauen im Moment nicht leisten konnte. Meine Familie hatte nicht ohne Grund geheim gehalten was ich war und so sehr es mein Herz schmerzte, Xia war nicht Familie, nur fast. Und fast reichte hierfür nicht. Also erzählte ich ihr nur den Teil der Geschichte, der meine wahre Identität nicht behandelte.

„Constantin war der Vampir, der Jagd auf meine Familie gemacht hat. Der dafür gesorgt hat, dass unser Haus in die Luft gesprengt wurde und alle außer mir starben… Der mich ein halbes Jahr später noch einmal aufgespürt hatte und fünf meiner Freunde, darunter auch mein damaliger Freund, tötete.“

Meine Hände ballten sich zu Fäusten, während mir Tränen in die Augen stiegen. Das bewirkten die Erinnerungen an diese beiden Tage noch immer für mich. Angst, Wut, Furcht, Rage… Trauer. Machtlosigkeit. Das fühlte ich ein jedes Mal, wenn ich daran dachte. Ich hoffte, dass Constantins Tod mir wenigstens eines dieser Gefühle nahm.

„Wofür brauchst du Oswald in diesem Plan?“

„Ich brauche seine Hilfe, nicht nur um an Constantin ranzukommen… aber es ist besser für dich, wenn du nicht genau weißt warum, glaub mir.“

Nun war es an Xia mir in die Augen zu starren. Sie suchte nach Hinweisen für was auch immer. Nach einer Weile schien sie gefunden zu haben, nach was sie gesucht hatte und ihr Blick wurde wieder weicher.

„Okay, ich werde dir hierbei vertrauen, Sammy.“

Bei dem Wort bekam ich einen Stich in mein Herz. So hatte mich schon lange niemand mehr genannt… nicht seit dem Tod meiner Familie. Ich riss mich zusammen.

„Danke“, meinte ich mit einem schwachen Lächeln.

„Und wie sieht dein Plan denn genau aus?“

Ein echtes Lächeln erschien auf meinem Gesicht.

„Wie gut kannst du eigentlich klettern?“

Xia erwiderte mein Lächeln spöttisch.

„Besser als du, oder bist du etwa vergesslich geworden?“

Ich hob gespielt abwehrend die Hände in die Höhe.

„Wollte nur sichergehen.“

„Aber sollten wir uns eigentlich nicht mit dem wichtigsten Problem zuerst auseinandersetzten?“

„Was meinst du?“

„Nun, meiner Erfahrung nach lassen sich Vampire nicht gerne entführen und ich schätze mal, dass du ihn lebend mitbringen sollst. Wie kriegen wir ihn ruhiggesellt?“

Natürlich wusste sie es noch nicht, wie sollte sie auch? Sie war ja gerade erst aus Amerika hierher geflogen. Ich machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Das wird kein Problem darstellen. Momentan liegt Constantin in einer Art Koma. Er kann sich nicht wehren, keine Sorge.“

Xia zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.

„Wie ist denn das passiert?“

„Er war etwas unachtsam bei einem Traumbesuch“, ging ich einfach einmal davon aus, dass Xia wusste wovon ich sprach.

Sie nickte überrascht.

„Wow, ich wusste nicht, dass etwas dabei in die Richtung schiefgehen kann, aber hey, mir soll’s nur Recht sein. Dann nehme ich mal an wir klettern die Gebäudefassade zu seinem Zimmer hoch, holen ihn durchs Fenster raus und machen uns wieder aus dem Staub?“

Ich nickte.

„Na das hört sich doch gar nicht so schwer an. Wie viele anderen Vampire befinden sich den momentan auf Constantins Anwesen?“

Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern.

„Tut mir leid, ich hab keine Ahnung. Ich weiß nur, dass es nicht wenige sind. Als ich das letzte Mal da war hab ich vielleicht zehn gesehen.“

Xia schnalzte anerkennend mit der Zunge.

„Nicht gerade wenige.“

„Dazu kommen noch menschliche Angestellte.“

„Ich hatte schon davon gehört, dass Constantin sich einen kleinen Hofstaat hält“, seufzte Xia und lehnte sich zurück, „das ist definitiv ein Problem. Besonders weil ich das Gebäude noch nie von Innen gesehen habe. Wie gut kennst du dich darin aus?“

„Ich weiß, wo Constantins Zimmer ist… von außen. Das Haus ist ein Labyrinth.“

Xia fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

„Das ist nicht gut.“

„Aber der Plan ist doch sowieso, dass wir durchs Fenster rein und rausgehen.“

„Ich weiß, ich hätte nur gerne einen Plan B. Du weißt nicht, wie viele Wachen ihn in der Regel bewachen?“

„Als er noch im Hospital untergebracht war, waren es zwei Wachen vor der Tür, drinnen keine. Ich denke unsere größte Herausforderung wird es einen Zeitpunkt abzupassen in dem Mikhail nicht in der Nähe ist. Ich hab so das Gefühl, dass er viel Zeit in Constantins Zimmer verbringen wird.“

Mikhail… seit ich diesen Traum, Erinnerung oder was auch immer hatte, wollte ich ihn sehen und herausfinden, ob er sich noch an so eine Situation erinnerte. Wollte eben herausfinden, ob es ein Traum oder eine Erinnerung gewesen war. Fast wünschte ich mir er würde im Raum sein.

„Stimmt, ich hatte etwas gehört, dass er Constantins Geschäfte übernommen hat, aber ich dachte Constantin wäre nur wieder auf eine seiner verrückten Erkundungstouren für die er so bekannt ist.“

Das war mir neu.

„Constantin geht oft auf Erkundungstouren?“

„Nun, alle paar Jahrzehnte, also nicht nach unseren Maßstäben, aber ja. Wobei das Wort Erkundungstour wirklich schlecht von mir gewählt war.“

„Wieso?“

„Naja, eigentlich ist es eine Jagd, ich weiß wirklich nicht, warum ich Erkundungstour gesagt habe. Constantin geht auf die Jagd nach Vampirjägern, meistens in Mutters Auftrag.“

Xia schauderte es und mir, um ehrlich zu sein, auch. Ich hatte ja schon die Ehre gehabt Constantin kennenzulernen… sehr gut sogar. Ihn freiwillig wiederzusehen war nichts auf das ich mich freute. Besonders diese Episode in seinem Kopf… ich hatte viel mehr über ihn erfahren, als ich jemals wissen wollte. Fakt war, dass einem jedes Wesen leidtun konnte, wenn man genug über es erfuhr. Fakt war aber auch, dass einem nicht jedes Wesen leidtun sollte. Wie zum Beispiel Constantin. Ja, ich hatte gehört dass ihn seine Taten manchmal heimsuchten, aber auch, dass er dann noch schlimmeres tat, um es wieder zu verdrängen. Würde ich seine Hilfe nicht brauchen, dann würde er nie wieder aus diesem Koma aufwachen.

„Aber zurück zum Thema. Entweder wir brauchen einen Grundriss des Hauses – wobei ich bezweifle, dass wir so etwas kriegen – oder wir holen uns noch jemanden dazu, der sich da drinnen auskennt.“

Gute Frage. Sophia wollte ich nicht noch einmal um Hilfe bitten, sie hatte mir bei meinem letzten Ausbruch schon mehr als genug geholfen und ich bezweifelte sowieso, dass sie mir überhaupt helfen würde. Dann waren da noch Aryeh und Tigris auf dem Anwesen, aber Oswald hatte ja schon erwähnt, dass deren Treue zu ihm nicht sonderlich tief saß. Und sonst… die Vampire, die ich bei meinem ersten ‚Besuch‘ auf dem Anwesen kennengelernt hatte, kamen nicht infrage.

„Ich wüsste niemanden“, meinte ich enttäuscht.

Xia schnalzte missbilligend mit der Zunge.

„Das ist nicht gut. Wirklich nicht gut.“

„Können wir uns nicht einfach darauf verlassen, dass wir es durch das Fenster wieder rausschaffen? Ich meine, selbst wenn wir uns im Haus auskennen sollten, da drinnen laufen nur noch weitere Vampire rum. Einer von uns wird nicht kämpfen können, wenn er Constantin trägt und in diesem Zustand durch das Haus zu rennen? Ich halte da unsere Überlebenschancen für deutlich geringer, als wenn wir uns egal was mit Gewalt zum Fenster durchschlagen.“

„Ich weiß was du meinst Sam, aber trotzdem behagt es mir nicht in ein Haus einzusteigen, wo ich nicht den geringsten Schimmer davon habe, was mich darin erwartet.“

Ich seufzte und ließ mich auf das Bett zurückfallen.

„Vielleicht weiß ja jemand in der Moskauer Zentrale etwas“, sagte ich, während ich die Zimmerdecke anstarrte.

Xia schnaube amüsiert.

„Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass da jemand etwas weiß. Ich bezweifle nur, dass sie das uns verraten werden.“

Ich schloss die Augen und fuhr mir mit den Händen übers Gesicht.

„Alles okay, Sam?“, fragte Xia besorgt.

Ich schüttelte den Kopf.

„Eigentlich schon“, sagte ich im Widerspruch dazu.

„Aber…“, versuchte mir Xia weiterzuhelfen.

Ich seufzte schwer und nah die Hände vom Gesicht.

„Ich kenne den Leiter der Moskauer Zentrale. Ich glaube er würde mir diesen Gefallen tun.“

„Was ist dann das Problem?“

„Sein Sohn.“

 

Kapitel 22 - Man sieht sich immer zweimal im Leben

„Sein Sohn?“, fragte Xia verwirrt.

„Ja. Unser letztes Auseinandergehen war nicht gerade… ideal.“

„Inwiefern?“

„Wir waren zu dritt unterwegs, also Roman Kosloff, Luca Foresta und ich und ich habe Luca Roman bewusstlos schlagen lassen, weil dieser mich nicht allein bei Oswald zurücklassen wollte.“

„Oh“, meinte Xia bloß.

„Ja, das trifft es ziemlich.“

„Moment, hieß die Vampirjägerin, die ich gerufen hatte, nicht auch Kosloff?“

„Irina, ja. Das ist seine Schwester.“

„Oh wow. Ich kann mir vorstellen, dass die alle ziemlich pissig mit dir sind.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Irina hat es verstanden und ich denke ihr Vater auch, aber was Roman betrifft… sie haben ihn nach Südamerika geschickt und ich nehme das mal als Zeichen, dass er mir ziemlich böse ist. Ich weiß nicht, ob mir sein Vater vielleicht deshalb einen Gefallen verweigern würde.“

„Ich bezweifle, dass er das wegen so einer Nichtigkeit tun würde. Du solltest ihn fragen.“

„Also fahren wir morgen früh nach Moskau?“

„Hört sich gut an“, meinte Xia und ließ sich neben mir aufs Bett fallen, „ich hab totales Jetlag und könnte ein paar Stunden Schlaf dringen gebrauchen.“

„Dito.“

Ich war wirklich froh, dass wir da einer Meinung waren. Wann hatte ich das letzte Mal wirklich ruhig geschlafen? Was gleichbedeutend mit der Frage war: Wann hatte ich das letzte Mal nicht in direkter Nähe zu einem Vampir geschlafen? Als ich mich unter die Decke meines Bettes kuschelte merkte ich, wie die Angespanntheit der letzten Wochen von mir abfiel und ich wusste, dass ich lange schlafen würde.

Xia weckte mich gegen acht. Ich hätte wirklich noch ein paar Stunden Schlaf vertragen können, trotzdem fühlte ich mich so ausgeruht wie schon seit langem nicht mehr. Ich musste diese ganze magiebegabtes Wesen-Sache so schnell wie möglich hinter mich bringen. Wie, darüber würde ich mir später Gedanken machen.

„Hast du dir schon einen Wagen gemietet?“, fragte ich Xia, während ich in meine Hose schlüpfte.

„Nein, aber das gehört hier zum Hotelservice. Ich hab am Empfang angerufen als du duschen warst, die meinten sie leiten das für uns in die Wege.“

„Super“, meinte ich erleichtert und griff nach meinem Halfter.

Ich zögerte. Eigentlich fuhren wir nur zu Mr Kosloffs Firma, dort brauchte ich meine Dadao nicht und sie waren so furchtbar offensichtlich. Allerdings hatte ich dann nur noch meine Messer und Dolche.

„Xia, du hast nicht zufällig eine Handtasche und einen Pflock übrig?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort eigentlich schon kannte.

„Sorry“, meinte sie entschuldigend, „aber ich hätte noch ein Paar Pistolen.“

Das war mal ein Angebot.

„Eher nicht. Ich weiß wie man eine Pistole abfeuert, aber das war es dann auch schon. Damit wäre ich mehr eine Gefahr für die Allgemeinheit.“

„Du musst sie ja nicht abfeuern, hier geht es mehr um die abschreckende Wirkung.“

Xia zog einen Halfter mit zwei Pistolen aus ihrem Koffer und streckte sie mir nachdrücklich hin.

„Nimm“, meinte sie bestimmt und sah mir dabei fest in die Augen.

Also nahm ich sie und schlüpfte in den Halfter hinein und ich musste zugeben, dass ich mich gleich viel besser fühlte. Die Pistolen gaben mir ein Gefühl von Sicherheit auch wenn ich mit ihnen wahrscheinlich kein Ziel treffen würde. Das Telefon klingelte und ich fuhr überrascht herum. Xia konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und griff nach dem Hörer.

„Ja?“

„Super, vielen Dank“, meinte sie freundlich und legte wieder auf.

Dann wandte sie sich an mich.

„Unser Wagen ist da.“

„Okay“, meinte ich und zog meinen Mantel über, „lass uns gehen.“

Wir holten uns am Empfang den Schlüssel für den Wagen und gingen dann zur Garage.

„Nicht schlecht“, meinte ich nur, als ich den schwarzen BMW M6 Grand Coupé sah und stieß einen anerkennenden Pfiff aus.

Xia zuckte mit den Schultern.

„Mein Vater zahlt“, meinte sie mit einem verschmitzten Grinsen und setzte sich hinters Steuer.

Bevor ich meinen Gurt einrasten lassen konnte, hatte sie das Gaspedal bereits voll durchgetreten. Ein Charakterzug von ihr, den ich erfolgreich verdrängt hatte. Wäre doch bloß ich gefahren. Ich schickte ein Stoßgebet gen Himmel und klammerte mich an den Griff in der Tür. Hoffentlich würde ich diese Fahrt überleben. Der einzige Vorteil war, dass wir wegen Xias irrem Tempo wenigstens schnell in der Innenstadt waren und dort war sie durch die anderen Verkehrsteilnehmer zu einem langsameren Tempo gezwungen. Und dann waren wir auch schon da. Ich musste zugeben, ich war etwas nervös, als ich die Eingangshalle betrat. Wie lange war es her, dass ich hier gewesen war? Etwa ein Monat? Es kam mir um so vieles länger vor. Wir traten an den Empfang heran und ich schenkte dem Herren, der dahinter saß, ein freundliches Lächeln – uns fehlten nämlich die Ausweise, um durch die Sicherheitsschläuse zu kommen.

„Guten Tag, mein Name ist Samantha Anderson. Könnten Sie so freundlich sein und Anjutha sagen, dass ich hier bin? Es ist dringend.“

„Aber natürlich“, meinte er und nahm den Telefonhörer vor sich auf.

Es folgte ein kurzer Wortwechsel auf Russisch, bevor er wieder auflegte.

„Sie können hochgehen. Der letzte Aufzug hinten rechts fährt durch“, meinte er und entsicherte das Drehkreuz neben sich.

Ich nickte ihm noch einmal freundlich zu, bevor Xia und ich hindurch zu den Aufzügen gingen.

„Ziemlich heftige Sicherheitsvorkehrungen hier“, meinte sie anerkennend, als wir im Aufzug standen.

„Ist ja auch kein normales Bürogebäude“, warf ich ein und versuchte die Erinnerungen, die ich mit diesem Aufzug verband zu verdrängen.

Denn ja, natürlich war das zufällig genau der Aufzug, in dem Roman und ich uns zum ersten Mal geküsst hatten. Als ob ich nicht schon so ein schlechtes Gewissen hatte. Aber es war leider auch der einzige, der direkt ganz nach oben durchfuhr, also hatten wir keine Wahl und ich hörte auf mich so anzustellen. Es gab wirklich wichtigere Dinge, mit denen ich mich jetzt beschäftigen sollte. Wie zum Beispiel wie ich mein Bitte Mr Kosloff vorbringen sollte. Ich schüttelte innerlich den Kopf. Wieso glaubte ich nochmal er würde mir diesen Gefallen tun? Weil es zufällig sein Sohn war, den ich in diesem Tattooladen getroffen hatte? Und weil auch der es war, der mich versteckt und mir eine neue Identität besorgt hatte? Wenn, dann schuldete ich höchstens der Familie Kosloff einen Gefallen. Dabei hatte ich noch gar nicht davon angefangen, dass Roman wegen mir hatte nach Südamerika geschickt werden müssen. Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass das nicht gerade eine gute Sache war. Es wäre schon ein dummer Zufall, wenn Ale auch ihn in Brasilien in Empfang nehmen würde. Falls es auch Brasilien war. Noch so eine Information, die ich gerne hätte. Ich schüttelte den Kopf – dieses Mal wirklich, um den Gedanken mit Nachdruck aus meinem Kopf zu vertreiben. Um Roman brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Schließlich hatte ich vor bei Constantin einzubrechen und ihn dann auch noch mitzunehmen. Durch ein Fenster. Aus einem Haus voller Vampire. Strafversetzung auf meine Insel klang da doch schon wieder ziemlich reizvoll dagegen. Das Pling des Aufzugs holte mich zurück in die Realität. Die Türen öffneten sich und wir traten heraus an Anjuthas Schreibtisch hin. Ihr feuerrotes Haar hatte sie heute zu einem strengen Knoten am Hinterkopf zusammengefasst, doch der freundliche Ausdruck auf ihrem Gesicht milderte diese Strenge wieder ab.

„Miss Anderson, was für eine freudige Überraschung.“

Ich schenkte ihr ein feines, aber ernst gemeintes Lächeln.

„Es ist auch schön Sie wiederzusehen, Anjutha.“

Ihr Blick schweifte weiter zu Xia und eine Falte erschien zwischen ihren Augenbrauen.

„Und Sie sind?“

„Xia Li“, stellte sich Xia vor und die Falte auf Anjuthas Gesicht vertiefte sich.

Für einen kurzen Moment zuckte ihr Blick an Xia hinab. Ich brauchte einen weiteren Moment um zu begreifen, warum sie das getan hatte: Sie hatte nach Beulen in der Jacke gesucht, die darauf hinwiesen, dass Xia eine Schusswaffe trug. Dafür war ihre Jacke aber zu locker geschnitten – mit Absicht wahrscheinlich. Waren alle westlichen Vampirjäger so skeptisch gegenüber dem Chinazweig? Ich meine, es konnte doch nicht wirklich so sein, sonst hätten mein Bruder und Xia nie zusammengefunden, oder? Und der Blick den Anjutha Xia zuwarf grenzte an Feindseligkeit… instinktiv rückte ich meine Jacke zurecht. Diese Bewegung brachte Anjutha dazu ihren Blick von Xia abzuwenden.

„Mr Kosloff erwartet sie“, meinte sie sehr formell und zeigte auf die Glastür hinaus in den Garten.

Ich wandte mich der Tür zu und sah aus dem Augenwinkel genau den Moment, in dem Anjutha meine Pistolen bemerkte. Ihre Züge verwandelten sich in Stein, dann war sie auch schon aus meinem Gesichtsfeld verschwunden und ich öffnete die Tür.

„Sind alle westlichen Vampirjäger so feindlich euch gegenüber?“, konnte ich die Frage nicht länger für mich behalten als die Tür hinter uns zugefallen war.

„Sie alle haben ihre Probleme mit uns, aber die Russen westlich des Urals, bei ihnen habe ich das Gefühl sie hassen uns wirklich.“

„Wieso?“, fragte ich, auch wenn ich schon so eine leise Ahnung hatte.

„Weil wir Russland gespalten haben. Je weiter in Asien ein Teil Russlands liegt, desto weniger fühlen sie sich Moskau zugehörig und somit auch der westlichen Vampirjägerphilosophie.“

„Sie jagen also mit Pistolen?“

Zu meiner Überraschung schüttelte Xia den Kopf.

„Nein, aber sie würden gerne.“

Ich blickte Xia verwirrt an. Die schenkte mir ein schwaches Lächeln.

„Tatsache ist, dass sie sich in Russland befinden und sich deshalb an die Regeln halten müssen, die ihre Vereinigung aufstellt. Jede Schusswaffennutzung bei der Jagd hat ernsthafte Folgen für sie…“

„Warum bleiben sie dann in der Vereinigung?“

„Sie tun es nicht. Und das ist der Grund warum uns die westlichen Russen so hassen. Südlich des Urals gibt es so gut wie keine Vampirjäger mehr in Russland. Sie alle haben entweder die Vampirjagd vollkommen aufgegeben oder sie sind ausgewandert, wenn sie die Jagd nicht aufgeben konnten. So oder so war es dasselbe Resultat.“

So viel Neues wie ich immer über Vampire erfuhr sollte man meinen, dass sie nicht die letzten Jahre meines Lebens alles gewesen waren mit dem ich mich beschäftigt hatte.

„Deshalb gibt es dort also so viele Alte.“

„Das ist die Ansicht der westlichen Jäger. Wir glauben dass so viele Vampirjäger das Land verlassen haben eben weil es dort so viele Alte gab, also genau umgekehrt. Alte ohne moderne Schusswaffen zu jagen… da kann man seinen Totenschein auch gleich selbst unterschreiben. Ich hätte das auch nicht mitgemacht.“

„Aber auch sie haben für ihre Theorie keine Beweise“, meinte plötzlich eine tiefe Stimme hinter uns und wir fuhren bei herum, während wir unsere Waffen zogen.

Kapitel 23 - Bitten

Auch wenn ich die Stimme schon im ersten Moment erkannt hatte, so ließen es meine Instinkte nicht zu meine Messer nicht zu ziehen. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Xia in einer Hand eine Pistole und in der anderen ein langes Messer hielt.

„Samantha“, meinte er in meine Richtung und nickte, „ich hatte nicht gedacht sie so bald wiederzusehen.“

„Mr Kosloff“, meinte ich höflich und gab endlich meine Kampfhaltung auf, „ja, meine Pläne haben sich etwas geändert.“

Er deutete in die Richtung der Steinbänke, wo wir auch bei unserem letzten Zusammentreffen gesessen hatten. Xia nickte er nur kurz zu, bevor er voranging. Irgendwie war es surreal, wie wir uns setzten und die Situation der vor einem Monat so ähnlich war – bis darauf, dass es jetzt Xia war, die neben mir saß, denn Roman war in Südamerika. Wegen mir. Ich atmete tief durch. Das war jetzt einfach der falsche Zeitpunkt oder, wenn man es ganz genau nahm, die falsche Zeitspanne. Ich hatte wichtigeres zu tun.

„Mr Kosloff, danke dass Sie so schnell Zeit für uns gefunden haben“, begann ich das Gespräch.

„Oh, nichts zu danken, Samantha. Ich war viel zu interessiert zu erfahren, was Sie hier machen, als dass ich Sie hätte warten lassen können.“

Die Fragen nach Roman würden also warten müssen – was wahrscheinlich auch besser so war.

„Mr Kosloff, ich wollte Sie um Ihre Hilfe bitten.“

„Das hatte ich mir schon gedacht“, sagte er sachlich, „bei was?“

„Ich habe vor in Constantins Anwesen einzubrechen und… mir etwas auszuleihen.“

Mr Kosloff zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.

„Auszuleihen?“, fragte er skeptisch.

Und wieder stand ich vor der momentan allgegenwärtigen Frage: Wie viel sollte ich erzählen? Wie viel konnte ich preisgeben ohne mich selbst zu gefährden? Ich kannte Mr Kosloff nicht, das war die Wahrheit. Er war Leiter der Moskauer Zentrale, also ein tragendes Mitglied der westlichen Vampirjäger. All das waren eindeutige Hinweise darauf, dass ich ihm nichts anvertrauen konnte. Das Problem war nur, dass ich es war es war, die einen Gefallen von ihm wollte, nicht umgekehrt. Er brauche einen Grund um mir zu helfen, denn den Gefallen ohne weitere Fragen, aus reiner Herzensgüte, den hatte ich bereits aufgebracht. Da fiel mir plötzlich wieder etwas ein. Es war eines der ersten Dinge über die Jagd, die Darius mir beigebracht hatte: Die Vereinigung entschied. In Amerika war das alles etwas lax gehandhabt worden aber ich hatte das Gefühl dass hier in Europa, mit all diesen Alten, die Sache etwas anders aussah. Auch wenn sich mein Innerstes dagegen sträubte diese Worte in den Mund zu nehmen.

„Mr Kosloff, was würde passieren, wenn Constantin den endgültigen Tod finden würde?“

Sein Blick verhärtete sich.

„Ein riesiges Machtvakuum würde sich auftun… auch wenn es da noch Mikhail gibt, ich bezweifle, dass man ihm diese Machtstellung kampflos übergeben würde. Und die Vereinigung ist momentan nicht dazu in der Lage mit diesen Unruhen fertig zu werden nach dem, was jetzt in Frankreich los ist...“

Ich atmete tief durch und sah Mr Kosloff direkt in die Augen.

„So wie die Lage momentan steht wird Constantin nicht von alleine aufwachen – jemals.“

Ich glaubte zu sehen, wie er etwas blass um die Nase wurde.

„Das sind wirklich keine guten Nachrichten“, meinte er und wirkte auf einmal sehr müde.

Ich hob eine Hand wie um ihm Einhalt zu gebieten. Fragend sahen er und Xia mich an.

„Ich sagte: würde nicht von alleine aufwachen. Es gibt eine Möglichkeit ihn zu wecken. Genauer gesagt hat Oswald einen Weg ihn wiederaufzuwecken.“

Das war zwar nicht die volle Wahrheit, aber etwas sagte mir, dass ich Pjotr auf keinen Fall erwähnen sollte. Wenn sich schon die Vampire vor ihm fürchteten wollte ich mir gar nicht vorstellen was die Erwähnung seines Namens gegenüber eines Vampirjägers auslösen würde.

„Ah“, sagte Mr Kosloff und Verstehen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Xia hingegen schien noch nicht verstanden zu haben, auch wenn ihr Blick das nicht verriet. Ich spürte es einfach, aber ich würde es ihr später erklären müssen. Jetzt war eindeutig nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

„Mikhail würde ihn nie jemanden an Constantin herumexperimentieren lassen, der Constantin nicht voll und ganz ergeben ist“, erklärte Mr Kosloff für mich, „deshalb wollen Sie Constantin zu ihm bringen.“

Ich nickte.

„Sicher, dass Oswald nicht einfach nur Constantin töten will?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Er braucht ihn noch.“

„Für was?“, fragte er sofort zurück.

Ich schenkte Mr Kosloff ein schwaches Lächeln. Wieder diese leidige Frage: Sagen oder nicht? Jäger und Vampire hassten Hexen gleichermaßen. Ich konnte es nicht zulassen dass die Vampirjäger in ihrem Übereifer die Hexe töteten, bevor sie mir helfen konnte. Also zuckte ich mit den Schultern.

„Das hat mir Oswald nicht gesagt, aber ich bezweifle, dass es eine Kleinigkeit ist, wenn man bedenkt was für einen Aufwand er betreibt ihn wieder aufzuwecken.“

Mr Kosloff musterte mich abwägend. Ich blickte ihn direkt an. Jetzt unsicher zu wirken, das wäre der größte Fehler den ich machen könnte. Schließlich entspannte sich seine Haltung. Er hatte eine Entscheidung getroffen.

„Das Haus ist ein Labyrinth, Samantha. Soviel solltest du noch wissen.“

Ich nickte, unsicher worauf er hinauswollte.

„Ich nehme an dein Plan ist zeitsensitiv?“

Wieder nickte ich.

„Dann bringen euch Pläne nichts. Ihr könntet sie euch niemals auf die Schnelle einprägen und sie in schriftlicher Form mitzunehmen… nun ich muss nicht erklären, warum das eine dumme Idee ist. Außerdem besitzen wir keinen Plan des Anwesens seitdem Constantin es umgebaut hat.“

Das war… ernüchternd – gelinde gesagt. Ich hatte Mühe meine Enttäuschung zu verbergen. Hätte ich doch besser aufgepasst als ich das letzte Mal dagewesen war. Als ich meinen Blick nach dieser vielleicht einer Millisekunde andauernden Überlegung wieder auf Mr Kosloff fokussierte, fiel mir jedoch auf, dass er noch nicht fertig mit Sprechen war… nein, das war es nicht ganz: Er war sich nicht sicher ob er fertig mit Sprechen war. Er traf gerade wieder eine Entscheidung. Sofort straffte ich mich innerlich und versuchte so gelassen und gleichzeitig entschlossen wie möglich Mr Kosloff anzublicken. Weder Xia noch ich sagten etwas, bewegten uns auch nur einen Millimeter denn als das konnte ihn davon abbringen was auch immer er da gerade dachte uns zu sagen. Ich sah den genauen Moment in seinen Augen, als er seine Entscheidung traf.

„Allerdings haben wir einen Jäger, der die alten Pläne kennt und über ein ausgezeichnetes räumliches Denken verfügt…“

Warum zögerte er so sehr? Warum war er so zaghaft uns den Namen zu nennen?

„Sie würde überall hinausfinden…“

Sein Entschluss wankte… jedoch nur für einen Augenblick, dann war sein Blick wieder fest auf mich gerichtet.

„Ich werde euch Irina aus Führer mitschicken.“

Statt Freude machte sich ein ungut ziehendes Gefühl in meinem Magen breit. Trotzdem zwang ich ein Lächeln auf mein Gesicht.

„Danke Mr Kosloff“, sagte ich anstelle der Dinge, die ich sagen wollte.

Wie dass Irina eigentlich den aktiven Dienst schon vor einer ganzen Weile aufgegeben hatte und ich mir nicht sicher war, ob sie mit einer solchen Mission nicht überfordert sein würde. Ich wüsste nicht, was mit mir passieren würde, wenn ich den tatsächlichen Tod eines Kosloff auf dem Gewissen hatte. Mir reichte es schon vollkommen was ich emotional mit Roman angerichtet hatte. Klar wollte ich auch nicht, dass Xia etwas passierte, aber aus irgendeinem Grund hatte ich mehr Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Und sie hatte sich für den aktiven Dienst entschieden… Ich atmete tief durch. Diese Gedanken durften mich jetzt nicht schwach werden lassen. Ich musste mich einfach darauf verlassen, dass Mr Kosloff seine Tochter nicht mit mir auf diese Mission schicken würde, wenn er sie dafür nicht in der Lage hielt.

Mr Kosloff nickte.

„Gut, ich werde ihr Bescheid geben. Wie kann sie mit euch in Kontakt treten?“

„Sie hat meine Nummer“, sagte nun zum ersten Mal Xia etwas in diesem Gespräch.

Erst jetzt viel mir auf, dass Mr Kosloff in keinster Weise darauf reagiert hatte, dass Xia dem Chinazweig angehörte. Hatte er es etwa noch nicht bemerkt?

Mr Kosloff nickte wieder.

„Ich werde ihr sagen sie soll Sie anrufen.“

Ein höfliches Lächeln erschien auf Xias Lippen und sie verbeugte sich in seine Richtung.

„Vielen Dank, Mr Kosloff.“

„Düfte ich vielleicht auch noch Ihren Namen erfahren?“

„Natürlich, mein Name ist Li Xia“, meinte sie würdevoll und verbeugte sich wieder leicht in Mr Kosloffs Richtung, „Tochter von Li Yang und Li Yaqi.“

Mr Kosloff nickte unbestimmt.

„Ich habe von den Arbeiten Ihres Vaters gehört. Sie sollen nicht sehr günstig gegenüber der westlichen Vampirjägervereinigung verfasst sein.“

Zu meinem Entsetzen schnaubte Xia amüsiert.

„Was haben Sie erwartet von einem Forscher, der selbst Mitglied des Chinazweiges ist?“

Ein schmunzeln erschien auf Mr Kosloffs Gesicht.

„Da haben Sie auch wieder Recht.“

Ich betrachtete die Szene skeptisch und wusste nicht so wirklich was ich damit anfangen sollte. Nach Anjuthas aufgeschreckter und abweisender Reaktion hatte ich das hier nicht erwartet.

„Werden Sie von mir fordern, dass ich meine Pistolen hier zurücklasse, wenn ich mich auf das Anwesen begebe?“

Mr Kosloff schüttelte den Kopf.

„Nein, mir ist es sogar ganz Recht wenn Sie sie mitnehmen.“

„Dass Sie sich von dieser ganzen Situation die Hände reinwaschen können?“, fragte Xia amüsiert, während ich mich davor fürchtete, dass sie eine Grenze überschreiten würde.

Aber Mr Kosloff nickte nur.

„Ich würde es wirklich begrüßen, wenn diese Aktion nicht auf die Moskauer Zentrale zurückzuführen wäre.“

Xia nickte zustimmen.

„Das ist nur fair.“

„Ihnen ist bewusst, dass Sie sich damit Mikhails Zorn auf sich ziehen könnten?“

„Wenn wir ihm seinen Herren wach wiederbringen wird alles vergeben und vergessen sein und bis dahin wird er nicht dazu in der Lage sein eine Schlag gegen den Chinazweig zu planen und auszuführen“, meinte Xia zuversichtlich.

Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht gehabt und ich wusste nicht, ob ich Xias Zuversicht bei dieser Sache teilte. Aber ich musste wirklich bewundern wie lässig Xia so tat, als ob ich sie vollkommen eingeweiht hatte und als ob sie es nicht auch erst gerade vorher zusammen mit Mr Kosloff erfahren hätte. Wieviel ich mir hätte ersparen können, wenn ich bereits nach dem Tod meiner Familie den Kontakt zu ihr gesucht hätte? Ob ich dann jemals ein Vampirjäger geworden wäre? Irgendwie bezweifelte ich das.

„Wenn Sie sich da so sicher sind“, meinte Mr Kosloff schlicht und erhob sich als Zeichen, dass diese Unterredung beendet war.

 Wir folgten seinem Beispiel.

„Es tut mir leid, aber ich habe einen Termin. Meine Tochter wird sich noch heute bei Ihnen melden“, meinte er an Xia gewandt, „Es hat mich gefreut Sie wiederzusehen, Samantha“, meinte er zu mir.

„Ebenfalls“, sagte ich mit einem feinen Lächeln, bevor Mr Kosloff den Wintergarten in Richtung Aufzug verließ.

„Ich weiß nicht ob das eine so gute Sache war“, meinte Xia, als er verschwunden war.

Also hatte nicht nur ich so empfunden. Ich nickte.

„Seine Tochter hat den aktiven Dienst eigentlich vor Jahren verlassen. Ich weiß nicht, was er damit bezwecken will seine eigene Tochter auf so eine gefährliche Mission zu schicken.“

„Anscheinend ist es im momentan das Wichtigste ein wachsames Auge auf dich zu haben.

 

Impressum

Texte: Yarra Mekian
Bildmaterialien: http://abcartattack.deviantart.com/art/Resistor-345528450
Tag der Veröffentlichung: 10.03.2015

Alle Rechte vorbehalten

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