Cover

Prolog

Als der hochgewachsene Mann mit den langen blonden Haaren sich von der Tür abwandte, konnte er nur mit dem Kopf schütteln. Das verlief alles ganz und gar nicht nach Plan. Er hätte das Mädchen mit sich nehmen sollen, aber das hätte die Beziehungen, die sie über die Zeit so mühsam aufgebaut hatten, in ihren Grundfesten erschüttert. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als den Dingen ihren lauf zu lassen. Sie würden von selbst auf ihn zu kommen. Spätestens, wenn ihnen endgültig bewusst wurde, dass das Mädchen keine von ihnen war, egal, wie krampfhaft sie versuchten es sich einzureden. Sie hatte eine Aufgabe und er würde dafür sorgen, dass sie sie erfüllte, kostete es, was es wolle.

Bei dem kleinen, kümmerlich aussehenden Wäldchen angekommen, das sich unweit der Wohnsiedlung befand, von der er gerade gekommen war, verschwand er zwischen den Bäumen, bis man ihn von der Straße aus nicht mehr sehen konnte. Dann öffnete er das Portal und trat hindurch.

 

ஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆ

 

Die Kugel ging dem Angreifer mitten durchs Herz und er lachte schallend. Wenn ihn eine der neueren Erfindungen besonders reizte, dann war es der Revolver, auch wenn der inzwischen schon wieder als veraltet angesehen wurde, aber das machte ihm nichts aus. Schließlich war diese wunderschöne Handfeuerwaffe noch ein Original aus der ersten Produktionsreihe von Samuel Colt. Dieses Baby war vielleicht antik, aber sie hatte noch einen richtigen eigenen Sound mit Wiedererkennungswert, wenn man sie abfeuerte.

Als er hörte, wie jemand hinter ihn trat, seufzte er schwer. Er hatte geglaubt, dass niemand wusste, wo er war. Da hatte er sich wohl oder übel geirrt. Genervt drehte er sich zu dem Ruhestörer um.

„Der Sinn, dass man abseits der Zivilisation lebt, ist, dass man in Ruhe gelassen wird“, meinte er zu dem mindestens einen Kopf größeren Mann vor ihm.

Dieser verbeugte sich in Ehrerbietung kurz.

„Ich bitte dies zu entschuldigen, aber es handelt sich um eine Sache höchster Wichtigkeit.“

„Ist es das nicht immer?“, meinte der Schütze unbeeindruckt und begann nun auf dem Mann vor ihm zu zielen.

Dieser wirkte gänzlich unbeeindruckt und verzog keine Miene. Der Schütze drückte ab und die Kugel flog um Haaresbreite neben dem Kopf und direkt oberhalb der Ohrspitze des Ruhestörers vorbei. Auch dabei blinzelte er nicht einmal.

„Wie ich sehe bringt dich noch immer nichts aus der Ruhe.“

„Und du bist noch immer ein ausgezeichneter Schütze.“

„Also“, wechselte der Revolverbesitzer das Thema, „was führt dich dieses Mal zu mir?“

„Das Mädchen“, begann dieser, wurde jedoch sofort unterbrochen.

„Du weißt, dass mich das nichts angeht und ich mich nicht einmischen werde.“

Da tat der Eindringling etwas, woran er sich nicht einmal mehr erinnern konnte, wann er es das letzte Mal getan hatte. Er warf sich vor dem Schützen auf den Boden, das Gesicht dem Gras zugewandt, die Hände vor ihm auf der Erde.

„Ich bitte dich. Du bist der einzige, der sie überzeugen kann das Mädchen mir zu überlassen.“

Deutschland

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Kapitel 1 - Auf dem Schloss Erbach

Beim Wagenwechsel hatte sich Luca hinters Steuer gesetzt, während ich auf dem Beifahrersitz Platz genommen und Christian es sich auf dem Rücksitz bequem gemacht hatte. Luca hatte Christian eine ganze Weile skeptisch beäugt, bevor er ihn dann schließlich in seinem Mercedes Platz nehmen ließ. Ich hatte es mir gleich zum Beginn der Fahrt bequem in meinem Sitz gemacht und war kurz darauf eingeschlafen. Als ich erwachte, war es noch dunkel und ein schneller Blick nach hinten verriet mir, dass Christian noch schlief.

„Bist du dir sicher, dass wir ihm trauen können?“, fragte Luca, den Blick starr auf die Straße gerichtet.

„Er handelt sehr emotional, aber er hasst die Vampire aus tiefstem Herzen, also ja, ich bin mir sicher.“

„Christian hat mir erzählt, was er mit Pascal gemacht hat und ich muss zugeben, dass ich wahrlich beeindruckt bin. Außerdem waren die Informationen, die er mir über Oswald geben konnte, ungemein hilfreich.“

„Also haben wir eine genaue Anfahrtsadresse?“

Luca nickte.

„Im Gegensatz zu Pascal hat Oswald keinen Familienwohnsitz, auf den er besteht. Er zieht regelmäßig um, bleibt nie lange an einem Ort.“

„Und wohin führt uns unsere Reise dann?“

„In eine kleine Stadt namens Ulm.“

Ich zerbrach mir den Kopf, doch der Name sagte mir nichts, also fragte ich nach.

„Um ehrlich zu sein weiß ich auch nicht viel darüber. Ich habe auch schon kurz Mattia angerufen und ihm das mit Pascal und den 182, beziehungsweise jetzt 181 erzählt, was du vorher noch erwähnt hast.“

Ich nickte.

„Ich bin mir zwar nicht hundertprozentig sicher, dass Constantin die Wahrheit gesagt hat, aber nachdem ich noch eine Weile über die ganze Sache nachgedacht habe, schien mir die Zahl gar nicht mehr so unwahrscheinlich.“

„Das meinte Mattia auch. Ihre Vermutungen lagen sogar bei einer geringeren Zahl, was eigentlich nur eine Bestätigung für das von Constantin Gesagte ist.“

„Ich fasse es nicht, wie schnell das alles plötzlich ging.“

„Wer hätte auch ahnen können, dass Christian uns unsere Arbeit abnimmt.“

„Wie geht es dir eigentlich damit? Dir schien es sehr wichtig zu sein die Sache selbst zu erledigen.“

„Ich muss zugeben, im ersten Moment war ich nicht sehr begeistert, als ich hörte dass Christian ihn vor mir geköpft hat, aber das lässt sich jetzt nicht mehr ändern und außerdem ist sowieso Oswald das Hauptziel.“

„Ich verstehe aber immer noch nicht, wieso du mich deswegen angelogen hast. Was war denn bitteschön der Sinn dahinter?“

„Ich habe, ehrlich gesagt, gar nicht darüber nachgedacht. Wenn man seine ganze Laufbahn Aufträge mit höchster Geheimhaltungsstufe ausgeführt hat, gewöhnt man sich einfach daran niemandem die Wahrheit zu sagen.“

Das verstand ich allerdings sehr wohl.

„Gibt es in Ulm eine Vampirjägerzentrale?“, wechselte ich das Thema.

Luca schüttelte den Kopf.

„Dazu ist die Stadt zu klein und außerdem führt Oswald ein straffes Regiment. Kein deutscher Vampir wagt es aus der Reihe zu tanzen.“

„Wie machen wir es eigentlich mit Oswald? Schleichen wir uns wieder in den Haushalt ein?“

„Das ist leider nicht möglich. Oswald beschäftigt kein menschliches Personal. Das Einzige mit Puls in seinem Haus sind die Blutdiener.“

„Das ist allerdings ein Problem“, stellte ich fest und verfiel ins Grübeln.

„Wir können uns mithilfe von Christian Zugang verschaffen.“

„Aber was, wenn Oswald schon weiß, dass Christian Pascal getötet hat?“

„Er ist bereit dieses Risiko einzugehen. Christian wird uns als Geschenke von Pascal vorgeben.“

Ich schluckte. So hatte ich mir die Sache nicht ganz vorgestellt. Am liebsten hätte ich mich geweigert, aber Oswald musste nun einmal sterben, also sollte ich in der Lage sein meinen Stolz zu überwinden.

„Also dieses Mal nach meiner Taktik?“, versuchte ich mich selbst etwas abzulenken.

„Nicht ganz. Wir werden erst versuchen an Informationen zu kommen.“

Entgeistert starrte ich Luca.

„Das ist doch hoffentlich nicht dein Ernst?!“

„Wir müssen uns an das Protokoll halten.“

Ich wollte schon eine schnippische Erwiderung geben, überlegte es mir aber dann doch anders. Er würde sich nicht umstimmen lassen. Und ein endgültig toter Vampir ließ sich nicht wiederbeleben. Eines Tages würde er mir dafür dankbar sein.

„Wo werden wir eigentlich wohnen?“

„Etwas außerhalb von Ulm, in einer Stadt namens Erbach.“

„Wieso das?“, fragte ich skeptisch.

„Christian kennt den dort ansässigen Freiherren von Ulm-Erbach. Wir werden bei ihm und seiner Familie auf dem Schloss wohnen.“

„Auf welcher Seite stehen sie?“

Luca wusste sofort, was ich meinte.

„Sie sind wissend, aber nach eigenen Angaben unparteiisch.“

„Warum nehmen sie uns dann auf?“, fragte ich verwundert.

„Weil sie eine neutrale Zone sind und nicht wissen, was wir vorhaben.“

Ich wusste, dass ich eigentlich ein schlechtes Gewissen haben sollte, aber ich hatte es einfach nicht. Nach der Verwirrung der letzten Wochen war mein Fokus endlich wieder gerade gerückt.

Die restliche Fahrt verlief recht still und wir trafen ohne Zwischenfälle in Erbach ein. Das Schloss fanden wir ohne Probleme, denn es befand sich auf dem Berg inmitten der Stadt. Die senfgelb gestrichenen Mauern des siebenstöckigen Gebäudes leuchteten einladend im warmen Licht der Mittagssonne, als wir über den Graben in den Innenhof einfuhren. Christian stieg sofort aus und betrat das Schloss ohne zu klingeln. Perplex folgten Luca und ich ihm eilig.

Wir kamen in die langgezogene, schon allein durch ihre schlichte Architektur beeindruckende Eingangshalle, die Christian sofort links liegen ließ und eine Treppe an der rechten Wand hinauf ging. Dort kamen wir nun doch vor eine verschlossene Tür, an der Christian klingeln musste.

Einige Momente später erschien eine junge Frau, wahrscheinlich etwas jünger als ich, hinter dem Glas der Tür und öffnete mit einem freundlichen Lächeln.

„Christian, mon ami, comment ça va?“, meinte sie mit ihrer wohlklingenden Stimme und die beiden küssten sich zur Begrüßung auf die Wange.

„Ça va bien, Luisa, et toi? Aber lass uns zu Englisch wechseln.“

Lächelnd wandte sie sich nun an Luca und mich und begrüßte uns, zu unserer Überraschung, auf die gleiche vertraute Weise wie Christian.

„Es freut mich euch kennenzulernen. Ich bin Luisa, die Tochter des Freiherren Maximilian von Ulm-Erbach. Mein Eltern haben leider nicht die Zeit ihre Gastgeberpflichten zu erfüllen, also werde ich diese an ihrer Stelle übernehmen.“

„Das ist sehr nett von dir. Meine Begleiter sind übrigens Luca und Luna.“

Wir lächelten Luisa freundlich an, als Christian unsere Namen erwähnte und mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sie mir direkt in die Augen blickte.

Sie war etwa 1,60m groß, hatte langes welliges schwarzes Haar, weiche Gesichtszüge und dunkelbraune Augen. Alles in allem sah sie überhaupt nicht aus, wie ich mir eine Deutsche vorstellte, aber sie war eindeutig eine Respektsperson, egal wie viel sie unschuldig lächelte.

„Christian, du findest sicher noch das Zimmer, in dem du letztes Mal untergebracht warst. Du wirst dort zusammen mit Luca untergebracht sein. Ich zeige Luna ihr Zimmer.“

Und so wendeten sich Luca und Christian oben nach rechts, während wir uns nach links wandten.

„Ich habe dich in meinem Zimmer untergebracht. Bevor du dich wunderst: Wir haben einfach gerne ein Auge auf die Vampirjäger, die bei uns wohnen. Wir wollen nämlich unter keinen Umständen unseren Status als neutrale Zone verlieren.“

Ich nickte. Meine Vermutung, dass sich unter ihrer Unschuldsmiene ein wacher Geist befand, hatte sich hiermit bestätigt. Sie könnte unsere Operation ernsthaft gefährden.

„Warum nehmt ihr dann überhaupt Vampirjäger auf?“

„Wissen ist Macht und Macht bringt Verantwortung mit sich.“

Ich war mir nicht hundertprozentig sicher, ob ich sie verstand, aber ich nickte.

„Und du hast nie überlegt auf eine der Seiten zu wechseln?“, fragte ich, während ich mich auf ein wunderschönes Bett mit einem alten, kunstvoll geschnitzten Holzrahmen setzte.

„Mehr als einmal“, meinte sie und ließ sich mir gegenüber auf das andere Bett fallen, „aber der neutrale Status meiner Familie ist mir wichtiger. Außerdem bleibt unsere Stadt von euren Machtkämpfen verschont.“

„Aber wenn du so vieles von Vampiren weißt, wie kannst du dann...“, begann ich, brach jedoch ab.

„Du vergisst, dass sie einmal Menschen waren“, meinte sie mit einem traurigen Lächeln und zog ein kleines Goldkreuz unter ihrer Bluse hervor.

„Aber jetzt sind sie es nicht mehr“, meinte ich stur.

Nun wandte Luisa mir ein nachsichtiges Lächeln zu.

„Du wirst deine Meinung nicht ändern und ich ebenso wenig, also wie wäre es, wenn wir es dabei belassen?“

Nach kurzem Zögern nickte ich schließlich zaghaft, was mir ein breites Lächeln von Luisa einbrachte. Dann wurde ihr Ausdruck wieder ernst.

„Darf ich erfahren, weshalb du sie so hasst?“

Ich sah keinen Grund es ihr nicht zu sagen.

„Ich war 19 und mit fünf meiner Freunde, darunter mein damaliger Freund, auf dem Weg nach Hause von einer Strandparty. Als Fahrerin war ich als einzige noch ganz nüchtern, als wir hinter den Dünen ihnen begegneten. Sie waren zu dritt und besprachen, wie sie uns aufteilen wollten, bevor sie sich schließlich auf uns stürzten. Mein Freund und die anderen rührten sich keinen Millimeter, obwohl ich sofort aufschrie und versuchte sie wegzuziehen. Als dem ersten dann die Zähne in den Hals gebohrt wurden, ergriff ich die Flucht. Ich kam nicht weit, nach weniger als einer Minute waren sie bei mir und während der Anführer der drei noch den tadelte, der mich hatte laufen lassen, packte mich dieser schon und bohrte mir seine Zähne in den Hals. Dann tauchten die Vampirjäger auf. Sie waren zu acht und die Vampire machten sofort kehrt und flohen. Mich ließen sie einfach in den Dünen liegen. Darius, einer der Vampirjäger, hob mich dann hoch und er brachte mich in ein Krankenhaus, wo er sich um mich kümmerte. Er erzählte mir, was genau geschehen war und ließ mir dann die Wahl: Ich konnte mich ihnen anschließen oder ich würde alles vergessen. Für mich gab es keine Wahl“, endete ich meine Erzählung.

Luisa hatte mir still zugehört, doch jetzt ergriff sie das Wort.

„Wer war der Anführer?“

Ich musste Lächeln, sie war wirklich klug.

„Constantin.“

Keinen Moment zweifelte ich daran, dass sie diesen Namen kannte und ihr Blick bestätigte meine Vermutung.

„Was hat dir denn seine Aufmerksamkeit eingebracht?“, fragte sie erstaunt, aber ohne jegliche Angst, wie mir auffiel.

„Wenn ich das nur wüsste.“

Kapitel 2 - Pyjama-Party mit Schere

„Woher kennst du eigentlich Constantin?“, wechselte ich das Thema.

„Er hat einmal Pascal zu Oswald begleitet.“

„Ich dachte, du bist neutral, wieso warst du dann bei Oswald?“, fragte ich skeptisch.

„Weil ich doch sowohl die hiesigen Vampirjäger als auch Vampire kennen muss, oder etwa nicht?“, meinte Luisa ohne mit der Wimper zu zucken.

„Wie ist Oswald so?“, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.

„Wie eigentlich jeder Vampir hohen Alters: reserviert, ruhig und berechnend. Ich an deiner Stelle würde mich nicht mit ihm anlegen.“

Mich wunderte, wie leicht mich die Menschen immer durchschauen zu schienen, oder traf ich einfach nur auf die besonders Aufmerksamen? Mir persönlich war Luisas Art sehr sympathisch, obwohl diese eigentlich nur zu meinem Nachteil gereichte.

„Ich kenne meine Grenzen, keine Sorge.“

„Du wärst nicht der erste Jäger, der seine Fähigkeiten überschätzt, glaub mir.“

Ich legte den Kopf schief, sodass mir meine Haare ins Gesicht fielen und lächelte versonnen.

„Ist das nicht Teil der Jobbeschreibung?“

Einen Moment sah mich Luisa ungläubig an, dann brach sie in schallendes Gelächter aus.

„Du bist mir sympathisch, Luna“, meinte sie, als sie sich wieder gefangen hatte.

„Du mir auch“, meinte ich schmunzelnd.

„Sag mal, stören dich die langen Haare eigentlich nicht bei der Jagd?“

Ich nahm verwundert eine meiner langen Haarsträhnen zwischen die Finger.

„Nun ja, bisher waren sie eigentlich kein Problem.“

„Mich wundert es nur, dass noch keiner der Vampire darauf gekommen ist dich an deinen Haaren zu packen“, meinte Luisa schulterzuckend.

Ich aber konnte mir inzwischen denken warum: Weil die unerfahrenen amerikanischen Vampire einfach im Moment des Angriffs zu überrascht waren, da sie noch zu menschlich waren. Einem Alten würde so etwas nicht passieren.

„Du meinst also, ich sollte sie besser abschneiden?“, fragte ich zaghaft und Luisa betrachtete überrascht meine sorgenvolle Miene.

„Du hast wirklich noch nie darüber nachgedacht?“, fragte sie fassungslos und ich schüttelte verlegen den Kopf.

Einen Moment verharrte Luisa, bevor sie aufstand, die zwei Schritte zu mir herüber kam und nun auch prüfend eine meiner Haarsträhnen zwischen die Finger nahm.

„Länger als schulterlang sollten sie besser nicht sein, ideal aber wäre etwa kinnlang.“

Ich schluckte schwer. Momentan reichten mir meine Haare fast bis zu den Ellenbogen und ich war eigentlich immer sehr stolz auf meine lange blonde Mähne gewesen. Aber Luisa hatte Recht, sie stellten ein Risiko dar.

„Schneid sie mir ab.“

Luisas Augen wurden groß.

„Aber ich bin keine Friseuse...“, begann sie, doch ich schnitt ihr das Wort ab.

„Ich bin mir sicher du hat eine Schere da und bist in der Lage eine gerade Linie zu schneiden. Nimm einfach mein Kinn als Richtlinie.“

Luisa öffnete eine Schublade ihres Nachtkästchens und holte eine Schere daraus hervor. Dann nahm sie einen Haargummi und fasste meine Haare in meinem Nacken zusammen. Sie setzte die Schere an, zögerte dann aber.

„Bist du dir wirklich sicher?“, fragte sie zaghaft.

„Ja“, meinte ich schlicht und hörte, wie die Schere durch mein Haar glitt.

Gleich darauf spürte ich, wie Strähnen meines nun kurzen Haares mein Kinn entlang strichen und ein dummes Gefühl des Wehmuts überkam mich. Das Geräusch, wie Luisa die Schere zurück in die Schublade legte, holte mich zurück in die Gegenwart und ich sah meinen langen Haarzopf oben auf dem Nachtkästchen liegen.

„Wenn du duschen möchtest, durch die Tür und im Gang noch gleich rechts ist ein Bad. Handtücher sind bereitgelegt.“

Ich nickte, noch immer nicht ganz anwesend, erhob mich und ging ins Bad. Erst unter der warmen Brause kam ich wieder zu mir. Ich wusste zwar, dass es kindisch war meinen Haaren nachzutrauern, aber ich hatte mir diesen Moment einfach gönnen müssen. In ein Handtuch gewickelt trat ich vor den Spiegel und betrachtete meine neuen Haare skeptisch. Dann nahm ich die kleine Nagelschere, die am Waschbeckenrand lag, strich das Haar vor meinem Gesicht glatt und schnitt mir einen Pony. Wenn eine Veränderung, dann schon richtig, dachte ich mir und war recht zufrieden mit dem Ergebnis. Ich warf die abgeschnittenen Haare in den Abfalleimer und föhnte mir meine Haare. Als ich zurück in Luisas Zimmer kam, staunte die nicht schlecht.

„Jetzt siehst du aus wie eine echte Jägerin.“

„Wie sah ich denn vorher aus?“, fragte ich lächelnd und mit scherzhaft hochgezogener Augenbraue.

„Unschuldig.“

„Und meine Haarlänge hat das geändert?“

Ich zog meine Augenbraue, wenn möglich, noch höher.

„Es liegt eher daran, dass man sieht, dass die Frisur durch einen einzigen Schnitt entstanden ist. Nicht hässlich, aber durch und durch praktisch.“

„Ich glaube, es gefällt mir.“

Luisa lachte.

„Dass muss es ja auch.“

„Wie alt bist du eigentlich?“, fragte ich neugierig.

„Achtzehn, wieso?“

„Du wirkst nicht wie achtzehn.“

Wieder lachte Luisa.

„Und wie alt bist du denn?“

„Zweiundzwanzig.“

„Du wirkst auch nicht wie zweiundzwanzig, aber ich denke, das ist einfach so, wenn man in unserer Welt aufwächst. Man muss früh erwachsen werden.“

„Wie war das eigentlich, haben dir deine Eltern von klein auf gesagt, dass es Vampire gibt?“

„Nun, es ist natürlich logisch, dass man plapprigen Kleinkindern nichts davon sagen darf. Ich wurde mit zwölf Jahren eingeweiht, genauso wie meine Geschwister.“

„Das war sicher eine riesige Umstellung.“

Luisa zuckte mit den Schultern.

„Die vielen komischen Gestalten, die ich im Laufe meines Lebens getroffen hatte, ergaben plötzlich einen Sinn. Und um ehrlich zu sein, fand ich die ganze Sache schon ziemlich cool. Ich meine, ich weiß Dinge, die nicht einmal die Regierungen wissen.“

„Ah, da ist die 18-jährige.“

Luisa stimmte entspannt in mein Lachen mit ein. Es war mir nicht bewusst gewesen, wie sehr ich es vermisst hatte unverfängliche Gespräche zu führen; na ja, zumindest so unverfänglich es in unserer Welt ging, wenn man an verschiedenen Enden stand.

„Gott, irgendwie fühle ich mich wie auf einer Pyjama-Party“, lachte ich in meine Hände.

„Stimmt, es hat irgendwie den Flair.“

Luisa dachte einen Moment darüber nach.

„Wie wär's zur Krönung mit Popcorn und einer DVD?“

„Super, so etwas hab ich seit Jahren nicht mehr gemacht.“

„Ich mach' uns Popcorn und du kannst solange eine DVD aussuchen, okay?“

„Okay“, meinte ich und lächelte sie breit an.

Flink war sie aus dem Zimmer entschwunden und während ich die Filme durchsah, dachte ich darüber nach, wie absurd diese ganze Situation eigentlich war. Ich suchte einen Film aus, um einen gemütlichen Mädelsabend zu verbringen, in dem Wissen, dass ich morgen versuchen würde einen Vampir zu töten. Zumindest, wenn unser Zeitplan richtig war und Oswald bis morgen noch nichts von Pascals Tod wusste, denn das war das Einzige, dass uns einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Oswald würde übervorsichtig werden, sobald er erfuhr, dass sein ergebenster Diener endgültig tot war.

Grübelnd stand ich vor dem DVD-Regal und wusste nicht so recht, für welches Film-Genre ich mich entscheiden sollte. Nach einer Weile befand ich, dass es frei von jeglichem Übernatürlichem seien sollte, am besten eine romantische Komödie oder etwas Ähnliches. Leider war das gar nicht so einfach, denn die Schrift auf den DVD-Hüllen war leider Deutsch. So entschied ich mich für einen der wenigen mir verständlichen Titel: Clueless.

Ich hatte den Film zwar zuvor noch nicht gesehen, aber allein die Tatsache, dass die Hauptperson wahrscheinlich ahnungslos war, gefiel mir. Es würde sicher Spaß machen sich diesen Film anzusehen.

Kurze Zeit später kam auch Luisa mit dem Popcorn und Limo für uns beide zurück und wir machten es uns auf ihrem großen Himmelbett bequem.

Während des ganzen Films konnte ich das Gefühl der Surrealität der ganzen Situation nicht loswerden. Es fühlte sich einfach so unwirklich an inmitten dieses Kampfes – oder vielleicht sogar Krieges – den ich austrug mit einem Teenager auf einem Bett zu sitzen und eine Teeniekomödie anzusehen. Egal, wie erwachsen Luisa vom Kopf her war, es änderte nichts an der Tatsache, dass wir mit unserem Aufenthalt hier ein Kind in die Sache hineinzogen. Auch wenn ich nach Frankreich in der Lage war mein Gewissen gegenüber Vampiren abzustellen, so galt das noch lange nicht für Menschen, die mit Vampiren zu tun hatten. Schließlich war sie keine dieser Marionetten, die den Vampiren nachliefen, in der Hoffnung, dass diese sie zu einem von ihnen machten.

Gott, machte einem ein Gewissen das Leben schwer. Wo war Satan denn bitteschön, wenn man mal einen Handel mit ihm schließen wollte? Ach, wahrscheinlich war es ihm egal, weil ich ja sowieso in die Hölle kommen würde, blöde Erziehung.

Frustriert schob ich mir etwas von dem Popcorn in den Mund und sah der naiven Teenieheldin dabei zu, wie sie endlich begriff, dass sie deshalb nicht wollte, dass ihre Freundin mit ihrem Stiefbruder ausging, weil sie selbst in ihn verliebt war.

Solche Probleme hätte ich gerne! Aber so leicht hatte es mir die Welt natürlich nicht machen können. Einer musste ja die Drecksarbeit erledigen.

Als der Film zu ende war, drehte sich Luisa erwartungsvoll zu mir herum.

„Und, hat er dir gefallen?“, fragte sie mit leuchtenden Augen und wieder wurde mir bewusst, wie jung sie war.

„Gut, er war wirklich sehr unterhaltsam.“

Luisa lachte.

„Wenn du das so sagst, klingt das eher, als ob du ihn schrecklich findest. Aber egal, wir sollten und wohl langsam mal hinlegen.“

Ich nickte.

„Ja, wir sollten uns wirklich langsam schlafen legen.“

Ich erhob mich von Luisas Bett und machte die zwei Schritte zu meinem, wo ich sofort unter die Decke kroch.

„Gute Nacht“, meinte ich müde.

„Gute Nacht“, erwiderte Luisa und löschte das Licht.

Doch obwohl ich müde war, wollte der Schlaf sich einfach nicht einstellen. Ich seufzte stumm, und wandte meinen Kopf, der mit Gewissensfragen bis zum Anschlag gefüllt war, der Wand zu.

Kapitel 3 - Sieg

Doch wie immer im Leben, wenn man etwas wirklich benötigte, bekam ich meinen Schlaf nicht. Meine übliche Taktik – nämlich mich hin und her zu wälzen – erschien mir nicht fair gegenüber Luisa, also verfluchte ich mich lieber in Gedanken dafür den größten Teil der Fahrt im Auto geschlafen zu haben. Ich probierte mein Glück mit Schäfchen zählen, aber wer auch immer diesen Unsinn verbreitet hatte, dass es einem beim einschlafen half, hatte sich einen bösen Scherz erlaubt.

Stumm seufzend fuhr ich mit der Hand über die Tätowierung an meiner Seite. Auch wenn ich sie nicht wirklich spüren konnte, so war es doch beruhigend für mich mit den Fingerspitzen über sie zu fahren. Untoter – Tod – Schicksal, oder anders gesagt: mein Leben. Es war verrückt. Früher wäre eine Tätowierung für mich nicht einmal in tausend Jahren in Frage gekommen, jetzt war eine mein größter Stolz. Ich schmunzelte. Auf was für Gedanken man nachts im Bett kam.

Und so schlief ich schließlich, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, endlich ein.

Ich erwachte früh am nächsten Morgen, als Luisa noch tief und fest schlief. Auf leisen Sohlen schlich ich aus dem Zimmer und setzte mich im geräumigen Wohnzimmer aufs Sofa. Schon kurze Zeit später hörte ich ein zweites Paar Füße über den alten Holzboden tappen. Ich drehte mich um und sah in das verschlafene Gesicht von Christian.

„Was machst du denn schon so früh wach?“, fragte ich ihn überrascht.

„Luca telefoniert in unserem Zimmer. Er scheint ziemlich sauer und ich wollte nicht die Zielscheibe dieses Ärgers werden, wenn er auflegt.“

Er schlurfte zum Sofa und ließ sich neben mich fallen. Meine kurzen Haare waren ihm gar nicht aufgefallen und ich schmunzelte.

„Weißt du zufällig, mit wem er gesprochen hat?“

Christian schüttelte den Kopf.

„Er hat die ganze Zeit Italienisch gesprochen, ich hab kein Wort verstanden.“

Ich zog meine Füße aufs Sofa und überlegte, ob der mysteriöse Gesprächspartner eventuell Mattia war. Das konnte nur Ärger mit der Vampirjägervereinigung bedeutet. Wollten sie uns etwa zurückholen? Das würde ich keinesfalls zulassen. Ich hatte Luca versprochen, dass wir seine Dämonen töteten. Ob meiner noch lebte, stand zurzeit ja in den Sternen. Hoffentlich standen diese gut für mich.

Wie aufs Stichwort betrat Luca den Raum, wütend auf Italienisch vor sich hin zischend.

„Guten Morgen“, meinte ich mit einem extra breiten Lächeln.

Er unterbrach seine Triade und schien mich endlich wahrzunehmen.

„Morgen“, murmelte er und starrte verdutzt auf meine Haare, sagte jedoch nichts dazu.

„Was ist denn los? Ärger?“

„Mattia hat uns Verstärkung geschickt.“

Damit hatte ich nicht gerechnet. Fassungslos starrte ich Luca an.

„Nicht dein Ernst.“

„Ich hab es doch gerade gesagt!“, meinte er aufgebraucht und ich machte eine wegwerfende Handbewegung.

Am liebsten hätte ich auch noch die Augen verdreht, aber dann wäre er wohl völlig aus der Haut gefahren.

„Das ist doch nur eine Redewendung. Tief durchatmen, so schlimm ist das doch nicht.“

„Sie schicken uns eine heres“, spie Luca förmlich, „einen der schlimmsten.“

Heres, Jäger, die schon seit Generationen Jagd auf Vampire machten und es als ihr Vermächtnis ansahen aber nicht wie wir famulus als ihr Schicksal, ihre Lebensaufgabe. Mit so jemandem im Schlepptau würden wir unser kurzes Zeitfenster zum Angriff sicher verpassen. Nun schwappte Lucas Wut auch auf mich über.

„Wer?“, fauchte ich aufgebracht.

„Ein gewisser Roman Kosloff.“

Von einem Augenblick zum nächsten war ich wieder vollkommen ernüchtert. Mit vor Verwunderung geweiteten Augen ließ ich mich auf dem Sofa zurückfallen. Von all den Vampirjägern die es gab, musste es ausgerechnet Roman sein? Der erste Mann für den ich etwas empfunden hatte seit Jamies Tod und mit dem ich gerade erst abgeschlossen hatte? War mein Leben denn nicht schon problemreich genug?

Ich vergrub das Gesicht in den Händen und begann hysterisch zu kichern. Das war wie in einem schlechten Film von absolut fantasielosen Drehbuchautoren.

„Kleines?“

Von hinten legte sich vorsichtig eine Hand auf meine Schulter und ich hob den Blick und riss mich zusammen, als ich Lucas und Christians besorgte Blicke sah.

„Was hattest du?“, fragte Luca nach.

„Ich hab dir doch von dem Jäger erzählt, der mich in Russland aufgenommen hatte.“

Luca nickte, verstand aber erst einen Moment später.

„Oh nein, das heißt ja, du schuldest ihm dein Leben.“

Ich nickte steif, auch wenn das nicht mein erster Gedanke gewesen war.

„Ich werde mich aus der Diskussion um den günstigsten Zeitpunkt weitgehend heraushalten, tut mir Leid.“

„Das verstehe ich“, meinte Luca und schien es auch wirklich so zu meinen.

„Wie kam Mattia eigentlich genau auf Roman?“, hakte ich nach.

Luca zuckte mit den Schultern.

„Das hab ich ihn nicht gefragt. Ich war zu sehr damit beschäftigt ihn von der gesamten Idee abzubringen.“

„Und wann wird er hier sein?“

„Laut Mattia noch heute Vormittag, aber bevor du noch etwas sagst würde ich doch gerne wissen, was mit deinen Haaren geschehen ist.“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Ich bin zu der Einsicht gelangt, dass lange Haare im Kampf ein zu großes Gefahrenpotential bieten. Luisa hat sie mir gestern dann noch abgeschnitten.“

Luca schüttelte lächelnd den Kopf.

„Irgendwie war mir ja schon klar, das so etwas bei dir immer aus Kurzschlussreaktionen heraus entsteht, Kleines, aber dass du deine Mähne einfach so abgeschnitten hast....Respekt. Hätte ich dir nicht zugetraut.“

„Es sind nur Haare, die wachsen wieder“, meinte ich schulterzuckend, obwohl es mich gestern sehr wohl großer Überwindung gekostet hatte.

„Trotzdem muss ich dir sagen, dass du wie ein Wischmopp aussiehst, Kleines. Du solltest dir die Haare von einem richtigen Friseur nachschneiden lassen.“

„Sobald ich die Möglichkeit dazu finde“, meinte ich, ohne auf seine Beleidigung einzugehen.

Schließlich hatte er Recht, auch wenn ich es persönlich als nicht ganz so schlimm wie er eingestuft hatte.

„Wie wäre es mit einem Übungskampf?“, meinte ich stattdessen an Luca gewandt.

Der schien überrascht, nickte aber.

„Klar, wo?“

„Unten in der großen Eingangshalle?“

„Hört sich gut an“, meinte er und stand auf.

„Ihr wollt in euren Schlafanzügen kämpfen?“, meinte Christian leicht entsetzt und lachend wandte ich mich ihm zu.

„Ein Kampf kann dich in jeder Situation antreffen. Außerdem hab ich wirklich keine große Lust mich umzuziehen, du etwa Luca?“

Der schüttelte den Kopf, ebenfalls grinsend, und so gingen wir drei die Treppen hinunter in die geräumige Eingangshalle. Wir stellten uns in der Mitte gegenüber auf, beide in lässiger Haltung, und sahen uns einfach in die Augen. Keiner rührte auch nur einen Muskel. Ich spürte, wie mein Herzschlag schneller wurde, je länger Luca und ich uns reglos gegenüber standen, und ich innerlich immer unruhiger wurde. Äußerlich ließ ich mir jedoch nichts anmerken, genauso wenig wie Luca. Ich fragte mich, wer diesen Kampf gegen die innere Unruhe als erster verlieren würde.

Es waren sicher erst wenige Sekunden vergangen, doch mir kam es jetzt schon wie Stunden vor, die wir uns reglos gegenüber standen. Ich war noch nie gut darin gewesen auf eine kommende Gefahr zu warten. Ich gehörte zu den Menschen, die diesen lieber entgegenliefen.

Das Geräusch einer sich öffnenden Tür im oberen Stockwerk gab schließlich den Ausschlag. Ich hatte diese Art von Geräusch nicht erwartet und so traf es mich unvorbereitet, erschrak mich vielleicht sogar ein wenig. Es war jedenfalls genug, sodass ich vorstürzte. Dass es ein Fehler war, war mir schon klar, bevor ich mich bewegte. Natürlich war Luca auf meinen Angriff vorbereitet. Er duckte sich unter meinem ersten Schlag, der sein Kinn hätte treffen sollen, hinweg und nutzte die Bewegung aus, um mich auch gleich noch über die Schulter werfen zu können. Hastig versuchte ich mich abzurollen und kam so schwungvoll wieder auf die Beine, dass es mich beinahe nach vorne umwarf. Hastig wandte ich mich um, die Arme schützend in Boxerhaltung vor mein Gesicht erhoben. Luca stand circa eineinhalb Schritte entfernt. Gerade weit genug, dass ich ihn mit meinen Tritten nicht erreichen konnte. Seine Haltung glich der meinen und langsam begannen wir uns zu umkreisen. Es dauerte nur eine halbe Runde, um die Fehler in seiner Beinarbeit zu sehen: Wenn er den Bogen lief, waren sie nicht weit genug auseinander. Wären wir draußen gewesen, hätte ich ihn gegrätscht und damit auf den Boden gebracht, doch bei dem harten Steinboden würde ich mich nur selbst verletzen.

Luca nutzte meine Unachtsamkeit, überquerte den Abstand zwischen uns im Bruchteil einer Sekunde und seine Faust war in meinem Magen, bevor ich meine Arme schützend davor ziehen konnte. Woran Luca allerdings nicht gedacht hatte, war, dass ich meine Arme mit Absicht nicht zum Schutz meines Magens hatte nach unten gleiten lassen. Wegen des Schlages war seine rechte Seite ungeschützt und ich schlug ihn mit meiner Linken hart von unten gegen das Kinn, nur einen Moment, nachdem ich seine Faust in meiner Magengrube gespürt hatte.

Ich hatte sein Kinn genau im richtigen Winkel getroffen. Der Schwung des Schlages warf seinen Kopf so hart zurück, dass der hinten gegen den Rücken knallte und Luca einige Schritte zurücktaumelte. Trotz der Schmerzen, die Luca mir durch seinen Schlag bereitet hatte, setzte ich ihm sofort nach. Mit einer Hand packte ich ihn hart an der Schulter und nutzte seine leichte Orientierungslosigkeit, um ihm die Beine unter dem Körper wegzuschlagen. Dieser Tritt schien ihn wieder vollkommen in die Gegenwart zurückzubringen, denn plötzlich waren seine Hände auf meinen Schultern und er riss mich mit sich auf den Boden. Ich landete relativ weich auf seiner Brust, doch mein rechter Arm war zwischen uns eingeklemmt und meine linke zwischen Luca und dem Boden, während er beide frei hatte. Ich versuchte mich schnell von ihm hochzudrücken, doch er hielt mich schon mit beiden Armen fest an seine Brust gedrückt und rollte uns herum. Nun lag ich auf dem Boden und mit einer flinken Bewegung setzte er sich schwer auf meine Brust, während er meine Arme zwischen seinen Händen festhielt.

Ich konnte es nicht fassen schon wieder gegen ihn verloren zu haben. Besonders, dass er mich so schnell in diese ziemlich ausweglose Situation gebracht hatte, machte mir zu schaffen. Meine Arme waren unbrauchbar und vom Boden konnte ich auch nicht hochkommen, dafür war er zu schwer.

Da kam mir eine Idee und ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Luca, der es natürlich sah, blickte mich verwirrt an. Im nächsten Moment spürte er meine Beine in seinem Rücken, doch es blieb ihm keine Zeit mehr sich nach vorne zu beugen und somit aus der Gefahrenzone zu kommen. Mit einiger Anstrengung, das musste ich zugeben, legte ich meine Füße über Kreuz von hinten um seinen Hals und zog sie zurück. Nicht zu schnell, schließlich wollte ich ihm nicht das Genick brechen, aber doch schnell genug, dass ihm für einen Moment die Luft weg blieb.

Der Effekt war der Gewünschte: Er lockerte den Griff um meine Arme, sodass ich sie losreißen konnte. Rasch befreite ich auch meine Beine von seinem Hals und trat ihm in derselben Bewegung noch vor die Brust, sodass er mit dem Rücken zurück auf dem Boden fiel. Ich schwang mich auf die Beine und setzte mich direkt wieder auf seiner Brust nieder. Ich hatte aus meinen Fehlern vom letzten Kampf mit ihm gelernt und legte meine Hände fest um seine Kehle. Lächelnd beugte ich mich vor, bis unsere Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren.

„Na“, hauchte ich, „eignet sich diese Position besser für mich?“

„Ich ergebe mich“, meinte Luca erstickt und lachend löste ich meine Hände von seiner Kehle.

Als ich den Blick hob, sah ich in der geöffneten Tür Roman stehen.

Kapitel 4 - Jeder hat Vergangenheit

Er sah fast genauso aus, wie das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte, was gar nicht so ungewöhnlich war, da es ja keine drei Wochen her war. Nur sein aschblondes Haar war vollkommen kurz geschoren worden, was seine markanten Gesichtszüge beinahe unangenehm stark betonte. Dazu mit seiner großen, in einen langen schwarzen Mantel gehüllten, muskulösen Gestalt sah er mehr denn je wie ein Schläger aus. Nur der Blick seiner hellblauen Augen wirkte genauso entrückt wie meiner, als er mich sah.

Langsam drückte ich mich, ohne den Blick abzuwenden, von Luca hoch, ging auf Roman zu und schloss ihn in die Arme. Überrascht erwiderte er die Geste und drückte mich ebenfalls fest an sich. Ein leises Lächeln huschte über meinen Mund. Er hatte mich auch vermisst.

Ich drückte ihn noch einmal fest an mich, bevor ich mich aus der Umarmung löste und einen Schritt zurücktrat.

„Schön dich wiederzusehen“, meinte ich schlicht.

Luca und Christian hatten sich inzwischen zu uns gesellt und stellten sich vor. Die Fronten zwischen ihnen und Roman schienen klar zu sein, denn alle verhielten sich recht distanziert.

„Also, mit welchen Vorschriften für unsere weitere Vorgehensweise schickt die Vereinigung dich zu uns?“, kam Luca endlich auf den Punkt.

„Ich soll dafür sorgen, dass ihr nicht direkt in euren eigenen Tod rennt.“

„Wir dürfen aber auch nicht unser Zeitfenster verpassen“, wandte ich ein.

„Sicherheit geht vor“, meinte Roman an mich gewandt und sah mir bedeutungsvoll in die Augen.

Ich verstand: Es sollte nicht umsonst gewesen sein mich gerettet zu haben.

„Ich kann gut auf mich selbst aufpassen“, meinte ich spitz und Roman lächelte schwach.

„Davon bin ich überzeugt, aber Oswald ist außerhalb deiner Liga, Sam.“

Ich hatte nicht bemerkt, dass er mich bei meinem richtigen Namen angesprochen hatte, bis ich den verwirrten Blick von Christian bemerkte.

„Sam?“, meinte er fragend und Romans Augen weiteten sich, als er sich seines Fauxpas' bewusst wurde.

„Sie hat einen Identitätswechsel hinter sich“, antwortete überraschenderweise Luca an meiner Stelle, „das ist alles andere als ungewöhnlich. Ich habe sogar schon mehrere hinter mir.“

„Du heißt gar nicht Luca?“, meinte Christian schwer verwirrt.

„Geboren wurde ich als Eliano, so wie Luna als Sam geboren wurde. Ich glaube unser Russe hier ist einer der wenigen, die ihre Identität bisher behalten durften.“

„Euer Freund weiß für einen Vampirjäger überraschend wenig“, meinte Roman skeptisch.

„Das kommt daher, dass er keiner ist.“

Roman warf mir einen verwirrten Blick zu.

„Christian ist derjenige, der Pascal getötet hat“, klärte ich ihn auf und Roman betrachtete Christian mit anderen Augen.

„Das war wirklich eine beachtliche Leistung. Ich habe gehört, er wurde geköpft?“

Christian nickte.

„Ich habe ihm das Haupt mit einer Axt abgetrennt.“

Während sich die Männer in ein Gespräch über die Tötungsarten von Vampiren vertieften, ging ich zurück nach oben. Ich fand Luisa in der Küche, wie sie gerade Milch in eine Müslischüssel goss.

„Morgen“, meinte sie zu mir mit einem Lächeln, das ich erwiderte, „wie geht es dir heute mit deinen kurzen Haaren?“

„Eigentlich ganz gut“, meinte ich mit schief gelegtem Kopf.

Plötzlich senkte Luisa den Kopf und ihr Lächeln verschwand.

„Warum seid ihr hier?“, fragte sie, ohne mich anzublicken, „und lüg' mich nicht an, ich weiß, dass ihr nicht nur auf der Durchreise seid. So dumm bin ich nicht.“

Ich seufzte schwer.

„Was willst du von mir hören?“

„Wie wär's mit der Wahrheit“, meinte Luisa und hob wieder ihren Blick.

„Und was tust du, wenn ich es dir sage?“

„Ich werde es melden müssen“, gab sie zu.

„Dann weißt du auch, dass ich dir keine Antwort geben kann.“

Luisa lächelte schwach.

„Manchmal ist es wirklich schwer zwischen den Fronten zu stehen.“

„Warum tust du es dann?“

„Das hatten wir doch schon, Luna“, meinte sie mit einem nachsichtigen Lächeln und ich zuckte mit den Schultern, während ich mich neben ihr auf einen Stuhl fallen ließ.

„Woher kommen eigentlich die Flecken?“, meinte sie kauend und deutete mit dem Löffel auf meine Pyjamahose.

Überrascht stellte ich fest, dass Hose und T-Shirt meiner Schlaf-Kombi weiße Flecken von den gekalkten Wänden der Eingangshalle aufwiesen.

„Luca und ich haben unten einen kleinen Übungskampf veranstaltet.“

„Wer hat gewonnen?“, fragte Luisa, als wäre so etwas das normalste auf der Welt.

„Ich, aber wir mussten beide ordentlich einstecken.“

„Also ich hätte ja eher auf Luca gesetzt.“

„Danke für dein Vertrauen“, meinte ich mit vor Sarkasmus triefender Stimme.

Luisa zuckte nur mit den Schultern und löffelte weiter ihr Müsli. Ich schüttelte den Kopf und lächelte. Die Welt der Jäger war doch wirklich eine kleine Familie.

Ein paar Minuten saßen wir schweigend da, dann kamen Luca und Roman in das Esszimmer. Auch über die weitere fremde Person auf dem Schloss schien sich Luisa nicht das kleinste Bisschen zu wundern. Sie warf Roman nur einen schnellen abschätzenden Blick zu, ignorierte ihn dann vollkommen und wandte sich stattdessen an mich.

„Euch ist aber schon klar, dass ich kein Hotel bin?“

Roman trat eine Schritt auf uns zu.

„Es tut mir Leid, wenn wir eure Gastfreundschaft strapazieren, wir werden uns natürlich so schnell wie möglich eine eigene Bleibe suchen.“

Der Blick, den Luisa ihm nun zuwarf, trug blanken Hass in sich, worüber ich wirklich erschrak. Auch Roman zuckte zusammen und schien, ebenso wenig wie ich, zu verstehen. Dann zischte sie ein Wort auf Deutsch, das ich nicht verstand, aber trotzdem bekam ich eine Gänsehaut. Was hatte sie nur gegen Roman?

Ohne ein weiteres Wort oder uns noch weiter Beachtung zu schenken, verließ Luisa das Esszimmer und ließ uns verdattert zurück.

„Was sollte das denn?“, fragte Roman mich.

„Ich hab keine Ahnung, ich habe sie eigentlich als netten Menschen kennengelernt. Seid ich euch vielleicht schon einmal begegnet?“

Roman schüttelte den Kopf.

„Dies ist mein erster Besuch in Deutschland.“

„Also hast du auch nicht verstanden, was sie dir an den Kopf geworfen hat?“

„Nein, leider spreche ich kein Wort Deutsch.“

„Aber ich“, schaltete sich Luca ein und wir sahen ihn überrascht an.

„Wie das?“, fragte ich ungläubig.

Luca zögerte einen Moment, bevor er antwortete.

„Weil Deutsch meine Muttersprache ist“, gab er schließlich zu und während ich vollkommen verwirrt war, schien Roman zu verstehen.

„Was?“, fragte ich, als mich niemand aufklärte.

„Tut mir Leid, ich vergesse manchmal, wie wenig ihr Amerikaner über Europa wisst. Ich erkläre es dir: Geboren wurde ich zwar in Italien, jedoch in Südtirol. Südtirol gehörte bis zum Ende des 1. Weltkriegs zum österreichischen Kaiserreich, ging dann aber an das im damaligen Konflikt neutrale Italien, ungeachtet der Tatsache, dass die gesamte Bevölkerung Deutsch war. Nach dem 2. Weltkrieg wurde ein Autonomiestatus ausgehandelt, aber Teil von Italien ist Südtirol trotzdem geblieben. Meine Mutter war Südtirolerin, mein Vater Sizilianer. Bis ich vier war lebten wir bei der Familie meiner Mutter, dann sind wir nach Sizilien gezogen, aber meine Mutter hat mich die deutsche Sprache nie vergessen lassen.“

Ich war überrascht davon, wie viel Luca von sich Preis gegeben hatte und ich fragte mich, wie ein Leben wohl war, in dem niemand einen wirklich kannte.

Einen Moment herrschte unangenehmes Schweigen, nachdem sich Luca uns so offenbart hatte.

„Was hat sie zu Roman gesagt?“

Luca hob den Kopf und sah Roman direkt in die Augen.

„Sie hat dich einen Verräter genannt.“

Ich konnte nicht sagen, wer mehr überrascht war, Roman oder ich.

„Aber ich kenne sie doch nicht“, war alles, was Roman dazu einfiel, „was fällt ihr ein!“

Er schien wirklich wütend zu sein.

„Ich geh sie fragen“, meinte ich und lief in Luisas Zimmer, wo sie auch tatsächlich auf dem Bett saß.

Ich ließ mich ihr gegenüber auf die Matratze fallen und musterte sie erst einmal einen Moment schweigend.

„Was war das denn gerade?“, brach ich schließlich die Stille.

„Es tut mir Leid, ich hab die Fassung verloren, als ich ihn gesehen habe.“

„Wieso hast du Roman einen Verräter genannt?“

Luisa fuhr sich mit der Hand durch die Haare und lächelte mich schwach an. Sie schien nicht überrascht.

„Ich habe dir doch erzählt, wie viel die Aufgabe meiner Familie für mich bedeutet.“

Ich nickte.

„Wie du dir sicher schon gedacht hast, muss nur ein Kind die neutrale Position übernehmen, im Regelfall der oder die Erstgeborene. Wurde diese Position einmal offiziell übernommen, gibt es kein Zurück mehr, man ist verpflichtet beiden Seiten Zuflucht und Hilfe zu gewähren. Für Menschen wie mich ist dieses Versprechen heilig, aber..“

Luisas rechte Hand ballte sich um die Bettdecke zur Faust.

„...vor bald zweihundert Jahren ging ein Mann, der diesen heiligen Eid abgelegt hatte, ein Abkommen ein, dass ihm und seiner Familie Wohlstand versprach. Im Gegenzug hinterging der seine Prinzipien.“

Luisa presste die Augen zusammen und ihre rechte Hand verkrampfte sich.

„In demselben Jahr gewährte er einer der wichtigsten Persönlichkeiten unserer damaligen Welt Zuflucht: Alec, einem Vampir, der sehr um ein gutes, gesundes Zusammenleben mit den Menschen bemüht war. Er hatte damals die Oberhand über die osteuropäischen und russischen Vampire. Leider hatte er sich mit seiner Politik viele Feinde gemacht und musste sich schließlich sogar vor seinem eigenen, meistgeliebten Geschöpf verstecken. Diese Schwäche nutzte der Vermittler aus. Er gewährte Alec Unterschlupf, lud ihn in sein Haus ein und rammte ihm einen Pflock ins Herz, als Alec schlief.

Ich weiß nicht, wer sich in diesem Moment mehr freute, das in den Rücken fallende Geschöpf Constantin oder der Verräter Pawel Kosloff. Oder einfach die Vampirjäger, die das ganze bezahlt hatten.“

Kapitel 5 - Ein Stück Erinnerung

Ich sog überrascht die Luft ein. Die Familie Kosloff war die größte Schande in der Welt der Vermittler, sie hatten deren Ruf in den Schmutz gezogen und alle anderen in Gefahr gebracht. Nun verstand ich Luisas Wut, auch wenn sie an Roman fehlgerichtet war. Ich bezweifelte, dass er davon wusste, war er doch so ein stolzer Jäger.

Plötzlich schämte ich mich dafür versucht zu haben Luisa zu einer Jägerin zu machen. Solang nicht alle Vampire tot waren, brauchten wir wirklich Menschen wie sie, leider.

„Woher wusstest du, dass Roman ein Kosloff ist?“, fragte ich sie behutsam.

„Die Vermittler haben auf die Familie noch immer ein Auge. Weder verarbeitet, noch vergisst man so etwas schnell.“

„Ich glaube, er wäre hier nicht aufgetaucht, wenn er es wüsste.“

„Das machte die Sache ja noch so viel schlimmer“, meinte Luisa aufgebracht.

Ich verstand nicht.

„Wieso?“

„Es bedeutet, dass sie sich nicht mal genug geschämt haben, um sich daran zu erinnern, sie tun einfach, als wäre nie etwas gewesen. Das macht mich so wütend.“

Tränen stiegen ihr in die Augen.

„Und was wirst du jetzt tun?“, fragte ich sie, „Redest du mit Roman darüber?“

„Wir pflegen keinen Kontakt zu Verrätern und deren Familien. Mit ihrem Geld haben sie sich zwar die Gunst vieler Vermittler zurückgekauft, aber die Familie von Ulm-Erbach hat noch Stolz und Ehre, wir sind nicht käuflich.“

Ich seufzte schwer. Die Vermittler waren genauso engstirnig, wie wir Jäger, aber es musste hier jemand die Wogen glätten, sonst würde Luisa vielleicht doch genauer hinsehen und herausfinden, was wir hier wirklich wollten.

„Dann werde ich an deiner Stelle mit Roman reden.“

Luisa blicke mich überrascht an, ließ mich aber gewähren, als ich das Zimmer verließ. Roman war nicht mehr im Esszimmer, aber ich fand ich nach kurzem Suchen in einem der anderen Zimmer, wo er durch ein Fenster auf die Stadt hinaus sah. Als ich den Raum betrat, blickte er sich zu mir um und lächelte schwach.

„Irgendwie verlief unser Wiedersehen nicht ganz so, wie ich mir das vorgestellt hatte.“

Ich stellte mich neben ihn an die Fensterbank.

„Ja, dich hier in Deutschland und auch noch so bald wieder zu sehen, das hätte ich nicht erwartet.“

Ich hielt einen Moment inne.

„Wieso bist du eigentlich hier?“

Ich sah ihn bei dieser Frage nicht an, denn ich wollte nicht, dass er die Hoffnung in meinen Augen sah.

„Die Nachricht von Pascales Tod hat sich schnell verbreitet, ebenso wie eure Pläne als nächstes Oswald zu töten.“

Natürlich war es deswegen hier, was hatte ich mir nur gedacht.

„Auch wenn dein Name nicht fiel, war mir sofort klar, dass du ein Teil dieser Gruppe sein musstest. Um ehrlich zu sein war ich nicht so wütend darüber, wie ich hätte sein sollen, dass du dein sicheres Versteck verlassen hattest. Ich... ich war erleichtert dich wieder in greifbarer Nähe zu wissen.“

Überrascht hob ich den Blick von der Fensterbank und sah in Romans Augen, die mich mit einem komischen Ausdruck musterten und sofort waren die Gefühle, die ich so sorgsam verpackt hatte, als ich Russland und ihn verließ, wieder da. Ich wusste, dass jetzt ein mindestens genauso schlechter Zeitpunkt für, was immer auch zwischen uns war, war wie zuvor, aber irgendwie konnte sich dieser Gedanke einfach nicht in meinem Kopf durchsetzen. Diese beinahe greifbare Spannung zwischen uns vereinnahmte mich vollkommen und ließ keinerlei Bedenken zu. Es war keine Liebe, da war ich mir sicher, aber dass etwas zwischen uns war, konnte ich nicht leugnen. Wenn die Umstände doch nur andere wären, dann hätten wir Zeit herauszufinden was. Wieder einmal wurde mir bewusst, dass ich seit Jamie niemanden mehr an mich herangelassen hatte und wie sehr ich es vermisste.

Roman schien in meinem Blick zu sehen, dass ich der Situation nachgab.

„Das ist eine dumme Idee“, flüsterte er, doch trotzdem näherte sich sein Gesicht meinem, „eine ganz dumme Idee.“

Auch mir schossen hundert Gründe durch den Kopf, warum wir auf keinen Fall an Russland anknüpfen sollten. Die Mission, die Vampirjäger, der aufkommende Krieg, der in der Luft lag; was bedeutete das alles schon in einem Moment wie diesem? Und, um ehrlich zu sein, machte die ganze Situation einen gewissen, unleugbaren Reiz aus. Also lehnte ich mich ebenfalls vor und küsste ihn. Einen Moment schien Roman überrascht, aber nur einen Moment, dann hatte er schon einen Arm um meine Taille geschlungen und mich näher zu sich herangezogen. Ich lächelte im Kuss, legte meine Arme um seine Hals und fuhr mit meiner rechten Hand durch sein Haar. Wir landeten auf dem Sofa und seine Hand begann mein T-Shirt hochzuschieben, als wir ein charmantes „Oh shit“ vernahmen. Sofort zucken unsere Blicke zur offenen Tür, in der Luisa stand.

„Tut mir Leid“, meinte sie etwas perplex, „ich dachte nur, dass es echt feige war dich vorzuschicken, Luna, also wollte ich das selbst klären, aber wie es scheint seit ihr beschäftigt.“

Sie schüttelte den Kopf und drehte sich schon um zum gehen, als ich sie zurückhielt.

„Warte!“, rief ich und sie drehte sich mit hochgezogener Augenbraue um.

Roman und ich setzten uns endlich auf, ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare und seufzte schwer.

Uns tut es Leid. Es war weder die richtige Zeit, noch der richtige Ort... besonders nicht der richtige Ort. Und es wäre echt nett, wenn du den anderen nichts davon erzählen würdest“, endete ich mit gesenktem Blick.

Zu meiner Überraschung lachte Luisa und ich blickte auf. Auch Roman schien verwundert.

„Immer, wenn ich beginne die Sage zu vergessen, passiert so etwas“, meinte sie schmunzelnd und schüttelte den Kopf.

„Was für eine Sage?“, fragte ich verwirrt.

Luisas Lächeln erstarb.

„Es ist eher eine Art Fluch, der auf dem Schloss liegt und ist so alt, wie die Grundmauern selbst. Meine Familie gehörte nämlich schon zu den Vermittlern, als dieses Schloss erbaut wurde. Zu dieser Zeit suchten viele Liebespaare, die zwischen den Welten standen, die Hilfe der Vermittler, doch diese Art der Verbindung konnten nicht einmal wir schützen. Es war ein Punkt, der von der Neutralitätsvereinbarung nicht aufgefangen wurde, da diese Beziehungen einfach zu viele Risiken bargen. Dann tat meine Familie das einzige, wofür wir uns jemals schämten: Wir suchten die Hilfe einer Hexe auf und baten sie das Schloss mit einem Zauber zu belegen, das solche Liebespaare von hier fernhielt. Doch Hexen sind wie die Dschinn in Geschichten: Sie suchen Schlupflöchern in deinen Worten und erfüllen zwar ihren Auftrag, jedoch so, dass er dir möglichst viele Probleme bereitet. Und so machte sie aus dem Schutzzauber einen Fluch. Die Paare kamen trotzdem zu unserem Schloss, doch sobald sie die Schwelle übertraten waren sie dazu gezwungen sich eines Tages gegenseitig töten zu müssen. Die meisten menschlichen Partner dieser Verbindungen wurden noch in derselben Nacht von ihren vampirischen Gefährten in Schlaf ausgesaugt. Jedoch waren sie selbst ebenso wenig wach gewesen, sondern hatten es im Schlafwandel getan, was bei fast der Hälfte dieser Vampire dazu führte, dass sie sich selbst töteten, aus Schmerz über den Verlust ihres Geliebten. Den Rest mussten wir töten, weil sie die Neutralitätsvereinbarung gebrochen hatten.“

Einen Moment herrschte Stille im Raum.

„Tut mir Leid, es war völlig unangebracht jetzt davon anzufangen und euch solch einen Schrecken einzujagen. Ihr seid schließlich zwei Menschen, also hat das ja überhaupt keine Bedeutung für euch.“

„Es gibt Hexen?“, war das Einzige, was mir dazu einfiel.

„Nicht mehr. Ihre Ausrottung war der eine Punkt, in dem sich Vampire und Jäger einig war. Und die Geschichten, die meine Familie über die Generationen über sie überliefert hat sind furchterregend. Diese Wesen waren richtige....“

Luisa rang nach einem passenden Wort.

Tschudowischtschje“, meinte Roman und ich blickte ihn mit einem dumpfen Gefühl im Magen an.

„Was heißt das?“, fragte Luisa verwirrt.

„Monster“, antwortete ich an Romans Stelle und beide sahen mich überrascht an, „Es bedeutet Monster.“

„Woher weißt du das?“, fragte Roman mich.

„Weil ich ebenfalls schon einmal so genannt worden bin.“

„Von wem?“, hakte Luisa nach, die sich von meinem in die ferne gerichteten Blick nicht einschüchtern ließ.

„Constantin“, antwortete ich kurz angebunden, eigentlich gar nicht mehr richtig anwesend.

Tschudowischtschje, war das eine allgemein verbreitete Ansprechweise von Hexen in Russland? War es das, was Constantin gemeint hatte? Das würde zumindest sein ungemeines Interesse an mir erklären, wo doch Hexen angeblich ausgestorben waren. Vor drei Jahren hätte ich Luisa noch dafür ausgelacht, dass sie von Hexen so sprach, als ob sie wirklich daran glaubte. Allerdings hätte ich das zu diesem Zeitpunkt auch mit Menschen gemacht, die behaupteten, dass Vampire wirklich existieren. Also ja, warum sollten Hexen nicht auch existiert haben. Es war naiv zu glauben, dass keine anderen Sagenwesen als Vampire wirklich existierten. Ich hatte geglaubt, dass ich einen offenen Blick hätte, nachdem ich von den Vampiren erfahren hatte, aber wie sich herausstellte, war mein Horizont doch noch sehr begrenzt, da ich über diese Möglichkeit noch nicht einmal nachgedacht hatte. Allerdings stellte sich dabei dann noch die Frage, was eine Hexe tatsächlich war. Schließlich gab es genau wie bei den Vampiren hunderte von Definitionen. Wenn ich allerdings von Constantin verfolgte wurde, weil ich so ein Wesen war, dann mussten sie geboren werden, schließlich gab es ja niemanden, der mir Hexerei hätte beibringen können, also musste ich es in mir haben.

Es war einfach zu absurd. Ich war ein Mensch, einfach nur ein Mensch. Weder über die Maßen stark oder intelligent, noch in sonst irgendeiner Art und Weiße herausragend. Eine tote Familie war heutzutage auch nichts Besonderes mehr. Und auch meine Eltern waren keine besonders herausragenden Menschen gewesen.

Eine Erinnerung durchzuckte mich, eine Szene, von der ich erst kürzlich geträumt hatte. Der komische hochgewachsene Mann, mit dem langen blonden Haar und den anmutigen Gesichtszügen, der vor so vielen Jahren meinen Vater aufgesucht hatte. Er war tatsächlich anders gewesen, aber ich hatte ihn seit diesem Tag vor beinahe zwanzig Jahren nicht mehr gesehen und eigentlich stellte ich gerade auch nur wilde Mutmaßungen an. Trotzdem ging mir dieser eine Satz nicht mehr aus dem Kopf:

„Das ist mir egal, jetzt ist sie meine Tochter.“

Etwas stimmte definitiv mit meiner Vergangenheit nicht. Dass mir das nicht früher aufgefallen war. Vielleicht hatte es auch gar nichts mit Hexen, Vampiren und anderen Dingen zu tun, von denen ich erst seit kurzem wusste. Vielleicht hatte es einfach mit etwas ganz anderem zu tun. Vielleicht war ich einfach nur... adoptiert. Niemand sonst in meiner Familie war blond gewesen. Millionen Kinder wurden jährlich adoptiert, wieso dann nicht auch ich? Und kurz nach dem Besuch dieses Mannes waren wir umgezogen. Weit fort. Wieso war mir das zuvor noch nie komisch erschienen? Aber danach war mein Leben wieder normal gewesen.

Blondes Haar. Der komische Mann an der Tür hatte blondes Haar gehabt, wie ich. Und er hatte grüne Augen gehabt, wie ich.

„Jetzt ist sie meine Tochter.“

Für mich war die Sache klar: Ich war adoptiert. Vielleicht war sogar der komische Mann mein wirklicher Vater gewesen, der mich zurückhaben wollte. Was die Frage aufwarf, warum er mich überhaupt hergegeben hatte. Aber meine Züge waren so anders als die seinen. Allerdings wusste ich auch nicht, wie meine Mutter aussah. Vielleicht hatte sie mich ja nicht gewollt.

Und vielleicht machte mich mein Chaos von einem Leben gerade einfach so verrückt, dass ich absurde Theorien aufstellte. Vielleicht erinnerte ich mich auch einfach falsch an die Worte meines Vaters, schließlich war es fast zwanzig Jahre her und ich war noch ein Kleinkind gewesen. Ich würde mich mit dieser Frage beschäftigen, wenn die wichtigen Dinge alle geklärt wären. Es mussten erst noch ein paar Vampire sterben, bevor ich mich mit der unbedeutenden Frage beschäftigte, ob ich adoptiert gewesen war oder nicht. Denn egal ob meine Eltern auch meine biologischen Eltern gewesen waren, sie hatten mich geliebt und das war das Einzige, was zählte.

Kapitel 6 - Rüsten

Ich riss mich zusammen und kehrte in die Gegenwart zurück. Schließlich gab es einen Grund, warum ich eigentlich mit Roman hatte sprechen wollen. Nämlich seine Vergangenheit. Besser gesagt die seiner Familie. Wie hieß es doch so schön? - Wenn man lange genug gräbt, wird man schon Dreck finden. Ich hatte die Familie Kosloff für ein Musterbeispiel gehalten, aber auch sie hatte die anscheinend unvermeidliche dunkle Vergangenheit. Doch anscheinend hatte Luisa es ihm schon gesagt, während ich geistig abwesend gewesen war. Denn nun war es Romans Blick, der ungläubig in weite Ferne gerichtet war. Ich kannte das, wenn auch anders, aber ich war mir sicher, dass es bei ihm nicht weniger schlimm war. Auch er verlor gerade seine Familie – auf gewisse Weise. Und es war schlimmer, denn er verlor sie, obwohl sie noch lebten. Es stand außer Frage, dass Romans Vater davon wusste und es geheim zu halten war für Roman unverzeihlich, das sah ich in seinem Gesicht.

„Wir gehen“, meinte er plötzlich und überraschte mich damit sehr, denn ich verstand die wahre Bedeutung hinter diesen Worten: Wir würden zu Oswald gehen.

Was bedeutete, wir würden gegen das Protokoll verstoßen und damit unser Leben unnötiger Gefahr aussetzen. Doch ein Blick in Romans Augen zeigte mir, dass es ihm egal war. Ich kannte auch dieses Gefühl. Er musste etwas Gefährliches tun, um sich zu beweisen, dass er noch am Leben war, dass das hier tatsächlich das wirkliche Leben und nicht irgendein kranker Scherz war. Also nickte ich und lief los, um Luca und Christian Bescheid zu geben. Sie saßen im Wohnzimmer auf dem Sofa und unterhielten sich. Als ich hereinkam, sahen sie auf.

„Wir gehen“, meinte ich schlicht und es dauerte einen Moment, bis sie begriffen.

„Was hat ihn dazu gebracht seine Meinung zu ändern, Kleines?“, fragte Luca verwirrt.

„Ist das wirklich wichtig? Fakt ist, dass er jetzt los will und wir sollten das auch machen, bevor er wieder seine Meinung ändert, also Beeilung!“

Das schien die beiden aufzurütteln und sie sprangen auf, um ihre Sachen zusammenzupacken. Ich tat es ihnen gleich und ging in Luisas Zimmer, um mich auf den Kampf vorzubereiten. Als Darius mir diese Klamotten geschenkt hatte, wollte ich sie ablehnen, denn nichts war mir in diesem Moment peinlicher und unnötiger und nicht zu vergessen klischeehafter erschienen, als ein schwarzes Lederoutfit. Darius hatte mir jedoch einen langen Vortrag darüber gehalten, dass Leder von den normalen Stoffen für Kleidung noch immer den meisten Schutz bot. Außerdem war in das Oberteil ein kugelsicherer Stoff eingearbeitet. Das einzige, was mich daran störte, war, dass es meine Arme freiließ und somit meine Narben gut zu sehen waren. Aber in diesem Fall würde ich wohl damit leben müssen. Mein neues Pony flocht ich, meinem Scheitel nach, nach links, damit es aus dem Weg war. Als ich in den Spiegel sah, störte mich jedoch, wie kindlich mein Gesicht damit wirkte, also nahm ich mir kurzentschlossen Luisas Kajal und umrahmte meine Augen mit einer breiten schwarzen Linie. Ich war mit dem Ergebnis zufrieden, auch wenn ich damit sehr blass und wie ein Hollywood-Vampir aussah, aber wenigstens nicht mehr wie ein kleines Kind. Auf dem Weg aus dem Bad, fiel mir aber ein Lippenstift am Waschbecken auf. Aus Neugier öffnete ich ihn und konnte über die Farbe nur schmunzeln: blutrot. Ich konnte einfach nicht widerstehen. Am Ende sah ich aus wie ein Vamp... oder eine Domina. Auf jeden Fall etwas furchterregend. Auf der Straße würde man mich auch nicht wiedererkennen, falls es hier jemanden gegeben hätte, der mich hätte erkennen können. Abschließend legte ich noch das Geschirr mit denn Dadao um, sowie den Gürtel mit den zwei Dolchen und versteckte den dritten im Schaft meiner hohen Stiefel mit Stahlkappe. Hätte ich meine Haare zurückgegeelt, dann hätte ich wie Trinity ausgesehen.

Vor dem Zimmer warteten schon die anderen auf mich und Christian blieb tatsächlich der Mund offen stehen, als er mich sah.

„Irgendwie hab ich das Bedürfnis zu sagen, ich war ein böser Junge, Kleines“, meinte Luca schmunzelnd.

Er und Roman trugen aber eigentlich dasselbe Outfit wie ich: ärmellose Lederweste, enganliegende lange Lederhose und hohe Springerstiefel mit Stahlkappe. An Lucas linker Seite hing das Dsulfiquar Tegha, das er aus der Waffenkammer der Vampirjäger in der Schweiz mitgenommen hatte. Daneben hing ein langer Dolch, genauso wie auf der gegenüberliegenden Seite. An Romans Gürtel hing ein klassisches Breitschwert, so wuchtig, dass ich es wahrscheinlich nicht einmal über den Kopf schwingen könnte. Dazu die obligatorischen beiden Dolche und, stellte ich überrascht fest, an seinem Rücken war ein Morgenstern befestigt. Das war eine gefährliche Sache, von der eigentlich abgeraten wurde. Denn wenn man rückwärts gegen eine Wand gestoßen wurde, würden sich die Stacheln einem selbst in den Rücken bohren. Luca legte sich gerade eine Art Schärpe um, an der eine Reihe Shuriken befestigt war.

„Du hast nicht zufällig ein paar Wurfmesser für mich übrig?“, fragte ich ihn.

Lächelnd ging er an seine Tasche und holte aus einem Seitenfach eine metallene Box, die mit einem Zahlencode gesichert war, hervor. Nachdem er sie geöffnet hatte, kamen sicher zwanzig identische Wurfmesser zum Vorschein. Die Klingen waren mir Runensymbolen bedeckt, was mich überraschte. Ich befestigte jedoch jeweils drei an meinen Oberarmen, sowie noch einmal jeweils zwei in meinen beiden Stiefeln. Roman tat es mir gleich und Christian beobachtete die Prozedur einfach.

„Was für Waffen hast du eigentlich bei dir?“, fragte ich ihn schließlich skeptisch.

Er zog die weite Weste, die er an hatte zur Seite und zum Vorschein kam ein Paar Wettkampf-Kamas. Ich sog anerkennend die Luft ein.

„Ich hoffe du kannst mit diesen Dingern umgehen.“

„Pascal hat mich an ihnen unterrichtet“, meinte Christian schulterzuckend, warf einen der Kamas in die Luft, fing ihn perfekt wieder auf und steckte ihn zurück an den Gürtel.

„Dann kannst du doch sicher auch mit Wurfwaffen umgehen“, meinte ich und wollte ihm schon einige meiner Wurfmesser abgeben, doch Christian lehnte ab.

„Wenn dann Shuriken“, meinte er und ich blickte Luca an.

Seufzend trat dieser wieder an seine Tasche, holte eine andere Box hervor und Christian bediente sich an den darin liegenden Shuriken.

„Meine Waffen möchte ich aber wieder haben“, grummelte Luca und ich verdrehte die Augen.

„Lasst uns gehen.“

Doch bevor wir verschwinden konnten, trat Luisa den Raum und zog scharf die Luft ein.

„Was soll denn dieser Aufzug?“, fragte sie mit eisiger Stimme.

„Wir müssen feindliches Gebiet durchqueren“, meinte Luca schlicht.

„Verarschen kann ich mich selbst“, spie sie.

Ja, Luisa war sauer, und zwar so richtig.

„Luisa...“, begann ich, doch wurde unterbrochen.

„Ihr werdet nicht den Krieg in meine Stadt bringen!“

„Der Krieg ist schon längst da“, meinte ich schlicht und schien sie damit zu ernüchtern.

„Wie meinst du das?“, fragte sie, die anderen vollkommen ignorierend.

„Pascal Ledoux hat dem endgültigen Tod ins Auge gesehen und Oswald wird ihm folgen, ob du es willst oder nicht.“

Luisas Gesicht wurde bleich.

„Pascal ist tot?“, fragte sie ungläubig und ich nickte.

Irgendwoher hatte Luisa plötzlich Autoschlüssel und stürmte aus dem Schloss. Überrascht rannten wir ihr hinterher.

„Luisa!“, rief ich, „Wohin gehst du?!“

„Ich stelle Reginé unter den Schutz der Vermittler. Habt ihr eigentlich einen Moment darüber nachgedacht, was mit dem Machtvakuum passieren soll, wenn ihr Oswald getötet habt?!“, brüllte sie aufgebracht.

Ich griff nach ihrer Schulter, nur im nächsten Moment auf dem Boden zu liegen, Luisa auf meiner Brust sitzend, ein Messer an meine Kehle gedrückt. Ich war so überrascht, dass ich nicht reagieren konnte. Natürlich hätte mir klar sein müssen, dass Luisa kein normaler Mensch war und deshalb kämpfen gelernt hatte, bevor sie laufen konnte, aber sie sah einfach so jung und unschuldig aus.

„Ich sollte euch eigentlich alle auf der Stelle töten“, meinte sie mit bitterer Stimme und mir blieb das Herz stehen, als mir bewusst wurde, dass sie es konnte, „aber ich glaube nicht, dass das, was ihr da losgetreten habt aufzuhalten ist, also werde ich dafür sorgen, dass jemand vernünftiges da sein wird, der in der Lage ist das Chaos aufzuräumen, dass ihr hier hinterlasst.“

Sie nahm das Messer von meiner Kehle, erhob sich und setzte sich in das Auto. Bevor sie losfuhr, ließ sie noch einmal das Fenster herunter und beugte sich hinaus. Ich lag noch immer auf dem Boden und blickte sie an. In ihren Augen lag tiefer Schmerz.

„Ich hatte gedacht, du hättest es verstanden“, meinte sie traurig an mich gewandt, „ich dachte wirklich, du wärst anders.“

Dann fuhr sie davon und ich hatte keine Zeit weiter über ihre Worte nachzudenken. Ich sprang auf und wir alle setzten uns eilig in den Mercedes.

„Denkt ihr, sie wird Oswald anrufen?“, fragte Christian ängstlich.

Ich schüttelte den Kopf.

„Nein. Wie sie gesagt hat, nach Pascals Tod ist der Oswalds unvermeidlich und wenn wir es nicht tun, dann werden bald andere kommen um unsere Aufgabe zu vollenden.“

„Ich glaube der Hauptgrund war, dass sie dich mochte, Sam“, erwiderte Roman, „Sie hätte es nicht übers Herz gebracht dich zu töten.“

Ich sah ihn überrascht an. Natürlich war mir Luisa auch auf Anhieb sympathisch gewesen, aber ich glaubte nicht, dass es sie daran gehindert hätte mich zu töten, auch wenn es vielleicht von etwas Wehmut begleitet gewesen wäre.

„Roman, sie ist eine Vermittlerin, ich bin mir sicher sie wurde ihr ganzes Leben lang darauf vorbereitet in einer solchen Situation nicht emotional sondern rational zu reagieren. Wenn, dann war ihr der bloße Gedanke töten zu müssen zuwider, nicht im speziellen uns töten zu müssen.“

„Wo genau in Ulm hält sich Oswald eigentlich auf?“, fragte Luca, der am Steuer saß, Christian.

„Momentan hält er sich im Hotel auf, eine Luxus-Suite im 13. Stock des Maritim.“

„Dann sind seine Aufenthalte ja tatsächlich sehr kurzweilig, wenn er nur in Hotels wohnt.“

„Er reist wirklich sehr viel, weil er gerne alles selbst in Augenschein nimmt, aber eigentlich hat er einen Unterschlupf in Ulm. Es gab jedoch letzte Woche einen Wasserrohrbruch in dem Haus und Oswald hält sich dort nicht gerne zur selben Zeit wie Sterbliche, die nicht seine Blutdiener sind, auf. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir nicht auf sein Anwesen vor Ermingen müssen, denn es ist das reinste Labyrinth. Hätte er unser Vorhaben dort enttarnt, dann hätten wir keine Chance gehabt lebend wieder herauszukommen. Bei dem Hotel sieht die Sache natürlich anders aus. Dort schafft es vielleicht einer von uns wieder lebend heraus.“

„Das sind ja nette Aussichten“, meinte ich sarkastisch und Christian zuckte entschuldigend mit den Schultern.

„Ich habe leider keine Ahnung, wie viele seiner Untergebenem bei ihm sein werden, wenn wir ankommen. Davon hängt alles ab.“

„Blöde Frage“, fiel mir nach einer Weile des Schweigens ein und die Männer wandten sich mir zu, „aber wie kommen wir denn bitteschön mit den ganzen Waffen durch die Lobby?“

Daran hatten sie nicht gedacht, ich sah es in ihren Gesichtern. Seufzend stützte ich mein Gesicht in die Hände.

„Also ich hab für mich noch eine Skijacke in der Tasche, wie sieht's bei euch aus?“

„Jacken“, meinte Luca erleichtert, „ja, ich habe noch einen langen Mantel dabei.“

„Ich auch“, antwortete Roman, ebenfalls erleichtert.

„Na das fängt ja gut an“, murmelte ich.

Kapitel 7 - Tod der Zwillinge

Zu meiner ungeheuren Erleichterung musste Roman den Morgenstern abnehmen, weil er unter der Jacke einfach zu auffällig gewesen wäre. Meine Dadao waren da schon hart an der Grenze. Ich hatte mich dann doch für den eigentlich zu meinem Outfit gehörenden knöchellangen Ledermantel entschieden. Und als wären wir noch nicht Klischee genug, setzten wir alle noch eine dunkle Sonnenbrille auf.

„Ich fühle mich, als würden wir gleich in die Matrix gehen“, seufzte ich über mein Outfit und Luca lachte.

„Wenn wir beide nachher noch leben, gerne.“

ich lächelte schwach. Ja, es stand durchaus auf dem Plan, dass wir es nicht alle schaffen würden.

„Okay, alle fertig?“, fragte ich in die Runde und sie nickten, „Dann los.“

Der Weg aus dem Untergrundparkhaus ins Hotel bereitete mir ein ungutes Gefühl. Christian hatte uns während der Autofahrt zwar den Plan ausführlich erklärt, aber er war... lückenhaft. Ich hatte einfach ein ungutes Gefühl bei der Sache.

Als wir vor der Tür in die Lobby standen, wandte ich mich noch einmal Luca zu.

„Am besten keine Matrix-Vergleiche mehr ab hier?“

„Wieso?“, fragte er überrascht.

„Weil mir gerade eingefallen ist, dass am Ende des Films fast alle tot sind.“

Dann traten wir durch die Türen in die Lobby. Christian ging voran. Er hatte noch einen schwarzen Anzug angezogen, bevor wir losgefahren waren und darüber trug er, wie wir alle, einen knöchellangen Mantel. Seine Sonnenbrille nahm er nicht ab, als er mit der jungen Frau an der Rezeption sprach. Zum unserem Glück war es eine junge Frau, die Christian becircen konnte. Man kam nämlich nicht einfach in den 13. Stock und wir hatten nur einen Alternativplan, sollte uns die Rezeptionistin nicht nach oben lassen: Gewaltandrohung. Und das war eigentlich kein Alternativplan.

Jedoch schien Christian der Frau zu gefallen und sie glaubte ihm und seinen zugegebenermaßen überraschend seriösen Auftreten, dass wir die neuen Bodyguards von Herr Weinhofen, wie sich Oswald hier nannte, waren, die Mr Ledoux ihm geschickt hatte.

Dieser Part war bereits kritisch. Denn diese Frau würde jetzt oben bei Oswald anrufen und fragen, ob sie uns hinauf lassen sollte. Würde Oswald allerdings schon von Pascals Tod wissen, würden wir in unser eigenes Verderben laufen.

Als die Frau den Hörer wieder zurücklegte, deutete sie, noch immer breit lächelnd, auf den Aufzug und Christian bedeutete uns ihm zu folgen. Wir fuhren schweigend in den dreizehnten Stock. Die Tür wurde uns von einem bulligen, gute 2,10m großen Vampir geöffnet, der uns kritisch musterte, bis sein Blick bei Christian verharrte.

„Meister erwartet euch“, sagte er in gebrochenem Englisch.

„Danke Aryeh“, meinte Christian und verbeugte sich leicht.

Aryeh nickte und dabei zuckte sein langer weißblonder Haarzopf über seine Schulter. Sein Haar war sogar noch länger, als meines gewesen war.

Wir gingen an ihm vorbei in das Wohnzimmer der Suite. Auf einem der hohen Sessel saß ein Mann, der Ende dreißig gewesen sein musste, als er gewandelt worden war, vielleicht sogar älter. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob sein Haar weiß, oder einfach von unglaublich hellem blond war. Er trug eine schwarze Anzughose mit schwarzem Hemd, was seine ohnehin schon blasse Haut kränklich weiß wirken ließ. Seine Züge aber mussten schon vor der Verwandlung wunderschön gewesen sein und jetzt blieb mir fast die Luft weg bei seinem Anblick. Sie waren einfach perfekt, kein anderes Wort passte. Obwohl er sogar seinem Wandlungsalter nach viel zu alt für mich war, fühlte ich mich zu ihm hingezogen und ein Seitenblick zeigte mir, dass weder Roman noch Luca unbeeindruckt von Oswalds Anblick blieben. Ich war so gefangengenommen davon, dass ich beinahe nicht den Mann bemerkt hätte, der hinter dem Sessel zu Oswalds rechter Schulter stand. Es war ein Mann, der Aryeh bis auf den langen geflochtenen Haarzopf glich.

Gerade noch rechtzeitig erinnerte ich mich daran auf das linke Knie zu fallen und mit gesenktem Blick die rechte Faust gegen mein Herz zu schlagen.

„Christian“, meinte er schließlich, doch wir anderen mussten weiter den Blick gesenkt halten, bis Oswald sich mit dem Wort an uns wandte, das hatte Christian uns eingeschärft, „es ist lange her für einen Menschen, nicht wahr? Ich hätte nicht gedacht, dass Pascal so schnell nach dem, was in Russland passiert ist, reagieren würde. Wobei Menschen zu meinem Schutz zu schicken erbärmlich ist. Aryeh und Tigris könnten sie in einem Wimpernschlag töten.“

Was war in Russland vorgefallen? Bedeutete das vielleicht, dass Constantin tatsächlich nicht nur im Traum gestorben war? War das tatsächlich möglich?

„Mein Meister wollte Euch auf jeden Fall wissen lassen, dass er keine Sekunde zögern wird an Eurer Seite zu kämpfen“, ging Christian auf Oswalds Worte ein, obwohl er genauso wenig wusste was hier vorging wie der Rest von uns.

Aber glücklicherweise schien was immer auch in Russland vorgefallen war dafür gesorgt zu haben, dass Oswald noch nicht von Pascals Tod erfahren hatte. Allerdings, warum wusste Roman dann nicht was passiert war? Vielleicht war es aber auch nur unter den Vampiren bekannt. Es musste also etwas sein, was sie direkt betraf und schwerwiegend genug, dass Oswald sich darum hier in Mitteleuropa Gedanken machte.

„Na gut, dann sag mir was du hier für mich hast.“

„Drei bekehrte Jäger“, wir hatten beschlossen, dass es unmöglich war diese Tatsache zu verbergen, „aus der ganzen Welt. Jeder von ihnen hat dutzende Vampire vor ihrer Bekehrung erlegt, wobei keiner von ihnen das 30. Lebensjahr bisher erreicht hat. Sie alle schulden meinem Herren ihr Leben und haben bisher jeden Auftrag zu seiner vollen Zufriedenheit und ohne eine einzige Frage ausgeführt. Nun sind sie bereit dies auch für Euch zu tun.“

„Interessant“, meinte Oswald, „sie sollen sich der Reihe nach vorstellen.“

Als erstes erhob sich Roman rechts von mir, den Blick aber noch immer gesenkt.

„Roman, 27 Jahre. Ausgebildet in Bogenschießen, Umgang mit Axt, Kurzschwert, Langschwert, Breitschwert, Dolchen, Morgenstern, Wurfmessern und Blasrohr sowie Taekwondo, Boxen, Kickboxen, Thaiboxen, Ringen und Ju-Jutsu. Ich beherrsche Russisch, Englisch und Spanisch fließend in Sprache und Schrift.“

„Ein heres, interessant. Weiter.“

Luca erhob sich.

„Luca, 28 Jahre. Meine bevorzugte Waffe ist das Dsulfiquar Tegha, sowie Säbel im Allgemeinen. Wurfmesser und Shuriken gehören ebenfalls zu meinem Fähigkeitsbereich. Ich bin ausgebildet im Faustkampf mit Ceastus sowie Boxen und Kickboxen. Italienisch und Englisch beherrsche ich fließen in Sprache und Schrift. Mein Französisch reicht für Alltagskonversationen.“

Oswald nickte.

„Weiter.“

Ich erhob mich.

„Luna, 22 Jahre. Ich bevorzuge den Kampf mit Säbeln, besonders Zwillingswaffen, sowie Wurfwaffen. Ausgebildet bin ich in Kickboxen und Krav Maga. Nur Englisch in Sprache und Schrift.“

„Eine interessante Zusammensetzung, Christian: Ein heres, ein famulus und ein Kind. Die beiden Männer nehme ich gerne in Zeiten wie diesen als Kanonenfutter, aber ich weiß nicht, was ich mit dem Mädchen anfangen soll. Blutdiener habe ich momentan mehr als genug.“

Okay, das kotzte mich gerade extrem an. Wie konnte er es wagen mich ein unnützes Kind zu nennen?! Entweder ich konnte gehen und somit den sowieso auf unglaubliche Weise gut gehenden Plan unterstützen oder ich konnte alles riskieren, indem ich eine Szene machte. Was überlegte ich da noch, die Entscheidung war schon längst gefallen.

Ich neigte den Kopf und schlug meine rechte Faust gegen die Brust. Damit waren die Wurfmesser an meinem Oberarm in Greifweite. Es war lange her, dass ich Wurmessern zwischen den Fingern hervor geworfen hatte und wenn ich Pech hatte, wäre ich in wenigen Sekunden tot; falls ich Glück hatte. Aber jetzt gab es kein zurück mehr. Ich bewegte meinen Arm schnell in einer ruckartigen Bogenbewegung und ließ die drei Wurfmesser zu unterschiedlichen Zeitpunkten los. Der erste traf Tigris in die linke Schulter, der letzte Aryeh in die rechte. Ich sah nicht, wo der zweite gelandet war, denn schon stürzten sich die hünenhaften Zwillinge auf mich. Die anderen würden sich nicht einmischen, das wusste ich. Sie konnten diesen Plan nicht wegen mir gefährden. Das hier hatte ich ganz allein gewollt. So schnell wie noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich die Dadao gezogen und stieß beide Tigris zwischen die Rippen, der überrascht aufheulte. Sofort riss ich sie aus seinem Körper hervor und das gerade noch rechtzeitig, um Aryehs Krallen abzuwehren. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer widerlichen Fratze, als er mich anfauchte und ich trat ihm mit der Stahlkappe meines Schuhs kräftig zwischen die Beine, bevor ich ihm mit einem der Dadao den kompletten linken Arm aufschlitzte, sodass sein dunkles Blut daraus hervorzuquellen begann und Aryeh wütend aufjaulte. Ich wusste, dass ihm diese Wunde nicht allzu große Schmerzen zufügte, jedoch sehr lästig war, da es einige Momente dauerte, bis die Sehnen und Muskeln wieder gut genug zusammengewachsen waren, dass er ihn wieder benutzen konnte. Aber leider gab es ja zwei von denen und Tigris dürfte sich inzwischen von den Stichwunden weitgehend erholt haben. Ich drehte mich rasch um, ließ mein rechtes Dadao an der Lederschlaufe um mein Handgelenk baumeln und schnappte mir den längeren der Dolche. Ich hatte für das jetzt höchstens ein, zwei Sekunden Zeit, bevor mich Aryeh mit seinem gesunden Arm von hinten packen würde, also musste ich mich... beeilen. Ich nahm etwas, was sich eigentlich nicht Anlauf schimpfen durfte und sprang mit erhobenem rechtem Arm auf Tigris zu und zielte auf sein Herz. Er sah mich natürlich heranfliegen, fing mich lächeln im Flug ab und begann schon zuzudrücken, als er mich noch hoch in die Luft hielt. Ich stach mit einem Lächeln, das ich mir nicht verkneifen konnte, da er auf mich hereingefallen war, den Dolch tief in sein rechtes Auge, bevor er mir sämtliche Organe zerquetschen konnte. Mit einem lauten Schmerzensschrei ließ er mich fallen, um den Dolch aus seinem Auge zu ziehen, doch ich hatte damit gerechnet. Schnell zog ich den zweiten Dolch und rammte ihn in sein ungeschütztes Herz, worauf der Vampir auf dem Boden zusammenbrach.

„Tigris!“, rief sein Zwillingsbruder entsetzt und stürzte mit aufgebrachtem, ohrenbetäubendem Kampfgeheul auf mich zu.

Ich war erstaunt, als ich die tiefe Liebe und den Schmerz über den Verlust seinen Bruders in Aryehs Augen sah. Selbst wenn Oswald ihm jetzt befehlen würde mich nicht anzurühren, er würde es nicht tun. Sein Herz und sein Verstand waren gleichermaßen vernebelt von Rache. Ich duckte mich unter seinen Krallen weg, als er nach mir schlug. Er hetzte, denn er wollte so schnell wie möglich den Dolch aus dem Herzen seines Bruders ziehen. Auch wenn er wusste, dass dieser wieder zum Leben erwachen würde, wenn man dieses Stückchen Titan aus ihm entfernte, so wütete doch die unberechenbare Angst, die man nur geliebten Menschen gegenüber empfand, in ihm. Denn Fakt war, dass Tigris in diesem Moment wirklich tot war. Nicht nur so halb wie Aryeh.

Ich schaffte es im letzten Moment Aryehs schnappenden Fängen auszuweichen und schlug mit dem Dadao nach ihm, wobei ich ihn überraschenderweise auch einen tiefen Schnitt an der Wange verpasste, was ihn nur umso wütender machte. Aryeh hatte wirklich das letzte bisschen Selbstbeherrschung verloren. Er war vollkommen zum Tier geworden und nur noch von dem niederen Instinkt der Rache angetrieben. Ich war mir sicher, dass er außer mir nichts mehr wahrnahm.

Mir kam eine Idee und ich schnappte einen Stuhl neben mir und warf ihn nach Aryeh. Dieser war so überrascht von diesem auf ihn zufliegenden Stück Holz, dass er für einen Moment seine gesamte Aufmerksamkeit auf den Stuhl richten musste, damit ihn dieser nicht traf. Ich nutzte den Augenblick und sprang dem Stuhl direkt hinterher und als Aryeh den Stuhl gerade vor sich weggeschlagen hatte, kam ich direkt hinterher und stieß das Dadao zwischen die Rippen seiner ungeschützten Brust direkt in sein Herz. Einen Moment sah er mich fassungslos an, bevor er wie sein Bruder zusammenbrach.

Kapitel 8 - So menschlich

Plötzlich klatschte jemand hinter mir in die Hände und als ich mich überrascht umdrehte, sah ich, dass es Oswald war, dessen Augen vor Freude glänzten. Schwer atmend trat ich einige Schritte auf ihn zu.

„Unglaublich“, begann er und blickte fasziniert an mir hinab, „solch eine Geschwindigkeit habe ich zuvor noch nie bei einem Menschen gesehen. Fast hätte ich geglaubt, du wärst eine von uns. Du wärst impulsiv genug für eine Nymphe, aber die würde sich nie ihr Haar so hässlich kurz schneiden. Deine Gesichtszüge sind auch zu rund für eine Elbe. Vielleicht eine Fee? Nein, die sind viel zimperlicher. Aber was sonst hätte sich durch ein Portal schleichen können... Sag mir was du bist?“

Ich war verwirrt.

„Ein Mensch“, meinte ich perplex und Oswald schien ein wenig enttäuscht.

„Ein Mensch soll Aryeh und Tigris wie unfähige Marktfrauen zusammengeschlagen haben? Nein, das ist nicht möglich. Es muss einfach mehr dahinter stecken!“

„Ich bin nur ein Mensch!“, meinte ich aufgebracht und sah ihm dabei direkt in die Augen.

Ein böser Fehler. Schließlich war es mehr zur eigenen Sicherheit, dass man den Kopf immer gesenkt ließ. Ich spürte, wie sich ein Nebel um meine Gedanken legte und ich langsam, aber sicher die Kontrolle verlor. Ich wehrte mich dagegen, wie ich es bei Mikhail getan hatte, doch Oswald war viel mächtiger als Mikhail und ließ mich nicht gehen. Am Rande meines Bewusstseins bekam ich mit, wie ich mein verbliebenes Dadao fallen ließ und auf die Knie fiel, ohne aber meinen Blick von Oswalds zu lösen.

„Was bist du?“, fragte eine Stimme in meinem Kopf und ich erschrak fürchterlich, als ich sie als Oswalds erkannte.

„Ein Mensch, ein Mensch“, jammerte ich leise, „geh' weg!“

„Unglaublich. Dir fiel es so leicht die Zwillinge zu besiegen und doch sind deine geistigen Mauern so schwach“, meinte Oswald in meinem Kopf mich ignorierend und begann in meinen Erinnerungen zu wühlen.

Ich jammerte, flehte, weinte, doch er machte einfach weiter und suchte in meinen Kindheitserinnerungen. Mir war klar, dass er das Gespräch zwischen meinem Vater und dem komischen Mann nicht finden durfte und ich stopfte sie in die hinterste Ecke meines Bewusstseins zusammen mit den Erinnerungen der letzten Wochen. Dann kam er zu meinen Teenagerjahren, zu meiner ersten Begegnung mit Jamie, zu unserem ersten Kuss, zu unserem ersten...

„Nein!“, schrie ich und schaffte es endlich ihn aus meinem Kopf zu werfen.

Das war nun wirklich keine Erinnerung, die irgendjemanden etwas anging. Wütend starrte ich Oswald an, welcher amüsiert zurückblickte.

„Und das beim ersten Date“, meinte er tadelnd und ich merkte, wie meine Wangen heiß wurden.

Also hatte er es doch gesehen, ich hatte ihn zu spät hinausgeworfen. Als ob mir das mein ganzes Leben nicht schon vor mir peinlich genug gewesen wäre. Ich war nicht gerade stolz darauf und Oswald schien das einfach nur köstlich zu finden.

„So viel zu dem Thema, dass ihr Jäger so furchtbar prüde wärt.“

Mein Gesicht wurde, wenn möglich, noch röter.

„Ich werde dich als Geschenk annehmen. Du bist wirklich interessant. Schätze dich glücklich, deine Kameraden werden beim ersten Angriff an vorderste Front geschickt.“

Er hatte uns akzeptiert, wie durch ein Wunder. Wäre es jetzt schon zu einem direkten Kampf gekommen, hätten wir sicher alle unser Leben gelassen. Und trotzdem war ich alles andere als glücklich. Zum einen, weil irgendetwas Großes gerade in Russland vor sich ging, zum anderen, weil ich die Rolle eines Schoßhündchens hatte zugesprochen bekommen. Ich hatte mir heute schon zu viel geleistet, als dass ich mich jetzt dagegen wehren könnte. Gegen Oswald waren die Zwillinge nicht mehr als ein Blatt im Wind, einfach kein Vergleich. Ich hätte keine Chance gegen ihn, also senkte ich ergeben den Kopf.

„Ich weiß Eure Großzügigkeit zu schätzen, Meister.“

Und somit machte ich mich freiwillig von einem freien Menschen zu einem Sklaven. Wobei es gar nicht so freiwillig war.

„Christian, deine Aufgabe hier ist erledigt, du kannst zu deinem Meister zurückkehren.“

Er ließ sich auf sein linkes Knie fallen und schlug mit der rechten Faust gegen sein Herz, verharrte jedoch in dieser Pose.

„Was gibt es noch, Christian?“, fragte Oswald seufzend.

„Mein Herr lässt außerdem fragen, ob Ihr es ihm gestatten würde seine Schwester fortzubringen solange diese... kritische Zeit anhält.“

Oswald lachte auf.

„Mir war klar, dass diese doch außergewöhnlichen Geschenke nicht ohne einen Wunsch kommen würden. Sag Pascal ich gewähre es ihm sich mit seiner Schwester zu verstecken. Sollte sich diese Sache jedoch zu lange hinziehen, muss er zurückkehren. Länger als ein paar Jahre dürfte das aber sowieso nicht andauern.“

Christian schlug sich erneut mit der Faust gegen das Herz, erhob sich dann schließlich und verließ die Suite. Und so einfach hatten wir das Problem mit Pascal aus der Welt geschafft. Zu dem geringen Preis der eigenen Sklaverei. Der Plan war anfangs so einfach gewesen: Rein, überwältigen, raus. Aber irgendwie war mir auch klar gewesen, dass das nie so hätte funktionieren können. Luca und Roman war es von Anfang an klar gewesen, dass es entweder auf einen Kampf auf Leben und Tod herauskommen würde oder eben mit viel Glück auf das hier. Wobei das hier meiner Meinung der Ausgang mit viel Pech war. Soviel zu Lucas Bemerkung, man könne sich nicht in Oswalds Haushalt einschleichen. Was mich wieder zu der Frage brachte, was da eigentlich los war, aber Oswald glaubte ja, dass wir es schon wusste, also konnte ich auch nicht fragen. Es machte mich verrückt.

„Nun, wer von euch soll die Ehre haben die Zwillinge wieder aufzuwecken? Sie werden wahrscheinlich ziemlich wütend sein. Da das Kind sie schon getötet hat würde ich sagen einer der Herren?“

Mit einem sadistischen Grinsen betrachtete er Roman und Luca. Die beiden schlugen sich mit der rechten Faust auf ihr Herz und senkten den Kopf, dann ging Roman zu Aryeh und Luca zu Tigris. Sie beide zogen ihre Waffen, sahen sich in die Augen und zogen dann im gleichen Augenblick meine Waffen aus den Herzen der Vampirzwillinge.

Einen Moment blieb es noch still und wir alle beobachteten schweigend, wie sich die Wunden schlossen. Vorsichtshalber hatte ich mein verbliebenes Dadao wieder vom Boden aufgehoben und hielt in der anderen Hand zwei Wurfmesser – nur für den Fall.

Aryeh erwachte als erstes und hätte sich fast selbst den Kopf abgetrennt, als er sich augenblicklich nach dem Erwachen aufrichten wollte. Wütend starrte er Luca an und der deutete mir der Klinge auf Tigris, der gerade ebenfalls begann sich wieder zu bewegen, jedoch weniger zielgerichtet als Aryeh. Er stöhnte und versuchte sich mit einer Hand den Dolch aus dem Auge zu ziehen, den ich fast vollständig in den Schädel gestoßen hatte. Aryeh war sofort bei ihm und nahm ihm diese schmerzhafte Aufgabe ab.

„Lasst euch nicht von ihrer Fürsorge täuschen, die empfinden sie tatsächlich nur füreinander und niemand anderem gegenüber“, meinte Oswald mit einem Lächeln in der Stimme.

Er genoss die Szene, das Blut, die Schmerzen. Ob er schon zu Lebzeiten so grausam gewesen war oder die Jahrhunderte oder gar Jahrtausende das an ihm angerichtet hatten? Wahrscheinlich war es besser, dass ich es nicht wusste.

„An Menschen um sich herum ist wohl das Lästigste, dass sie so viel tun müssen, um am Leben zu bleiben: Essen, Schlafen. Hoffentlich seid ihr den Aufwand auch wert!“

Oswald seufzte gespielt schwer.

„Aber jetzt hab ich erst einmal genug von euch. Aryeh, bring‘ sie bei den Snacks unter“, meinte er mit einer wegwerfenden Handbewegung und wir bewegten uns in Richtung Tür.

„Wobei, ich würde das Kind doch gerne noch ein Weilchen hierbehalten. Tigris, begleite die anderen. Ich bin mir sicher du könntest etwas Blut vertragen.“

Ich blieb erstarrt stehen und blickte einen Moment verzweifelt in Romans Gesicht. Dann riss ich mich zusammen und setzte wieder eine ausdruckslose Miene auf, bevor ich mich umdrehte und wieder in Richtung Oswald ging. Er sprach nichts, bis sich die Tür hinter den anderen geschlossen hatte.

„Schon seit tausenden von Jahren bin ich keinem Wesen mehr begegnet, das ich nicht zweifelsfrei zuordnen konnte.“

Er faltete seine blassen, langen schlanken Finger unter dem Kinn und musterte mich nachdenklich. Das Schweigen dehnte sich aus und ich wurde unruhig, wie sein Blick so auf mir ruhte und mich zu durchbohren schien.

„Woher hast du die Narben?“, fragte er neugierig.

„Ein Unfall, Herr.“

Oswald schnalzte missbilligend mit der Zunge und ich zuckte ängstlich zusammen, bevor ich es verhindern konnte. Die Wahrheit konnte ich auf keinen Fall preisgeben. Die Gefahr, dass er dadurch meine wahre Identität erraten würde, war zu groß.

„Es tut mir Leid Herr. Zu dieser Verletzung kam es während einer Jagd vor meiner Bekehrung, als mich die Druckwelle einer Explosion durch ein Fenster schleuderte. Ich spreche nicht gerne über diese Zeit.“

„Wie viele Vampire hast du in der Zeit vor deiner Bekehrung getötet?“

„43“, antwortete ich nach einem kurzen Zögern und Oswalds Augen weiteten sich für einen Moment vor Überraschung.

„Das ist eine beachtliche Zahl für einen Jäger deines Alters. Du kannst noch nicht lange in Pascals Diensten stehen.“

„Nein Herr“, bestätigte ich seine Vermutung, „erst seit 34 Tagen.“

Es war zwar nicht das Datum, an dem ich in Pascals Dienste getreten war, dafür aber das, an dem sich mein Schicksal entschieden hatte: Der Tag, an dem mich Mikhail aufgespürt hatte.

„Er muss wirklich große Stücke auf dich halten, dass er dir bereits genug vertraut, um dich hierher zu mir zu schicken.“

Da ich nichts darauf zu antworten wusste, schwieg ich einfach.

„Ich werde ehrlich sein mit dir, Kind: Die beiden Männer mit denen du hierher gekommen bist werden nicht lange überleben. Sie sind Bauern. Du aber Kind, scheinst mir ein Springer zu sein und damit um einiges wertvoller für mich. Treffe die richtigen Entscheidungen und wer weiß, vielleicht nehme ich dich dann in den Kreis meiner Gunst auf.“

‚Kreis seiner Gunst‘, so nannte man es heutzutage also, wenn man jemanden tötete und zu diesem unnatürlichen Dasein verdammte.

„Es liegt mir nichts ferner als Euch zu beleidigen Herr, aber mein einziges Bestreben ist meine Lebensschuld zu begleichen.“

Warum auch immer trieben diese Worte Oswald ein Lächeln auf seine betörenden Züge.

„Nun, wie du wünschst, aber mein Angebot bleibt bestehen und ich werde es dir erneut unterbreiten, wenn der Zeitpunkt gekommen ist. Die beginnenden Unruhen sind der ideale Zeitpunkt für dich, deinen Wert zu beweisen, jetzt, da ich Pascal seinen gewünschten Urlaub gegeben habe. Mal sehen, ob du und deine Kumpanen eine würdige Vertretung sind.“

Oswald schmunzelte über seinen eigenen Witz und ich konnte nicht anders, als sein Lächeln breit zu erwidern. Etwas blitzte in seinen Augen, doch bevor ich feststellen konnte, was es war, war es auch schon wieder verschwunden.

„Vielleicht bist du doch eine nikkessa“, meinte er noch immer schmunzelnd, „bist du gerne im Wald?“

„Nicht wirklich Herr“, meinte ich verdattert und musste an meine Flucht von Constantins Anwesen denken.

„Sonnst du dich gerne?“

„Nein Herr“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

„Bist du gerne im Wasser?“

„Ich schwimme viel, um in Form zu bleiben.“

„Kein Element, zu dem du dich besonders hingezogen fühlst?“

„Nein Herr“, meinte ich mit einem Kopfschütteln.

„Das ist wirklich schade“, seufzte Oswald, „eine wirkliche Verschwendung, dass du nur ein Mensch bist.“

 

Kapitel 9 - Oswalds Schergen

Nach diesen komischen Worten entließ mich Oswald und ich fuhr seinen Anweisungen folgend in den 16. Stock, wo das ‚menschliche Gefolge‘ untergebracht war. Ich betrat den mir genannten Raum ohne ein Klopfen mit der Schlüsselkarte und war überrascht Roman darin vorzufinden – es war eigentlich ein Einzelzimmer.

„Oh, tut mir Leid“, meinte ich perplex und erschöpft und wollte hinaus und die Zimmernummer überprüfen, als mich Roman am Arm zurückhielt.

Verwirrt blickte ich ihn an.

„Du bist schon richtig, ich hab nur auf dich gewartet um zu fragen, was Oswald noch von dir wollte.“

Müde setzte ich mich aufs Bett.

„Ich weiß es selbst nicht. Er hat ein paar Fragen gestellt, aber ich hab keine Ahnung worauf er damit hinaus wollte.“

„Es war ein langer Tag für uns alle.“

„Und wie lange müssen wir das hier machen?“, fragte ich in der Hoffnung auf eine ganz bestimmte Antwort.

„Ich habe mich mit der Vereinigung in Verbindung gesetzt, nachdem ich mich wieder beruhigt und meine Kurzschlussreaktion genauer überdacht hatte. Ich hätte der Vernünftige in dieser Gruppe sein müssen und mein fehlerhaftes Verhalten hätte uns alle das Leben kosten können.“

„Hat es aber nicht. Stattdessen sind wir hier. Wie sieht es also aus?“

„Nun“, begann er zaghaft und ich schloss die Augen, da er eigentlich nicht weiterzusprechen brauchte, „die Vereinigung wünscht, dass wir diese einmalige Gelegenheit, die sich uns hier bietet für eine Weile nutzen, um einen besseren Eindruck über das Machtgefüge der Vampire zu erhalten. Sam, so etwas wie wir hier erleben ist noch nie dagewesen!“

„Das heißt also, wir werden tatsächlich Pascals Platz als Oswalds Schergen einnehmen?“, fragte ich mit noch immer geschlossenen Augen und meine Hände ballten sich zu Fäusten vor Verzweiflung.

„Es tut mir Leid Sam, aber ja.“

Sanft strich Roman mit seiner Hand über meine Wange und ich öffnete schlagartig die Augen, da seine Berührung ein Brennen auf meiner Haut verursacht hatte. Er blickte ebenso überrascht zurück, nahm seine Hand aber nicht von meinem Gesicht fort.

„Das ist der denkbar schlechteste Zeitpunkt“, flüsterte ich mit einem traurigen Lächeln.

„Ich weiß“, stimmte mir Roman mit rauer Stimme zu, nahm aber seine Hand noch immer nicht von meinem Gesicht.

Für einen Moment starrten wir uns einfach nur in die Augen, was nicht gerade förderlich für die Situation war.

Eigentlich waren wir beide alt genug, um unsere Gefühle im Griff zu haben – wie gesagt, eigentlich. So vieles war im letzten Monat aus dem Ruder gelaufen, ich hatte mein Leben keine fünf Minuten weit kontrollieren können und ich hatte es satt das Richtige zu tun und verantwortungsbewusst zu sein. Aber die Jagd erlaubte einem den Luxus der Entspannung nicht, denn das bedeutete den Tod. Ich musste meine Gefühle immer verschlossen halten, durfte nie emotional reagieren und auch wenn es mir nicht immer gelang, so kostete es doch unendlich viel Kraft. Aber diese Situation hier war anders und ich wusste, dass Roman zu demselben Schluss gekommen war. Zu stark war unser Hunger danach nicht mehr alles bis zum Ende analysieren zu müssen, bevor wir es taten. Wir wollten uns einfach einmal von unseren Gefühlen leiten lassen und so taten wir es ohne einen Gedanken an die Zukunft oder die Konsequenzen unseres Handelns zu verschwenden. Für uns gab es nur diesen Augenblick, den Menschen vor uns im Licht des Mondes.

 

Am nächsten Morgen erwachte ich von den ersten Sonnenstrahlen, die über den Horizont krochen. Roman, der mich eng an seine Brust gezogen hatte, schlief noch tief und fest und so schloss ich noch einmal die Augen und kostete den Moment ein wenig länger aus, bevor ich mich vorsichtig aus seiner Umarmung löste und ins Badezimmer verschwand, um schnell zu duschen. Als ich aus dem Bad zurückkam, schlief Roman noch immer. Ich lehnte mich in den Türrahmen und betrachtete sein Gesicht, das im Schlaf so friedlich wirkte. Sobald er erwachte, würde das vorbei sein und die Angespanntheit zurückkehren. Leider konnte ich ihn auch nicht weiter schlafen lassen, also ging ich zum Bett, beugte mich über ihn und gab ihm einen federleichten Kuss.

Sofort schlug er die Augen auf und ich schenkte ihm ein Lächeln, das er sogleich erwiderte.

„Es ist schon Morgen“, meinte ich bloß, wohl wissen, dass er verstand.

„Sie sollten mich wohl besser nicht hier sehen“, seufzte Roman.

„Oswald würde es nur gegen uns verwenden.“

Er setzte sich im Bett auf und ich reichte ihm seine Kleidung.

„Wenn das alles hier vorbei ist müssen wir reden“, meinte Roman, als er in seine Kleider schlüpfte und ich lächelte.

„Das werden wir.“

Roman erwiderte mein Lächeln und ging zur Tür. Die Hand schon auf der Klinke hielt er noch einmal inne. Ich wollte schon fragen was los war, als er sich umdrehte, die Distanz zwischen uns mit wenigen schnellen Schritten überwand und mir einen Kuss gab.

„Wir sehen uns später“, flüsterte er an meinen Lippen, erhob sich wieder und verließ das Zimmer.

Lächelnd schüttelte ich den Kopf und fuhr mir mit der Hand durch mein nasses Haar. Es war schon verrückt, wie das Leben manchmal spielte.

Nachdem ich mir die Haare geföhnt und das dunkle Augenmakeup aufgelegt hatte, machte ich mich auf den Weg nach unten zu Oswald. Die Zwillinge waren alles andere als begeistert mich zu sehen, aber solange wir demselben Herren dienten hatte ich nichts zu befürchten. Na ja, zumindest nichts, was mich töten würde. Hoffte ich. Man sollte ja positiv denken.

Als ich vor Oswald auf die Knie fiel, überkam mich wieder dieses ungute Gefühl und ich wand mich innerlich unter seinem falschen Lächeln. Das ungute Gefühl war Angst, wie ich überrascht feststellte.

„Ah Kind, ich habe einen Auftrag für dich, wo du gleich deinen Wert für mich unter Beweis stellen kannst.“

Sein diabolisches Grinsen wurde – wenn möglich – noch breiter und ich schluckte schwer. Das hörte sich gar nicht gut an.

„Einer meiner lieben Untergebenen hat anscheinend Langeweile und vergisst sich. Er muss dringen diszipliniert werden, aber er möchte einfach nicht aus freien Stücken zu mir kommen.“

„Ich soll ihn also zu Euch bringen Meister?“, fragte ich widerwillig.

„Ihn zu mir bringen, ihn töten – das ist mir gleich, aber sein Brechen der Regel wird nicht ungestraft hingenommen werden“, meinte Oswald mit einer wegwerfenden Handbewegung, ließ mich jedoch keinen Moment aus den Augen.

„Wo finde ich ihn, Meister?“

„Johannes ist sehr nostalgisch. Meines Wissens nach hat er in den ganzen 2000 Jahren seines unsterblichen Leben die Gegend von Augsburg nie verlassen.“

Für einen Moment schien Oswald abgelenkt und seinen eigenen Gedanken nachhängend.

„Aber wenn man weiß wo seine Höhle liegt ist er eigentlich ganz leicht zu finden.“

Ich musste mich verhört haben, denn er konnte doch unmöglich Höhle gesagt haben. Ich meine, wer lebte denn schon freiwillig in einer Höhle, selbst wenn er 2000 Jahre alt war. Und außerdem hatte man vor 2000 Jahren auch schon in Häusern gelebt, das war also keine Ausrede.

„Es ist immer wieder schade, wenn jemand tjashjolaja boljesn zum Opfer fällt, aber bei Johannes war es abzusehen. Mich wundert es sogar, dass er nicht schon vor langer Zeit komplett verrückt geworden ist.“

„Wir werden so schnell wie möglich aufbrechen, Meister“, meinte ich mit gesenktem Kopf und Oswald lachte auf.

„Nein nein Kind, das ist dein Auftrag. Niemand wird dich begleiten, niemand wird dir helfen. Ich möchte wissen, was du ohne Rückendeckung vollbringen kannst, wenn dir niemand die Hand hält.“

Ich konnte mit einiger Mühe ein verärgertes Schnauben unterdrücken.

„Natürlich, Meister.“

Plötzlich tat Oswald etwas Unerwartetes, so schnell, dass ich mir anfangs nicht einmal sicher war, ob ich es wirklich sah: Er zog einen langen schmalen Dolch hervor und schnitt sich damit in den Daumen. Dann stand er ebenso schnell auf und zeichnete mit dem blutenden Finger ein Symbol auf meine Stirn während ich verkrampfte.

Als Oswald von mir wegtrat, war sein Lächeln so breit wie eh und je.

„Ich kann also davon ausgehen, dass Pascal dich nie für einen deiner Botengänge gezeichnet hat?“, fragte er amüsiert, während er mit der Zunge über seinen Daumen fuhr.

„Nein Meister“, meinte ich um Beherrschung ringend, während das Blut auf meiner Stirn ein komisches Gefühl hinterließ.

Zum ersten Mal fiel mir auf, dass es warm war, was die Situation noch viel widerlicher machte, als sie schon war.

„Vampirblut ist etwas Faszinierendes. Es zieht in die Haut ein, wie eine Salbe, hinterlässt jedoch denn unverkennbaren Geruch des Vampirs zurück.“

Für einen Moment blieb mein Herz vor Schreck stehen.

„Zumindest, bis es abgewaschen wird. Es wird dafür sorgen, dass Johannes dich nicht sofort tötet – oder vielleicht doch. Er ist momentan nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen, wie du dir sicher vorstellen kannst.“

Super, also war das also das vampirische Äquivalent zum Anpinkeln von Hydranten von Hunden.

„Ich danke Euch Meister.“

Nein Fiffi, nicht ins Gesicht von Herrchen, du böser Hund.

„Tigris wird dich zum Wagen geleiten, das Navigationsgerät wird dann den Rest für dich übernehmen.“

Ich sah die Zwillinge an, konnte aber beim besten Willen nicht sagen wer wer war. Zum Glück zeigte mir der unwillige Ausdruck auf dem Gesicht, welcher von ihnen mein neuer bester Kumpel war. Nach einer schnellen Verbeugung in Oswalds Richtung fuhren wir mit dem Fahrstuhl direkt in die Tiefgarasche. Dem Hünen neben mir kam kein Wort über die Lippen, bis wir schwarzen 1er BMW zum stehen kamen. Dann neben einem der Unterschied zu seinem Bruder aber nur allzu deutlich.

„Ich gehe mal davon aus, dass du ein Navigationsgerät bedienen kannst?“, fragte er abfällig und in perfektem Englisch, weshalb ich einen winzigen Moment brauchte, um mich wieder zu fangen.

„Natürlich“, brachte ich schließlich hervor und er drückte mir einen Schlüssel in die Hand.

„Die Adresse ist vorprogrammiert. Du wirst einen Teil der Strecke zu Fuß bewältigen müssen.“

Dann nahm er endlich den Beutel vom Rücken und gab mir meine Waffen zurück, die uns zu Beginn unseres Besuches bei Oswald, nach meiner kleinen Showeinlage, abgenommen worden waren und ich griff vielleicht etwas zu schnell danach.

Als ich schon im Auto saß trat Tigris noch einmal an das Fenster heran und ich ließ verwirrt die Scheibe herunterfahren.

„Wenn du versagst wird es mir eine Freude sein dich zu töten“, meinte er vorgebeugt, sodass ihm sein langer geflochtener Zopf über die Schulter fiel, und einem breiten Grinsen, das einem das Blut in den Adern hätte gefrieren lassen, wenn ich ihn nicht schon einmal besiegt hätte.

„Ich mich auch“, meinte ich furchtlos mit einem frechen Grinsen und drückte das Gaspedal voll durch.

Mit genügend Adrenalin für zehn in den Adern drehte ich solange an den Knöpfen des Radios herum, bis ich einen einigermaßen anständigen Sender gefunden hatte und fuhr mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit durch die morgendlichen Straßen Ulms. Überrascht stellte ich fest, dass es nach Augsburg keine zwei Stunden waren. Ich würde heute Abend schon wieder zurück sein. Was auch irgendwo logisch war, wieso sollte Oswald mir auch vertrauen? Wenn er klug war, tat er es nicht und wir würden alle sterben.

Kapitel 10 - Der erste Auftrag

Ich war nicht sonderlich begeistert, als ich das warme Auto am Ende des Feldweges verlassen musste, um mithilfe des Navigationsgerätes durch den schneebedeckten Wald zu stapfen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass hier irgendjemand leben wollte – außer vielleicht ein Verrückter. Aber tatsächlich fand ich mithilfe des Navigationsgeräts schnell den Weg, um irgendwo im nirgendwo herauszukommen, keine Höhle weit und breit. Seufzend schon ich die nun doch nutzlose Technikspielerei in die Tasche meiner Jacke und begann auf die altbewährte Weise zu suchen – mit den Augen. Nach etwa einer halben Stunde machte ich schließlich frustriert eine Pause, fuhr mir angestrengt durchs Haar und fluchte. Eine Stimme hinter mir ließ mich meine Waffen ziehen und herumfahren. Vor mir stand ein Vampir mit gebückter Haltung in zerrissenen Kleidern und langem verfilztem Haar. Seine Augen blickten gehetzt, doch er fiel mich nicht an sondern stand in abwartender Haltung einfach da und wartete anscheinend auf eine Reaktion auf seine Worte.

„Ich spreche kein Deutsch“, meinte ich schließlich und ein bizarres Lächeln huschte über das Gesicht des Vampirs.

„Verzeiht. Ich sagte, dass es äußerst ungewöhnlich ist einen Jäger mit dem Zeichen eines Vampirs auf der Stirn zu treffen, besonders wenn dieser Vampir Oswald ist“, antwortete er mit einem schweren Akzent.

„Dann müsst Ihr wohl Johannes sein.“

„In der Tat.“

„Oswald wünscht, dass ich Euch zu ihm geleite.“

„Wie kommt es, dass ein Jäger in Oswalds Diensten steht?“, ignorierte er meine Aufforderung vollkommen.

„Jeder hat seine Gründe, aber hier geht es um Sie.“

Nun schien ich doch seine Aufmerksamkeit auf das richtige Thema konzentriert zu haben.

„Hat Ihnen Oswald gesagt, warum er von Ihnen möchte, dass Sie mich zu Ihm bringen?“

„Er meint Ihr seid verrückt geworden.“

Johannes lächelte amüsiert.

„Ja, das sieht Oswald ähnlich.“

„Sie sind also anderer Meinung?“

„Nein, ich stimme ihm hundertprozentig zu.“

Überrascht blickte ich ihn an.

„Also werden Sie mit mir kommen?“

Er schüttelte den Kopf.

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Sie wollen also weiterhin ihre Verrücktheit auf die Welt loslassen?“

Johannes zuckte mit den Schultern.

„Hier in den Wäldern störe ich doch niemanden damit, oder?“

„Das sieht Oswald anders.  Und Sie werden mit mir kommen Johannes, ob sie es wollen oder nicht.“

„Und wer soll mich dazu zwingen? Sie etwas? Mit Verlaub, aber Sie sind nicht viel mehr als ein Kind. Haben Sie überhaupt ihr zwanzigstes Lebensjahr schon erreicht?“

Langsam begann der Kerl mich aufzuregen. Wieso nannten die mich nur alle ein Kind?!

„Ob Sie mich unterschätzen wollen liegt ganz bei Ihnen, ich würde es aber nicht empfehlen.“

Johannes lachte und wirkte dabei noch verrückter als zuvor.

„Sie scheinen eigentlich zu klug zu sein, um in Oswalds Diensten zu stehen. Was hat er gegen Sie in der Hand?“

Ich überlegte einen Moment, bevor ich antwortete.

„Genug dass ich jetzt vor Ihnen stehe.“

Es war zwar nicht wirklich die Wahrheit aber auch keine Lüge.

„Also würden Sie zu ihm halten egal was ich Ihnen erzähle?“, fragte er mit einem Eifer, der mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

„Sie wollen Oswald also tot sehen?“

„Was denken Sie, warum er Sie sonst hierher geschickt hat?“

„Weil sie gegen die Regel verstoßen.“

Johannes lachte verächtlich auf.

„Ich habe schon seit über tausend Jahren keinen Tropfen Menschenblut mehr zu mir genommen.“

Überrascht sog ich die Luft ein.

„Das ist unmöglich!“, rief ich kopfschüttelnd.

„Alles eine Frage des Willens.“

Ein verträumtes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

„Deshalb hat Oswald ja auch so große Angst vor mir.“

Plötzlich wurde mir klar, warum Oswald mich wirklich hierhergeschickt hatte – Johannes zu ihm zu bringen war nur eine Nebensache. Es war ein Loyalitätstest, ob ich mich aus Johannes‘ Seite Stellen würde. Ich schüttelte lächelnd den Kopf.

„Oswalds Befehl lautet tot oder endgültig tot, die Wahl liegt bei Ihnen.“

„Sind Sie denn so gar nicht an dem interessiert, was ich Ihnen sagen will?“

„Natürlich bin ich das, aber es ist irrelevant.“

„Also spricht nichts dagegen, dass wir uns erst ein wenig unterhalten, bevor Sie mich zu ihm bringen.“

Ich verdrehte die Augen und zuckte mit den Schultern.

„Wenn sie dann mit mir kommen.“

Ein Lächeln stahl sich auf seine Züge.

„Oswald hat Angst, weil er glaubt, dass mir die Einöde eines Tages nicht mehr genug sein wird...“

„Wie unvorstellbar“, meinte ich sarkastisch.

„…und ihn eines Tages seines Postens wegen zu stürzen versuchen werde.“

„Warum macht ihm das bei Ihnen so viel mehr aus? Ich meine, es trachten doch sicher haufenweise Vampire nach seiner Position?“

„Aber nicht jeder hat den Respekt von Mutter.“

„Mutter?“, fragte ich mit hochgezogener Augenbraue.

„Ja Mutter, kleiner Jäger. Unsere oberste Herrscherin, ich dachte das wüsstet Ihr.“

„Wieso nennt ihr sie dann nicht oberste Herrscherin sondern Mutter?“

„Weil sie der älteste Vampir ist, der existiert und die Erschaffungslinie eines jeden Vampirs auf sie zurückzuführen ist.“

„Sie ist also eine Art Urvampir?“

„Wenn Ihr es so nennen möchtet. Sie war die Einzige der alten Rasse, die die große Schlacht überlebt und unsere Rasse neu begründet hat. Als direkt von ihr geschaffener Vampir genieße ich in meiner Welt großes Ansehen und Respekt.“

„Ist es dann nicht dumm von Oswald Euch töten lassen zu wollen?“

„Mutter wäre sicher nicht erfreut über meinen endgültigen Tod, aber es ist meine Aufgabe mein Leben zu schützen, nicht ihre. Wenn ich dazu nicht selbst in der Lage bin, dann war ich ihres Respektes nie wert – so sieht man das in meiner Welt.“

„Erwarten Sie jetzt wirklich Mitleid von mir?“, fragte ich spöttisch.

Johannes zog überrascht eine Augenbraue in die Höhe.

„Nun, eigentlich schon. Ihr Menschen seid eine so emotionale Rasse.“

„Ja, aber nicht jeder Mensch bedient das volle Spektrum an Emotionen.“

„Und Sie sind eher der Rache-Typ, hab ich Recht?“

Als Antwort schenkte ich ihm ein verschlagenes Lächeln.

„Ich muss zugeben, dass Sie mit diesem Lächeln selbst mir einen Schauer über den Rücken jagen.“

„Dann mache ich meinen Job ja richtig. Aber, wenn ich fragen darf, würde ich doch gerne wissen, warum Oswald Angst vor Ihnen hat?“

Johannes vollführte eine ausladende Geste.

„Ist das nicht offensichtlich? Er hat Angst, dass Mutter ihn eines Tages durch mich ersetzt.“

„Das ist nun wirklich eine dumme Idee“, meinte ich schnaubend.

„Wie meinen?“, frage Johannes mit hochgezogener Augenbraue.

„Oswald hat mir erzählt, dass Sie seit Ihrer Erschaffung den Raum um Augsburg nie verlassen haben – nie. Wenn Sie nicht einmal bestrebt sind Ihren Lebensraum zu vergrößern, wieso sollten Sie dann Ihren Machtraum vergrößern wollen? Unwahrscheinlich.“

„Nach meiner Erschaffung vielleicht nicht, davor aber durchaus. Ich lief sogar einmal zu Fuß über die Alpen bis nach Rom. Danach war ich einfach müde.“

„Nach Rom? Religiöse Gründe?“

Johannes lachte auf.

„Auch wenn mein Name vielleicht darauf schließen lässt, so lebte ich doch lange bevor diese neue Modeerscheinung auftrat, aber meine Muttersprache wurde schon vor langer Zeit vergessen, genauso wie mein Volk. Mit einem modernen Namen ist das Leben leichter.“

„Wieso dann nicht Justin?“, fragte ich in mich hinein lachend.

„Es gibt einen Unterschied zwischen modern und einfach nur dämlich“, meinte Johannes trocken.

„Sie sind überraschend gut informiert für jemanden, der irgendwo im nirgendwo lebt.“

„Oswald schickt regelmäßig jemanden zu mir, manchmal menschlicher, manchmal vampirischer Art. Sie alle sprachen mit mir, bevor ich sie tötete“, meinte er schulterzuckend und ich festigte den Griff um meine Dadao.

„Sie töten also den Boten? Das ist aber nicht gerade guter Stil.“

Johannes zuckte mit den Schultern.

„Es vermittelt die richtige Botschaft an Oswald: Dass er mich einfach in Ruhe lassen soll. Und außerdem, bloß weil ich dem Blut entsagt habe heißt das noch lange nicht, dass ich auf den Genuss des Tötens verzichten muss.“

Okay, jetzt war ich davon überzeugt, dass er verrückt war.

„Insania hat ja voll bei dir zugeschlagen“, schnaubte ich und beschloss von nun an alle Höflichkeiten weiter zu ignorieren.

Was brachten einem schon Höflichkeiten bei Irren?

„Ich verstehe bloß nicht, warum wir uns vor so einer niederen Rasse wie den Menschen versteckt halten müssen! Ihr seid schwach und hättet keine Chance, wenn wir uns erheben würden, aber nein, Mutter zwingt uns in die Schatten, dabei weiß ich, das sie genauso von euch denkt wie ich.“

 Tatsächlich war das eine Frage, die ich mir selbst auch schon oft gestellt, aber nie eine Antwort gefunden hatte.

„Nun, vor etwas meine Rasse betreffend muss sie Angst haben.“

Und vielleicht wäre es an der Zeit herauszufinden, was das war.

„Ich sehe nichts“, fauchte Johannes und ich verdrehte die Augen.

Das Gespräch war informativ gewesen, aber jetzt hatte ich genug. Ich ließ die Dadao los, sodass sie an den Schlaufen an meinen Handgelenken baumelten und ich blitzschnell nach meinen Wurfsternen greifen und sie in Johannes‘ Richtung werfen konnte. Natürlich sah er sie kommen, aber er war für einen kurzen Moment damit beschäftigt sie wegzuschlagen, um sie davon abzuhalten sich in sein Gesicht zu bohren. Bei einem Vampir seines Alters, der angeblich so viele von Oswalds Schergen getötet hatte, hätte ich erwartet, dass er mich kommen sah und konterte. Die Szene lief wie in Zeitlupe für mich ab. Ich beobachtet, wie sich seine Hände zu seinem Gesicht hoben, wie sie einen Shuriken nach dem anderen fortschlugen. Während ich den Wurfsternen folgend auf ihn zustürmte, wusste ich schon, dass er die Hände nicht würde schnell genug senken können – ich wusste es einfach. Er bemerkte was geschah einen Moment, bevor sich mein rechtes Dadao in seine Brust bohrte und seine Augen weiteten sich vor Schreck.

Menschen 1, Irre 0.

Kapitel 11 - Kontra

Ich hievte den – momentan – toten Köper Johannes‘ mit einiger Mühe durch den Wald zurück zum Auto und ließ ihn dann schließlich ächzend auf die Rückbank fallen. Der Kofferraum war mir zu gefährlich, da ich es dort zu spät bemerken würde, wenn das Dadao aus seiner Brust rutschte und er wieder zum Leben erwachte – darauf hatte ich gerade wirklich wenig Lust.

Zum Glück war die Entfernung zwischen den Städten ein Katzensprung – viel Einöde schien es in Deutschland nicht zu geben – und ich war schon am frühen Nachmittag wieder zurück in der Tiefgarage des Hotels. Auf der Rückfahrt hielt ich mich peinlich genau an die Geschwindigkeitsbegrenzungen, schließlich wollte ich nicht mit einem Mann mit einem Dadao in der Brust von einem Polizisten angehalten werden – sowas ist nicht gerade leicht zu erklären.

Als ich mir gerade darüber Gedanken machen wollte, wie ich Johannes unbemerkt in Oswalds Suite transportieren sollte, erschienen die Zwillinge neben meinem Wagen. Ohne mich überhaupt zu beachten zogen die beiden Johannes aus dem Wagen und zwischen sich. Ich beeilte mich ihnen zum Aufzug zu folgen. Im 16. Stock angekommen wartete Oswald bereits auf uns und wir fielen vor ihm auf die Knie.

„Ah, das ging wirklich schnell Kind, ich bin positiv überrascht. Du bist ja tatsächlich zu etwas zu gebrauchen.“

Oswald lehnte sich in dem großen Ohrensessel zurück und seine wunderschönen Züge verschlugen mir ein weiteres Mal den Atem. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich jemals an diesen Anblick gewöhnen würde können – zum Glück musste ich das auch nicht.

„Du erhältst die Ehre ihn wieder zum Leben zu erwecken“, meinte er mit einem strahlenden Grinsen an mich gerichtet und ich schlug die rechte Faust gegen mein Herz, bevor ich mich erhob und mit einer einzigen fließenden Bewegung das Dadao wieder aus Johannes‘ Brust zog.

Ich blieb mit erhobenem Dadao vor ihm stehen, während ich dabei zusah, wie sich das Loch in seiner Brust langsam wieder schloss – wie sich Arterien verbanden und das Fleisch narbenlos darüber zusammenfand, bis sich Johannes‘ Augen schlagartig öffneten. Jede einzelne Sehne meines Körpers spannte sich sofort an, doch er beachtete mich gar nicht, er hatte nur Augen für Oswald.

„So sieht man sich wieder“, begrüßte Oswald Johannes mit einem breiten Lächeln.

„Nicht wenn es nach mir gegangen wäre.“

„Was kann ich dafür, dass dich ein Kind überwältigt hat.“

„Ist sie eine nikkessa?“, fragte Johannes skeptisch, mich aber noch immer keines Blickes würdigend.

„Das hatte ich auch schon vermutet, aber dafür riecht sie ganz falsch.“

„Momentan kann ich nichts anderes, als dein Blut an ihr riechen.“

„Sie nimmt Gerüche tatsächlich äußerst gut an."

Wow, man sollte wirklich glauben, sie würden über was Wichtiges, wie zum Beispiel, wie es jetzt mit Johannes weitergehen würde, sprechen, aber nein, mein Geruch war ja um so vieles interessanter.

„Nein, da ist noch der Geruch eines anderen Menschen darunter!“

Oswald Blick richtete sich für einen Moment konzentriert in die Ferne.

„Jetzt wo du es sagst. Der gehört zu einem anderen ehemaligen Jäger, der in meinen Diensten steht.“

„Ich dachte du hasst menschliches Personal.“

„Das tue ich auch, aber die Zeiten verlangen es.“

Johannes sah Oswald fragend an und der schüttelte lächelnd den Kopf.

„Wirklich, wenn ich dich nicht auf dem Laufenden halten würde wärst du noch immer davon überzeugt, dass du im römischen Reich lebst.“

„Als ob das einen Unterschied macht, aber was ist denn so außergewöhnliches vorgefallen, dass du auf ausgemusterte Jäger zurückgreifen musst?“

Es war wohl sinnlos die beiden Vampire darauf aufmerksam zu machen, dass ich mich ebenfalls im Raum befand. Außerdem wollte ich selbst wissen, was los war.

„Vor ein paar Tagen wurden Constantins komplette Amtsgeschäfte auf Mikhail übertragen und niemand hat Constantin seither gesehen.“

Johannes stieß einen überraschten Pfiff aus und auch ich war platt. War das die Bestätigung, dass ich Constantin während meines Traumbesuches tatsächlich getötet hatte? War es wirklich so einfach? Ich konnte das Gefühl von Bedauern nicht verwehren, dass ich ihn nicht von Angesicht zu Angesicht hatte töten können, in einem echten Kampf auch wenn ich diesen wahrscheinlich nie gewonnen hätte.

„Ein Machtumsturz? Was hat Mikhail der Russe dazu?“

„Das ist es ja, Mikhail der Russe hat die Amtsgeschäfte übernommen!“

„Aber er war Constantins treuester Untergebener – er ist im nachgelaufen wie ein Schoßhündchen! –und er soll ihn getötet haben? Das bezweifle ich.“

„Niemand weiß, was in Russland los ist und die anderen reagieren entsprechend… nervös darauf. Niemand traut den anderen mehr über den Weg, wir alle halten eine abwartende Position.“

Plötzlich lachte Johannes auf.

„Ah, jetzt verstehe ich, warum ich hier bin. Ich soll Mutter anrufen.“

„Es geht hier auch um deine Zukunft.“

„Nein, mir ist egal, wer gerade in die politischen Querelen verstrickt ist. Im Wald werde ich in Ruhe gelassen, solange ich die anderen in Ruhe lasse.“

„Das stimmt nicht und das weißt du auch. Ich werde dich aber die nächsten fünf Jahre in Ruhe lassen, wenn du diesen Anruf für mich tätigst.“

„Zehn Jahre.“

Die beiden Männer starrten sich in die Augen, bis Oswald schließlich nachgab.

„Gut, zehn Jahre.“

Johannes grinste breit und streckte Oswald seine Hand entgegen. Einen Moment später hielt er ein kleines Mobiltelefon darin, tippte ohne zu zögern eine Nummer ein und hielt es sich ans Ohr. Es klingelte nur ein einziges Mal bevor abgehoben wurde.

„Mutter, was ist in Russland los“, kam Johannes ohne zu zögern zum Punkt und mir wäre um ein Haar die Kinnlade heruntergeklappt.

Laut seiner eigenen Aussage – und Oswalds Verhalten schien das zu bestätigen – handelte es sich bei Mutter um die oberste Vampirherrscherin und er schenkte ihr nicht einmal den Hauch eines Respekts. Zu meiner Überraschung hatten sich auch die anderen Vampire im Raum versteift und blickten Johannes aus großen Augen an. Ich war wohl nicht die einzige, die ihm bei so einem Gespräch zum ersten Mal lauschte.

Und als wäre das alles nicht Überraschung genug vernahmen wir am anderen Ende der Leitung nur eine ruhige Stimme, die eine ausführliche Antwort zu geben schien.

„Oswald, wer den sonst“, meinte Johannes plötzlich und Oswald zuckte merklich zusammen.

Aber ich war so gespannt, dass ich den Anblick nicht genießen konnte.

„Um ehrlich zu sein war es etwas blamabel, da er ein Menschenkind geschickt hatte um mich zu holen. Vielleicht schaffe ich mir ja auch sowas an, auch wenn sie eine so kurze Nutzbarkeit haben.“

Wie… nett.

„Gut“, sagte Johannes und legte auf, dann richtete er sich wieder an uns, „Mutter weiß auch nicht, warum Constantin seine Geschäfte an Mikhail übertragen hat, aber er ist nicht endgültig tot.“

So viel zu meiner aufkeimenden Hoffnung.

„Kann ich jetzt gehen?“

„Nun, ich würde gerne über die Situation in Russland auf dem Laufenden gehalten werden.“

Johannes zuckte mit den Schultern.

„Das ist nicht mein Problem. Ich hab den Anruf getätigt und du hast mir zehn Jahre Ruhe versprochen.“

Oswald funkelte ihn böse an, doch Johannes blieb ungerührt. Dann vollführte er eine spöttische Verbeugung und ging. Keiner der Vampire hielt ihn auf, obwohl Oswald vor Wut kochte.

Ich wäre ja am liebsten auch verschwunden, aber irgendwie fiel mir kein triftiger Grund ein den Raum zu verlassen, also bereitete ich mich lieber mental darauf vor am kürzeren Ende von Oswalds schlechter Laune zu landen.

„Kind, geh“, meinte Oswald mit einem mühsamen Lächeln.

Mir sollte es nur Recht sein. Um ehrlich zu sein war ich ziemlich erleichtert und wäre nach meinem Kniefall beinahe aus dem Raum gerannt. In meinem Zimmer angekommen staunte ich nicht schlecht, als sowohl Luca als auch Roman darin auf mich warteten.

„Was macht ihr denn hier?“, fragte ich verwirrt und begann meine Waffen abzulegen.

„Nun, Oswald hat uns den ganzen Tag nicht zu sich gerufen, also dachten wir, wir könnten uns besprechen, nur dass du nicht in deinem Zimmer warst Kleines“, meinte Luca mit einem schiefen Lächeln, „also hielten wir es für das Beste in deinem Zimmer zu warten.“

„Wo warst du denn überhaupt?“, fragte Roman mit einem Hach Besorgnis in der Stimme.

„Oswald hatte einen Auftrag für mich“, meinte ich schulterzuckend und ließ mich erschöpft auf einen der Sessel fallen, „und er bestand darauf, dass ich alleine gehe.“

„Was war das für ein Auftrag Kleines?“

Luca war skeptisch und ich konnte es ihm nicht verdenken. An seiner Stelle hätte ich genauso empfunden.

„Ich sollte einen Vampir zu ihm bringen. Angeblich weil er gegen die Regel verstoßen hatte, aber eigentlich wollte Oswald nur einen Gefallen von ihm.“

„Wer war dieser Vampir?“, fragte Roman nervös.

„Er nannte sich Johannes.“

Die beiden sahen sich ratlos an.

„Kein Name der mir etwas sagt“, meinte Roman.

„Mir ebenso wenig“, bestätigte Luca.

„Ein Jungvampir?“, richtete Roman sich dann an mich und ich schüttelte den Kopf.

„Mindestens zweitausend Jahre alt.“

„Unmöglich, dann wüssten wir von ihm!“, rief Roman aufgebracht.

„Er ist sehr eigenbrötlerisch und scheint nicht der Typ Vampir zu sein, der viel in die Sonne geht.“

Luca warf mir einen amüsierten Blick zu und ich grinste zurück.

„Begreift ihr den Ernst der Lage nicht?! Ein Vampir, der sich so lange vor der Vereinigung verstecken konnte – das sollte nicht möglich sein!“

„Auch wenn es dir als heres unmöglich erscheinen mag, aber vielleicht hat man dir auch einfach nicht davon erzählt.“

Roman hatte schon den Mund zu einer Erwiderung geöffnet, schloss ihn dann aber wieder unverrichteter Dinge, als er bemerkte wie Recht ich hatte.

„Was ist dann an ihm so besonders?“

Ich sah ihn fragend an.

„Wenn er so geheim gehalten wird, dann muss doch etwas an ihm besonders sein.“

„Ach, genau. Oswald meinte er wurde von Mutter geschaffen.“

Auf einen Schlag wurden sowohl Romans als auch Lucas Gesicht kreidebleich.

„Was? Was weiß ich schon wieder nicht?“

Ich erzählte ihnen nicht, dass ich schon etwas wusste, denn ich wollte wissen, wie ehrlich sie zu mir sein würden. Ich hatte diese Geheimnistuerei der Vampirjäger so satt.

„Wenn Mutter sich in diese Sache einmischen sollte, dann sollten wir uns schleunigst vom Acker machen Kleines.“

Kapitel 12 - Bekanntes Muster

„Wieso das denn?“

„Mutter ist nicht irgendein Vampir, sie ist der älteste existierende Vampir und ihre oberste Herrscherin. Ihr Wort ist den Vampiren Gesetz und jeder, der auch nur versucht sich gegen sie zu stellen, findet den endgültigen Tod.“

„Hat sie auch den Vampiren die Regel erlassen?“

„Ja“, meinte Roman nickend, „aber niemand weiß wieso.“

„Denkt sie vielleicht, sie könnte uns nicht besiegen?“

Roman zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht. Fest steht aber, dass keiner der Jäger, die losgezogen sind sie zu töten, je zurückgekehrt ist.“

„Kein einziger.“

„Woher wissen wir dann überhaupt etwas über sie?“, fragte ich skeptisch.

„Von anderen Vampiren. Sie erwähnen sie von Zeit zu Zeit und manchmal… manchmal rufen sie sie auch um Hilfe an.“

„Also ist sie so etwas wie eine lebende Gottheit? Wie bei den Ägyptern?“

„Nun, für die Vampire schon, ja.“

„Was wäre, wenn sie getötet würde?“

„Chaos würde ausbrechen, die Vampire wären führungs- und damit wahrscheinlich zügellos. Dass sie sich weiter im Schatten halten wäre nicht gewährleisten. Ich könnte mir vorstellen, dass sie dann auf die Straße gehen und offen morden würden.“

„Also ist Mutter auf unserer Seite?“, fragte ich verwirrt.

„Nein.“

„Das ist bizarr – gelinde gesagt.“

„Der Vampirjägerrat hat einen Plan, da bin ich mir sicher. Wir müssen einfach weiterhin unsere Aufgaben erfüllen, dann werden wir schon sehen, was genau sie geplant haben.“

Ich schüttelte den Kopf – der Vampirjägerrat, das mystische Zentrum der Macht der Vampirjägervereinigung. Seine Mitglieder waren geheim – und damit meinte ich ausnahmsweise einmal nicht nur vor mir. Niemand außer den Mitgliedern selbst wusste, wer Teil des Rates war. In den wurde man berufen, warum und wieso – keine Ahnung. Aber ihr Wort war wiederum Gesetz für uns. Welche Ironie.

heres“, murmelte ich und verdrehte die Augen.

„Kümmern wir uns doch erst einmal um das akute Problem“, lenkte Luca die Aufmerksamkeit glücklicherweise auf sich, „und regeln wir das mit den selten dummen Regeln der Vereinigung ein andermal.“

„Verschoben“, stimmte ich nickend zu, „also, wie sehen unsere weiteren Pläne aus?“

„Informationsbeschaffung. Was ist jetzt eigentlich noch bei deinem Auftrag herausgekommen?“

„Stimmt, wir sind etwas vom Thema abgekommen. Oswald wollte, dass ich Johannes hole, damit er Mutter fragt, ob Mikhail Constantin gestürzt hat.“

Roman sog scharf die Luft ein und auch Luca schaute überrascht.

„Das ist also in Russland los?“

„Also hat es geklappt?!“, fiel Luca Roman aufgeregt ins Wort.

Es tat mir leid ihn enttäuschen zu müssen, aber ich schüttelte den Kopf.

„Constantin ist am Leben, jedoch weiß anscheinend selbst Mutter nicht, warum er seine Amtsgeschäfte so plötzlich an Mikhail übertragen hat.“

„Moment, was ist hier los?“, schaltete sich Roman skeptisch wieder in die Unterhaltung ein und musterte mich mit einem durchdringenden Blick.

Einen Moment hielt ich ihm stand, jedoch nur einen Moment.

„Constantin hat mich in meinen Träumen besucht.“

Kurz herrschte Stille im Raum.

„Seit wann?“

„Erst nach Russland, aber mir war nicht sofort klar, dass es sich um Traumbesuche und nicht nur einfache Träume handelte.“

„Sam, das hättest du melden müssen!“

„Etwas melden, von dem ich nicht einmal wusste, dass es das gibt?“, fragte ich spöttisch, „Siehst du jetzt, dass diese ganze Geheimhaltung nur Ärger bringt!“

„Meines Wissens nach wurde das mit den Traumbesuchen bisher nur vermutet“, antwortete Roman überraschend ruhig, „ aber egal ob so oder nicht, du hättest es melden müssen. Was ist in diesen Träumen vorgefallen?“

„Anfangs hat er mich nur betrachtet, dann haben wir angefangen miteinander zu reden. Schließlich ging er mir auf die Nerven und ich hab ihn im Traum erschossen. Ich hatte eigentlich nicht wirklich erwartet, dass es etwas bringen würde, aber seitdem hab ich nichts mehr von ihm gehört.“

„Und wann war das?“

„Vor vier Tagen.“

„Es passt zusammen“, meinte Roman überrascht.

„Das ist uns auch schon aufgefallen“, meinte Luca grinsend.

„Gibt es sonst vielleicht noch etwas, das wir wissen sollten?“, fragte ich Roman mit hochgezogener Augenbraue.

„Du weißt, dass ich euch das nicht sagen darf Sam.“

Aber klar doch, natürlich. Wir waren ja nicht mit einem übermächtigen Vampir zusammen in einem Haus und taten so als ob wir ihm dienten. Und wenn er das herausfinden würde, würde er uns auch nicht qualvoll töten, nein, wie kam ich nur darauf ich Dummerchen. Aber ich wollte jetzt und vor Luca keinen Streit vom Zaun brechen, denn schließlich traf auf ihn nur ein Teil meiner Argumentationskette zu – besonders aber nicht der private.

„Hilfreich wäre es aber schon“, merkte Luca an und sprach damit meine Gedanken aus, „schließlich ist das nicht gerade eine alltägliche Situation. Ich glaube niemand hätte was dagegen, wenn wir hier mal ausnahmsweise die Regeln brächen.“

Der fassungslose Blick, den Roman Luca schenkte machte aber klar, dass das für Roman nicht mal im Traum in Frage kam. Wie heres und famulus überhaupt zusammenarbeiten konnten war mir ein Rätsel und ich bezweifelte, dass auch nur ein einziger famulus Mitglied des Rates war. Auch wenn es mich zu Anfang überrascht hatte waren die famulus eine beträchtliche Minderheit in der Vereinigung – über dreiviertel der Jäger stammten aus einer langen Ahnenreihe von Jägern ab. Ich kannte keine genauen Zahlen, aber nach dem was mir Darius erzählt hatte waren nicht einmal 10% der Jäger famulus. Vielleicht war das ja der Grund dafür, dass sie nichts zustande brachten.

„Es sollte vielleicht jemand in Erfahrung bringen, was da in Russland genau vor sich geht“, meinte ich und sah in die Runde, „was wussten die Jäger, als du aus Russland weg bist Roman?“

„Es war etwas unruhig geworden – beunruhigen unruhig. Ein Großteil der Vampire schien aus den Städten zu fliehen, die Vampirkonzentration um Constantins Anwesen stieg rasant an. Und dann war es auch schon wieder vorbei und die Vampire verteilten sich in alle Himmelsrichtungen. Das ist auch der Grund dafür, warum mein Vater dafür gesorgt hat, dass ich dieser Mission angehöre, während Irina sich zu den Kundschaftern bezüglich Constantins Anwesen gesellt hat.“

Roman bemerkte, dass er einen Fehler beging in dem Moment in dem er es sagte, aber da war es schon zu spät.

„Irina?! Aber sie ist doch schon nicht mehr aktiv, das ist viel zu gefährlich für sie!“

„Sie hat darauf bestanden, was hätten wir machen sollen?“, fragte Roman und klang plötzlich erschöpft.

„Sie daran erinnern, dass sie mit einem Unwissenden verheiratet ist!“

„Er ist gerade auf Geschäftsreise und Irina ist sehr gut in dem, was sie tut. Sie hat eine hervorragende Ausbildung genossen und sich stets in Form gehalten. Es wird schon alles gut gehen.“

Doch es war klar, dass Roman sich mit diesen Worten hauptsächlich selbst beruhigen wollte. Ich schnitt eine Grimasse.

„Was für eine Art von Information sollen wir denn eigentlich überhaupt von hier mitbringen?“

„Aufstellung der Vampire, Anzahl in den verschiedenen Machtgebieten, Verhältnis der verschiedenen machthabenden Vampire untereinander. Alle Informationen, die man zum Sturz eines Imperiums benötigt, das man mit reiner Kampfkraft nicht besiegen kann.“

Wenigstens ein kleiner Einblick in die Pläne des Rates.

„Das ist natürlich etwas, über das Oswald gerne mit uns plaudern wird, wo er uns doch so sehr schätzt“, spottete Luca.

„Und er ist auch nicht dumm genug uns einfach im Raum zu behalten, wenn er über so etwas spricht“, fügte ich hinzu.

„Ist er nicht? Und was war dann mit der Sache mit Johannes von gerade eben?“, meinte Roman mit einem süffisanten Grinsen.

Luca und ich warfen uns einen schnellen Blick zu, aber nicht schnell genug, denn Romans Grinsen wurde noch breiter.

„Vampire werden Menschen immer unterschätzen. Wie ihr feststellt ist unsere Situation hier also doch nicht ganz so aussichtslos.“

„Und was legt unser Zeitlimit vor?“, hakte ich weiter nach.

„Nun, ein wirkliches Zeitlimit haben wir nicht.“

„Du meinst also, bis unsere Tarnung auffliegt und wir tot sind? Und dabei dachte ich ihr heres wärt nicht so versessen aufs Sterben.“

„Luca“, meinte ich streng, doch er schien gerade erst richtig in Fahrt zu kommen.

„Oder bist du einfach arrogant genug zu glauben du könnest davonkommen oder gar es mit Oswald aufnehmen, wenn er erführe wer wir tatsächlich sind.“

„Nein“, meinte Roman schlicht und brachte Luca damit zum verstummen, „wir werden hier verschwinden, solange er uns noch gewogen ist.“

Noch einmal warfen Luca und ich uns einen schnellen Blick zu. Das war nicht unser Plan, wir wollten Oswald tot sehen. Nicht dass das bedeutete wir müssten es Roman erzählen – wir würden es einfach tun. Amüsant an dieser Situation war, dass mich ich in Frankreich schon einmal in ihr befunden hatte – nur war damals Luca in Romans Position gewesen und nicht an meiner Seite. Nicht zu fassen, dass es erst wenige Tage her war. Momentan raste mein Leben nur so dahin und ich hoffte, dass mein Überleben dabei nicht auf der Strecke bleiben würde.

„Wir sollten uns aber wenigstens ein ungefähres Zeitlimit setzen“, sagte ich beschwichtigend.

„Nun, ein halbes Jahr würde ich gerne mindestens ansetzen.“

Frankreich war länger angesetzt gewesen und hatte trotzdem um einiges kürzer gedauert, ich machte mir da momentan eher weniger Sorgen.

„Damit kann ich leben“, meinte ich an Luca gewandt und sah ihm dabei fest in die Augen.

Er verstand die Botschaft.

„Dann kann ich es wohl auch.“

„Gut dass wir das geklärt haben“, meinte Roman erleichtert.

Ich hatte vor ihn erst einmal in dem Glauben zu lassen, dass er uns im Griff hatte. Im Moment machte es die Sache einfach leichter für alle. Und wenigstens wusste ich jetzt, wie ich etwas über die Situation in Russland herausfinden konnte. Ich musste einfach Irina anrufen und ich war mir sicher sie würde es Roman nicht erzählen, wenn ich sie darum bat. Auf dem Laufenden zu sein würde mir um einiges weiterhelfen und vielleicht die Vorausplanungsphase bei Constantin für Luca und mich verkürzen.

„Hast du eigentlich schon etwas gegessen Kleines?“

„Aber klar doch, ich bin mit einem Vampir auf der Rückbank, der ein Dadao in der Brust hatte einfach in den Drive-Through von McDonalds gefahren und hab mir einen BigMac mitgenommen“, meinte ich mit einem heiteren Grinsen, das Luca herzlich erwiderte.

„Dann würde ich mal sagen ich bestell‘ uns was beim Zimmerservice. Irgendwelche besonderen Wünsche?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Da verlasse ich mich ganz auf deinen erlesenen Geschmack.“

Kapitel 13 - Abrakadabra

Oswald hatte uns den ganzen Tag nicht mehr zu sich gerufen. Nachdem wir zusammen in meinem Zimmer gegessen hatten hatte sich Luca recht schnell verabschiedet ohne zu sagen wohin er wollte, aber das war uns eigentlich auch relativ egal. In Ermangelung einer Aufgabe hatten wir dann schließlich beschlossen den Trainingsraum des Hotels zu besuchen – schaden konnte es ja nicht und ich hatte mein Training in letzter Zeit tatsächlich ziemlich schleifen lassen. Darius wäre enttäuscht gewesen. Da ich heute aber schon unterwegs gewesen war beschloss ich es ruhig angehen zu lassen und mich nur der mir verhasstesten Aufgabe zuzuwenden – Ausdauertraining. Und so stellte ich mich aufs Laufband, während Roman sich an der Hantelbank mit Gewichten bediente.

Schon nach einer Viertelstunde auf dem Laufband wurde mir – wie immer eigentlich – langweilig. Ich hatte aber auch keine große Lust mich zu unterhalten, also hing ich meinen Gedanken nach. Und natürlich drängte sich nach kurzer Zeit das Bild des großen blonden Mannes in meine Gedanken. Ich hatte nie verstanden, warum adoptierte Kinder von liebenden Familien unbedingt ihre leiblichen Eltern kennenlernen wollten, wo sie doch so ein perfektes Zuhause hatten. Warum das zerstören? Jetzt kannte ich die Antwort, nämlich genau das: Antworten, besonders aber das Warum. Warum war man weggegeben worden? Als Baby konnte man sich ja noch nicht sonderlich danebenbenommen haben. Und ich war sowieso ein sehr ruhiges Kind gewesen. Sah der Mann mir ähnlich?

Die Wand vor den Trainingsgeräten war verspiegelt und ich betrachtete eingehend mein Gesicht. Bis auf die blonden Haare und grünen Augen glichen sich unsere Züge nicht sonderlich, allerdings waren meine Erinnerungen an den Mann auch nicht besonders klar, ich hatte ihn ja nur ein einziges Mal vor fast zwanzig Jahren gesehen. Und über genau dasselbe hatte ich mir jetzt schon gefühlte hundertmal den Kopf zerbrochen. Ging es jedem so, wenn er überraschend erfuhr, dass er adoptiert war? Ich wünschte ich hätte meine Eltern fragen können, auch nach ihrem Warum, schließlich hatten sie vor mir schon meine beiden Brüder gehabt, die ihnen so ähnlich sahen, dass es ihre leiblichen Kinder sein mussten. Warum also noch ich? Wahrscheinlich würde ich das nie erfahren.

Ich stöberte in meinen Gedanken nach etwas anderem, über das ich nachdenken konnte und landete bei einem nicht weniger nervenaufreibendem Thema: Warum hatte Oswald daran gezweifelt, dass ich ein Mensch war? Vielleicht war doch etwas an meiner Hexentheorie dran – oder ich begann einfach langsam durchzudrehen mit so vielen Vampiren die ganze Zeit um mich herum. Ich spielte gern mit dem Feuer, aber selbst mir war klar, dass das einzige Resultat, wenn man seine Hand zulange in die Flammen hielt, eine Verbrennung sein konnte. Es würde eine Erleichterung sein, wenn endlich ich wieder der Jäger und nicht mehr der Gejagte sein konnte.

Plötzlich schoss mir eine Frage in den Kopf, von der ich nicht fassen konnte, dass ich sie noch nie zuvor gestellt hatte.

„Roman?“

„Hm?“

„Auf die Gefahr hin, dass diese Frage total dämlich ist, aber sind die Vampire die einzigen anderen da draußen?“

„Meines Wissens nach schon, wie kommst du darauf?“

„Ach, ich musste gerade daran denken, wie Luisa uns von den Hexen erzählt hat.“

„Nun, Hexen sind streng genommen Menschen.“

„Sie werden also nicht geboren?“

„Doch, aber warum manche Menschen Hexen waren und andere nicht, da ist nie jemand dahinter gekommen.“

„Also war das Kind einer Hexe nicht automatisch auch eine?“

„Genau. Es trat eher willkürlich auf.“

„Wie war man dann in der Lage die Hexen auszurotten?“

„Nun, das war eine sehr unschöne Angelegenheit. Heute, wo man etwas weiter mit der Forschung ist glaubt man, dass es durch ein rezessives Gen vererbt wurde. Dieses rezessive Gen können sowohl Männer, als auch Frauen in sich tragen, obwohl es nur Frauen zu Hexen machen kann. Da man das aber nicht wusste hat man jede Frau getötet, bei der eine Hexe in der Familienlinie nachgewiesen werden konnte, egal wie weit dies zurücklag. Man war sehr gründlich.“

„Aber das bedeutet, dass da draußen immer noch Hexen herumlaufen könnten.“

„Wie Luisa erwähnt hat, die Hexen waren der einzige Punkt, in dem sich Vampire und Jäger jemals einig waren: Sie gehören vernichtet. Falls also tatsächlich noch Hexen herumlaufen sollten werden sie es tunlichst unterlassen in irgendeiner Weise aufzufallen, weil das ihren sofortigen Tod bedeuten würde.“

„Waren denn wirklich alle Hexen böse?“

„Nach dem, was ich gelesen habe, waren es nicht die Hexen selbst sondern die Magie, die sie böse gemacht hat, denn jeder Zauber, und sollte er auch noch so klein sein, hat einen Preis: Ein Stück der Seele.“

„Ein Stück der Seele?“, fragte ich geschockt und Roman zuckte mit den Schultern.

„So steht es zumindest in den Büchern, nicht dass es eine Hexe gäbe, die ich fragen könnte.“

„Also wäre eine Hexe gut, wenn sie ihre Kräfte nie nutzen und wie ein ganz normaler Mensch leben würde?“

„Theoretisch ja, aber in den Büchern heißt es auch, dass für die Hexen die Magie wie der Sauerstoff zum atmen ist. Sie können nicht leben ohne sie zu nutzen.“

„Also ist das ‚magische Gen‘ eher ein Fluch.“

„Ja.“

„Und wie wäre das Protokoll, wenn man eine Hexe aufspüren würde?“

„Sie sofort zu töten?“

„Muss dabei irgendetwas beachtet werden?“

„Nein, sie sind und bleiben menschlich.“

„Aber wie soll man sie dann eigentlich erkennen?“

Roman lachte.

„Keine Ahnung. Was interessiert dich dieses Thema eigentlich überhaupt so?“

Ich legte den Kopf schief.

„Ich weiß auch nicht. Vielleicht einfach, weil ich bevor Luisa sie erwähnt hat, nicht einmal darüber nachgedacht hatte, dass sie überhaupt existieren könnten.“

Roman lachte wieder.

„Ja, aber mit den Gedanken über Vampiren ist man eigentlich auch schon ausgelastet.“

„Stimmt auch wieder. Trotzdem verstehe ich nicht, warum die Vampire Hexen tot sehen wollen.“

„Weil sie Angst vor ihnen haben. Hexen sind unberechenbar und ihre Kräfte sollen unglaublich gewesen sein.“

„Verstehe ich das richtig: Eine Hexe ist also mächtiger als ein Vampir?“

„So heißt es zumindest, obwohl ich mir das nur schwer vorstellen kann, schließlich sind Hexen nur Menschen und im Vergleich zu Vampiren sehr leicht zu töten.“

Darüber dachte ich einen Moment nach.

„Und wie könnten eine Hexe also wirklich nicht erkennen?“, fragte ich erneut, doch zu meiner Enttäuschung zuckte Roman nur mit den Schultern.

„Sie sind und bleiben Menschen und solange sie ihre Kräfte nicht benutzen nicht zu erkennen… manchmal sogar dann noch nicht. Wir können froh sein, dass es sie nicht mehr gibt. Aber warum fragst du mich das alles eigentlich?“

Ja, warum fragte ich ihn das eigentlich?  Die Wahrheit, dass ich es als Grund dafür in Erwägung zog, dass die Vampire mich verfolgten? Nein, das konnte ich unmöglich… oder? Ich sah Roman in die Augen, die mich sanft anblickten. Würde er mich auch noch so anschauen, wenn ich ihm von meiner Vermutung erzählte? Aber ich konnte natürlich auch vollkommen daneben liegen und mich nur total zum Affen machen.

„Weiß‘ nicht“, antwortete ich also mit einem schiefen Lächeln, „ es interessiert mich einfach. Es ist faszinierend, was tatsächlich alles einmal existiert hat. Manchmal kann ich es gar nicht glauben.“

„Ich weiß was du meinst“, meinte Roman mit einem leichten Lächeln, bevor es plötzlich jäh in sich zusammenfiel.

„Was ist?“, fragte ich geschockt und war auch schon vom Laufband zu ihm geeilt.

„Nichts… es ist mir nur gerade wieder in den Sinn gekommen, was Luisa gesagt hat.“

Mitfühlend strich ich ihm sanft über den Arm.

„Das war hart, aber es gehört der Vergangenheit an. Das waren deine Vorfahren, nicht du. Es liegt keinerlei Schuld bei dir.“

„Ich weiß“, meinte Roman seufzend und nahm abwesend meine Hand in die seinen, „aber das ist nicht so schlimm wie die Tatsache, dass mir mein Vater nichts davon gesagt hat. Ich dachte immer ich hätte eine Familie auf die ich stolz sein könnte, aber anscheinend sind sie auch nur Lügner und Betrüger.“

„Roman, einer deiner Vorfahren hat eine falsche Entscheidung getroffen, nicht du und auch wenn du mit den Konsequenzen leben musst, so ist es nicht dein Fehler gewesen. Dann ist deine Familie früher einmal Vermittler gewesen, na und? Jetzt seit ihr Vampirjäger, also tu dein Bestes in diesem Feld und gib nicht auf!“

Roman schenkte mir ein kleines, aber aufrichtiges Lächeln.

„Ja, ich werde das alles schon irgendwie verarbeiten, ich brache nur etwas Zeit… wenn das alles hier vorbei ist werde ich mich offiziell im Namen meiner Familie bei den Vermittlern entschuldigen und um Vergebung bitten.“

„Das ist eine gute Idee“, meinte ich strahlend.

Roman lächelte schwach zurück.

Danach nahmen wir unser Training wieder auf und irgendwann hatte ich schließlich endlich meinen Rhythmus auf dem Laufband gefunden und rannte wie in Trance vor mich hin. Deshalb hatte ich auch nicht wirklich Ahnung wie viel Zeit vergangen war, als einer der Zwillinge durch die Türe hereinkam. Auseinanderhalten konnte ich sie nicht, dafür sahen sich die beiden Hünen viel zu ähnlich. Sofort sprang ich vom Laufband und ich sah im Augenwinkel, wie Roman seinen Griff um die Hantel veränderte. Als der Vampir jedoch zu sprechen begann, war klar wer der Brüder er war.

„Auftrag“, meinte der des Englischen nicht mächtige Aryeh kurz angebunden.

„Was für ein Auftrag?“, hakte Roman nach, doch der Vampir ignorierte ihn und starrte weiterhin in meine Richtung.

„Meister“, sagte er mit Nachdruck und einem gewissen Widerwillen.

Ob gegenüber der Sprache oder mir, das konnte ich beim besten Willen nicht sagen. Trotz der kurzen Ansprache verstand ich ihn sehr wohl: Oswald schickte mich los, wieder allein, und er wollte mich sprechen. Ich nickte Aryeh zum Zeichen des Verständnisses zu und verließ eiligen Schrittes den Trainingsraum ohne auf Romans eindringlichen Blick zu achten. Was auch immer er mir mitzuteilen versuchte, es war bedeutungslos, denn er hatte genauso wenig Ahnung was mich erwartete, wie ich es hatte.

Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken mich vorher zu duschen oder wenigstens umzuziehen, verwarf die Idee dann aber schnell wieder und ging direkt zu Oswald. Schon fast zu routiniert fiel ich vor ihm auf die Knie und hielt mir die Hand mit gesenktem Kopf ans Herz.

„Steh auf Kind“, meinte Oswald mit seiner sanften melodischen Stimme und ich erhob mich, hielt den Blick jedoch weiterhin gesenkt – Sicherheit ging vor.

„Du hast dich bei deinem letzten Auftrag als durchaus nützlich erwiesen, deshalb schicke ich dich los, um nach einem anderen Vampir zu sehen. Sie hört auf den Namen Loreley und wir haben schon seit“, Oswald überlegte kurz, als müsse er in eine andere Zeitrechnung umrechnen, „fast einem halben Jahr nichts mehr von ihr gehört. Tjashjolaja boljesn steht bei ihr kurz bevor, also verschaffe dir einen kurzen Überblick über ihren Zustand. Tigris wird dich begleiten.“

Einen Moment zögerte ich, denn ich war – gelinde gesagt – überrascht. Einen der Hünen mitnehmen? Das würde definitiv kein Spaß werden, aber wenigstens war es der Bruder, der Englisch sprach. Man nimmt, was man kriegen kann.

„Wie Ihr befehlt Meister“, meinte ich förmlich und verneigte mich.

Oswald entließ mich mit einer Handbewegung und ich drehte mich zum Aufzug um, an dem Tigris schon auf mich wartete. Schweigend fuhren wir in die Tiefgarage und zu meiner Überraschung war er es, der sich hinters Steuer setzte.

„Und du kannst auch wirklich Auto fahren?“, fragte ich skeptisch.

Kapitel 14 - Loreley

„Ich lernte es 1928“, meinte Tigris völlig ernst und fuhr den Wagen ohne Probleme aus der Tiefgarage.

„Und wo finden wir diese Loreley?“

„Vier Stunden Fahrt nach Osten, an der Grenze zu Tschechien.“

„Ihr steht hier wohl auf abgeschiedenes Leben.“

„Deutschland ist voll von Jägern, auch wenn die Vereinigung mit sich verhandeln lässt.“

Ich konnte es nicht verhindern fragend eine Augenbraue in die Höhe zu ziehen.

„Ihr lasst uns in Ruhe und wir verhalten uns ruhig“, meinte Tigris mit einem Schulterzucken, als ob das eigentlich jeder wusste.

Nun hatte ich endlich den Beweis, dass die Dinge in Europa um einiges anders liefen, als in Amerika. Mir war aber schon klar gewesen, dass es anders laufen musste, als ich Mikhail begegnete. Einen Alten konnte man nur mit viel Glück besiegen. Viel Glück und noch viel mehr Talent. Man musste Kompromisse eingehen und taktisch vorgehen. Aber wer war es, der diese Kompromisse schloss? Der Vampirjägerrat selbst? War das der Grund für sein Bestehen?

„Und was veranlasst einen Jäger dazu der Leibeigene eines Vampirs zu werden?“

„Lebensschuld“, antwortete ich kurz angebunden und es war ja auch nicht gelogen.

Nur das diese Lebensschuld gegenüber der Vampirjägervereinigung und Darius bestand und nicht gegenüber Pascal.

„Und bei dir?“

„Dasselbe“, meinte Tigris und auf einmal klang seine Stimme weit entfernt.

Wer hätte gedacht, dass ich den Draht zu einem finden würde auf dieser Reise.

„Du musst schon als Mensch einen beeindruckenden Bodyguard abgegeben haben.“

Und tatsächlich schaffte ich es mit diesem Kommentar Tigris ein schwaches Lächeln abzuringen.

„Mein Bruder und ich haben tatsächlich unser Dorf vor den Armeen der Römer beschützt. Zumindest solange wie es möglich war.“

Dann schien sich Tigris wieder daran zu erinnern mit wem er hier im Auto saß und seine Miene versteinerte. Ich zuckte mit den Schultern als Antwort darauf. Aber ich hatte auch Interesse an diesem Gespräch gefunden.

„Du bist also ein echter Germane?“

Tigris schwieg.

„Dann bist du auch mit dem nordischen Götterglauben aufgewachsen?“

Tigris schwieg weiterhin und ich seufzte ergeben.

„Dann eben nicht­.“

Das würden lange vier Stunden werden.

„Gibt es irgendetwas, was ich über diese Loreley wissen sollte?“

Tigris ließ sich mit der Antwort viel Zeit.

„Sie wird dich töten.“

„Ist das nicht der Grund, warum der Meister dich mitgeschickt hat?“

„Ich verstehe nicht, warum er etwas so schäbiges wie euch überhaupt in seiner Gegenwart duldet.“

„Immerhin hab ich es geschafft dich und deinen Bruder zu besiegen“, meinte ich schulterzuckend.

„Ein wahrer Krieger begeht denselben Fehler nicht zweimal. Das nächste Mal wirst du sterben, nur dass es bei dir endgültig sein wird.“

Ich konnte ein amüsiertes Schnauben nicht unterdrücken.

„Das sehen wir dann bei Zeiten. Aber momentan will ich keinen Ärger mit dem Meister nur weil ich dich umgebracht habe.“

„Ich freue mich auf den Tag.“

Die Landschaft, die am Fenster vorbeizog, erinnerte mich an die Vegetation zuhause und machte mir klar, wie lange ich schon fort war und wie gerne ich endlich dorthin zurückkehren würde. Bald, sagte ich mir, auch wenn ich wusste, dass es eine Lüge war. 

„Hat sich das Land sehr verändert?“, fragte ich in die Stille hinein, noch immer leicht entrückt aus dem Wagenfenster schauend.

„Es hat sich alles verändert und doch wieder überhaupt nichts“, antwortete Tigris überraschend schnell, obwohl ich mir nicht einmal sicher gewesen war, dass er überhaupt etwas sagen würde, „das Umfeld mag sich vielleicht verändert haben, aber die Menschen sind geblieben wie sie waren.“

„Warum spricht dein Bruder eigentlich kein Englisch?“

„Aryeh hält nicht viel von Sprachen“, antwortete er kurz angebunden und mit der Gewissheit, dass mir das eigentlich schon vorher bewusst gewesen war.

Schließlich sprach der Mann kein Englisch. Aber ich ließ das Thema auf sich beruhen und betrachtete weiter verträumt die Landschaft. Der erste Anflug von Wärme schien in der Luft zu liegen und hier und da schmolz auch schon der erste Schnee. Frühling war nun auch endlich hier im Anzug und ich ließ das Fenster ein Stückchen herunter, um mir den kalten Wind um die Nase wehen zu lassen. Um Tigris musste ich mir keine Gedanken machen, er würde sicher nicht beginnen zu frieren.

Überraschenderweise war es Tigris, der die Stille schließlich brach.

„Ist eine Bewaffnung mit Säbeln nicht ein bisschen auffällig?“

Ich fuhr das Fenster hoch und wandte mich ihm zu.

„Ja, normalerweise bin ich nur mit Messern und Pfählen unterwegs, aber seit ich nicht mehr für die Vereinigung arbeite begegne ich auf meinen Aufträgen eigentlich keinen Menschen mehr und deshalb ist es bei meiner Bewaffnung egal, ob sie sichtbar ist, weshalb ich mit mir führen kann, mit dem ich gerne kämpfe.“

„Du bist ziemlich offen“, stellte Tigris kurz angebunden fest und ich zuckte nur mit den Schultern und schenkte ihm ein schwaches Lächeln.

Tigris Augen weiteten sich plötzlich, als er mich ansah.

„Was?“, fragte ich alarmiert.

„Hast du dir deine Schneidezähne anspitzen lassen?“, fragte er perplex.

„Nein“, meinte ich ebenso perplex und klappte sofort die Sonnenblende mit dem Spiegel herunter, um das zu überprüfen.

Sie sahen normal aus, zumindest in meinen Augen.

„Trotzdem, du hast verdammt spitze Zähne.“

„Eine Verschwendung, dass ich damit nicht beiße?“, fragte ich ironisch und erntete dafür einen Seitenblick von Tigris.

Den Rest der Fahrt verbrachte ich damit weiter aus dem Fenster zu sehen und die Landschaft zu genießen mit ihrem Spiel von Licht und Schatten auf den weiten schneebedeckten Flächen. Schnee, wann hatte ich den zum letzten Mal in Amerika gesehen? Das musste Jahre her gewesen sein, als meine Familie noch am Leben gewesen war. Ich seufzte schwer und steckte mich auf dem Sitz aus.

„Ihr Menschen könnt auch keine Minute stillsitzen“, beschwerte sich Tigris, aber ich überhörte diesen Kommentar einfach gekonnt und rutschte wie zur Bestätigung noch einmal auf dem Sitz herum.

Und dann waren wir auch schon da. Wenn man das überhaupt als da bezeichne konnte. Wir waren nämlich mal wieder irgendwo im nirgendwo und mich beschlich die fürchterliche Angst, dass Tigris mich in einem unachtsamen Moment still und leise aus dem Weg räumen konnte. Ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass sich Oswald nicht diese Mühe geben würde wegen mir… zumindest hoffte ich das.

„Ihr Deutschen steht auf das Leben im Wald, was?“

„Nicht mehr als anderswo, aber in der heutigen Zeit ist es der einzige Ort, wo man tjashjolaja boljesn einigermaßen in Ruhe überstehen kann.“

Ich sprang aus dem Wagen und steckte mich erst nochmal ausgiebig, um in meine steifen Glieder wieder etwas Gefühl zurückzubringen.

„Komm schon, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit“, meinte ich fröhlich und gab Tigris den Wink vorauszugehen.

Vielleicht würde er mich auch nur umbringen, weil ich ihm auf die Nerven ging. Vorsichtshalber schraubte ich meine Laune wieder ein paar Stufen runter und konzentrierte mich vollkommen auf meine Umgebung, damit mir auch nichts entging. Ich zog das rechte Dadao und folgte Tigris mit einer Armlänge Abstand durch Dickicht und Gestrüpp. Je länger wir liefen, desto kälter wurde mir und ich bereute es keinen Wintermantel mitgenommen zu haben.

Ein Rascheln der Nadeln, das nicht in die Umgebung zu passen schien, ließ mich in Kampfhaltung verfallen. Tigris, der mich im Augenwinkel gesehen hatte, fuhr erschrocken herum und verfiel ebenfalls sofort in Angriffshaltung, nur dass es bei ihm mit gefletschten Zähnen und zu Klauen gebogenen Händen um einiges bedrohlicher aussah.

Ein Mensch… ein Mensch der mehr hört als ein Vampir“, kam es kichernd von den Bäumen und als ich nach oben Blickte sah ich für einen Moment eine Gestalt mit verfilztem Haar und zerrissenen Kleider in den Ästen sitzen und im nächsten Moment war sie auch schon wieder verschwunden.

Ich hörte, wie Tigris etwas in derselben fremden Sprache zurückrief, als Antwort erhielt er jedoch nur wieder ein Kichern.

„Was?“, fragte ich ihn nervös, während ich meinen Blick über die Bäume schweifen ließ und versuchte alles auf einmal zu sehen.

Dann stand sie plötzlich vor uns. Zu Lebzeiten und vor Insania musste sie ein ganz bezaubernder Anblick gewesen sein, mit ihrer ca. 1,70m großen, schlanken Figur. Doch ihr langes dunkelbraunes Haar würde wahrscheinlich nie wieder entknotet werden können, ihre olivfarbene Haut war schmutzverkrustet und die wenigen Fetzen ihrer Kleidung, die noch an ihr herabhingen, waren des Namens eigentlich nicht mehr würdig. Was ihr aber wirklich jegliche Schönheit raubte, war der Ausdruck in ihren Augen. Ein Blick genügte und man sah, dass sie verrückt war.

„Wir haben also einen englischsprachigen Snack? Ach wie entzückend“, meinte Loreley und klatschte lachend in die Hände, „ach wie fein. Ich hab auch schon wirklich Hunger. Es ist viel zu lange her… viel viel viel zulange. Mich kommen hier einfach viel zu wenige Menschen besuchen. Wann darf ich endlich wieder zurück in die Stadt? Ach, Oswald hätte sicher nichts dagegen, wenn ich auf einen schnellen Snack vorbeigehe. Ich wäre ja auch sofort wieder hier…“

„Loreley!“, unterbrach Tigris die Frau streng und verpasste ihr zu meiner großen Überraschung eine Ohrfeige.

Und sie schien nicht minder entsetzt als ich. Anstelle dass ihr jedoch die Kinnlade herunterklappte zog sie wie ein Hund ihre Lefzen hoch und knurrte Tigris an, was ihr ein Knie in der Magengrube einbrachte. Danach war Loreley ruhig, obwohl ihr Blick noch immer unruhig umherzuckte. Jedoch hielt diese Ruhe nicht lange an.

„Ich hab Hunger“, jammerte sie und plötzlich fixierte ihr Blick mich, „Wann kann ich denn jetzt endlich was von dem da haben?“

Bettelnd blickte sie Tigris in die Augen, welcher wiederum mich ansah.

„Nein“, meinte ich einfach und mit Nachdruck.

Loreley zog einen Schmollmund.

„Warum darf das Essen das überhaupt selbst entscheiden?“

„Weil das Essen Oswald gehört und er sehr sehr böse mit dir wäre, wenn du sie kaputt machst.“

Einen Moment stand die Situation auf der Kippe, das spürte ich. Dann seufzte Loreley ergeben und verdrehte die Augen. Wie bei einem Hund streichelte Tigris ihr den Kopf und sie schmiegte sich in seine Hand. Die Situation war grotesk. Und dann begriff ich es. Begriff ich, warum Tigris bei diesem Auftrag dabei war. Begriff ich, warum ich bei diesem Auftrag dabei war. Oswald wollte mir etwas zeigen: Schwäche. Schwäche und was sie mit einem anrichtete. Tigris war nicht mein Wachhund, ich war sein Aufpasser, denn Oswald war sich nicht sicher, ob Tigris in der Lage wäre Loreleys Situation richtig einzuschätzen. Ob er dazu in der Lage wäre Loreleys Existenz ein endgültiges Ende zu setzen. Wow, Oswald musste doch mehr von mir halten als er durchblicken ließ.

Was ich jedoch von Loreleys Geisteszustand zu halten hatte wusste ich nicht. Schließlich hätte sie ja auch schon zu Lebzeiten eine selten dämliche Person sein können. Alles in allem schien sie mir aber trotzdem momentan in einem gefährlichen Zustand zu sein, der jeden Moment kippen könnte und wir ein rasendes, wütendes Monster vor uns hätten. Aber ein Blick auf Tigris verriet mir, dass ihm das ebenso klar war.

„Was hältst du davon eine Weile nach Russland zu gehen?“

Kapitel 15 - tjashjolaja boljesn

„Warum?“, fragte Loreley und blickte mit ihren irren Augen umher.

„Es wird dir da gefallen, viel mehr Platz… und mehr Essen. Außerdem wärst du dort nicht so viel allein.“

„Du willst mich abschieben?!“

Da explodierte die Bombe. Ich zog mein zweites Dadao und festigte meinen Griff darum.

„Denkst du etwa ich tick nicht mehr ganz richtig?! Glaubst du ich hab mich nicht mehr unter Kontrolle?!“

Und schon hatte Tigris ihr die Faust ins Gesicht geschlagen und sie niedergesteckt. Noch im Flug schlug er ein weiteres Mal zu und beförderte sie damit hart auf den Boden, wo er erneut zuschlug und dieses Mal hörte ich, wie etwas brach.

„Du wirst tun, was ich dir sage. So war der Deal, erinnerst du dich?“

Dunkles Blut rann Loreley aus einer Platzwunde an der Wange und sie wimmerte schrecklich, während sie ängstlich zu Tigris aufsah, doch er ließ sich von ihrem Schauspiel nicht beeindrucken.

„Du gehst nach Russland, noch heute.“

Anstelle einer Antwort kam aus Loreleys Mund nur Knurren, für das sie sich eine weitere Ohrfeige direkt auf den bereits gebrochenen Wangenknochen einfing.

„Kofferraum oder Rückbank, deine Wahl.“

„Russland?“, mischte ich mich nun ein und konnte nicht verhindern, dass im meiner Stimme ein Hauch von Furcht mitklang.

„Keine Sorge Mensch, solange du bei mir bist, wird dich keiner der Vampire töten. Anknabbern vielleicht, aber nicht töten.“

„Und wo genau fahren wir denn hin?“

„Moskau.“

Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ich meine, mir war klar gewesen, dass ich eines Tages dorthin würde zurückkehren müssen, aber ich hätte doch gerne etwas mehr Vorlauf gehabt und als Begleiter vorzugsweise keine Vampire gehabt, von denen einer nicht mehr ganz richtig war im Oberstübchen. Ich war nicht bereit für Constantin, aber ich bezweifelte, dass ich es jemals sein würde. Und wer weiß, vielleicht würden wir auch gar nicht zu ihm gehen. Und vielleicht legte der Osterhase auch goldene Eier.

Aber Luca und Roman saßen noch bei Oswald fest und wussten von nichts. Würde ich handeln, dann würden sie sterben, das stand fest. Die Frage war bloß: Gab es überhaupt eine Alternative?

„Ich persönlich wäre ja für Kofferraum“, meldete ich mich ins Gespräch zurück und Loreley blickte mich empört an, „schon allein, weil sie in ihrem Aufzug viel zu auffällig ist.“

Tigris blickte sie skeptisch an und Loreleys Augen wurden immer größer.

„Nein!“, zischte sie.

Anstelle einer Antwort  packte er sie am Arm und in diesem Moment begann Loreley auszuticken. Wie eine wilde gewordene Furie und so schnell, dass ich ihre Bewegungen kaum noch wahrnehmen konnte. Sie schrie, biss, kratze, fauchte, trat. Tigris war vollkommen ruhig und wehrte ihre Angriffe mit vollendeter Perfektion ab ohne eine einzige überflüssige Bewegung. Es war, als koste es ihn nicht die geringste Mühe, aber Loreley geriet gerade erst so richtig in Rage und mir wurde klar, dass das hier noch ewig so weitergehen konnte. Also beschloss ich mich einzumischen.

Ich schob das linke Dadao zurück in den Halfter und trat dann an die beiden hin. Mit einem gezielten Griff schnappte ich mir Loreleys Hals und riss sie von Tigris fort, bevor einer der beiden realisieren konnte, was geschah. Dann schleuderte ich sie auch schon mit voller Wucht auf den Boden und drückte ihr die Klinge meines anderen Säbels an die Kehle. Es war leichter als ich erwartet hatte. Als sie sich trotzdem gegen meinen Griff aufbäumte, fauchte ich sie an. Es funktionierte. Loreley zuckte zusammen und sah mich plötzlich ängstlich, aber vollkommen still an.

„Na also, geht doch“, meinte ich mit einem schiefen Lächeln, „dann ab in den Kofferraum.“

Ich nahm das Dadao von ihrer Kehle und erhob mich einfach. Loreley blieb noch einen Moment liegen und verfolgte jede meiner Bewegungen wie gebannt, bevor sie plötzlich wieder stand, so schnell aufgesprungen, dass meine Augen es nicht hatten wahrnehmen können. Und sie hatte mich keinen Moment aus ihrem Blickfeld gelassen. Sie hatte Angst, was für ein Kompliment. Allerdings war sie auch verrückt, folgte mir jedoch ohne Widerspruch zum Wagen und kletterte brav in den Kofferraum, als ich ihn ihr öffnete. Dann schlug ich ihn wieder zu und setzte mich neben Tigris auf den Beifahrersitz.

„Beeindruckend“, meinte er, während er den Motor anließ, „vielleicht sollten wir dich jetzt immer mitnehmen, wenn tjashjolaja boljesn zum Problem wird.“

„Vorzugsweise nicht. Irre sind mir nicht geheuer, besonders wenn es verrückte Vampire sind. Wobei ihr ja alle nicht ganz richtig…“

„Nett ausgedrückt, wirklich charmant Mensch.“

Ich zuckte, wenn auch etwas verlegen, mit den Schultern.

„Unglückliche Formulierung, ich geb’s ja zu. Was mich aber interessieren würde ist, woher du Loreley kennst.“

Tigris schwieg so lange, dass ich glaubte er würde mir nicht antworten.

„Ich habe sie erschaffen.“

Nicht ganz das, was ich vermutet hatte.

„Warum?“

„Muss es denn einen Grund geben?

„Ja.“

Ein Lächeln stahl sich auf Tigris Lippen.

„Wie schön, dass ich dir nicht zu antworten brauche.“

Ich verdrehte die Augen. Das hätte mich jetzt wirklich interessiert. Allerdings konnte ich mir die Geschichte dazu schon denken: Die klassische Vampirromanze. Ein stoischer Vampir und eine zarte junge Menschenfrau, die sich unsterblich ineinander verliebten, was schließlich darin endete, dass er sie zu einer der seinen machte, damit sie für immer zusammen sein konnten. Nur dass sie die Bedeutung des Wortes Ewigkeit irgendwann einholte, denn das war wirklich verdammt lange.

„Wie alt ist sie?“

„Menschlich: 32, vampirisch: 653.“

„Dann ist sie aber sehr früh dran mit tjashjolaja boljesn.“

„Der Meister erhofft sich großes von ihr.“

„Weil es bei ihr so früh einsetzt?“

„Je früher es einsetzt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit dass man überlebt.“

„Also ist die große Erwartung etwa zu überleben?“

„Ja.“

Dann war Insania anscheinend noch mehr unter den Vampiren gefürchtet als unter den Jägern geschätzt. Das hätte ich nicht für möglich gehalten, aber so war es anscheinend, wenn es unter ihnen als etwas Großes galt zu überleben. Wie viele wohl daran zu Grunde gingen? Zum ersten Mal überschlug ich es ungefähr im Kopf und war… erstaunt. Es musste wirklich nur ein Bruchteil sein, wenn die 181 stimmten, denn in den tausenden von Jahren mussten wenigstens genauso viele Vampire erschaffen worden sein und wir Jäger töteten auch nicht annähernd so viele wie wir gerne würden. 181 über all diese Zeit, das war einfach unfassbar.

„Was ist eigentlich in Russland?“

„Eine Art Hospital für Vampire in diesem Stadium. Dort werden sie den ganzen Tag überwacht und geholfen so gut es geht. Falls nötig auch direkt beseitigt.“

„Warum war sie nicht schon von Anfang an dort?“

„Weil die Vampire dort nicht lange zögern. Ein Fehler und sie ist für immer tot.“

„Warum dann jetzt?“

„Weil jetzt die Phase beginnt, in der man ihr nicht mehr über den Weg trauen kann.“

„Warum nimmst du sie dann nicht mit?“

„Weil der Meister das nie erlauben würde.“

„Welche Vampire übernehmen diese Aufgabe denn freiwillig?“

„Keine.“

Verwirrt sah ich ihn an.

„Euch bestraft man mit Gefängnissen, uns mit Arbeit im Hospital.“

Wenn möglich wurde der Ausdruck in meinen Augen noch verwirrter und Tigris lachte.

„Eine Gesellschaft funktioniert nur, wenn Recht und Unrecht definiert wird und eine adäquate Form der Bestrafung besteht. Ein paar hundert Jahre im Hospital und du wirst nie wieder gegen die Regeln verstoßen, glaub mir.“

„Was ist daran so furchtbar?“

„Du lebst mit diesen Vampiren ein-, zweihundert Jahre und dann, eines Tages, wenn sie dann an tjashjolaja boljesn zerbrechen, musst du sie töten. Vielen führt das ihre Zukunft vor Augen und für die meisten tritt diese auch wirklich ein.“

„Du musstest auch schon einmal dort arbeiten.“

Es war eine Feststellung, keine Frage.“

„Fünfzig Jahre.“

„Wieso?“

„Wegen mir“, kam plötzlich eine Stimme aus dem Kofferraum und ich fuhr erschrocken zusammen.

Ich hatte vergessen dass sie uns hören konnte.

„Sei still Loreley“, meinte Tigris mit Nachdruck in der Stimme und Loreley blieb tatsächlich still.

Ich erinnerte mich an etwas, das mir Reginé erzählt hatte: Dass der Schöpfer eines Vampirs in den ersten 200 Jahren nach der Erschaffung die gleiche Strafe zu ertragen hatte wie sein Geschöpf, wenn dieses gegen die Regeln verstieß. Da Tigris von Oswald als sein Diener gewählt wurde, war ich mir sicher, dass er ein mustergültiger Vampir war, also musste es Loreley gewesen sein, die Schuld an dieser Strafe trug. Und ich würde nur zu gerne wissen, was sie getan hatte.

„Wo genau müssen wir eigentlich hin? Ich meine, das Hospital wird doch nicht direkt in Moskau liegen, oder?“

„Das Hospital ist nicht nur ein einziges Gebäude. Teile davon liegen auch direkt in Moskau.“

Den Schock musste ich erst einmal verdauen. War Moskau nicht die vampirsicherste Stadt der Welt? Und genau dort schickten sie ihre Insaniapatienten hin und keiner wusste davon. Nun, zumindest hatte es keiner für notwendig befunden mir davon zu erzählen. So langsam hielt ich es mit der Vereinigung und ihren ganzen Lügen nicht mehr aus. In den Grundzügen verstand ich ja ihre Geheimhaltung, aber was sie betrieben ging einfach zu weit. Ich war mir fast sicher, dass die Vereinigung auch davon wissen musste. Und ich war in Moskau gewesen, war alleine in den Straßen unterwegs gewesen und niemand hatte mir etwas gesagt. Ja, ich war wütend, sehr sogar. Aber dies war sowohl der falsche Zeitpunkt, als auch der falsche Ort für diese Wut, also vergrub ich sie tief in mir, um sie später gegenüber ein paar Jägern wieder hervorzuholen.

„Und wohin fahren wir dann?“

„Dieser Teil des Hospitals liegt weit außerhalb, keine Sorge, wir werden keinem deiner alten Jägerfreunde begegnen.“

Daran hatte ich noch überhaupt nicht gedacht, aber er hatte da einen Punkt. Wenn ich auch glaubte, dass das hier eher weniger Probleme darstellen würde, da die Moskauer Jäger sich sicher erst an Mr Kosloff wenden würden und der dank seines Sohnes von meinem Auftrag wusste, also war das das kleineste meiner Probleme. Sollte ich Constantin oder einem seiner Schergen begegnen, dann hätte ich echte Probleme. Ich hatte mein Glück schon zu oft überstrapaziert und konnte nur beten, dass wir im Hospital niemandem über dem Weg liefen, der mein Gesicht kannte.

„Ich hab keine Angst einem von ihnen zu begegnen, aber einem anderen Teil meiner Vergangenheit.“

„Ich nehme an du hast in deiner Jägerzeit nicht nur Waffen geschleift, sondern sie auch genutzt?“

„Ja“, meinte ich kurz angebunden.

„Das wäre eine Situation, aus der dir wahrscheinlich nicht einmal der Meister auf die Schnelle helfen könnte.“

Russland

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Kapitel 16 - Das Hospital

„Ich weiß“, war alles, was ich darauf antwortete.

Oswald würde nichts für mich gefährden, dafür war ich einfach zu unwichtig für ihn und das war mir auch recht so.

„Ich will ja nicht nerven, aber können wir mal irgendwo anhalten? Ich müsste dringend meinen menschlichen Bedürfnissen nachgehen.“

„Warst du nicht erst bevor wir losgefahren sind?“

„Das ist beinahe acht Stunden her. Und außerdem müsste ich auch mal wieder was essen.“

„Der Meister hatte recht, sich einen Menschen zu halten ist wirklich aufwendig“, seufzte Tigris, fuhr aber von der Autobahn an der nächsten Raststätte ab.

„Hast du einheimische Währung?“, wandte ich mich an Tigris, nachdem wir angehalten hatten.

Er reichte mir eine Kreditkarte.

„Beeil dich, wir sollten nicht zulange mit Loreley hier bleiben.“

Ich nickte.

„Nur schnell auf die Toilette und Essen zum Mitnehmen, verstanden.“

Und ich beeilte mich tatsächlich, auch wenn ich kein Wort der Sprache verstand, so schien das Toilettensymbol doch zumindest universell zu sein. Danach ging ich rasch zurück in den Verkaufsraum und war mit der Auswahl an fremdländischen Dingen völlig überfordert. Ich griff nach etwas, das wie ein belegtes Brot aussah und nahm einen Sixpack Wasser. Nach kurzem Überlegen folgten noch eine weitere Handvoll belegter Brötchen. Wer wusste wann ich wieder die Gelegenheit bekam etwas Essbares zu kaufen. Das Zahlen mit der Kreditkarte erwies sich zu meinem Glück als unproblematisch und ich war keine fünf Minuten später wieder auf meinem Weg nach draußen. Leider hörte ich schon als ich aus der Raststätte heraustrat Loreleys Stimme.

„Mach dass es weggeht!“, jaulte sie, „sie sind überall!!“

Ich machte, dass ich meine Beine in die Hand nahm und rannte in wenigen langen Sätzen zurück zum Auto. Ich beeilte mich so damit in den Wagen hineinzukommen, dass ich mich fast auf meine Dadao gesetzt hätte. Hastig schob ich sie zur Seite und bevor ich mich anschnallen konnte war Tigris auch schon losgefahren.

„Wir halten nicht wieder an“, fauchte Tigris, als er das Gaspedal bis zum Anschlag durchdrückte und zurück auf die Autobahn zog.

Ich nickte nur, während ich dabei zuhörte, wie Loreleys Scharren im Kofferraum und Jammern immer leiser wurde und schließlich wieder ganz verstummte.

„Wie hält der Kofferraum das eigentlich aus?“, kam mir endlich in den Sinn.

„Von innen verstärkt.“

Ich musste schlucken und wollte die nächste Frage nicht stellen, musste aber einfach.

„Warum?“

„Hat sich schon mehr als einmal als praktisch erwiesen.“

Mich schauderte und ich nahm einen großen Bissen von meinem belegtem Brot. Das war ja entzückend, ein von innen verstärkter Kofferraum. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was oder wer darin schon transportiert worden war und wie lebendig diese waren.

„Wie lange fahren wir noch?“

„Zehn Stunden, wenigstens.“

„Dann werde ich eine Runde schlafen“, meinte ich und kreuzte die Dadao auf meinem Schoß.

„Wie du meinst Mensch“, war das Letzte, das ich hörte, bevor ich einschlief.

Ich erwachte erst wieder am nächsten Tag, als die Sonne bereits aufgegangen war. Das helle Licht schmerzte in meinen Augen und ich schloss sie für einen weiteren Moment.

„Du bist wieder wach?“, fragte Tigris zögerlich.

„Ja, ist das nicht offensichtlich“, grummelte ich noch immer mit geschlossenen Augen.

„Ich kann mich nicht daran erinnern als Mensch so unruhig wie du geschlafen zu haben. Du hast dich viermal plötzlich aufgesetzt und deine Waffen erhoben, nur um im nächsten Moment wieder in den Sitz zurückzusinken.“

„Ich kann mich nicht daran erinnern“, meinte ich bloß und räkelte mich in meinem Sitz, „wann sind wir denn da?“

„Noch eine halbe Stunde würde ich sagen.“

Ich seufzte und öffnete wieder die Augen. Eine halbe Stunde. Ich sah aus dem Fenster und erkannte… nichts. Erleichterung machte sich in mir breit. Wir waren nicht in der Umgebung von Constantins Anwesen, zumindest soweit ich das erkennen konnte. Vielleicht hatte ich ja Glück.

Wir schlängelten uns noch eine Weile über einsame Straßen, deren einzige Gemeinsamkeit war, dass sie alle tadellos geräumt waren. Und dann waren wir da. Die Anlage erinnerte von weitem ein bisschen an ein Gefängnis. Hohe Mauern, die unmöglich die Insassen drinnen, aber neugierige Menschen draußen halten konnten, umsäumten ein großes Gelände, jedoch gab es keine Wachtürme sondern nur einen einzigen, durch schwere Tore gesicherten Eingang.

„Was glauben die Menschen, was das hier ist?“

„Eine Nervenheilanstalt.“

So weit entfernt von der Wahrheit war das gar nicht. Dann kam mir ein unschöner Gedanke.

„Sollte ich da eigentlich überhaupt rein?“, fragte ich zögerlich.

„Als ehemaliger Jäger solltest du wohl in der Lage sein dich zu verteidigen, ich würde dir aber trotzdem raten nicht anzufangen zu bluten. Sicher ist sicher.“

Das beruhigte mich nicht gerade, aber wie es schien würde er mich auch nicht vor dem Tor warten lassen, an dem wir gerade zum Stehen kamen. Aus dem kleinen Häuschen davor trat ein Vampir. Die Frau musste bei ihrer Verwandlung ungefähr vierzig Jahre alt gewesen sein und sie war der erste übergewichtige Vampir, den ich je sah. Feuerrote Ringelsöckchen umrahmten ihr leicht aufgedunsenes Gesicht mit den kleinen braunen Knopfaugen und dem Doppelkinn. Ihr rosafarbenes Pulloverkleid schmeichelte ihrer Figur nicht gerade und zeigte für die Temperaturen viel zu viel Haut.

„Master Tigris!“, flötete sie mit ihrer hohen Quietschestimme, „welch eine Freude Sie wiederzusehen.“

Dann fiel ihr Blick auf mich.

„Was wollen Sie denn mit dem da?“, fragte sie leicht pikiert und blinzelte wie verrückt in Tigris‘ Richtung.

Ich konnte mir ein Augenverdrehen fast nicht verkneifen. Stattdessen musterte ich sie im Gegenzug kalt, was fast genauso gut war.

„Mach einfach das Tor auf Anna“, meinte Tigris gelangweilt und ohne sie eines Blickes zu würdigen.

Mit einem koketten Grinsen verschwand Anna wieder in dem Häuschen und im nächsten Moment öffneten sich auch endlich die schweren Tore. Was dahinter zum Vorschein kam überraschte mich sehr. Ich hatte irgendetwas Majestätisches, Kunstvolles erwartet, stattdessen ragten vor mir mehrere rechteckige, schmucklose Backsteingebäude aus dem schneebedeckten Rasen in die Höhe. Und obwohl ich wusste, dass sich hier Vampire befinden mussten war das Gelände wie leergefegt. Nichts rührte sich, die Rollläden waren heruntergelassen und auch sonst verströmten die Häuser kein Anzeichen von Leben. Wir parkten vor dem größten Gebäude im Zentrum und ich stieg nur unwillig aus dem Wagen. Ein ungutes Gefühl begleitete mich und meine rechte Hand schwebte dauerhaft über einem meiner langen Messer. Ich beobachtete aufmerksam die Umgebung, während Tigris Loreley aus dem Kofferraum ließ.

„So fahre ich nie wieder mit“, meckerte sie, während sie elegant wie eine Katze heraussprang, doch im nächsten Moment war sie schon wieder wie weggetreten.

„So viele“, murmelte sie und ging wie verträumt auf die Eingangstüre zu.

Tigris und ich beeilten uns ihr zu folgen. Durch die Eingangstür getreten blieb sie vor einer weiteren Tür stehen und blickte diese verträumt an. Nach wenigen Augenblicken erschien ein zierlicher Vampir, der bei seiner Verwandlung vielleicht sechzehn Jahre alt gewesen sein musste. Der Junge war knapp 1,70m groß, hatte kurzes verstrubbeltes blondes Haar, moosgrüne Augen und einen geschäftigen Ausdruck. Zu allem Überfluss trug er über seinem Anzughemd mit Krawatte einen Arztkittel.

„Nikolas“, begrüßte ihn Tigris mit einer Verbeugung, die mir klar machte, dass dieser Vampir deutlich älter sein musste als sein Äußeres verriet und ich folgte seinem Beispiel.

Der Junge beachtete mich jedoch nicht weiter.

„Tigris, wie ich sehe hast du sie nun doch hierher gebracht.“

„Sie hatten Recht, sie schafft es nicht allein.“

Nikolas nickte wissend.

„Nicht jeder kann einen so reibungslosen Übergang haben wie du und dein Bruder. Ich werde sie aufnehmen und mich gut um sie kümmern.“

Tigris verbeugte sich ein weiteres Mal vor ihm.

„Vielen Dank.“

„Kommen wir jetzt zu dem Mensch“, wechselte Nikolas das Thema und wandte sich mir zu, „seit wann lässt Oswald seine Diener mit aussortierten Jägern umherziehen? Ich dachte er vertritt meine Ansicht, was das betrifft.“

„Sie war ein Geschenk von Pascal“, meinte Tigris, „und nach dem was momentan hier oben in Russland alles passiert, hielt der Meister es für keine ganz schlechte Idee sich ein paar Menschen zu halten.“

„Natürlich, wie konnte ich auch nur daran zweifeln, dass Oswald länger als einen Tag brauchen würde das herauszufinden.“

Nun war mein Interesse geweckt und ich spitzte die Ohren. Das war die Gelegenheit herauszufinden, was passiert war.

„Auch ich kann mir nicht erklären, was passiert ist, es ist wirklich… noch nie dagewesen.“

„Der Meister macht sich Sorgen. Wir alle wollen wissen, warum Constantin seine Amtsgeschäfte so plötzlich übertragen hat.“

Anscheinend hatten die beiden mich wieder vollkommen vergessen und ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich mich freuen oder beleidigt sein sollte.

„Die Antwort darauf ist einfach: Er ist krank.“

Nun konnte ich einen der seltenen Momente erleben, in denen ein Vampir fassungslos dreinblickte und das nicht, weil ein Pfahl in seinem Herz steckte.

„Krank?“, fragte Tigris ungläubig, „Ich habe noch nie gehört, dass einer von uns krank war.“

„Das glaube ich dir, du bist noch relativ jung Tigris, aber doch, es kommt vor. Selten zwar, aber es ist durchaus möglich.“

Dieser Vampir nannte Tigris jung. Ich schluckte. Wie alt um Himmels Willen musste er dann bitteschön sein? Denn nach meinen Überschlagungen war Tigris um die 2000 Jahre alt, wenn nicht sogar zweieinhalbtausend.

„Wie passiert denn so etwas?“

Ja, das würde mich auch interessieren.

„Die unterschiedlichsten Gründe“, antwortete Nikolas vage und ließ mich damit vermuten, dass er sich meiner Anwesenheit doch bewusst war, „aber bei Constantin weiß ich es nicht. Noch ist er nicht wach.“

„Wie… wie meinen Sie das?“

Ich glaubte Angst in Tigris‘ Augen zu sehen, nackte Angst und ich war auch, gelinde gesagt, überrascht. Vampire mussten nicht einmal schlafen, auch wenn sie es trotzdem gerne taten, schon allein aus Gewohnheit. Das jedoch, das hörte sich mehr nach einem Koma an und im Gegensatz zu Nikolas wusste ich, woher es kam. Ich hatte ihn tatsächlich verletzt, als wir uns im Traum sahen. Ich hatte es wirklich getan.

„Er schläft. Mikhail hatte mich gerufen, als es ihnen nicht gelang ihn aufzuwecken.“

„Wird er denn wieder aufwachen?“

Ich konnte meine Neugier kaum verbergen und wartete voller Spannung auf Nikolas‘ Antwort.

„Ja, sobald er sich erholt hat von was auch immer ihm so viel seiner Kraft geraubt hat.“

Ich konnte nicht verhindern, dass ich enttäuscht war.

„Und wann wird das sein?“, fragte Tigris schon wieder eine der Fragen aus meinem Kopf heraus.

„Bald, da bin ich mir sicher. Um ihn besser überwachen zu können hab ich ihn hierher bringen lassen.“

Kapitel 17 - Die Katakomben

„Und das hat Mikhail zugelassen?“, fragte Tigris, zu meiner Überraschung, mit deutlichem Amüsement in der Stimme.

„Ich hab ihm keine Wahl gelassen. Es ist wichtig, dass Constantin in diesem Zustand genau beobachtet wird und Mikhail kann hier genauso gut auf ihn aufpassen lassen.“

„Er ist nicht an seiner Seite?“

„Nein, für die Geschäfte musste er in der Residenz verbleiben. Er kommt aber manchmal nachts vorbei, um nach ihm zu sehen.“

Okay, Constantin war hier, aber außer Gefecht und Mikhail würde frühestens in der Nacht wieder hier auftauchen. Ich konnte mich außerdem frei in diesem Gebäude bewegen. Das war einfach zu einfach. So viel Glück konnte ein einzelner Mensch nicht haben. Wenn ich mir diese Chance entgehen ließ, dann würde ich es bitter bereuen. Ich konnte hier und heute meinen Alpträumen endgültig ein Ende bereiten. Ein kleines Lächeln stahl sich auf meine Lippen ohne dass ich es verhindern konnte.

„Mir ist langweilig“, jammerte Loreley und stand plötzlich bei uns.

„Dann wenden wir uns mal unserer Patientin zu“, meinte Nikolas geschäftig und wandte sich an Loreley, „schön dich wiederzusehen. Wie schlägst du dich mit tjashjolaja boljesn?“

Als Loreley Nikolas in die Augen sah, war sie mit einem Mal wie ausgewechselt. Ihre Haltung straffte sich und der verrückte Ausdruck wich aus ihren Augen.

„Die Aussetzer haben angefangen und nehmen rapide zu und der Blutdurst… ich fühle mich wie ein frisch gewandelter Vampir ich hab ihn kaum noch unter Kontrolle“, antwortete Loreley mit ruhiger melodischer Stimme und ich sah zum ersten Mal die Person, die sie einmal gewesen sein musste, bevor Insania begonnen hatte sie verrückt zu machen.

Nikolas löste seinen Blick von ihr und ich konnte beobachten, wie der irre Ausdruck zurückkehrte und sie wieder diese animalische Haltung einnahm, während ihr Blick nervös umherzuckte.

„Wie es aussieht hast du sie gerade noch rechtzeitig hierher gebracht. Wir werden uns gut um sie kümmern. tjashjolaja boljesn hat sich recht früh bei ihr gezeigt, sie hat gute Chancen das Ganze zu überstehen.“

„Tigris“, wandte sich Loreley plötzlich an ihn, „ich will zurück in den Wald.“

„Es tut mir leid Loreley, das geht nicht“, meinte Tigris mit beruhigender Stimme, was jedoch leider keinen Effekt auf sie hatte.

Loreley wurde wütend.

„Ich bleibe nicht hier!“, fauchte sie.

Tigris gab mir einen kaum wahrnehmbaren Wink und bevor Loreley aus dem Gebäude stürmen konnte hatte ich sie auch schon zu Boden geworfen, die Arme im Rücken verdreht und ein Messer an die Kehle gedrückt.

„Sie ist schnell“, gab Nikolas zu, „komm Mensch, wir bringen sie auf ihr Zimmer.“

Schweigend zog ich Loreley an ihren verfilzten Haaren in die Höhe, was mir ein wütendes Fauchen einbrachte, aber ich beachtete sie nicht weiter und folgte Nikolas durch die Gänge. Zu meiner Überraschung blieb Tigris zurück.

„Ich werde dich umbringen, du wertloses Stück Fleisch“, zischte sie und als Antwort renkte ich ihr fast den Arm aus.

„Du kannst noch nicht lange die Jäger verlassen haben“, wandte sich Nikolas zu meiner Überraschung an mich und ich nickte, nicht sicher, ober ich sprechen sollte.

Als ob er es bemerkt hätte, lächelte er und zeigte dabei seine blanken weißen Zähne.

„Aber Manieren hast du anscheinend schon gelernt. Etwas anderes hätte ich bei Oswalds Dienern auch nicht erwartet. Du darfst sprechen. Mich würde nämlich interessieren, was einen so jungen Jäger dazu bringt die Vereinigung zu verlassen.“

„Lebensschuld, Herr.“

„Gegenüber Oswald.“

„Nein Herr, gegenüber Pascal Ledoux.“

„Ah, die Ledoux‘. Hoffnungslos vernarrt in die Menschen, ich hätte wissen müssen dass du von ihnen kommst.“

Loreley summte vor sich hin und kicherte. Ich festigte meinen Griff.

„Und hier sind wir auch schon“, meinte Nikolas geschäftsmäßig und öffnete eine schwere Tür, die mehr an einen Bunker erinnerte.

Mit dem Kopf deutete er hinein, also gab ich Loreley einen kleinen Schubs und bevor sie es realisieren konnte, hatte sich die Tür auch schon geschlossen. Nun sah ich mich endlich genauer in dem Gang um und entdeckte noch ein gutes Dutzend weiterer solcher Türen, alle verschlossen und warum auch immer, ich wusste einfach, dass sich hinter jeder einzelnen davon ein von Insania befallener Vampir befand.

Als mein Blick zurück zu Nikolas schweifte, bemerkte ich, dass er mich musterte und sofort überkam mich eine Gänsehaut.

„Du spürst sie, hab ich recht?“, fragte er aufgeregt und stand plötzlich keine Handbreit mehr von mir entfernt, „du kannst ihre Präsenz spüren. Sag mir, wie viele sind es.“

Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken alles zu leugnen. Aber er war ein so alter Vampir, es war zwecklos. Ich atmete tief durch und konzentrierte mich und dann wusste ich es plötzlich. Ich hatte nicht wirklich daran geglaubt, dass es funktionieren würde und spürte, wie ich bleich wurde.

„Fünfzehn in diesem Gang.“

Ich brachte die Worte kaum hervor und sah, wie sich ein Lächeln auf Nikolas‘ Gesicht ausbreitete.

„Unglaublich, da hat Oswald ja ein echtes Juwel versteckt gehalten. Wo hat er dich her? Was bist du? Eine Nixe? Ein Waldgeist?“

Er kam wenn möglich noch näher heran und atmete tief ein, sog meinen Geruch förmlich in sich ein. Seine Brauen zogen sich fragend zusammen.

„Du riechst nach Tigris, nach Loreley und nach Oswald, nach ein paar Menschen aber…“, er atmete noch einmal tief ein, „wo ist dein eigener Geruch?“

Er schien wirklich verwirrt zu sein.

„Ich bin ein Mensch, Herr.“

„Dann besitzt du aber wirklich außergewöhnliche Fähigkeiten… nein, es muss einfach etwas anderes sein. Vielleicht weißt du es ja auch einfach nur nicht. Wäre nicht das erste Mal, dass so etwas passiert.“

Fragend sah ich ihn an.

„Ihr Menschen“, seufzte Nikolas, „begegnet ihr etwas fremdartigem, dann tötet ihr es, aber bei ihren Jungen, da bekommt ihr immer Mitleid, das verstehe ich einfach nicht. Es ist ein Widerspruch in sich. Anstatt sie zu töten versucht man ihnen einzureden sie seien Menschen und dann, eines Tages, eskaliert die Situation und diese Dinger laufen Amok.“

„Sie haben so etwas schon einmal erlebt, Herr?“, fragte ich neugierig geworden.

„Ja, eine Gruppe von Jägern tötete eine Gruppe von Wassernymphen und sie fanden einen kleinen Jungen bei ihnen. Dumm wie sie waren glaubten sie, dass alle Nixen weiblich sein müssten und das Kind ein geraubter Mensch war, also nahmen sie ihn mit sich und einer der Jäger zog ihn als seinen eigenen Sohn groß. Aber magische Wesen finden sich immer wieder. Der Junge brachte jeden einzelnen Jäger, der am Mord seiner Mutter beteiligt gewesen war und deren Familien um. Nicht dass es um die Menschen schade gewesen wäre, aber obwohl Wassernymphen friedliche Wesen sind, so können sie doch sehr grausam sein. Selbst nach unseren Maßstäben.“

Jemand, den ein Vampir als grausam beschrieb. Ich wollte definitiv in meinem ganzen Leben keiner Nixe begegnen. Vampire reichten mir vollkommen.

„Es tut mir leid Herr, aber ich bin wirklich nur ein Mensch.“

Nikolas betrachtete mich noch einmal eingehend. Dann hielt er plötzlich ein Handy an sein Ohr gedrückt und in nächsten Moment hatte auch schon jemand am anderen Ende abgenommen.

„Hallo Oswald“, grüßte Nikolas ihn, während er sich von mir abwandte.

„Nein, es gab keine Probleme bei der Übernahme deines Vampirs… Nein, alles ist gut gelaufen, hierbei geht es um etwas anderen. Ich habe deinen kleinen Menschen kennengelernt.“

Nikolas schwieg und lauschte einen Moment Oswalds Worten, bevor er in schallendes Gelächter ausbrach.

„Ja, da hast du recht behalten, sie ist wirklich äußerst interessant. Ich habe ja zuerst auf Nixe getippt… Ach? Interessant. Natürlich sind wir auf dieselbe Idee gekommen. Erinnerst du dich noch an Gerold?… Ja genau… Halt mich auf dem Laufenden.“

Dann legte er auf und sah mich wieder an.

„Wie es aussieht lässt er mich dich nicht für ein paar Tests ausborgen, das ist sehr schade. Ein anderes Mal vielleicht“, meinte er, drehte sich um und war verschwunden, ohne dass es mir möglich gewesen wäre ihm mit meinen Augen zu folgen.

Ich schüttelte die komische Situation ab und nutze mein Alleinsein dazu endlich nach Constantin zu suchen. In diesem Flügel war er zumindest nicht, denn ich nutzte meine neuentdeckte Fähigkeit, um das abzuklären. Hinterfragen woher sie kam würde ich zu einem anderen Zeitpunkt, wenn ich in der Lage war mit der Antwort auch klarzukommen.

Die Gänge lagen wie ausgestorben da. Nirgendwo kratze ein Stuhl über den Boden, sprach jemand oder lief stampfend über den Boden. Es war, als wäre das Gebäude verlassen. Und dann waren da die schweren Türen, wie man sie eher aus Gefängnisfilmen kannte aber ohne den schmalen Schlitz, durch den man den Gefangenen das Essen zuschieben konnte und ohne Fenster. Einfach nur eine massive Tür. Es war wie eine Irrenanstalt aus einem Horrorfilm. Und mit seinen Insassen sah es auch nicht nur so aus. Ich hatte das Gefühl dass gleich jemand mit einem Messer in der Hand um die Ecke springen und mir die Kehle aufschlitzen würde. Wobei es in diesem Etablissement wahrscheinlicher war, dass mir jemand die Zähne hineinschlug und mich aussaugte. Allerdings war ich mir nicht so sicher, ob das nicht auch in einer normalen Irrenanstalt passieren konnte. Obwohl ich mir der Vampire um mich herum bewusst war, dauerte es über eine Stunde durch das verlassene Gebäude zu streifen und alle Gänge zu untersuchen. Was mir ein ungutes Gefühl in der Magengegend bereitete, war die Tatsache, dass ich weder Nikolas, noch Tigris auf meinem Streifzug begegnete. Wo waren denn nur diese ganzen Vampire, die zur Strafe hier die Aufpasser spielen musste?

Eine ungewöhnliche Präsenz ließ mich innehalten. Hinter dem zugemauerten Türbogen, dem ich mich jetzt zuwandte befand sich ein Vampir, wie hinter jeder der anderen verschlossenen Öffnungen, aber dieser war nicht von Insania befallen. Vielleicht hätte ich doch nicht in den Keller hinuntergehen sollen, denn wie ich schnell feststellte, war keiner der Vampire in den vierundzwanzig zugemauerten Räumen von Insania befallen, aber trotzdem stimmte da etwas nicht mit ihrer Präsenz. Obwohl ich diese Fähigkeit heute zum ersten Mal benutzte wusste ich einfach, dass etwas mit ihnen nicht stimmte. Die Vampire hinter diesen Türen… sie waren anders.

„Du solltest nicht hier sein“, meinte plötzlich eine Stimme hinter mir.

Bevor ich es verhindern konnte setzten meine Instinkte ein. Während ich mich im Bruchteil einer Sekunde umdrehte zog ich meine Säbel, trat die Person vor mit heftig gegen die Brust und beförderte sie damit gegen die gegenüberliegende Wand und stand schon vor ihr mit dem Dadao an der Kehle, bevor die Person überhaupt realisieren konnte, was passiert war. Erst dann kehrte ich wirklich in meinen Körper zurück und nahm meine Umgebung wieder wahr. Sofort nahm ich die Dadao von Tigris‘ Kehle fort, die ich ihm dort überkreuzt angesetzt hatte, und trat ein paar Schritte zurück.

„Ich schätze mal es war keine gute Idee mich an dich anzuschleichen“, meinte dieser mit einem schwachen Lächeln jedoch vollkommen ruhig, obwohl es mir ein leichtes gewesen wäre ihm gerade eben den Kopf vom Körper zu trennen.

Ich war mir sicher dass er es nicht mehr hätte verhindern können.

„Aber du solltest wirklich nicht hier sein.“

Ich überlegte für einen Moment es für mich zu behalten, aber ich konnte es nicht.

„Ich dachte ihr würdet alle die Regel gefährdenden Vampire sofort töten. Wenn das so ist, was ist dann das hier?!“, fragte ich aufgebracht.

„Das stimmt“, meldete sich eine weitere Stimme und plötzlich stand Nikolas neben Tigris, „aber selbst in unserer Gesellschaft  gibt es einige, bei denen wir die Hoffnung wider aller Erwartungen noch nicht aufgegeben haben.“

Wo kamen die beiden nach einer Stunde so plötzlich her? Hatten sie mich etwa verfolgt?

„Und wer ist so wichtig, dass es keiner von euch wagt sie zu töten…Herr.“

„Das weiß ich nicht“, gab Nikolas schließlich nach längerem Schweigen zu.

Kapitel 18 - Auf der Suche

„Sie leiten diese Anstalt Herr, wie ist das möglich“, meinte ich, endlich wieder einigermaßen beruhigt.

„Diese Katakomben hier sind sehr alt… älter als jeder Vampir, den ich kenne. Und seitdem sind sie verschlossen.“

„Wollen Sie etwa damit sagen Herr, dass diese Vampire schon seit Jahrtausenden hier unten eingemauert sind?!“

Nikolas nickte und ich war fassungslos.

„Aber Herr, wie bekommen sie Nahrung?“

„Sie bekommen keine Nahrung.“

Das musste ich erst einmal verdauen. Ich hatte davon zwar schon gehört, aber ich hatte es nicht geglaubt. Vampire konnten also wirklich nicht verhungern. Und diese Vampire Jahrtausende hinter zugemauerten Türen einzusperren… das war wirklich grausam. Und würde den Zustand eines verrückten Vampirs sicher nicht verbessern. Nein, Nikolas musste lügen. Ich war mir sicher, dass es sich hierbei um eine Bestrafung handelte, aber was war so schlimm, dass es so etwas verdiente?

Ich lief weiter den Gang entlang und kam schließlich zu dessen Ende. Meine Augen weiteten sich, als ich die beiden aufgebrochenen Zellen sah. Der Raum dahinter war kaum fünf Quadratmeter groß und war vollkommen leer. Das einzige war eine Vertiefung in der Wand, die zum Sitzen und Schlafen diente. Nichts von beidem mussten Vampire tun, aber hier war es ihr einziger Zeitvertreib. Es war barbarisch.

„Was ist mit diesen Zellen passiert, Herr?“

Tatsächlich war es Tigris, der antwortete.

„Ein Ausbruch. Der erste und einzige, den diese Anstalt je zu verzeichnen hatte.“

„Und selbst dieser Fehler wurde behoben“, mischte sich nun wieder Nikolas mit einem harten Ausdruck in den Augen ein.

„Wie konnte es dazu nur kommen?“, flüsterte ich eher zu mir selbst.

„Das weiß niemand“, meinte nun wieder Tigris, „diese Zellen waren magisch versiegelt. Die Insassen hätten sich nicht befreien sollen können.“

„Was übrigens auch der einzige Grund war, warum ihnen der Ausbruch überhaupt gelang“, fügte Nikolas verschnupft an.

Es war also unter seinem Regime passiert. Er hatte die Insassen verloren.

„Was meinten Sie mit behoben, Herr?“

„Wir haben die beiden aufgespürt und getötet.“

„So alte Vampire zur Strecke zu bringen… das muss sehr schwer gewesen sein, Herr.“

„Ein Jahr lang suchte fast jeder Vampir und jedes Vampirblut nach ihnen, bis wir sie schließlich fanden. Die Festnahme war eine blutige Schlacht, über ein Dutzend Vampirblut und drei Vampire verloren dabei ihr Leben.“

Ich glaubte fast eine Träne in Nikolas‘ Augenwinkel zu sehen. Er musste einen der verstorbenen Vampire gekannt haben.

„Nikolas persönlich hat einem von ihnen den Kopf abgerissen“, pries Tigris den anderen Vampir.

„Es war das Mindeste.“

„Ihr wart beide dort?“, fragte ich Tigris überrascht und dieser nickte.

„Sie wurden in Deutschland aufgespürt. In der Nähe eines kleinen Dorfes im Bayrischen Wald. Es waren Vampire und Vampirblut des Meisers, die da starben. Einige davon hatte er selbst gewandelt. Ich hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Er riss dem weiblichen Vampir den Kopf ab, nachdem diese Zora getötet hatte.“

„Zora?“, hakte ich nach, als er nicht weitersprach.

Dieser sah jedoch nur Nikolas an, welcher schließlich seufzend antwortete.

„Zora leitete zusammen mit mir dieses Hospital. Eigentlich hat sie es gegründet und sich vorher selbständig um Vampirblut gekümmert, das an tjashjolaja boljesn litt. Einer dieser Vampirblut war Oswald. Ein anderer war ich.“

„Einem solchen Vampir gegenüber hat man sein Leben lang eine Schuld, die nicht zu begleichen ist“, sprach Tigris nachdrücklich weiter.

Wie zivilisiert Vampire doch sein konnten. Wie viel Spaß es ihnen machte ab und an einmal sich wie Menschen zu benehmen. Man konnte fast vergessen, wie gerne sie einem auch noch die Kehle herausrissen. Einfach nur so zum Spaß. Und das alles nur, weil sie die Menschen für eine untergeordnete Spezies hielten, die sie wie Tiere behandeln konnten. Aber das hier war unser Planet und wir würden ihn uns zurückholen.

„Wer hat eigentlich die Magie über diese Zellen gewirkt, Herr?“

„Was für ein neugieriger Mensch du doch bist“, meinte Nikolas lachend, „aber auch darauf hab ich keine Antwort. Viele glauben, dass es Mutter selbst war, wissen tut es niemand.“

Mutter, die Königin der Vampire, ihre unangezweifelte Herrscherin, der sie bedingungslos und ohne mit der Wimper zu zucken folgten. Sie war wahrscheinlich die mächtigste Person auf diesem Planeten. Und wieder einmal fragte ich mich, warum sie die Vampire in den Schatten hielt, warum sie uns Menschen nicht einfach überrannten, denn würden sie geballt angreifen, da war ich mir sicher, hätten wir keine Chance. Außerdem hassten sie uns Menschen, hielten uns für mindere Wesen, was also hielt sie davon ab? Was war der Grund? Warum fürchteten sie sich vor einer Schlacht, die sie eigentlich nur gewinnen konnten?

„Und eigentlich“, fuhr Tigris fort, „sollte sich hier unten auch kein Mensch aufhalten. Wenn ich mich recht entsinne ist die Tür in den Keller eigentlich immer verschlossen.“

Ja, mit mehreren Schlössern und Riegeln sogar, aber alle ziemlich altmodisch und mit ein paar Dietrichen leicht zu öffnen. Ich hatte es für ein gutes Anzeichen gehalten, dass Constantin hier unten sein könnte, hätte es aber eigentlich besser wissen müssen.

„Wäre Nikolas nicht so ungemein fasziniert von dir, wärst du schon längst tot. Hier unten kannst du ja eigentlich keinen Schaden anrichten, aber betritt diese Katakomben nie wieder, denn dann wird nicht noch einmal über dein Fehlverhalten hinweggesehen werden.“

Ich nickte und richtete meinen Blick reumütig auf den Boden.

„Natürlich“, meinte ich, steckte meine Dadao endlich zurück und huschte die Treppe nach oben.

„Ich werde sofort die Anbringung eines neuen Schlosses veranlassen. Und sieh zu, dass du diesem Menschen in Zukunft nicht mehr so viel erzählst“, hörte ich Nikolas‘ Stimme noch leise von den Katakomben nach oben schallen, bevor die Tür ins Schloss fiel.

Einen Augenblick dachte ich darüber nach auf Tigris zu warten. Es wäre die vernünftige Entscheidung gewesen, aber ich musste diese Gelegenheit einfach nutzen, also verließ ich das Gebäude und wandte mich dem identischen zu dessen rechter Seite zu. Auch hier war weder die Eingangstür verschlossen noch sah ich einen einzigen Vampir auf dem Gang. Jedes Detail schien mit dem anderen Gebäude übereinzustimmen und tatsächlich fand ich auch hier eine verschlossene Kellertreppe. Diesmal ging ich jedoch nicht hinunter, wenn auch schweren Herzens, denn ich spürte weitere dieser komischen Präsenzen hinter dieser Tür. Auf dem Gelände befanden sich fünf im Halbkreis aufgestellten Gebäude. Wenn meine Vermutung stimmte, dann waren diese Gebäude einmal durch einen unterirdischen Gang miteinander verbunden gewesen und entlang dieses ganzen Ganges waren Vampire eingemauert. Selbst wenn es jedes Mal nur unter den Gebäuden selbst war… dann waren dort 130 Vampire eingemauert, die mindestens so alt waren wie Mutter. Ich spürte wie sich meine Nackenhaare aufstellten und trat eilig ein paar Schritte von der Kellertür zurück. Vielleicht irrte ich mich ja auch, die Katakomben konnten auch viel kürzer, nur eine Verbindung zwischen diesen beiden Häusern sein, auch wenn das unwahrscheinlich war. 130 weitere Vampire, echte Vampire, die Insania überlebt hatten und seit Jahrtausenden in winzigen Zellen eingesperrt waren. Auch wenn diese angeblich mit irgendeinem Hokuspokus versiegelt waren, ich glaubte nicht an so etwas, nicht solange ich es nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hatte. Und schließlich war zweien der Ausbruch schon gelungen. Am liebsten würde ich alle diese Gebäude hier niederbrennen. Es wäre besser für alle Beteiligten. Aber nun stand ich vor der großen Frage: Sollte ich zuerst dieses Gebäude nach Constantin durchsuchen, oder an den Kellertüren aller Gebäude nach diesen merkwürdigen Präsenzen… lauschen. Ich war mir nicht sicher, wie viel Zeit ich hatte. Was war mir wichtiger? Aberhunderte Gedanken rasten mir auf einmal durch den Kopf, aber dann sah ich wieder den Strand vor meinen Augen. Wie die toten Körper meiner Freunde im heißen Sand lagen, den Blick der trüben Augen in weite Ferne gerichtet und wie mich die Jäger fortzogen, wie Darius mich fortzog und mich zwang meinen Blick abzuwenden. Wie mein Herz in diesem Moment endgültig zerbrach. Eigentlich hatte ich nie eine Wahl gehabt.

Während ich durch die Gänge schlich nutzte ich meine neuentdeckte Fähigkeit um herauszufinden, in welchem Zustand sich die Vampire hinter den vielen Türen befanden. Es waren so viele, so so viele und sie alle litten an Insania. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Vereinigung hiervon nichts wusste. Ich hasste es dazu gezwungen zu sein heute einfach wieder mit Tigris zu Oswald zurückzukehren… solange ich nicht Constantin fand und ihn umbrachte. Luca würde es verstehen, da war ich mir sicher, selbst wenn es ihn das Leben kosten sollte. Bei Roman war ich mir da nicht so sicher, aber hierbei konnte ich auf ihn einfach keine Rücksicht nehmen. Ich würde mich mit Schuldgefühlen erst beschäftigen, wenn Oswald ihn tatsächlich töten würde. Als ich im dritten und gleichzeitig obersten Stockwerk ankam, bemerkte ich doch einen Unterschied. Hier befanden sich keine schweren Gefängnistüren mehr vor den Räumen. Entweder lebten hier die Aufpasser oder ich hatte die Zimmer für ‚normal kranke‘ Vampire gefunden. Dann begegnete ich der ersten Person auf dem Gang einer dieser Gebäude. Es war ein Mann, knapp 1,75m groß, schlaksig mit schwarzem zurückgegeltem  schwarzem Haar und einer Hornbrille auf der Nase. Diese und die langsame Reaktion waren es, die mich stutzig machten. Es war viel zu einfach ihn gegen die Wand zu drücken und ihm den Mund zuzuhalten. Dann spürte ich es durch die Hand, die ich auf seinen Mund drückte: einen Herzschlag. Wie hatte ich das nicht sofort merken können. Dieser Mann war ein Mensch, ein echter Mensch. Sofort lockerte ich meinen Griff und trat einen Schritt zurück, nicht jedoch ohne ihn aus den Augen zu lassen.

„Nennen Sie mir einen Grund, warum ich nicht um Hilfe rufen sollte“, fragte mich der Mann, während er sein Hemd glattstrich.

„Sie sind ein Mensch.“

„Genau wie Sie. Haben wir jetzt das Offensichtliche abgeklärt?“

„Was tun Sie hier?“

„Die Frage gebe ich gerne zurück, aber im Gegensatz zu Ihnen habe ich eine Berechtigung hier zu sein, Jäger.“

Er spie das Wort förmlich aus und es troff vor Verachtung. Ein Vampirliebchen also. Ich hatte das Hospital nicht als einen geeigneten Aufenthaltsort für solche Menschen gehalten, aber andererseits verstand ich sie auch überhaupt nicht.

Exjäger. Ich diene nun Meister Oswald, Futtertrog.“

Solchen Menschen konnte ich einfach keinen Respekt entgegenbringen. Und nun war der Rest dieses Stockwerks für mich uninteressant, hier lebten nur Blutdiener. Ohne diese kümmerliche Existenz weiter zu beachten drehte ich mich um und verließ das Stockwerk und dann das Gebäude. Er folgte mir nicht und ich war froh darum. Es fiel mir schwer Solche beschützen zu wollen. Als ich durch die Türe ging, waren draußen plötzlich Vampire. Es waren nur zwei und sie waren auf dem Weg zwischen den Gebäuden unterwegs. Mit raschem Schritt, wie die meisten Vampire unter dem Licht der Sonne, aber ohne Hast oder Eile. Als ich durch die Tür trat blieben sie nicht stehen, drehten sich nicht zu mir um. Sie waren zu sehr in ihr Gespräch vertieft. Beides waren Männer und beide trugen einen weißen Kittel über ihrer Kleidung. Dem Rechten fehlte ein Stück im linken Ärmel, die Ränder waren ausgefranst und blutig, die Wunde aber längst schon wieder verheilt. Jetzt fiel mir auf, dass auch die Kleidung des anderen nach einem Kampf aussah. Wahrscheinlich einer ihrer Patienten, der etwas durchgedreht war. Dann waren dies also zwei der unfreiwilligen Helfer.

Die Tür fiel ins Schloss und nun drehte der mit dem Bissloch im Kittel sich doch um. Als er mich sah blieb er sofort wie angewurzelt stehen und sein Freund drehte sich alarmiert um. Aber ich wusste, wie ich mit dieser Situation umgehen musste. Natürlich hätte ich auf sie losgehen können, aber angesichts der Tatsache, dass ich hier mit an die hundert Vampire hier eingesperrt war, ließ mich dann doch eher zur zweiten Möglichkeit tendieren: Ich neigte respektvoll den Kopf und machte mich zügigen Schrittes zurück auf den Weg ins Hauptgebäude. Tatsächlich standen im Eingangsbereich Nikolas und Tigirs und unterhielten sich leise miteinander. Als sie mich kommen sahen, unterbrachen sie ihre Unterhaltung sofort.

„Ah, dein Mensch ist zurück“, meinte Nikolas mit einem schwachen Lächeln an Tigris gerichtet, „dann kann ich sie auch gleich mitnehmen.“

Fragend sah ich Tigris an, wurde aus seinem starren Blick aber nicht schlau.

„Dir wird heute eine große Ehre zuteil“, meinte Nikolas mit einem nun breiten Grinsen.

„Ich verstehe nicht, Herr…“, begann ich verwirrt und brach dann ab.

Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. Irgendetwas stimmte mit dieser Situation ganz und gar nicht.

„Wir waren auf so hohen Besuch wie den von Constantin nicht eingestellt. Normalerweise beherbergen wir nur niedere Vampirblut oder welche, die ihre Strafe abarbeiten. Für sie reicht das Gewöhnliche vollkommen aus. Sie sollten sich glücklich schätzen, dass sie überhaupt etwas bekommen.“

Und mit einem Mal wusste ich, was kommen würde und mein Gesicht wurde kalkweiß.

„Nein“, war alles, was ich hervorbrachte.

Kapitel 19 - Magie im Blut

„Oswald hat bereits die Erlaubnis dazu gegeben“, meinte Tigris mit gelangweilter Stimme, „und da Constantin sowieso nicht wach ist besteht auch keine Gefahr, dass er dich aussaugt, also stell dich nicht so an.“

Moment einmal, Constantin? Ich hatte jetzt damit gerechnet, dass Nikolas sich an meinem Blut bedienen würde. Aber das, ich konnte ein glückliches Lachen kaum verhindern, das war einfach zu surreal. Jetzt brachten sie mich sogar noch zu ihm.

„Okay“, antwortete ich kurz und hielt den Kopf gesenkt.

„Du wartest hier Tigris“, sagte Nikolas scharf, als dieser Anstalten machte uns zu folgen.

Nikolas gab keine Erklärung und unterstrich damit, in meinen Augen, noch einmal seine Autorität und seine höhere Stellung gegenüber Tigris.

Mir sollte es nur Recht sein. Hinter dem Eingang wandten wir uns nach links und betraten das äußerste Haus. Hier stand direkt hinter der Eingangstür eine Wache. Die Mädchen konnte bei ihrer Verwandlung kaum fünfzehn gewesen sein. Ihr honigblondes Haar war kurzgeschoren und stand wild in alle Richtungen ab. In dem luftigen gelben Sommerkleid das sie trug und mit ihrer hauchzarten Figur wirkte sie so zerbrechlich. Gelangweilt saß sie hinterrücks auf einem Stuhl, sprang aber auf, als Nikolas eintrat.

„Guten Morgen Meister Nikolas“, grüßte sie ihn mit einer tiefen Verbeugung und musterte mich neugierig aus dem Augenwinkel.

„Zügle deine Neugier Esmeralda“, war alles was er antwortete und der kleine Vampir zuckte zusammen und richtete seinen Blick starr auf den Boden während wir vorbeiliefen.

Anscheinend führte Nikolas ein straffes Regime hier. Das Gebäude erinnerte vom Grundriss her an die anderen, auch hier erspähte ich eine verschlossene Kellertreppe, hatte aber keine Zeit nach en Präsenzen zu suchen. Wir gingen direkt in den zweiten Stock und von dort aus war Constantins Zimmer nicht mehr schwer zu erkennen. Davor standen noch einmal zwei Vampire, die eindeutig Constantins eigenem Gefolge entstammten, denn sie mussten schon zu Lebzeiten einen furchterregenden Eindruck geboten haben. Ich für meinen Teil war einfach froh, dass ich sie nicht kannte. Ohne dass Nikolas etwas sagen musste öffnete einer von ihnen uns die Tür und betrat hinter uns den Raum.  So weit war es mit dem Vertrauen also doch nicht her. Wir liefen um die Ecke und da lag er. Ich konnte es nicht verhindern, dass ich bei seinem Anblick eine Gänsehaut bekam. Die Scheiben des Fensters waren so stark getönt, das in dem Zimmer nur ein Dämmerlicht herrschen würde, wenn die Vorhänge nicht zugezogen gewesen wären. Für die Vampire mochte dieses Licht mehr als ausreichend sein, aber ich brauchte ein paar Augenblicke um mich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Das Zimmer war bis auf das Bett, in dem Constantin lag, leergeräumt worden. Die Tatsache, dass er einen Anzug trug ließ das ganz grotesk aussehen, bis mir auffiel, dass es derselbe Anzug war, den er bei seinem letzten Traumbesuch getragen hatte.

Vielleicht war das alles ja nur ein Trick. Vielleicht hatte er mich nur zu sich locken wollen. Vielleicht würde er im nächsten Moment aus diesem Bett springen und sich auf mich stürzen. Ich wartete angespannt darauf, doch nichts geschah. Constantin blieb einfach unbewegt auf dem Bett liegen. Nicht einmal seine Brust hob und senkte sich. Hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte geglaubt er wäre tot. Ich atmete tief durch und suchte nach seiner Präsenz. Es dauerte überraschend lange sie zu finden und ich erschrak, als ich spürte wie schwach sie war. Was auch immer ich ihm angetan hatte, er stand auf der Schwelle zum Tod, egal was Nikolas gesagt hatte. Nikolas musste meinen entsetzten Gesichtsausdruck bemerkt haben.

„Es ist nicht klug herumzuerzählen wie schlecht es wirklich um ihn bestellt ist“, bestätigte Nikolas meine unausgesprochene Frage, „wir haben schon alles versucht, nichts hat ihn auch nur ein winziges Stückchen näher zu uns zurückgebracht. Aber du, du hast uns eine neue Chance gebracht. Du bist anders und wer weiß, vielleicht ist es dein Blut auch.“

Sie hofften, dass ich ihn zurückbringen könnte, welche Ironie. Nicht nur hatte ich ihn, da war ich mir jetzt wirklich sicher, in diesen Zustand versetzt, nein, ich wollte ihn auch endgültig tot sehen.

„Was macht euch glauben mein Blut könne helfen, Herr?“

„Wir glauben das Besondere an dir ist, dass du Magie im Blut hast. Wo auch immer das herkommen mag, aber das ist im Moment auch egal. Magisches Blut hat außergewöhnliche Fähigkeiten, eine davon ist es Verletzungen zu heilen.“

Zuerst bekomme ich von Vampiren von einem Haufen Fabelwesen zu hören, die sie für real hielten und jetzt schon wieder das, aber wenn es glauben wollte, sollte das nicht mein Problem sein.

„Normalerweise gibt man das magische Blut direkt auf die Verletzung. Da Constantin aber keine äußeren Verletzungen erlitten hat…“

Mit diesen Worten schnappte sich Nikolas meinen Arm, zog ihn und damit mich über das Bett. Ich konnte mein Gleichgewicht nicht halten und fiel auf Constantin, aber Nikolas ließ sich davon nicht beirren. Plötzlich war da ein Messer und er zog es mir über mein Handgelenk. Ich schrie auf vor Schmerz und versuchte mich aufzurappeln, doch Nikolas‘ Griff war unerbittlich. Ich konnte nur dabei zusehen, wie sich das Blut an der Wunde sammelte, bis es schließlich zu schwer wurde und hinunter in Constantins geöffneten Mund tropfte. Es war nicht zu verhindern, dass ich vor Spannung die Luft anhielt, während ich den Weg des ersten Bluttropfens hinunter in Constantins Mund beobachtete. Er fiel hinein und es folgte ein Weiterer und ein Weiterer. Ein beständiger sanfter Strom ergoss sich in Constantin. Wir warteten in angespanntem Schweigen, doch nichts tat sich, er rührte sich nicht.

„Herr“, mischte ich mich dann doch nach einer Weile vorsichtig ein, „wenn Sie ihm noch mehr von meinem Blut geben, werde ich zusammenbrechen.“

Ich sah wie er mit sich rang, dann aber schließlich seufzend meine Hand freigab. Sofort presste ich die Finger meiner anderen Hand um die Wunde, doch ich tropfte trotzdem noch die Laken voll. Es schien jedoch weder den Bodyguard noch Nikolas zu stören.

„Ich hatte wirklich so sehr gehofft…“

„Vielleicht habe ich einfach keine Magie in meinem Blut, Herr“, entschuldigte ich mich, wenn auch mit großem Widerwillen, „Warum gebt ihr ihm nicht einfach das Blut eines anderen magischen Wesens?“

Jetzt kam ich mir wirklich vor wie in der Märchenstunde. Fehlte nur noch, dass ich vom großen bösen Wolf anfing. Oder UFOs.

„Weil es auf der Erde keine magischen Wesen gibt“, meinte Nikolas bitter.

Oh, natürlich, wie hatte ich das nicht wissen können.

„Und wenn sie sich doch einmal durch eines der Portale hierher verirren, dann sind sie durch so eines auch schon wieder verschwunden, bevor man sich ihnen auf zehn Schritte nähern kann.“

Das klang – gelinde gesagt – absurd, aber wenn sie daran glauben wollten. Ich wusste, dass gerade ich, die von der Existenz von Vampiren erfahren hatte offener gegenüber solcher Dinge sein sollte, aber schließlich hatte ich ja auch nicht an die Beisserchen geglaubt, bis ich einen vor mir gehabt hatte und so würde ich es auch mit allem anderen halten.

„Und wir wohl nur bleiben abzuwarten und zu hoffen, dass er von selbst wieder aufwacht. Wenn wir doch nur wüssten, was es überhaupt ausgelöst hat.“

Ich hatte ihm in seinem Traum mit einer Walther P99 ein 9x19mm-Kaliber durch den Kopf gejagt, das war passiert. Gedankenverloren ließ ich meine Hände auf das Laken herabsinken, obwohl ich sie eigentlich, um die Blutung zu stillen, nach oben hätte halten müssen. Dabei streifte ich Constantins Hand.

Ein Bild flackerte in meinem Bewusstsein auf. Constantin, eingesperrt in einer dieser Glaskisten, wie sie Entfesselungskünstler benutzten. Und er hämmerte gegen das Glas, schrie. Er versuchte zu entkommen, schaffte es aber nicht. Er war gefangen.

Wie vom Blitz getroffen sprang ich vom Bett auf und an die gegenüberliegende Wand bevor ich es verhindern konnte. Sowohl Nikolas als auch der Bodyguard hatten sich in meinem kurzen Sprungmoment in Kampfhaltung begeben.

„Was ist?“, fragte Nikolas zischend mit gebleckten Zähnen, während er mit unglaublicher Geschwindigkeit mit seinen Augen den Raum absuchte.

„N… nichts… Herr“, brachte ich mit zitternder Stimme hervor, „der… der Blutverlust war doch etwas zu viel.“

Das war nicht einmal gelogen. Von meinem Sprung drehte sich jetzt der Raum um mich. Irgendetwas zwang mich aber trotzdem wieder zurück zu Constantins Bett zu wanken.

„Was machst du da Mensch“, fragte Nikolas skeptisch, ich reagierte aber nicht darauf.

Wie ferngesteuert ließ ich mich neben Constantin auf das Bett fallen und legte meine immer noch blutende Hand zitternd auf seine Stirn.

Es war, als würde ich durch einen Sog fortgezogen. Im einen Moment war ich noch in dem Zimmer mit den drei Vampiren, im nächsten war ich in einem großen Raum. So unendlich, dass ich weder eine der Wände noch die Decke sehen konnte. Mitten in diesem schwarzen Raum auf einem Podest stand die große Glasvitrine in der Constantin gefangen war. Sein immer perfekter Anzug war verknittert, das Sakko schon auf dem Boden gelandet. Seine Hände lagen flach auf der Glaswand, er atmete schwer und blickte etwas an, das ich nicht sehen konnte. Und davor schien er panische Angst zu haben.

Ich wollte schon auf ihn zugehen, als ich Schritte hörte, und versteckte mich wieder in den Schatten. Die Gestalt war nicht besonders groß und in einen bodenlangen schwarzen Mantel mit übergeworfener Kapuze gehüllt, sodass ich nichts erkennen konnte, aber Constantin schien die Gestalt sehr wohl zu erkennen. Er fletschte die Zähne und fauchte, dass sich meine Nackenhaare aufstellten. Die verhüllte Gestalt schien das wenig zu interessieren.

„Ich hab es dir schon einmal gesagt: Dies ist nicht mehr deine Welt. Geh“, sagte eine klare Stimme, die mir nur allzu vertraut vorkam.

Anstelle stieß Constantin wieder ein grausiges Fauchen aus.

„Du solltest schon lange nicht mehr hier sein und das weißt du auch. Du spürst es jedes Mal, wenn du in die Sonne trittst. Sie ruft dich Heim, folge endlich diesem Ruf.“

„Du hast mir gar nichts zu sagen“, brüllte Constantin und schlug mit voller Wucht mit der Faust  gegen das Glas.

Ich dachte es müsste brechen, doch es bekam nicht einmal einen Knacks und blieb damit so unbeeindruckt wie die verhüllte Gestalt.

„Lass mich gefälligst zurück!“

Wieder schlug er erfolglos gegen das Glas.

„Du quälst dich nur unnötig“, meinte die Gestalt mit trauriger Stimme, „denn auch wenn ich noch nicht wieder die Kraft habe dich hinüberzuschicken, so kann ich dich doch hier festhalten und ich werde mit jedem Tag wieder stärker. Der natürliche Lauf der Dinge war schon viel zu lange gestört. Es ist an der Zeit, dass ihr wieder anfangt zu sterben.“

Dann war es also diese Gestalt, die Constantin davon abhielt wieder zu erwachen. Ich hatte mich geirrt. Es hatte also doch nicht an meinem Schuss gelegen. Aber was war es?

„Ich werde dich in STÜCKE reißen!“, brüllte Constantin aufgebracht.

Die Gestalt schüttelte den Kopf und obwohl ich ihr Gesicht nicht sehen konnte, sah man an ihrer Haltung, dass sie enttäuscht war.

„Es hätte niemals soweit kommen dürfen. Noch 30 Monate, dann wird alles wieder so sein, wie es sein sollte. Dann ist die Welt wieder im Gleichgewicht. Und dann wirst du sterben. Aber wenn du mich lässt, dann kann ich dich auch jetzt und hier erlösen, du musst es nur zulassen.“

„Ich werde deine ganze Familie töten. Alle, bis auf den letzten und ich werde dich dabei zusehen lassen!“

„Das hast du schon getan“, meinte die verhüllte Gestalt plötzlich bitter und sorgte dafür, dass Constantin tatsächlich überrascht verstummte.

„Aber ich bin bereit dir das nicht nachzutragen. Gib es zu, du, die anderen, ihr spürt es doch alle schon seit einer geraumen Weile. Diese Ahnung, die euch verfolgt, dass sich alles ändern wird. Ihr hört zum ersten Mal seit langer Zeit eine Uhr ticken und ihr hab Angst. Aber ihr tragt an alledem keine Schuld, deshalb werde ich einem jeden einzelnen von euch die Möglichkeit geben friedlich zu gehen. Ihr müsst es nur zulassen.“

Ich war verwirrt. Was erzählte diese Gestalt dort? Hatte sie etwa vor alle Vampire zu töten? So hörte es sich zumindest in meinen Ohren an, aber das war Irrsinn. Wer war sie, dass sie glaubte das vollbringen zu können? Und was war in 30 Monaten?

„Ach fahr doch zur Hölle“, knurrte Constantin und die Gestalt seufzte wieder schwer.

„Warum fällt es dir so schwer zu akzeptieren, dass du tot bist? Warum fürchtest du dich so sehr davor?“

Und da, plötzlich konnte ich etwas hinter Constantins Wut sehen. Die Gestalt anscheinend auch.

„Du glaubst, dass es für Wesen wie dich nichts mehr gibt, das folgt.“

Kapitel 20 - Ein verlockendes Angebot

Ich sah in seinen Augen, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Ich sah das aufkommende Fletschen und Knurren in seinen Zügen, doch zu meiner Überraschung blieb es aus. Stattdessen sank sein Kopf erschöpft gegen die Scheibe.

„Wir haben uns dazu erdreistet die Unsterblichkeit schon auf Erden an uns zu reißen. Damit haben wir uns jegliche Chance verbaut Gnade im Danach zu erwarten. Falls es das überhaupt einmal für uns gegeben hat.“

Constantin hob den Kopf und sah die Gestalt mit erschöpftem Blick an.

„Gibt es…“, ich sah wie schwer es ihm fiel diese Frage ernsthaft zu stellen, als hätte er die Hoffnung eigentlich schon vor langer Zeit aufgegeben, „gibt es ein Danach?“

„Das darf ich dir nicht sagen“, meinte die Gestalt entschuldigend.

Constantin lachte ein freudloses Lachen.

„Natürlich darfst du das nicht. Sonst würde ja niemand mit dir mitkommen.“

Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Wieso hatte ich das noch nicht früher bemerkt? Die Erkenntnis rann mir eiskalt den Rücken hinunter. Die Gestalt, die da mit Constantin sprach, war der Tod. Der wirkliche und wahrhaftige Tod und er war gekommen um Constantin zu holen. Die Unsterblichkeit der Vampire war also tatsächlich unnatürlich, aber wieso konnte der Tod sie nicht einfach holen? Wieso?

„Warum versuchst du es nicht einfach?“

„Weil ich dann nie wieder zurück kann.“

„Was hält dich denn noch hier?“

„Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen“, schnaubte Constantin empört, „ich halte die osteuropäischen Vampire zusammen, ach was sage ich, ich halte die komplette Vampirgemeinschaft zusammen! Ich bin es, an den sie sich wenden, wenn sie Hilfe benötigen, wenn sie einen Schlichter brauchen, ich!“

Die Gestalt schüttelte den Kopf.

„Ich habe es dir doch schon so oft gesagt“, meinte die Gestalt traurig, „die Vampirgemeinschaft, wie du sie kennst, wird es nicht mehr lange geben. Die Zeit ist abgelaufen, auch wenn ihr geglaubt habt, dass so etwas für euch nie wieder gelten würde. Der Tod ist nichts, vor dem man auf ewig davonlaufen kann.“

„Warum hast du uns dann nicht schon vor langer Zeit geholt?“

„Weil ich es nicht konnte. Zwar habe ich ein paar von euch geleitet, aber das waren die, die zu mir geschickt wurden. Von den Jägern, von euch oder von sich selbst. Aber das ist eigentlich nur ein Teil meiner Aufgabe.“

„Das beantwortet nicht wirklich meine Frage.“

„Aber das ist alles, was ich dir sagen kann.“

„Wieder einmal“, schnaubte Constantin verächtlich.

„Ich versuche dir den Übergang so angenehm wie möglich zu machen, warum kannst du es nicht einfach akzeptieren und mit mir kommen?“

„Weil ich es nicht kann. Dazu müsstest du mich erst einmal hier herauslassen“, meinte er sarkastisch.

„Ich habe diesen Käfig nicht geschaffen. Wie ich dir bereits gesagt habe, auch wenn meine Macht von Tag zu Tag wächst so bin ich doch im Moment noch sehr schwach.“

„Und woher kommt er dann?“

„Du hast ihn selbst geschaffen.“

„Das ist absurd“, spie Constantin wütend aus, „sag mir die Wahrheit!“

„Du hast ihn geschaffen um dich selbst zu schützen und ist wahrscheinlich der einzige Grund, warum du überhaupt noch am Leben bist und wir dieses Gespräch miteinander führen. Du klammerst dich so zwanghaft an dieses Leben, das dir doch so wenig bedeutet.“

Constantin hielt sich plötzlich die Hände an den Kopf, doch ich konnte nicht erkennen wieso.

„Jeder Tag ist eine Qual für dich. Du leidest. Du meidest den Schlaf, weil sie dich in deinen Träumen heimsuchen, selbst nach so langer Zeit noch…“

„Hör auf damit!“, wimmerte Constantin und brach zusammen, „Bitte, hör auf damit!“

„Vor der Wahrheit kann man dicht davonlaufen. Gerade du solltest das wissen. Solange du hierbleibst wird es dich verfolgen. Eine jede Stunde, Minute, Sekunde eines jeden Tages deines ewigen Lebens. Es wird nie aufhören und du wirst entweder nie darüber hinwegkommen oder zu einem Monster werden. Ja, die meiste Zeit verdrängst du es erfolgreich, aber wenn es dich wieder einholt dann wirst du so grausam, dass es wieder eine Sache mehr gibt, die dich einholen kann. Und du selbst weißt schon lange, dass der einzige Weg aus diesem Teufelskreis auszubrechen mit mir zu kommen ist. Komm jetzt mit mir und du wirst diesen Schmerz, diese Schuld nie wieder spüren.“

Die Gestalt streckte Constantin seine Hand entgegen und er starrte sie an, während in ihm ein sichtbarer Kampf tobte. Er wollte diese Hand ergreifen, wollte mit dem Tod gehen, wollte die Schuldgefühle hinter sich lassen, die ihn innerlich zerfraßen. Mich wunderte, dass er überhaupt welche hatte. Als ich ihn traf hatte er so gefestigt und stark gewirkt. So vollkommen zufrieden mit seiner Existenz. Anscheinend war er nur ein guter Schauspieler. Ein guter Schauspieler mit Todessehnsucht. Aber konnte ich das zulassen? Dass der Mörder meiner Freunde so einfach mit dem Tod mitging, ganz ohne zu leiden? Ich wusste, dass er eigentlich gerade schon schwere innere Qualen litt, aber das reichte mit nicht. Es war falsch und sadistisch, aber ich wollte ihm die gleichen Schmerzen zufügen, die er mir beschert hatte. Mit meinen eigenen Händen.

„Es wird alles vorbei sein“, flüsterte die Gestalt schmeichelnd, „du musst einfach nur deine Mauern fallen lassen und mit mir kommen.“

„Was wird aus den anderen, wenn ich nicht mehr da bin? Und sag nicht, dass unsere Gemeinschaft sowieso in sich zusammenbricht!“

„Dein Stellvertreter Mikhail wird deinen Posten übernehmen. Du hast ihn doch selbst ausgebildet. Du vertraust ihm mit deinem Leben. Du weißt, dass er es kann. Er braucht dich nicht und hätte deinen Posten schon vor einem Jahrhundert übernehmen können, aber er war dafür zu loyal. Noch eine Eigenschaft, die du so an ihm schätzt. Und ihn verfolgen keine Dämonen so wie dich. Er ist mit sich im reinen. Du weißt, dass er eigentlich sogar noch besser als du für den Posten geeignet ist. Er wäre mehr als ein würdiger Nachfolger.“

„Und du kannst mir nicht sagen ob ich… ob ich sie wiedersehen werde?“

Ich fragte mich, wen er wohl damit meinte. Wen wünschte er sich so sehr wiederzusehen, dass es sich lohnte zu sterben?

„Es tut mir leid“, meinte die Gestalt ein weiteres Mal entschuldigend, „um das herauszufinden musst du mit mir kommen.“

Er zog es in Erwägung. Ich konnte es immer noch nicht fassen, wusste aber auch nicht was ich tun sollte. Ich war mir ja nicht einmal sicher, wo genau ich mich gerade befand. Wenn es wirklich Constantins Unterbewusstsein war, wie zur Hölle war ich dann da hingekommen? Zurzeit passierten mir einfach zu viele unerklärliche Dinge. Irgendjemand must doch wissen, was da vor sich ging. Ich musste nur herausfinden wer, wobei mir der Tod ein ganz guter Kandidat schien, auch wenn die Idee wahrscheinlich dämlich war und mich mein Leben kosten würde, aber ich hatte es satt Figur in einem Spiel zu sein, dessen Regeln ich nicht beherrschte. Es war Zeit meine Zukunft in die eigene Hand zu nehmen.

„Kannst du mir dann wenigstens sagen, woher dieses Gefühl, dass es zu Ende geht, so plötzlich herkommt? Du hast gesagt, dass nicht nur ich es spüre.“

Die Gestalt nickte, ließ ihre Hand jedoch wo sie war: auf halbem Weg zwischen sich und Constantin.

„Ja, ein jeder einzelne von euch spürt es und wie es jeden Tag stärker wird. Ihr spürt, wie ich jeden Tag wieder etwas meiner Kraft zurückgewinne.“

„Dann hast du also deine Kraft verloren?“

„So kann man es sagen.“

„Wie?“

Die Gestalt schnaubte amüsiert.

„Ich könnte es dir sagen, aber damit würde ich doch nur mir selbst schaden, oder?“

„So funktioniert es also?“

Ich konnte beinah sehen, wie die Gestalt lächelte, aber sie antwortete nicht.

„Ich würde gerne noch eine Sache wissen?“

„Du kannst gerne fragen, aber ich kann dir keine Antwort versprechen.“

„Wie bin ich überhaupt hier gelandet?“

Das würde mich allerdings auch interessieren.

„Es ist gefährlich seine Träume anderen zu öffnen, denn dort ist dein Geist nicht von deinem beinahe unbesiegbaren Körper umgeben.“

„Also war es meine Schuld, weil ich dieses Mädchen in meine Träume gezogen habe?“

„Ja.“

Also doch. Es war tatsächlich so einfach. Im Geiste waren Vampire so verwundbar wie Menschen.

„Hätte ich das nur schon vorher gewusst.“

„Du hättest dich trotzdem genauso verhalten.“

Ein freches Grinsen huschte über Constantins erschöpftes Gesicht.

„Du hast recht. Ich hätte nichts anders gemacht. Dafür war ich viel zu neugierig.“

„Es wird Zeit“, meinte die Gestalt dann mir ruhiger Stimme.

„Wie weiß man, dass man bereit ist zu gehen?“, fragte Constantin überraschend ängstlich.

„Das ist einfach: Indem man geht.“

„Hat es jemals jemand bereut?“

„Nein.“

Constantin schloss die Augen und atmete tief durch. Ich konnte dabei zusehen, wie der Glassarkophag sich in nichts auflöste. Dann stieg er von dem Podest hinunter und ging auf die Gestalt zu, streckte ihr seine Hand entgegen. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht gewusst, wie rachsüchtig ich war, aber zu sehen, wie Constantin dem Freitod entgegenging. Ich konnte es nicht ertragen. So schnell wie noch nie zuvor im Leben war ich plötzlich bei ihnen und warf Constantin zu Boden, gerade noch bevor sich ihre Hände berührten.

„Wie kannst du das auch nur in Erwägung ziehen?!“, schrie ich ihn überraschend wütend an und Schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, während ich rittlings auf seiner Brust saß.

„Wie kann man nur so ein Feigling sein?!“, ein weiterer Schlag folgte, „Jeder hat Probleme, na und?!“, und ein Weiterer, „Lern damit umzugehen wie jeder andere auch!“, der Nächste brach ihm hörbar die Nase, „Das ist kein würdevoller Tod!“, jetzt hörte ich den Wangenknochen brechen, aber ich war so in Rage, dass es mir egal war, „Es gibt keinen würdevollen Tod!“, mir war auch egal, dass er sich nicht werte, „Man kann nur mit Würde leben!“

Endlich gebot ich mir selbst schwer atmend Einhalt und erlaubte meinen Sinnen wahrzunehmen was ich mit Constantins Gesicht angerichtet hatte. Mir wurde schlecht. Sein Gesicht sah aus wie Brei. In der Realität wäre das nicht möglich gewesen, dafür war die Knochenstruktur der Vampire viel zu stark. Angewidert von mir selbst wischte ich meine Hände notdürftig an meiner Lederjacke ab.

„Sam?“, fragte Constantin dann endlich verwundert mit Blut im Mund und Problemen mich mit den nicht ganz unbeschadet gebliebenen Augen zu fokussieren.

„Ja, du Feigling. Wie kannst du es nur wagen mir meinen Kampf mit dir zu stehlen?! Ich habe ein Recht darauf! Das ist alles, worauf ich die letzten Jahre hingearbeitet habe und jetzt willst du einfach so in den Freitod gehen?! Das werde ich nicht zulassen!“, schrie ich ihn an.

„Du wärst tot, bevor du deine Säbel ziehen könntest“, meinte Constantin überraschend nüchtern und ohne einen Hauch von Ironie in der Stimme.

„Ich habe viel gelernt seit unserem letzten Treffen in Russland.“

„Du würdest trotzdem nicht überleben.“

„Gib mir wenigstens eine Chance! Du bekommst so oder so was du willst: Gewinne ich, bist du tot. Gewinnst du, kannst du noch immer das Angebot des Todes annehmen.“

Constantin lachte amüsiert auf.

„Was?!“, fauchte ich.

„Du glaubst wirklich der Tod persönlich würde sich um so eine mickrige Kreatur wie mich selbst kümmern?“

„Was war es dann?“

„Ich weiß es nicht, aber der Tod sicher nicht.“

„Wie kannst du dir da so sicher sein?“

„Er hätte mir keine Wahl gelassen.“

Kapitel 21 - Gefangen

„Mit anderen Worten du wärst mit einem Wesen mitgegangen, von dem du keine Ahnung hattest was es war und ob es dir tatsächlich den Tod schenkt? Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, dass man nicht mit Fremden mitgeht?!“

„Es arbeitete eindeutig für den Tod, so etwas spürt man.“

Ich hob den Kopf, um mir die Sache selbst anzusehen, doch so sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte die Gestalt nicht finden. Ich seufzte schwer.

„Was auch immer es war, jetzt ist es weg.“

„Wie bist du eigentlich hierhergekommen?“, fragte nun Constantin und musterte mich scharf.

Zum Glück war ich um keine Antwort verlegen.

„Ich musste mich doch davon überzeugen, ob ich dich wirklich getötet hatte.“

„Und dafür bist du zurück zu meinem Anwesen gegangen?“, fragte er und konnte es nicht verhindern beeindruckt zu klingen.

Ich schenkte ihm ein amüsiertes Lächeln.

„Ich bin vielleicht verrückt, aber nicht lebensmüde.“

„Aber wie…?“, ließ er die Frage in der Luft hängen.

Ich sah keinen Schaden daran ihm zu antworten.

„Sie haben dich direkt nachdem sie festgestellt haben, dass du nicht mehr aufwachst, ins Hospital gebracht.“

„Woher weißt du vom Hospital?“, fragte Constantin skeptisch.

„Du glaubst doch nicht wirklich, dass eine Anstalt dieser Größe nicht auffallen würd?“, fragte ich lachend zurück.

„Nein, aber genau deshalb ändert sich der Standort regelmäßig.“

„Ja, weil sich die Katakomben auch so leicht mitversetzen lassen“, meinte ich lachend und merkte sofort darauf, dass ich einen Fehler gemacht hatte, als Constantins Ausdruck hart wie Stein wurde.

„Woher weißt du von den Katakomben.“

Ich entschied mich für die Flucht nach vorn.

„Ich war da unten und hab sie mir angesehen. Ich meine, ein einfaches Vorhängeschloss und ein Riegel sind keine wirklichen Sicherheitsmaßnahmen. Sie machen einen eigentlich nur noch neugieriger.“

Er musterte mich noch einen Moment schweigend, bevor er seufzend den Blick abwandte.

„Diese Idioten“, murmelte Constantin.

Er hatte mir geglaubt und wusste noch nicht, dass ich momentan für Oswald arbeitete. Vielleicht konnte ich es ja doch unbeschadet hier rausschaffen. Womit wir beim eigentlichen Problem waren.

„Du hast nicht zufällig eine Ahnung, wie wir hier rauskommen?“, fragte ich ihn zögerlich.

„Bis vor wenigen Momenten war ich noch in dieser Glasbox eingesperrt gewesen. Weiter als da rauszukommen hab ich nicht gedacht.“

„Mist“, murmelte ich und sah mich um, doch es waren noch immer dieselben unendlichen schwarzen Weiten in alle Richtungen wie zuvor.

„Wie bist du eigentlich hier reingekommen?“, fragte Constantin skeptisch.

„Hab dir meine blutende Hand auf die Stirn gedrückt“, meinte ich schulterzuckend.

Ich sah bei dieser Sache keinen Grund zu lügen. Zu meiner Überraschung lachte Constantin wieder. Fragend sah ich ihn an.

„Ich habe Recht behalten: du bist interessant“, antwortete er grinsend auf meine stumme Frage, „also, überlegen wir mal wie wir hier rauskommen. Aber dafür wäre es vielleicht ganz praktisch wenn du von mir runtergehst.“

Das hatte ich ganz vergessen. Mit einem hastigen Satz brachte ich mich neben ihn und er setzte sich auf.

„Ist das hier wie eine von deinen Traumwelten?“, fragte ich ihn.

Constantin schüttelte den Kopf.

„Nein, ich habe keine Gewalt über die Umstände. Ich habe schon versucht sie zu verändern.“

„Aber das Glas hast du doch auch verschwinden lassen?“

„Ich weiß, aber das… war irgendwie anders. Fakt ist, ich kann das Ganze nicht einfach beenden, wie bei einem Traumbesuch.“

„Ehrlich gesagt, viel mehr fällt mir gar nicht ein“, gab ich zähneknirschend zu.

„Und ich hab auch schon alles was mir eingefallen ist ausprobiert, seit ich hier bin. Wie lange ist das übrigens?“

„Fünf, sechs Tage“, antwortete ich ihm, selbst überrascht viel mir in dieser kurzen Zeit wiederfahren war.

„Mir kam es viel länger vor“, meinte er gedankenverloren.

„Warum wolltest du eigentlich mit dieser Gestalt mitgehen?“, fragte ich neugierig geworden.

„Oh, das ist wirklich eine höchst interessante Geschichte, die dich rein gar nichts angeht.“

Der Klang seiner Stimme zeigte mir, dass diese Antwort, so unbefriedigend sie auch schien, endgültig war. Mehr würde ich nicht bekommen.

„Und du hast die ganze Zeit mit dieser Gestalt gesprochen?“, wechselte ich geringfügig das Thema.

„Ja, sie kam immer wieder und sagte, dass für mich die Zeit gekommen wäre endgültig zu sterben.“

„Wie sah sie aus?“, fragte ich neugierig.

„Das weiß ich nicht, die Kapuze hat zu jeder Zeit ihr Gesicht verdeckt. Und definitiv nicht sterblich.“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Das ist ein Urinstinkt, den jedes Wesen in sich trägt. Man erkennt eine Jägerspezies, wenn sie vor einem steht, egal ob man sie zum ersten Mal sieht oder zum tausendsten Mal und kein sterbliches Wesen steht in der Nahrungskette über den Vampiren. Hast du es etwa nicht gespürt?“

Ich war verwirrt.

„Was gespürt?“

„Das Bedürfnis vor diesem Ding wegzurennen.“

„Nein“, antwortete ich perplex, „mir kam die Gestalt zwar komisch vor, aber nicht unbedingt gefährlich.“

Constantin schüttelte fassungslos den Kopf.

„Was?“, hakte ich nach den Gründen für diese Reaktion nach.

„Dir fehlt jeglicher Schutzinstinkt, das ist mir schon einmal aufgefallen. Und das ausnahmslos.“

„Vielleicht war mir aber auch einfach klar, dass das Ding nicht hinter mir her ist. Ich meine, es hat mich nicht mal wahrgenommen, wieso hätte ich mir da Gedanken machen sollen?“

„Konzentrieren wir uns lieber wieder darauf hier rauszukommen“, wechselte er das Thema.

„Dazu bräuchten wir erst einmal eine Idee.“

Für eine Weile herrschte Schweigen und ich dachte auch angestrengt nach, aber mir fiel beim besten Willen nichts ein. Wir waren hier im Niemandsland.

„Vielleicht kommt ja die Gestalt nochmal zurück“, meinte ich hoffnungsvoll, was mir einen ausdruckslosen Blick von Constantin einbrachte, „Ich bin auch nicht besonders glücklich darüber mit dir hier festzustecken, das kannst du mir glauben.“

Inzwischen hatte sich Constantins Gesicht fast vollständig wiederhergestellt. Ich hatte den Prozess fasziniert beobachtet und gerade hörte ich ein leises Knacksen, als sich seine Nase wieder geraderückte.

„Tut das eigentlich weh?“, konnte ich nicht wiederstehen zu fragen.

„Die Heilung? Jedes Mal. Spürst du etwa keine Schmerzen, wenn man dir die Knochen verrückt.“

„Schon, aber bei mir passiert das ja auch nicht von selbst.“

„Und wie soll das uns hier raushelfen?“

„Wenn ich deinen Kopf oft genug gegen den Boden schlage entsteht vielleicht irgendwann ein Loch, durch das wir zurückkriechen können. Ich würde es auf jeden Fall versuchen“, meinte ich sarkastisch und mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht.

„Wie gerne ich dir gerade die Kehle herausreißen würde.“

„Nicht, wenn du hier lebend rauskommen willst. Danach, wie gesagt, ich habe um schon vorher um einen Kampf gebeten.“

„Aber ich würde keinen Tropfen deines Blutes trinken. Ich werde dir nur die Kehle herausreißen und dabei zusehen wie du verblutest.“

Es war schwer vorstellbar, dass er dieselbe Person war, die noch vor keiner halben Stunde aus alten Schuldgefühlen heraus mit dem Tod gehen wollte.

„Du bist es nicht wert, dass dein Blut getrunken wird.“

„Ist ja schon gut“, meinte ich abwehrend, „ich hab’s verstanden.“

Ich ließ mich auf den Rücken fallen und blickte in die unendliche Weite. Es gab keine Ausgänge, keine Wege, nichts. Das hier war ein Gefängnis, aus dem es kein Entkommen gab. Was hatte mich nur dazu getrieben freiwillig hierher zu kommen?

„Meinte diese Gestalt nicht, dass sie dich hier festhält?“, fiel mir plötzlich ein und ich setzte mich mit Schwung wieder auf.

„Aber natürlich“, meinte Constantin und schlug sich die Hände vors Gesicht.

„Das bedeutet also, solange sie uns nicht hier rauslassen will, kommen wir hier auch nicht raus“, schloss ich seufzend und ließ mich wieder zurückfallen.

„Hatte sie nicht was von 30 Monaten gesagt? Wir sollten es uns gemütlich machen. Das ist eine lange Zeit.“

„Sie hat gesagt, ich würde dann sterben.“

„Wolltest du das nicht?“

„Lass das mal meine Sorge sein.“

„Nun, ich bezweifle, dass diese Gestalt dich gehen lassen wird, aber mich vielleicht.“

„Lass mich raten: Ich soll dir dabei helfen“, meinte Constantin trocken, „und dann hilfst du mir von draußen.“

„Nein“, antwortete ich kurz und er sah mich überrascht an.

„Ach ja?“, fragte er misstrauisch.

Denn tatsächlich hatte ich schon längst einen Plan, ich brachte nur noch ein kleines Detail abzuklären, um ihn umsetzten zu können und zum Glück trug ich dieses kleine Detail bei mir. Ich zog ein Dadao, während mich Constantin kritisch beobachtete.

„Was hast du vor?“

Ich gab ihm keine Antwort und atmete tief durch. Dann schnitt ich mir mein Handgelenk auf.

„Was soll das? Sam?!“, fragte Constantin nun wirklich nervös.

Ich ließ mich auch dieses Mal nicht dazu herab ihm zu antworten. Stattdessen sah ich meinem dunkelroten Blut dabei zu, wie es langsam über meine Handfläche und meine Finger floss.

„Weißt du Constantin, vielleicht ist dich hier verrotten zu lassen doch so keine schlechte Idee“, meinte ich versonnen, während ich mein Blut betrachtete.

„Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?!“

„Vielleicht. Aber das ist Ansichtssache“, meinte ich bloß und presste ihm meine blutige Hand auf die Stirn.

Kapitel 22 - 180

Der Sog fühlte sich genauso an wie beim letzten Mal. Im einen Moment war ich noch in dem endlosen Raum gewesen, im nächsten saß ich wieder nach vorne gekippt an Constantins Bett. Ich hob den Kopf und blickte nach oben. Auf Constantins Stirn war ein blutiger Abdruck meiner Hand. Anscheinend hatte ich sie die ganze Zeit darauf gepresst gehalten. Ich war nur froh, dass es funktioniert hatte. Nicht auszudenken, was sonst los gewesen wäre.

„Du bist wach“, hörte ich eine überraschte Stimme hinter mir und drehte rasch meinen Kopf herum.

Es war Nikolas, der sich gerade von der Wand abstieß und auf mich zukam.

„Was ist passiert Herr?“, fragte ich mit rauer Stimme und räusperte mich erst einmal.

„Das wollte ich dich gerade fragen. Du fasst ihm an die Stirn und brichst plötzlich in dich zusammen, nur deine Hand lässt sich nicht von seiner Stirn lösen. Und so liegst du dann stundenlang da.“

„Ich… ich war bei ihm Herr.“

Nikolas starrte mich einen Moment fassungslos an, bevor er sich wieder fing. Ich konnte fast sehen, wie er seine Neugier zurückstellte, um erst die von ihm erwarteten Dinge zu fragen.

„Was müssen wir tun, um ihn dort herauszubekommen?“

„Ich weiß nicht, ob das überhaupt möglich ist Herr.“

„Wie meinst du das?“, fragte er ungeduldig und ganz sicher, dass ich das nur wegen meines begrenzten Horizonts sagte.

„Es hört sich so verrückt an Herr“, meinte ich kopfschüttelnd.

„Nun erzähl‘ es mir einfach. Den Rest klären wir später“, drängte Nikolas und ich gab seufzend nach.

„Er, er wird gefangen gehalten in seinem eigenen Unterbewusstsein von einer Art Diener des Todes Herr. Er meinte, dass Constantins Uhr schon lange abgelaufen und es Zeit für ihn wäre mit ihm zu gehen. Für immer.“

„Was für ein Diener des Todes?“

„Das wussten wir auch nicht Herr. Seine Gestalt war verhüllt durch einen langen Mantel mit Kapuze. Man konnte nichts erkennen.“

„Woher wusstest du dann, dass er ein Diener des Todes ist.“

„Constantin hat es mir gesagt.“

„Und dieser Todesdiener, der hat dich einfach wieder gehen lassen?“, fragte Nikolas skeptisch und ich nickte.

„Meine Zeit ist anscheinend noch nicht gekommen Herr.“

Nikolas fuhr sich wieder mit dieser menschlichen Geste der Ungeduld und Verzweiflung durchs Haar. Wie zivilisiert und normal Vampire erscheinen konnten überraschte mich jedes Mal aufs Neue. Plötzlich hielt er mitten in seiner Bewegung inne und wandte mir den Kopf zu.

„Wieso verharren sie, wieso nimmt er ihn nicht einfach mit sich?“

„Er meinte, er wäre noch nicht stark genug dazu, Herr, dass es aber es bald so sein würde.“

Nikolas lachte freudlos auf.

„Also ist es wahr.“

„Was ist wahr Herr?“, fragte ich zögerlich, als er nicht weitersprach.

„Dass der Tod den Meinen ab dem ersten Moment unserer Existenz über die Schulter lugt und nur darauf wartet, dass wir einen Fehler begehen und er uns mit sich reißen kann. Deshalb kennen wir keine Krankheit, heißt es.“

Nikolas seufzte schwer und lehnt wieder an die Wand.

„Der Tod ist kein Gegner, den wir bekämpfen können, das kann nur Constantin allein.“

Mit einem Mal wirkte Nikolas um Jahre gealtert und überhaupt nicht mehr wie ein Teenager, der sich Papas Arztkittel übergeworfen hatte sondern wie ein Arzt, der schon zu viel Leid in seinem Leben gesehen hatte.

„Komm Mensch“, meinte er, während er sich von der Wand abstieß, „wir haben noch einiges zu besprechen, aber vorzugsweise nicht in diesem Zimmer.“

Vielleicht war er vor Jahrhunderten wirklich dazu ausgebildet worden ein Heiler zu werden. Zumindest legte er diesen typischen Ausdruck für Mediziner auf, wenn sie nicht wahrhaben wollten, dass sie nichts mehr bewirken konnten. Natürlich hielt ich tunlichst den Mund, was dieses Thema betraf und folgte Nikolas folgsam auf dem Fuße. Zu meiner Überraschung gingen wir nur ein Stockwerk tiefer und betraten dort eines der Zimmer, das sich zu meiner noch größeren Überraschung als ein Wohnzimmer herausstellte. Minimalistisch und schlicht eingerichtet, ganz am Puls der Zeit. Nikolas ließ sich sehr unelegant auf das schwarze Ledersofa vor dem Kamin fallen und deutete auf den Sessel gegenüber. Folgsam setzte ich mich und starrte auf den leeren Glastisch zwischen uns.

„Gut Mensch“, begann er, „obwohl ich mir nicht mehr sicher bin, ob das stimmt. Kommen wir auf die eigentliche Frage: Wie war dir die Reise in Constantins Unterbewusstsein überhaupt möglich?“

Ja, ich hatte gewusst, dass diese Frage kommen würde. Das bedeutete aber nicht, dass ich eine Antwort hatte.

„Ich… ich weiß es nicht Herr“, brachte ich mühsam hervor und starrte wie gebannt in mein Gesicht, das sich auf dem Glastisch spiegelte.

„Woher wusstest du, dass du deine Hand auf seine Stirn pressen musstest?“, fragte er einfach weiter.

„Das weiß ich auch nicht Herr. Ich hatte in diesem Moment eigentlich keine Wahl. Ich musste es tun.“

„Ich verstehe“, meinte Nikolas und ich sah erstaunt auf.

Das war wirklich das Letzte, womit ich gerechnet hatte. Ich war auf wütende Nachfragen gefasst gewesen, aber nicht auf… Verständnis.

„Du wurdest als Mensch großgezogen und vielleicht haben nicht einmal sie gewusst, was du wirklich warst, aber eins steht fest: du bist ein magiebegabtes Wesen. Anders wäre es dir niemals möglich gewesen so in Constantins Unterbewusstsein einzudringen. Bleibt nur noch festzustellen, was genau du bist. Leider kenne ich niemanden, der ein besonders umfangreiches Wissen zu diesem Thema bereithält. Wie ich schon erwähnt hatte, sie lassen sich nicht oft in unserer Welt blicken. Aber wir sollten auf jeden Fall Oswald benachrichtigen, dass die These jetzt bestätigt ist.“

Kein Mensch. Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich dazu sagen sollte. Oder doch.

„Das ist absurd“, schnaubte ich und hielt es dieses Mal auch nicht nötig eine respektvolle Anrede zu verwenden.

„Wie erklärst du dir dann, was da vorhin passiert ist?“, fragte Nikolas mit einem ruhigen Lächeln auf den Lippen und lehnte sich entspannt zurück.

„Constantin hat mich hineingezogen.“

„Und wieso sollte er das genau bei dir tun und nicht bei Mikhail oder mir, wo wir ihm doch sicher von viel größerer Hilfe sein könnten?“

Weil ich es gewesen war, die ihn dorthin befördert hatte. Weil dadurch eine spezielle Verbindung zwischen uns oder sonst was entstanden war, auch wenn es mir nicht gefiel. Aber das konnte ich ja schlecht sagen, also sagte ich nichts.

„Siehst du?“, meinte Nikolas mit einem triumphierenden Grinsen, „Schon bald werden wir herausgefunden haben, was du bist… all die Möglichkeiten.“

Er blickte verträumt in den großen kalten Kamin. Mir gefiel das nicht. Ganz und gar nicht. Als ich einen Blick aus den getönten Scheiben warf, erschrak ich. Es dämmerte schon und ich wollte unter keinen Umständen Mikhail begegnen. Nervös sprang ich auf.

„Ich sollte zu meinem Meister zurückkehren“, meinte ich schlicht und wandte mich sofort zur Türe um.

„Nicht so schnell“, unterbrach mich Nikolas und als ich mich zu ihm zurückdrehte, lächelte er mich mit einem Ehrgeiz, der mir großes Unbehagen bereitete, an.

„Oswald wird mir sicher zustimmen, dass hier ein viel geeigneterer Ort ist dich zu… untersuchen.“

Okay, dieses Zögern behagte mir nun ganz und gar nicht. Ich musste etwas unternehmen, aber leider fiel mir nur eine einzige Möglichkeit ein das Ganze zu unterbinden. Und die würde mir eine Menge Ärger bereiten falls es klappen sollte. Aber ich war sowieso schon viel zu lange ein zahmes Hauskätzchen und das lag mir ganz und gar nicht. Aus reiner Höflichkeit gab ich Nikolas noch eine letzte Chance.

„Ich würde gerne erst noch einmal zu meinem Meister zurückkehren“, meinte ich deshalb nachdrücklich.

Nikolas machte eine wegwerfende Handbewegung und etwas tief in mir freute sich darüber. Es war Zeit die Bestie loszulassen, vollkommen ungezügelt und frei, ohne die geringste Kontrolle, die ich sonst immer gerne behielt. Aber das hier war keine gewöhnliche Situation, bei Nikolas würde ich jeden Instinkt brauchen, den ich hatte.

Es war gut, dass ich ihm nicht in die Augen sah, sonst hätte er es vielleicht einen Moment früher bemerkt, aber eigentlich hätte das auch nichts geändert. Mit einem einzigen weiten Satz war ich über den Tisch hinweggehecht und riss ihn samt Sofa auf den Boden, nicht ohne den Schwung auszunutzen um seinen Kopf hart gegen den Boden zu schmettern. Zu meiner Befriedigung hörte ich ein lautes Knacken und ein schiefes Grinsen erschien auf meinem Gesicht, jedoch nur für einen Augenblick. Dann war das Überraschungsmoment auch schon vorbei. Nikolas hielt sich nicht mit Geplänkel oder Ähnlichem auf sondern machte gleich Nägeln mit Köpfen und schnappte nach meiner Kehle. Und scheiße war er schnell. Hätte ich nicht damit gerechnet gehabt hätte ich mich nicht rechtzeitig von ihm herunterrollen können, denn den Biss hatte ich nicht kommen sehen. Doch so schnappte Nikolas ins Leere, war aber im nächsten Moment schon wieder über mir. Aber auch ich hatte im Rollen endlich eine Waffe gezogen und schlug damit nach ihm, während ich wieder auf die Beine sprang.

Von dem Nikolas von vorher war nichts mehr zu erkennen, auch wenn er eigentlich noch genauso aussah. Jedoch war seine Haltung gebückt und seine Hände zu Krallen verkrampft. Die kleinen halbmondförmigen Nägel sahen unscheinbar aus, aber ich hatte gesehen, was für einen Schaden sie anrichten konnten. Und dann war da natürlich noch das Gesicht: Die Pupillen hatten sich geweitet und waren so groß, dass nicht nur die Iris verschwunden sondern auch kaum noch Weiß im Auge zu sehen war. Die Oberlippe war hochgezogen, der Mund leicht geöffnet, sodass ich seine etwas schiefen, perlweißen Zähne begutachten konnte. Der ganze Ausdruck hätte nicht weiter entfernt von dem Gesicht eines normalen Teenagers sein können, aber das machte es nur noch leichter.

Ich festigte den Griff um mein Messer, zog schnell mit der anderen Hand ein zweites und stürmte dabei auch schon wieder auf Nikolas zu. Der ließ sich nicht zweimal bitten und rannte ebenfalls die fünf Meter zwischen uns auf mich zu. Ich konnte mich kaum rechtzeitig unter seinem Schlag wegducken, nur um von dem seiner Linken noch härter erwischt zu werden und gegen den Glastisch zu fliegen, der unter dem Aufprall in tausend Stücke zerbarst. Nikolas war schon wieder über mir und zog mich unsanft am Kragen aus dem Scherbenmeer nach oben, die Fratze zu einem unschönen Grinsen verzogen.

„Dummes, dummes Mädchen“, säuselte er und senkte seinen Mund auf meine Kehle herab, „du hättest leben können.“

Und da geschah es, wie damals am Strand. Ich wusste dass ich sterben würde… und dass das auf keinen Fall geschehen würde. Es war wie ein Ruck, der durch meinen Körper ging und plötzlich hörte ich hundert Stimmen in meinem Kopf, sah mit hundert Augen, hatte die Kraft von hundert in meinen Muskeln. Und dieses Mal würden keine Vampirjäger auftauchen und mich unterbrechen.

Es erschien kein Lächeln auf meinem Gesicht oder etwas ähnlich Klischeehaftes. Ich riss einfach meine Hand los und löste die von Nikolas ohne die geringsten Probleme von meinem Kragen, während er hilflos zusah. Bevor er realisieren konnte was geschah, hatte ich ihn auch schon von mir gestoßen, so hart, dass er gegen die gegenüberliegende Wand krachte und Putz davon abbröckelte. Ich ging auf ihn zu und war es, die dieses Mal die Gewissheit in seinen Augen sah, dass er sterben würde. Hier und jetzt durch meine Hand. Nikolas unternahm noch einen letzten Versuch und sprang mich an, doch ich fischte ihn an seinem Hals aus der Luft als wäre es nichts. Dann packte ich mit meiner anderen Hand seinen Kopf und riss ihn ohne die geringste Anstrengung vom Körper. In dem Moment, in dem sich der Kopf endgültig löste, verließ mich meine Kraft augenblicklich wieder und ich brach an Ort und Stelle, eingeweicht von Nikolas‘ Blut, zusammen.

Es konnten nur wenige Minuten vergangen sein, als ich wieder zu mir kam, denn noch war die Sonne nicht untergegangen. Rasch zog ich mich auf die Beine und betrachtete das Chaos, das ich angerichtet hatte. Schlimmer als das Zimmer sah eigentlich nur noch ich selbst aus. Ich musste das Blut unbedingt abwaschen. Besser nass das Zimmer verlassen als blutverschmiert. Mich wunderte, dass noch niemand hier aufgekreuzt war. Rochen sie das Blut etwa nicht? Vielleicht war es aber mit Vampiren und Vampirblut so wie bei Menschen und Menschenblut: Sie konnten es nicht riechen. Das wäre in diesem Moment zumindest äußerst praktisch.

Ich sah mich um und es ging eine weitere Tür aus dem Raum ab, außer der zum Flur. Hinter ihr befand sich tatsächlich ein winziges fensterloses Bad, das jedoch nur Dusche und Waschbecken enthielt. Klar, Vampire mussten schließlich nicht aufs Klo. Nach einem Moment des Zögerns stellte ich mich einfach voll bekleidet unter die Dusche und legte nicht einmal meine Waffen ab.  Als ich hoffte mich gründlich genug abgespült zu haben trocknete ich mich noch hastig ab und machte mich dann auf dem schnellsten Weg aus dem Zimmer. Wenigstens würde es niemand für möglich halten, dass ich Nikolas den Kopf abgerissen hatte, dazu hatte ein Mensch nämlich nicht die Kraft. Dass ich es aber tatsächlich getan hatte… nun, darüber würde ich mir ein anderes Mal Gedanken machen. Jetzt musste ich einfach schleunigst von hier verschwinden denn ich wollte nicht wissen, was passierte wenn man Nikolas hier fand wenn ich noch hier war, egal ob sie glaubten, dass ich es getan hatte oder nicht. Das würde ich mit Gewissheit nicht überleben.

Deutschland

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Kapitel 23 - Auge um Auge

Es war dumm gewesen, dumm dumm dumm dumm dumm hämmerte es in meinem Kopf, während ich auf die Straße starrte und doch nichts sah. Es war überraschend einfach gewesen Tigris dazu zubewegen sofort zu gehen. Ich hatte mich einfach vor ihn hingestellt und gesagt:

„Alles geklärt, wir können los.“

Und dann waren wir tatsächlich unverzüglich ins Auto gestiegen und losgefahren. Ich hatte Angst gehabt, dass sich Tigris noch von Nikolas verabschieden wollte, aber nichts. Niemand hatte uns aufgehalten, wir waren einfach gefahren und jetzt waren wir schon über eine Stunde unterwegs, doch ich wagte es noch nicht mich zu entspannen.

Das Schlimme an der Stille im Auto war, dass sie meine Gedanken nicht übertönen konnte und ich so gezwungen war ihnen zuzuhören. Und mir gefiel ganz und gar nicht, was ich da hörte. Denn was ich da mit Nikolas getan hatte konnte ich nicht auf eine Verbindung zu Constantin schieben, die dieser geschaffen hatte und ich konnte mir auch nicht weiter vorlügen, dass es Glück gewesen war, dass ich Pedro damals wegstoßen konnte. Es war seitdem nie wieder passiert und ich hatte es verdrängt. Jetzt war es wieder da und dieses Mal würde es nicht so leicht wieder verschwinden.

„Du blutest den Wagen voll“, meinte Tigris trocken und ich war so unendlich dankbar für die Ablenkung.

Und tatsächlich, die Wunde, die Nikolas mir zugefügt hatte, hatte wieder angefangen zu Bluten.

„Mist“, murmelte ich und durchsuchte das Handschuhfach nach einem Lappen oder etwas ähnlichem. Schließlich musste ich mich mit der Serviette einer der Brötchen, die ich am Tag zuvor an der Raststätte gekauft hatte, begnügen. Hygienisch war das sicher nicht, aber besser als blutend neben einem Vampir zu sitzen. Wobei der es eigentlich ganz gelassen nahm.

„Wo wir schon dabei sind“, sprach Tigris weiter, „das nächste Mal, wenn du durchnässt wie ein Hund ankommst, kannst du laufen.“

Ich verbiss mir einen blöden Kommentar und nickte stattdessen einfach. Zu groß war meine Furcht, dass er mich einfach am Straßenrand aussetzte und Nikolas‘ Hospitalkumpel mich erwischten. Jetzt suchte ich schon Schutz bei einem Vampir. Wie tief konnte ich noch sinken? Angewidert von mir selbst ließ ich mich in die Polster sinken und ignorierte gekonnt  Tigris‘ Seitenblicke.

Den größten Teil der Fahrt verbrachte ich in einer Art Halbschlaf, denn richtig Ruhe finden konnte ich trotz der fortgeschrittenen Stunde nicht. Wahrscheinlich wüsste Oswald schon von Nikolas‘ Tod, wenn wir in Ulm ankamen. Ich war noch immer davon überzeugt, dass keiner glauben würde, dass ich die Kraft hatte Nikolas das anzutun, aber trotzdem. Oswald war nicht dumm, vielleicht konnte er eins und eins zusammenzählen. Der Tag war bereits wieder angebrochen, als wir in die Tiefgarage einfuhren und ich konnte sehen, wie Tigris sich deutlich entspannte, als wir in die Schatten fuhren. Von Zeit zu Zeit vergaß ich vollkommen, dass sie sich im Sonnenlicht unwohl fühlten, auch wenn es nicht schlimm genug war, um sie davon fernzuhalten. Keine Ahnung, woher die Legenden stammten, dass Vampire nur bei Nacht draußen herumlaufen konnten und bei Tageslicht in Flammen aufgingen. Aber die meisten anderen waren ja genauso falsch.

Ich war erschöpft und wäre am liebsten direkt ins Bett, aber mir war klar, dass ich erst noch zusammen mit Tigris Oswald Bericht erstatten musste. Schweigend fuhren wir mit dem Aufzug nach Oben, wo wir bereits von Aryeh in Empfang genommen wurden. Die beiden wechselten einige Worte in einer Sprache, die ich nicht verstand, aber ich glaubte Loreleys Namen zu hören. Vielleicht bildete ich mir das aber auch einfach nur ein.

Und dann standen wir vor ihm. Er war noch wunderschöner als in meiner Erinnerung – falls das überhaupt möglich war. Sofort fiel ich auf die Knie und schlug meine Hand gegen die Brust. Die Zwillinge begnügten sich mit einer tiefen Verbeugung.

„Tigris, Kind, es ist gut, dass ihr zurück seit“, meinte Oswald und ich glaubte so etwas wie Schmerz in seiner Stimme zu hören.

Sofort hob ich den Blick, um seine Züge für einen kurzen Moment zu betrachten. Und tatsächlich, sein Gesicht war eine Maske der Trauer.

„Meister, was ist geschehen?“, fragte Tigris eindringlich.

„Nikolas, mein geliebter Bruder, wurde letzte Nacht getötet“, teilte uns Oswald mit so herzzerreißender Stimme mit, dass ich meinen entsetzten Gesichtsausdruck nicht einmal spielen musste.

„Aber wie?“

Tigris war vollkommen perplex, aber ich hatte gesehen, wie er mir aus dem Augenwinkel einen kritischen Blick zugeworfen hatte. Er verdächtigte mich und mir lief es eiskalt den Rücken herunter. Die Anspannung, die von ihm ausging, war fast greifbar.

„Ihm wurde der Kopf abgerissen“, meinte Oswald auf einmal mit tonloser Stimme.

Und auf einmal war die Anspannung aus dem Raum verschwunden, ich spürte es einfach.

„Weiß man schon, wer ihm das angetan hat?“, fragte Tigris weiter und ich hörte den Durst nach Rache in seiner Stimme.

„Nein, aber das ist mir auch egal. Wir werden dorthin zurückfahren und sie alle töten. Noch heute.“

Ich sah es nicht, aber ich wusste einfach, dass die Zwillinge hinter mir lächelten.

„Ja Meister“, bestätigten sie unisono mit eifriger Stimme meine Vermutung.

„Hol‘ die anderen Menschen, Kind. Wir brechen auf.“

Ich zögerte einen Moment.

„Was?“, fragte Oswald mit bedrohlicher Stimme.

„Constantin befindet sich im Hospital, Meister“, merkte ich leise an.

Die Vampire verstummten einen Moment. Dann seufzte Oswald schwer.

„Stimmt, Tigris hatte es am Telefon erwähnt. Nun gut, lasst ihn und seine Bodyguards erst einmal am Leben, darum kümmern wir uns später.“

Doch ich verließ noch immer nicht den Raum.

„Was Kind, was?“, fragte Oswald aufgebracht.

„Loreley“, war alles, was ich hervorbrachte.

„Darum wird sich Tigris schon kümmern, keine Sorge. Ich töte meine Schützlinge nur, wenn es sein muss.“

Die Drohung, dass er das mit mir tun würde, wenn ich jetzt nicht sofort die anderen holte, war unüberhörbar. Ich schlug noch einmal mit der Faust gegen meine Brust, bevor ich zu den Treppen eilte. Tatsächlich musste ich Luca und Roman gar nicht lange suchen. Wie ich vermutet hatte saßen sie beide in meinem Zimmer und warteten auf meine Rückkehr.

„Schön dich wieder hierzuhaben Kleines“, meinte Luca mit einem schiefen Grinsen, wo man nicht anders konnte, als es zu erwidern.

„Nur dass wir leider nicht lange rumsitzen und plaudern können“, meinte ich verschwörerisch.

Sofort war Luca aufgesprungen und auch Roman sah mich neugierig an.

„Na sag schon Kleines!“

„Ich weiß nicht, wie weit ihr über das Hospital informiert seid?“, fragte ich dann doch etwas zögerlich.

„Eine Anstalt für insaniabefallene Vampire, die regelmäßig ihren Standort ändert“, schaltete sich Roman mit wegwerfender Handbewegung in das Gespräch ein und Luca nickte.

Natürlich wussten sie davon, wie hatte ich auch nur eine Sekunde daran zweifeln können.

„Nun, Oswald fährt mit uns da hin. Um alle Vampire, die sich dort befinden, zu töten.“

Die beiden brauchten einen Moment, um das zu verdauen. Luca fing sich als erster wieder.

„Wow Kleines, wie kommt es denn zu diesem Vergnügen?“

„Nikolas wurde ermordet und Oswald will Rache.“

Romans Augen wurden groß und er keuchte überrascht auf.

„DER Nikolas?!“

„Nun, ich habe nur diesen einen kennengelernt, aber wenn du den Leiter des Hospital meinst, dann ja.“

„Wie konnte das passieren? Warst du das Kleines?“

Ich wollte es schon stolz bestätigen, da hielt mich etwas zurück. Eine innere Stimme oder eher ein Gefühl riet mir dazu über diese Tatsache Stillschweigen zu bewahren.

„Ihm wurde der Kopf abgerissen“, sagte ich also stattdessen und konnte beobachten, wie auch Luca schockiert dreinblickte.

„So richtig abgerissen oder doch abgeschnitten?“, hakte er nach.

„Abgerissen im Sinne von jemand hat seinen Kopf mit einer Hand gepackt, mit der anderen seinen Körper festgehalten und kräftig gezogen.“

Luca stieß einen beeindruckten Pfiff aus.

„Mit etwas Glück ist Oswalds Rachedurst nach dem Hospital noch nicht gestillt“, klinkte sich Roman nun wieder in die Unterhaltung ein.

„Wie kommst du darauf?“, fragte ich mit hochgezogener Augenbraue.

„Überwachungen haben ergeben, dass sich die beiden sehr nahe stehen. Wahrscheinlich sind die beiden ungefähr zur selben Zeit gewandelt worden.“

„Nikolas war auch ein deutscher Vampir?“, fragte ich überrascht und Roman nickte bestätigend.

„Und der grausame Oswald rächt einen jeden einzelnen seiner Schützlinge hundertfach, egal wie nieder dieser steht. Deshalb ist es so unfassbar, dass jemand gewagt hat Hand an Nikolas zu legen. Nicht einmal der große Constantin würde Oswalds Hass auf sich ziehen wollten.“

„Constantin fürchtet sich vor Oswald?“, fragte ich, weil ich einfach musste.

„Jeder mit etwas Grips, ob Mensch oder Vampir, fürchtet sich vor Oswald, Kleines. Wobei ich es bei Constantin nicht unbedingt Furcht, sondern gesunden Respekt nennen würde. Die beiden haben es jedenfalls so geregelt, dass sie sich die meiste Zeit besser aus dem Weg gehen.“

Stimmt, das wussten die beiden ja noch nicht.

„Constantin liegt im Hospital.“

Luca und Roman konnten nichts anderes tun, als mich anzustarren. Ich überlegte, wie genau ich ihnen alles erzählen sollte, aber für jetzt würden sie sich mit der allgemeinen Version abfinden müssen.

„Die Verletzung im Traumbesuch hat ihn an den Abgrund gestellt, keiner weiß ob und wann er je wieder erwachen wird. Leider haben wir Anweisung von Oswald uns von ihm fernzuhalten.“

Luca lachte entzückt auf und schlug sich in die Hände.

„In einem Traum erschossen, das ist einfach zu köstlich. Du bist ein Genie Kleines!“

„Noch ist er am Leben“, holte ich Luca zurück auf den Boden der Tatsachen, „auch wenn ich bezweifle, dass er je wieder aufwacht. Dazu bräuchte es schon ein Wunder.“

Inzwischen hatten die Jungs ihre Waffen angelegt und überprüften noch ein letztes Mal deren Sitz.

„Können wir dann los?“, fragte ich, plötzlich aufgeregt.

„Das ist deine erste Schlacht Kleines?“, fragte Luca amüsiert.

„Gibt es sowas denn häufiger?“

„Ab und zu. Die Alten halten sich gerne eine Schar junger Vampire, die für sie die Drecksarbeit erledigen. Das ist immer eine riesige Sauerei, das kannst du mir glauben Kleines.“

„Wie wird das gekennzeichnet? Ich meine, man kann da sicher nur schlecht den Überblick behalten.“

Anstatt einer Antwort zog Luca sein schwarzes T-Shirt so zur Seite, dass sein rechtes Schulterblatt mit der Tätowierung entblößt wurde. Ich sog scharf die Luft ein, als ich die vielen Punkte sah, die sich spiralförmig um die drei japanischen Schriftzeichen ausbreiteten: Tod, Untoter, Schicksal. Ich sah zwar nur einen Teil, aber es mussten über zweihundert sein. Und  das, obwohl es hier in Europa doch viel schwerer war einen Vampir zu töten. Roman deutete auf einen Kreis zwischen den Schriftzeichen, der mir zuvor nicht aufgefallen war.

„Diese Kreise stehen für eine Schlacht, an der man teilgenommen hat. Die darin getöteten Vampire werden nicht mehr einzeln aufgeführt. Wie du schon gesagt hast: Man hat wichtigeres zu tun, als mitzuzählen.“

Ich schluckte. Allein von diesen Kreisen zwischen den Schriftzeichen besaß Luca sechs Stück, dabei war er erst achtundzwanzig. Zum ersten Mal glaubte ich eine Ahnung davon zu bekommen, was es hieß ein famulus zu sein.

Kapitel 24 - Dinge zwischen Himmel und Erde

Wir eilten zügig nach unten und als wir den von Oswald als Audienzzimmer genutzten Raum betraten, erkannten wir die Zwillinge fast nicht wieder. Sie trugen eine Art leichter Lederrüstung, die aus einer langen Hose aus dunkelbraunem Leder bestand, ihre Oberkörper waren nackt bis auf ein kompliziertes Konstrukt aus Lederbändern, das sich um sie schlang und an denen Waffen aller Art befestigt waren. Doch das Verstörendste war ihre Haut. Sie hatten sie mir irgendetwas bläulich eingefärbt und darauf dunkler noch einmal verschlungene Linien gezeichnet. Über die Herkunft der beiden bestanden jetzt keine Zweifel mehr: Aryeh und Tigris waren Kelten. Zu ihrer Zeit musste ihr bloßes Aussehen die Feinde schon in die Flucht geschlagen haben.

„Ah, da seid ihr ja“, sprach Oswald mit seiner glockenklaren Stimme und trat hinter den Zwillingen hervor.

Sofort fielen wir auf die Knie und schlugen uns die Faust vor die Brust. Er selbst sah aus wie immer: schwarze Anzughose, polierte schwarze Halbschuhe, schwarzes Hemd. Nicht einmal eine Waffe trug er an sich, aber ich bezweifelte, dass er überhaupt eine brauchte. Die Zwillinge trugen sie wahrscheinlich auch mehr aus Gewohnheit an sich.

„Dann machen wir uns auf den Weg. Rosa und Tamara erwarten uns sicher bereits.“

Ich musste nicht nachfragen, um zu wissen, dass es zwei weitere Vampire waren, die uns auf unserem Rachefeldzug begleiten würden. Allerdings fragte ich mich, wie das mit dem Auto klappen sollte – mal ganz praktisch gesehen. Wir waren zu sechst, mit den beiden anderen zu acht. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass wir in einem Kleinbus vorfuhren.

Meine Bedenken wurden zerstreut, als unten auf uns zwei Limousinen warteten. In die eine setzten sich Oswald und die Zwillinge, in die andere wir Menschen. Die Fahrer waren beide menschlich und männlich, weshalb ich einfach einmal ausschloss, dass es sich bei ihnen um Rosa und Tamara handelte. Aber wir fuhren auch nicht auf die Autobahn. Stattdessen landeten wir auf einer abgelegenen Privatlandebahn, wo ein Privatjet auf uns wartete. Davor standen zwei Frauen. Die eine gut 1,65m groß, in einem modischen roten Jumpsuit und ebenso roten High-Heels. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Smartphone in ihrer perfekt manikürten Hand. Die andere Frau war ein Stückchen größer, vielleicht 1,75m, trug aber schwarze Jeans, ein schwarzes Top und schwarze Sneakers. Ihr kastanienbraunes Haar hatte sie zu einem strengen Pferdeschwanz zurückgebunden und den Zopf dann sorgsam in Spiralen auf dem Hinterkopf drapiert, so dass man nur schwer danach greifen konnte. Ihre ganze Haltung war angespannt und konzentriert, ganz im Gegensatz zu ihrer gelangweilten Begleitung. Diese sah erst auf, als wir keine zehn Schritte mehr entfernt waren und schenkte Oswald ein breites Lächeln. Die Begrüßung fiel in einer fremden Sprache – wahrscheinlich Deutsch – und einer unangenehm hohen Tonlage aus. Ich bekam nur mit, dass sie anscheinend Tamara war. Die andere, dann wahrscheinlich Rosa, begrüßte ihn nur mit einer tiefen Verbeugung.

„Das sind die Menschen, die mir Pascal mitgeschickt hat“, stellte uns Oswald nun wieder auf Englisch vor, „besonders das Kind hat sich schon als sehr nützlich erwiesen.“

Ich verstand nicht, warum er das betonte, bis ich Rosas enttäuschen Gesichtsausdruck bemerkte.

„Also nicht zwischendurch an ihnen nippen, schon verstanden“, meinte Tamara mit einem breiten Grinsen ihrer perfekten roten Lippen.

Lässig warf sie ihr feuerrotes Haar über ihre Schulter.

„Lasst uns aufbrechen, ich wollte morgen nach New York fliegen. Außerdem wandert der Schatten gleich weiter und ich hab keine Lust in der Sonne zu stehen.“

Ich war geschockt welchen Ton sie gegenüber Oswald anschlug, aber keiner der Vampire schien daran Anstoß zu nehmen, also hielt auch ich tunlichst meinen Mund.

Der Privatjet hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem von Constantin in den Farben von Blut gehaltenem. Von der Größe her waren sie zwar annähernd identisch, aber Oswalds war in warmen Creme- und Goldtönen gehalten. Kaum hatten wir uns gesetzt, fuhr der Flieger auch schon an und keine fünf Minuten später waren wir in der Luft. So würden wir keine zwei Stunden zum Hospital brauchen, denn ich war mir sicher, dass sich in dessen Nähe eine Landebahn befand. Wenn, dann musste ich jetzt noch schnell ein wenig Schlaf nachholen, doch leider war mir das nicht vergönnt. Zu meiner großen Überraschung ließ sich die bildschöne Tamara in den Sitz mir gegenüber fallen. Wobei fallen hier nicht das richtige Wort war, denn die Bewegung war formvollendet Elegant.

„Du bist also das vielversprechende Kind, ja?“, fragte sie mich neugierig und ich nickte etwas perplex.

Entzückt klatschte sie sich in die Hände. Für einen Vampir war sie extrem überdreht. Ach, was sagte ich da. Selbst für einen Menschen war sie das.

„Das ist ja so aufregend! Ich bin schon so krass gespannt, der Kampf wird voll abgehen! Ich meine OMG, hast du bei sowas schon mal mitgemacht? Also ich ja noch nie, das wird sicher ends krass! Nicht dass ich mein Leben sonst nicht mögen würde, ich hab echt Spaß, ich mein‘ Par-T!, aber wie ein Mensch zu leben ist manchmal einfach sooo langweilig. Es wird schön sein endlich mal wieder ein Genick zu brechen.“

Da strahlte sie mich an, mit vor Aufregung geröteten Wangen und ich hatte absolut keine Ahnung, was ich darauf sagen sollte. Zu meiner Erleichterung antwortete jemand an meiner Stelle.

„Halt die Klappe Tamara“, meinte Rosa schwer seufzend, „es ist ja schon schlimm genug, dass du diesen alten menschlichen Sack geheiratet hast, aber du musst uns mit deinem kranken Lebensstil nicht auch noch in den Ohren liegen.“

Tamara zog eine beleidigte Schnute und wandte sich nun mit gesenkter Stimme wieder an mich.

„Rosa ist nur sauer, weil sie mal was mit ihm hatte, als er noch jünger war und er sie dann für mich verlassen hat. Ich weiß auch nicht, warum Oswald gerade uns beide hierfür ausgesucht hat, ich hab echt das Gefühl, dass sie mir den Arm abreißen wird, weil sie immer noch so sauer ist, und den nachwachsen zu lassen tut so krass weh. Ich mein, soll sie doch froh sein, sie wollte doch sowieso nie einen Menschen, ganz zu schweigen von einem alten!“

Okay, bei dieser Tamara handelte es sich anscheinend um eine echte Quasselstrippe.

„Aber denkst du, wir sind bis heute Abend wieder zurück? Ich muss nämlich wirklich mit Torsten nach New York. Es war wirklich schwer einen Termin bei diesem Spezialisten zu bekommen, das kannst du mir glauben. Da heißt es doch immer, mit ein bisschen Geld lässt sich das regeln, aber nein, gerade dieser Spezialist muss so ein Gutmensch sein! Meinte, wir können gerne etwas Geld der Klinik spenden, aber wir müssten trotzdem warten, bis wir dran sind, so wie jeder andere auch! Dann hätten wir erst in drei Monaten oder später einen Termin bekommen. Ich meine, das geht doch nicht, oder?! Total unverschämt! Unser Anwalt hat dann ja zum Glück auch diese blöde Liste ausfindig gemacht, also hab ich anstelle des Arztes die ganzen Leute vor uns auf der Liste bestochen. Leider ging damit das Geld, das ich für meinen neuen Bentley zurückgelegt hatte drauf, aber ich meine, der Spezialist ist es doch wert, oder? Diese ganzen Stümper hier wollten mir nämlich einreden, dass Torsten mit seinem Lungenkrebs nur noch ein halbes Jahr hat. Ich mein‘, Hallo! Das ist das 21. Jahrhundert! Da ist man doch wohl in der Lage das hinzukriegen. Und was die erst bei der Fluggesellschaft für einen Stress gemacht haben, weil Torsten ja diese ganzen Maschinen braucht! Ist das denn wirklich so schwer die mitzunehmen? Andere machen das schließlich auch. Das hab ich ihnen dann auch gesagt, aber hätte mir da einer diesen kleinen Gefallen getan? Nein! Und jetzt hab ich einfach diese blöde Fluggesellschaft gekauft! Wie krass schnell die plötzlich ein Flugzeug für unsere Bedürfnisse umgebaut hatte, das war so geil! Aber Torsten meinte, dass ich deswegen trotzdem nicht einfach bei allem jetzt die komplette Firma kaufen kann, auch wenn das super praktisch wäre! Ich wollte auch das Krankenhaus mit diesem komischen Spezialisten kaufen, aber diese blöden Besitzer wollten es einfach nicht hergeben! Meinten irgendwas von ‚über die Generationen weitergegeben‘ und ‚ehrwürdigem Krankenhaus‘ und dass man es ‚einer Person wie mir‘ nicht übergeben könne. Was sollte das bitteschön heißen? Ich wollte doch nur, dass mein Torsten einen schnelleren Termin bekommt. Ich bin zwar in Amerika aufgewachsen, aber hab die Menschen da trotzdem nie so ganz verstanden. Es war schon cool da und alles, aber das war ja auch noch eine ganz andere Zeit. Hach, wie ich die 20er vermisse. Das war noch eine Zeit. Und die Musik! Es war wie ein Rausch, ganz zu schweigen von der Mode! Ich muss sagen, ich bin fast froh, dass Krieg in Europa war und meine Eltern deswegen nach Amerika sind, was ich sonst nicht alles verpasst hätte! Oh und da war damals dieser gutaussehende schwarze Musiker – wie hieß er nochmal? – Louis Armstrong, genau! Das war vielleicht ein Mann kann ich dir sagen! Er war einfach umwerfend, man konnte gar nicht anders, als sich auf der Stelle in ihn zu verlieben. Aber die Menschen früher, die hatten ja ihre Probleme mit der Hautfarbe, haben sie eigentlich heute noch. Ich verstehe noch immer nicht, was das an einem Menschen ändert, außer natürlich, dass man keine Sonnencreme benutzen muss, wenn man schwarz ist, hab ich recht? Das war auch ein großes Problem, als ich noch ein Mensch war. Ständig war meine Haut Rot! Ich hab das immer so schrecklich gefunden, schließlich konnte man nicht ernstgenommen werden, wenn man wie ein Feuermelder durch die Gegend rannte. Oh, die Feuerwehr hat sich über die Jahre ja auch wahnsinnig verändert. Noch so etwas, was in New York ganz anders ist. Ich meine, hier in Deutschland sind das ganz normale Menschen, aber in New York, da sind das ja die reinsten Muskelpakete! Und die machen diese Kalender. Eigentlich sind sie mehr Models, retten aber Leben. Was sie eigentlich zu Superhelden macht, geil oder? Also so richtige Superhelden. Ich weiß, heutzutage denkt man da eher an diese Comichelden, aber ich meine im richtigen Sinne des Wortes und so. Also eigentlich schon wie die Comichelden, wenn man darüber nachdenkt. Nur dass sie wirklich existieren. Ich könnte das nicht, ich hab viel zu viel Angst vor Feuer. Ich meine, was mache ich, wenn ich mir meine Haare abfackele? Das dauert eine halbe Ewigkeit, bis die wieder so werden! Das ist allerdings etwas, dem ich über die Zeit nicht nachtrauere. Ich war nie ein Fan von Kurzhaarschnitten. Zumindest nicht bei mir, ich sah damit grausam aus. Wobei, wer auch immer deine Haare geschnitten hat gehört verklagt, tut mir leid, aber nicht cool. Ich meine, du bist ja eigentlich ganz hübsch glaube ich, aber jetzt siehst du aus wie einer dieser ‚emanzipierten‘ Lesben, die den Part des Mannes in der Beziehung übernehmen. Wobei, vielleicht bist du auch so jemand? Ich meine du bist ja bei den Vampirjägern, also ist das nicht ausgeschlossen. Dann tut mir mein Kommentar wirklich furchtbar leid, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass dir eine Langhaarfrisur viel besser stehen würde, glaub mir. Ein Makeover kann wahre Wunder bewirken. Über das düstere Outfit müssen wir gar nicht reden, das ist einfach nur ein dickes fettes NEIN. Ich meine, du siehst aus als wärst du der feuchten Fantasie eines 14jährigen entsprungen, nochmal Entschuldigung, aber wirklich, wer trägt denn heutzutage noch hautenges Leder? Oder ist das wieder so eine Jägerkiste? Jetzt wo ich mir deine Freunde so anschaue. Ändert aber trotzdem nichts daran, dass ein hübsches grünes Sommerkleid bei dir schon einen richtigen Wow-effekt auslösen könnte, glaub mir, mit sowas kenn ich mich aus. Ich hab zwar nicht gemodelt – viel zu gefährlich bekannt zu werden. Dann ist es nämlich viel wahrscheinlicher, dass es jemandem auffällt, dass man nicht altert, aber ich war doch eine ganz erfolgreiche Fotografin und habe auch eine Weile designt. Ach, wie ich diese Zeit vermisse, aber das war, bevor Torsten krank wurde. Ist es wirklich erst ein halbes Jahr her? Stimmt, die Zeit rennt, wenn man nicht mehr viel davon hat. Also Torsten, nicht ich. Ich hab ja ewig Zeit. Schon komisch, wie sich da das ganze Verhalten von einem ändert. Früher war ich immer ein sehr hektischer Mensch, jetzt zucke ich einfach nur mit den Schultern, wenn mir jemand sagt, dass wir nur noch wenig Zeit haben. Außer bei Torstens Krankheit, ist ja klar. Das war schon komisch für mich, eigentlich dachten wir, es wäre nur ein Husten und er wollte nicht zum Arzt gehen, aber ich habe sowieso immer so eine Angst um ihn. Ich meine, Menschen haben so eine fragile Gesundheit, hab ich nicht recht? Ihr sterbt so schnell und ich bin noch nicht bereit Torsten herzugeben und dann gehen wir zu diesem Doktor und der sieht diesen Schatten auf dem Röntgenbild, was mich ja erst einmal verwirrt hat. Ein Schatten auf einem Röntgenbild? Ich finde, das Wort ist unpassend gewählt, weil es ja nicht entsteht, weil irgendwo kein Licht hinkommt. So definiert man ja einen Schatten, oder lieg ich schon wieder vollkommen daneben? Ist ja auch egal. Auf jeden Fall sieht dieser Doktor da den Schatten und meint das müsste man genauer untersuchen, woraufhin ich natürlich sofort total hysterisch werde, der Doktor meinte nur, ich müsste mir noch keine Sorgen machen – der hatte ja auch leicht reden, war nicht sein Mann. Und ich hab recht behalten, es war etwas schlimmes. Sehr schlimmes sogar. Ich dachte immer, dass er einfach eines Tages einschlafen würde. Wenn er hundert Jahre alt war oder um den Dreh rum, aber auf jeden Fall, dass ich ihn noch für eine Weile behalten darf. Das hab ich auch den Spezialisten erzählt, aber die meinten alle nur, dass sowas sehr kritisch ist und die Lunge womöglich schon zu schwer beschädigt. Da hab ich ihm gesagt sie sollen ihm doch einfach eine Neue einsetzten, es werden doch auch andere Organe gespendet? Und die fingen dann an von Kompatibilität und so einem Zeug zu quatschen, von dem ich nicht mal die Hälfte verstanden habe. Als ich dann meinte, dass ich doch auch einfach eine kaufen könnte, sind sie ganz hysterisch geworden, von wegen das wäre illegal. Ich hab ihre Probleme wirklich nicht verstanden und hätte am liebsten eine von ihren Lungen Torsten gegeben, aber Torsten ist immer so böse mit mir, wenn ich Menschen in unserem Umfeld umbringe, weil er sich sicher ist, dass man das eines Tages auf mich zurückführen können wird. Dass ich die dann einfach auch umbringe scheint ihm als Lösung des Problems auch nicht zufriedenzustellen. Ich würde es ja trotzdem tun, aber ich hab ihm versprechen müssen, dass ich das immer vorher mit ihm abkläre. Ziemlich gemein wie ich fand, aber er hatte so süß darum gebeten, das konnte ich ihm einfach nicht abschlagen. Ich konnte ihm eigentlich noch nie eine wichtige Bitte abschlagen, aber er hat mich auch nur selten um etwas gebeten. Auch eine Sache, die ich so an ihm schätze…“

Und so ging es weiter und weiter, den ganzen Flug. Überraschenderweise störte es mich aber nicht. Diese Frau, dieser Vampir, war einfach faszinierend. Ich meine, sie war mit einem Menschen verheiratet und sie plapperte. Beides Dinge, die ich bei einem Vampir für unmöglich gehalten hatte. Ich war fast schon enttäuscht, als Tigris an uns herantrat und Tamaras Monolog unterbrach.

„Wir werden gleich landen. Zuerst werden wir in das Wohnhaus der überwachenden Vampire eindringen. Ihr beide übernehmt das Erdgeschoss, wenn ihr fertig seid bewacht die Eingangstür. Wir kommen alle dorthin zurück, danach nehmen wir uns ein Haus nach dem anderen vor.“

Tamara und ich nickten ihm zu und er ging weiter. Sie grinste mich an.

„Dann sind wir also heute das Dreamteam.“

Ich warf eine schnelle Runde durch den Flieger.

„Mit Abstand würde ich sogar behaupten zu sagen.“

Tamara kicherte. Bevor der Flieger aufsetzte musste ich ihr einfach noch eine Frage stellen.

„Tamara, wie lange bist du eigentlich schon mit Torsten verheiratet?“

„Bald fantastische 40 Jahre. Ich werde nicht zulassen, dass der Krebs ihn mir schon so früh wegnimmt.“

„Warum verwandelst du ihn nicht einfach?“

Sie schenkte mir ein schiefes Lächeln.

„Weil Liebe etwas Vergängliches ist, das macht sie ja gerade so schön. Lieber genieße ich die kurze Zeit in vollen Zügen, als dass wir uns in der Ewigkeit auseinanderleben, denn das würde mir wirklich das Herz brechen. Viel mehr, als es sein Tod jemals könnte.“

 

Russland

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Kapitel 25 - Kollateralschäden

Ich behielt recht. Die Landebahn, auf der wir aufsetzten, war nicht einmal einen Kilometer vom Hospital entfernt. So überraschte es mich auch nicht weiter, dass wir uns zu Fuß auf den Weg dorthin machten. Tamara hopste aufgeregt neben mir her. Sie schien sich wirklich auf das Bevorstehende zu freuen, was so überhaupt nicht zu einem Vampir, der mit einem Menschen verheiratet war, passen wollte. Und doch stand sie vor mir. Plötzlich lief Oswald an meiner Seite und ich konnte es nicht verhindern, dass ich leicht zusammenzuckte. Oswald gluckste amüsiert.

„Da du mir in deiner kurzen Zeit hier schon so viel Freude bereitest hast, werde ich dir die Ehre überlassen heute als erste deinen Säbel zu erheben. Du wirst die Torwache niederstrecken.“

Ich war überrascht, damit hatte ich wirklich nicht gerechnet.

„Danke Meister, es ist mir eine Ehre“, antwortete ich einen Tick zu spät, aber Oswald hatte so gute Laune, dass es ihn nicht weiter zu stören schien.

Im nächsten Moment lief er auch schon wieder an der Spitze unseres Zuges, die Zwillinge neben ihm. Jetzt, wo wir dem Hospital so nahe waren, zog ich meine Maske hervor und zog sie mir über den Kopf. Es war wie eine Skimütze, nur dass die Vorderseite eine Maske aus ultraleichtem Metall war, die nur die Augen freiließ. Der Stoff selbst war eigentlich auch kein Stoff, sondern dasselbe Metall, jedoch lauter ineinander befestigte Ringe, wie ein Kettenhemd. Roman hatte sie aus Russland für uns mitgebracht. Dort gehörten sie anscheinend zur Standardausrüstung der Jäger. Ich hatte mich noch nicht so sehr an sie gewöhnt, war mir aber sicher, dass sie ihren Zweck erfüllen würden.

„Was ist denn das?“, fragte Tamara mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Mein Gesicht ist leider nicht so unverletzbar wie deines“, meinte ich mit einem Lächeln in der Stimme und sie grinste mich wieder breit an.

„Ist zwar nicht ganz so gruselig wie die Zwillinge, hat aber durchaus was.“

Und dann waren wir am Tor angekommen. Sofort rückte ich an Oswalds Seite auf, wo Tigris mir bereitwillig Platz machte. Es war wieder die rotlockige Vampirin von gestern, die uns begrüßte. Unser Aufzug schien sie nicht im Geringsten zu wundern und auch sonst schien sie die Spannung, die von uns ausging nicht zu bemerken.

„Herr Oswald, es ist mir eine Freude Sie endlich persönlich kennenzulernen. Was kann ich für euch…“

Weiter kam sie nicht, denn da hatte mir Oswald auch schon gelangweilt ein Handzeichen gegeben und ich hatte in einer fließenden Bewegung meine Dadao gezogen, überkreuzt an ihrem Hals angesetzt und ihr den Kopf abgeschnitten. Die scharfen Klingen waren durch sie hindurchgegangen wie Butter und schon im nächsten Moment kippte ihr lebloser Körper vor uns um und fiel auf den Boden. Wie warteten nicht ab sondern öffneten sogleich das Tor und betraten zügigen Schrittes das Hospital, direkt auf das Haus zu, in dem die ‚gesunden‘ Vampire lebten. Auch hier war der diensthabende Vampir derselbe wie gestern Abend: die zierliche Esmeralda. Heute trug sie einen langärmligen weißen Rollkragenpullover mit einer hellen Jeanshose darüber, was sie allerhöchstens wie zwölf aussehen ließ. Sie war klüger als der rotlockige Vampir, doch auch wenn sie das Unheil kommen sah, so konnte sie gegen unsere Übermacht nichts ausrichten. Tamara hatte sich schon auf sie gestürzt, bevor sie überhaupt einen Finger rühren konnte und irgendwoher hatte diese plötzlich ein langes, spitzes Messer gezaubert. Die anderen ignorierten die beiden einfach und gingen lautlos in ihre Stockwerke, um diese zu säubern, während ich bei Tamara zurückblieb. Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken mich auch noch in den Kampf einzumischen, aber Tamara brauchte meine Hilfe nicht, was sie dadurch bewies, dass nur einen Augenblick später das Messer tief in Esmeraldas Brust steckte und deren Augen trüb wurden. Schon hatte Tamara es wieder hervorgezogen und tänzelte breit Lächelnd auf mich zu, wobei Outfit sowie Frisur noch tadellos waren.

„Worauf wartest du noch? Lass uns ein paar Leute töten gehen.“

Ich konnte nicht verhindern, dass mir ein Schauer über den Rücken lief. Jedoch kein Schauer der Angst, sondern ein Schauer der Vorfreude. Das war es, wofür ich bei den Jägern unterschrieben hatte: Vampire zu töten. So viele wie möglich. Ich folgte Tamara nach links, direkt durch die erste Tür dort, hinter der uns ein männlicher Vampir, Anfang dreißig gewandelt, mit fliehendem Kinn und goldenem Haar überrascht entgegenblickte. Zu viel mehr war er auch nicht in der Lage, denn schon im nächsten Moment hatte ich ihn zu Boden geworfen und Tamara ihm das Messer durch die Brust gejagt – mir erschreckender Präzision. So schnell konnte man also einen Vampir töten. Und so machten wir mit unserem kleinen Rundgang weiter. Wir trafen insgesamt auf elf Vampire, Esmeralda und den Vampir mit den goldenen Haaren eingerechnet. Keiner von ihnen hatte auch nur die Chance erhalten seine Klauen gegen uns zu erheben oder um Hilfe zu rufen und ich verstand, warum Oswald Tamara auf dieser Mission mitgenommen hatte. Trotz ihres Outfits bewegte sie sich mit außergewöhnlicher Schnelligkeit und Eleganz für einen so jungen Vampir. Als das Erdgeschoss gesäubert war warteten wir wie angeordnet im Eingangsbereich.

„Hattest du schon in deinem Menschenleben eine Kampfausbildung oder bist du ein Naturtalent?“, fragte ich sie neugierig und sie schenkte mir ein schwaches Lächeln.

Als sie sprach, war nichts mehr von ihrer lässigen jugendhaften Sprache übrig und sie klang plötzlich sehr ernst.

„Ich erhielt tatsächlich schon zu Lebzeiten eine Kampfausbildung, jedoch nur, weil ich mich als Naturtalent herausgestellt hatte. Nachdem Louis sich für Lilian entschied und sie 1924 heiratete, kehrte ich nach Deutschland zurück. Ich war achtzehn, jung und naiv, und glaubte dort wäre es wie in Amerika. War es aber nicht und in der Nacht des 24.Dezember wurde ich in München auf der Straße bedrängt. Ich weiß nicht wie, aber ich rang den Mann zu Boden und tötete ihn dabei. Wäre ich sofort fortgelaufen, wer weiß, was dann mit mir geschehen wäre. Aber ich blieb, verzweifelt über meine Tat, und ein Mann, der aus den Schatten alles beobachtet hatte, trat auf mich zu. Er versprach mir die Leiche sauber zu beseitigen, nichts würde auf mich zurückzuführen zu sein, wenn ich versprach für ihn zu arbeiten. In diesem Moment hätte ich alles versprochen. Er war es, der mich zu einer Kämpferin ausbilden ließ und mich schließlich auch verwandeln ließ. 1933, als sein Größenwahn jegliches normale Ausmaß überschritt, falls es dafür überhaupt ein normales Ausmaß gibt. Aber ich rede schon wieder zu viel“, meinte sie mit einem schmalen Lächeln, „dies ist ein Teil meiner Vergangenheit, auf den ich nicht besonders stolz bin.“

Es war, als hätte man einen Schalter umgelegt, denn plötzlich lächelte sie mich wieder strahlend an. Irgendwie hatte ich die Tatsache vollkommen ignoriert, dass die deutschen Vampire die Weltkriege hautnah miterlebt hatten und manche, wie Tamara, auf der falschen Seite gestanden hatten. Und sie war damals sogar noch ein Mensch gewesen. Ich wollte ihr unbedingt weitere Fragen stellen, da was ich in der Schule gelernt hatte mir ziemlich einseitig vorgekommen war, aber in diesem Moment kamen die anderen die Treppe wieder herunter, also verschob ich die Diskussion auf später. Wenigstens verstand ich jetzt, warum Oswald so viel auf sie hielt, trotz ihres jungen Alters. Jetzt interessierte mich aber natürlich auch, was das besondere an Rosa war.

„Was halten die Damen davon zusammen mit Tigris das Haupthaus zu übernehmen?“, fragte Oswald zuckersüß in die Runde, obwohl jedem von uns bewusst war, dass das alles andere als eine Frage war.

Sofort waren wir aus dem Haus und eilten über den Hof. Im Erdgeschoss befanden sich tatsächlich noch drei weitere Betreuer, die alle ein ebenso schnelles Ende fanden, wie ihre Kollegen. Natürlich stellte sich auch Rosa unglaublich geschickt an, wenn sie auch etwas rabiat war. Bei ihr schien es doch mehr von Erfahrung herzurühren, weshalb ich beschloss meine Einschätzung ihr Alter betreffen noch einmal zu revidieren. Im Nachhinein erschienen mir ihre Gesichtszüge auch nicht mehr wirklich Mitteleuropäisch, aber ich konnte mich natürlich auch irren. Als wir mit dem Erdgeschoss fertig waren, wandte sich Tigris an mich.

„Welche Tür?“

Ich wusste sofort, wovon er sprach.

„Erster Stock, dritte Tür links.“

„Ihr habt es gehört. Diese Tür bleibt verschlossen, habt ihr das verstanden?“

Wir alle nickten und folgten ihm hinauf. Die Insaniapatienten waren deutlich schwieriger zu töten, denn einige von ihnen fielen uns schon rein aus Prinzip an, wenn wir die Tür öffneten. Aber Tamara war eine gute Partnerin und mit ihr an meiner Seite und der Hilfe der beiden anderen, war das Stockwerk in weniger als einer halben Stunde sauber, auch wenn ich die Anstrengung schon deutlich in meinen Knochen spürte. Außerdem war ich von oben bis unten mit Blut bespritzt und das Leder hatte sich teilweise schon damit vollgesogen. Ich kam mir vor wie ein Schlachter, es war nicht annähernd so glorreich, wie ich es mir vorgestellt hatte.

„Luna, du bewachst die Treppe, während wir uns den zweiten Stock vornehmen.“

Ich nickte und dachte mir weiter nichts dabei, bis ich Tamara hörte.

„Ui, Snackzeit“, gackerte sie amüsiert, während sie die Treppe nach oben rannte.

Das Blut gefror mir in den Adern. Natürlich, Oswald hatte alle gesagt, das schloss natürlich auch die Blutdiener mit ein, aber sie waren Menschen. Es war meine Pflicht sie zu beschützen, egal wie wertlos mir ihre Existenz erschien. Konnte ich sie abschreiben, bloß weil sie sich gerne beißen ließen? Allerdings taten viele das hier auch in der Hoffnung eines Tages selbst verwandelt zu werden, sie waren also eine potentielle Gefahr.

Als ich das erste Glas zerbrechen hörte rannte ich die Treppe hinunter in den Eingangsbereich, wo ich keine Geräusche aus dem zweiten Stock mehr hören konnte. Der Griff um meine Dadao verkrampfte sich und ich blickte starr auf die Eingangstür. Aus den Augenwinkeln konnte ich das dunkle Vampirblut von den Klingen tropfen sehen. Ich tat das Richtige, daran musste ich einfach glauben. Es würde sowieso nichts bringen, wenn ich jetzt dort hochrannte. Und doch zerbrach etwas in mir, wie ich da so regungslos dastand. Meine Hände fingen an zu zittern. Noch nie war ich direkt an dem Sterben eines Menschen beteiligt gewesen. In dieser Anstalt befanden sich über einhundert Vampire, das war es, was ich mir vor Augen halten musste. Diese Menschen waren… Kollateralschäden. Ein geringer Preis für das, was wir erreichten.

Ich konnte es selbst nicht fassen, dass ich so etwas auch nur dachte, aber es war besser als sich einzureden, dass man der Mörder dieser Menschen war. Schon amüsant wie leicht ich einen Vampir töten konnte und wie groß meine Skrupel waren das mit einem Menschen zu tun, obwohl ich wusste, dass sie wahrscheinlich eines Tages auch Vampire wurden – wenn sie überlebten – und ich sie dann sowieso und ohne Skrupel töten würde. Aber sie waren nun mal noch menschlich. Ich hasste diesen inneren Konflikt und war dankbar nicht selbst meine Säbel gegen diese Menschen erheben zu müssen. Keine zwei Minuten später waren die drei auch schon wieder bei mir. Die anämischen Menschen waren keine Herausforderung gewesen.

„Und jetzt?“, fragte ich.

„Das Haus ganz links müssen wir noch leerräumen.“

Noch nie hatte ich einen Vampir mit so rosigen Wangen gesehen, wie diese drei. Ich hätte wetten können, das selbst Oswalds Hautton nicht mehr kränklich wirkte, aber für diese Gedankengänge war jetzt kein Platz, also vergrub ich sie tief in mir und folgte den anderen über den Hof, bis mir auffiel, dass Tamara fehlte. Ich drehte mich gerade noch rechtzeitig zum Haupthaus um, um sie lachend durch ein geschlossenes Fenster im zweiten Stock springen zu sehen. Dort wo sie auf der Erde aufkam, entstanden tiefe Abdrücke und im nächsten Augenblick hatte sie schon zu uns aufgeschlossen. Tigris warf ihr einen wütenden Blick zu, sagte aber nichts weiter und beeilte sich nun zu dem Gebäude zu kommen, sodass ich fast nicht Schritt halten konnte. Und hier endete unsere Glückssträhne, denn hinter der Tür empfingen uns fünf Aufpasser. Wir waren in der Unterzahl und sie hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Ich schaffte es nicht rechtzeitig mein Dadao in die Höhe zu reißen und wurde von einem knapp 1,90m großen männlichen Vampir mit einer einzigen ausholenden Bewegung seines Armes gegen die Wand geschleudert. Der Aufprall war hart und trieb mir alle Luft aus meinen Lungen. Es war mein Glück, dass der Vampir mich als ihr geringstes Problem in diesem Raum einstufte und mich einfach links liegen ließ, um seinem Freund bei Rosa zu helfen. Ich musste dabei zusehen, wie er sie von hinten ansprang, während der andere Vampir sie vorne beschäftigte. Ich wollte ihr noch eine Warnung zurufen, doch ich bekam noch immer keine Luft. Der Vampir brach ihr mit einem gezielten Griff das Genick, jedoch hörte er nicht nach dieser halben Umdrehung auf sondern drehte einfach weiter. Zum Glück bereitete sein Partner dieser Gräueltat ein vorzeitiges Ende, indem er plötzlich von irgendwo ein Messer hervorholte und Rosa den Kopf abschnitt. Ich würde wohl nie erfahren, warum Oswald sie für besonders gehalten hatte. Jetzt wandten sich die beiden Tigris zu, den schon zwei der anderen Vampire voll beschäftigten. Gegen vier hätte er keine Chance, egal wie alt er war und Tamara war mit ihrem eigenen Angreifer schon vollauf beschäftigt. Ich riss mich zusammen und stieß mich, all meine Kraft zusammennehmend, von der Wand ab und zog meine Wurfmesser. Das erste riss einem der Vampire, einem kleinem rundlichen, den halben Hals auf. Das zweite landete tief in seiner Brust, als er sich zu mir herumdrehte. Ich nutzte seine Verwunderung, um mit meinem Dadao nach ihm auszuholen, jedoch besaß er noch die Geistesgegenwart sich wegzudrehen, weshalb mein Säbel nicht sein Herz, sondern sein Schulterblatt durchbohrte. Um ihn aus meiner Klinge wieder herauszubekommen trat ich ihm mit meinem Stiefel kräftig vor die Brust, sodass er überrascht von mir wegstolperte. Ich nutze die Gelegenheit in durch den nun offenen Kreis um Tigris zu schlüpfen und mich Rücken an Rücken mit ihm aufzustellen. Keinen Augenblick zu früh, denn dann fielen sie auch schon über uns her. Ich war wieder vor dem großen Vampir gelandet, der sich mit einem breiten Grinsen auf mich stürzte, doch dieses Mal gelang es mir seine Krallen mit meinen Dadao abzuwehren, aber es schlug sie mir trotzdem vor die Brust, denn hätte ich nicht nachgegeben, hätte der Schlag mit die Handgelenke gebrochen.

„Ich werde dich aussaugen Jägerlein“, säuselte er mir mit einem starken Südstaatenakzent ins Ohr, bevor ich ihm kräftig zwischen die Beine trat und wieder einen Meter von mir weg beförderte.

„Je wütender du mich machst, desto länger wirst du leiden müssen“, zischte er jetzt mir jetzt zu.

Dieser Vampir war Amerikaner – genau die Art, mit der ich mich auskannte. Ich lächelte breit hinter meiner Maske. Jetzt war der Spaß zurück.

„Ich will doch nur spielen“, neckte ich, während ich schon auf ihn zusprang.

Kapitel 26 - Zurück von den Toten

 Er fing mich aus der Luft und warf mich zu Boden, doch damit hatte ich gerechnet. Ich nutze den Schwung, um ihn mit hinunterzuziehen und einmal herumzurollen, sodass ich jetzt auf seiner Brust saß. Ich holte mit dem Dadao aus, um ihm den Kopf abzuschlagen, als plötzlich…

„Sammy?“, fragte der Vampir überrascht, die schreckliche Grimasse aus seinem Gesicht verschwunden und ich erstarrte.

Seine Hände schnellten hoch, jedoch nicht, um mich zu schlagen, sondern mir die Maske mit einer schnellen Bewegung vom Kopf zu reißen.

„Oh mein Gott“, war alles, was er hervorbrachte und ein völlig entrückter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, von dem ich mir endlich erlaubte es im Detail zu betrachten.

Hätte ich es bloß nicht getan. Ja, ich kannte diese Züge, aber das war unmöglich. Ich hatte ihn sterben sehen. Ich hatte ihn zu Grabe getragen. Ich hatte seinen Körper beerdigt.

Noch immer hielt ich das Dadao in der Luft, bereit es jedem Moment auf seinen Hals herabsausen zu lassen, doch das schien ihn gar nicht zu interessieren, ebenso wenig wie die Kämpfe um uns herum. Er hatte nur Augen für mich. Eigentlich sollte das nur ein Grund mehr für mich sein ihn zu töten, aber ich konnte es einfach nicht. Meine Hand zitterte noch ein letztes Mal, bevor das Dadao aus meinen plötzlich kraftlosen Händen klirrend zu Boden fiel. Und obwohl ich wusste, dass er eigentlich nicht mehr er war, fiel ich ihm plötzlich schluchzend um den Hals. Ohne zu zögern schloss er mich seinerseits fest in die Arme und für einen Moment glaubte ich, es wäre wie früher. Dann zog mich plötzlich eine kräftige Hand mit einem Ruck fort und schleuderte mich unsanft einige Schritte fort. Inzwischen hatten Tamara und Tigris alle anderen Vampire getötet und nun hob Tigris sein Messer gegen ihn, was er nicht einmal zu realisieren schien, weil er mich einfach weiter anstarrte.

„Nein!“, schrie ich entsetzt, sprang auf und riss mit aller Kraft Tigris‘ Arm zurück.

„Was?“, fuhr der mich wütend an, „Wir haben Befehle.“

„Er ist mein Bruder“, meinte ich flehend, in der Hoffnung, dass Tigris mich verstehen würde.

„Dein Bruder?“, fragte er zögerlich, während er Andreas weiter von der Seite im Auge behielt, was aber vollkommen überflüssig war, „Ich wusste nicht, dass du einen Bruder hast.“

„Ich auch nicht“, meinte ich abwesend und ging wieder auf Andreas zu, Tigris aber hielt mich zurück.

„Das musst du genauer erklären. Tamara!“

Mit einem Satz war sie bei uns und drückte Andreas von hinten das Messer an die Kehle, um ihn in Schach zu halten.

„Ich dachte er wäre tot“, flüsterte ich und wandte mich dann an Andreas, „Ich hab dich sterben sehen, ich selbst hab dich zu Grabe getragen. Wie ist das möglich?“

„Ein Vampir Namens Constantin hat mich zurückgeholt, weil er dich finden musste. Als ich ihm nichts sagte, hat er mich hierhin abgeschoben.“

Ich schlug die Hand vor den Mund, um nicht in Tränen auszubrechen. Dafür würde Constantin bezahlen.

„Eigentlich war ich die ganze Zeit in einer der Zellen eingesperrt, aber als die anderen von dem Angriff Wind bekommen haben, ließen sie mich raus, um ihnen zu helfen, da es ja schließlich auch um mein Leben ging.“

Ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten und wäre zusammengebrochen, hätte mich Tigris nicht aufgefangen. Das konnte einfach nicht wahr sein. Womit hatte ich das verdient? Ich konnte meinen eigenen Bruder nicht töten, wie ich gerade schon festgestellt hatte. Aber er war auch ein Vampir. Ich drückte meine Hände fester vor den Mund, um das Schluchzen zu unterdrücken.

„S…“, begann er, da war ich auch schon aus Tigris‘ Griff auf ihn zugesprungen, hatte Tamara beiseite geschlagen und seinen Kopf hart gegen den Boden geschleudert.

„Luna“, flüsterte ich ihm verzweifelt ins Ohr, bevor ich wütend brüllte, „du bist nicht mein Bruder!“

Da zog mich Tigris auch schon wieder von ihm herunter.

„Ich glaube du holst besser die anderen, Tamara“, meinte er, während er mich fest an der Schulter hielt und schon war sie verschwunden.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die anderen kamen. Während dieser Zeit tat ich nichts anders, als Andreas zu mustern. Irgendeinen Beweis dafür zu finden, dass er nicht mein Bruder war, aber ich fand nichts. Und auch er schien jedes einzelne Detail an mir zu kontrollieren.

„Was ist denn hier los?“, fragte Oswald amüsiert, als er durch die Türe trat.

Irgendwie hatte er es geschafft, dass sein Outfit keinen einzigen Spritzer Blut aufzeigte.

„Luna glaubt, dass es sich bei diesem Vampir um ihren toten Bruder handelt.“

„Ach weh, ach weh, nichts als Komplikationen hier! Dabei hätte das eine so leichte Sache sein sollten. Rein, alle töten, wieder raus. Ihr müsst es einem aber schwer machen.“

Irgendwie hatte mir Oswalds Gegenwart geholfen meine Fassung wiederzugewinnen.

„Es tut mir leid Meister“, meinte ich und neigte tief den Kopf.

Der verwirrte Blick meines Bruders entging mir dabei nicht.

„Ich lass es dir einmal durchgehen. Seit du bei mir bist, ist es hier um einiges interessanter geworden, das darf gerne noch eine Weile so bleiben. Sag Junge, weshalb bist du hier.“

Erst jetzt, als ich sie Revue passieren ließ, realisierte ich die Worte, die Andreas zu mir gesagt hatte und was sie bedeuteten: Constantin hatte schon nach mir gesucht bevor ich zu einer Jägerin geworden war. Und es waren tatsächlich seine azurblauen Augen gewesen, die ich damals dort in den Schatten gesehen hatte, er war der Mörder meiner Familie. Ich konnte nicht länger verhindern, dass sich ein wütender, verzweifelter Schrei den Weg meine Kehle hoch bahnte und mich dort als rasendes Kampfgeheul verließ. Ich spürte nur wie weit entfernt, dass mich Tigris‘ Hände fester packten.

„Tamara, Aryeh und ihr Menschen, macht schon mal dieses Haus hier fertig, solange wir diese Situation hier klären.“

Die anderen verschwanden und ich bebte noch immer vor Wut. Da stellte sich Oswald vor mich, nahm mein Kinn in seine Hand und zwang mich ihn anzusehen. Sofort spürte ich, wie sich meine Wut in einen weit entfernten Winkel schob und ich – zumindest äußerlich – ruhig wurde.

„Na also, viel besser“, meinte Oswald mit einem feinen Lächeln und ohne meinen Blick loszulassen, „und jetzt sag mir warum du so wütend bist.“

Er hätte es nicht wieder erwähnen sollten, denn plötzlich war seine Beeinflussung wie weggewischt und brach hervor, noch schlimmer als zuvor. Auch Oswalds entsetztes Gesicht nahm ich nur am Rande war.

„Ich werde ihn umbringen!“, brüllte ich wie von Sinnen, von der jahrelangen Wut, Trauer und Verzweiflung vernebelt.

Im nächsten Moment hatte mich Tigris auch schon auf den Boden geworfen und fixiert, bevor er mir eine kräftige Ohrfeige verpasste, wie er da so auf meinem Brustkorb saß.

„Genug!“, rief er mit fester Stimme, „Egal wie wenig es dir passt, man spricht nicht so über seine Familie!“

Ich war verwirrt, aber wusste beim besten Willen nicht, was er damit meinte.

„Ihre Worte waren nicht gegen mich gerichtet“, mischte sich Andreas ein und wir wandten uns alle überrascht ihm zu, „sondern gegen Constantin. Er ist es, den sie töten will.“

Oswald brach in schallendes Gelächter aus.

„Das ist einfach zu köstlich! Aber hilf mir doch bitte weiter auf die Sprünge Junge, warum hat Constantin denn überhaupt nach unserem Kind hier gesucht.“

„Unsere Eltern waren Vampirjäger gewesen . Es war Teil einer ganz gewöhnlichen Vergeltungsaktion, aber es hat Constantin nicht gefallen, dass S… meine Schwester hier ihm entkommen ist. Das hat ihn nicht losgelassen.“

Ich kannte Andreas und wusste, dass er nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Wahrscheinlich um mich vor irgendetwas zu schützen. Trotzdem musste ich die erhaltenen Informationen erst einmal verarbeiten.

„Unsere Eltern waren Vampirjäger?“, fragte ich entgeistert und Andreas nickte.

Wieder konnte ich es nicht verhindern, dass ich in Tigris‘ Griff zusammensackte. Das war einfach alles zu viel für mich. Mein Bruder war am Leben, aber ein Vampir. Meine Eltern waren zwar noch tot, aber doch hatte ich, ohne es zu wissen, ihr Erbe angetreten.

„Aber… sie hatten doch gar nicht die Tätowierungen!“, war alles, was mir einfiel.

„Erinnerst du dich an Dads große Narbe am rechten Oberarm und Moms alte Brandwunde am linken Schulterblatt?“

„Die von ihrem Autounfall?“, fragte ich verwirrt.

„Sie hatten niemals einen Autounfall, so hatten sie sich ihre Tätowierungen entfernen lassen, um ein normales Leben führen zu können. Um unterzutauchen, aber es hat nur eine Weile funktioniert.“

Fassungslos schüttelte ich den Kopf. Mom und Dad Jäger? Das war unvorstellbar. Und die Tatsache, dass sie eines Tages einfach aufgehört hatten mit der Jagd, ließ eigentlich nur zu, dass die beiden heres gewesen waren. Meine eigenen Eltern und ich hatte keine Ahnung gehabt, nicht einmal den leisesten Schimmer. Wie hatte mir das entgehen können?

„Wer hätte damit gerechnet?“, gluckste Oswald amüsiert, „es hat sich schon jetzt gelohnt dich zu behalten. Deinen Bruder werden wir auch mitnehmen, da ich gute Laune habe. Ich denke du kannst Loreley holen gehen, Tigris.“

Vorsichtig ließ der Hüne mich auf den Boden sinken, um sofort von meinem Bruder in seiner Position abgelöst zu werden. Die Umarmung war so vertraut. Immer, wenn ich als Kind hingefallen und mich verletzt hatte, hatte er mich so in den Arm genommen, bis ich mich beruhigt hatte, aber der tröstliche Herzschlag, auf den ich lauschte, blieb aus. Ich konnte nicht verhindern, dass Tränen darüber mir die Augen füllten. Hatte ich nicht schon genug gelitten? War ich nicht schon bestraft genug in meinem Leben? Luca würde mir hierbei helfen müssen, denn ich wusste, dass diese Kreatur nicht leben durfte, selbst wenn sie im Körper meines Bruders steckte, deren Verhalten dem meines menschlichen Bruders noch so ähnlich war. Das würde sich ändern.

Luca und Roman kamen die Treppe herunter und betrachteten überrascht die Szene, wie ich vollkommen aufgelöst in den Armen eines Vampirs lag und Oswald, der mit einem gönnerhaften Lächeln über uns thronte, aber waren klug genug nicht nachzufragen, wenn ich auch die Fragen in ihren Augen brennen sah.

Es dauerte noch knapp eine weitere Viertelstunde, dann waren wir alle versammelt.

„Habt ihr auch schön alle Köpfe abgehackt?“, fragte Oswald in die Runde und wir nickten.

„Constantins kleine Aufpasser haben sich bereiterklärt sich um die Verbrennung zu kümmern, wenn wir sie im Gegenzug in Ruhe lassen. Was heißt, dass wir nun aufbrechen können.“

Andreas zog mich vorsichtig auf die Beine und wir verließen zügigen Schrittes das Hospital. Ich konnte am Horizont bereits die Sonne untergehen sehen, als wir ins Flugzeug einstiegen. Es war ein langer Tag gewesen und ich fiel erschöpft in einen der Sessel. Wie selbstverständlich ließ sich Andreas neben mir nieder. Ich hatte schwer damit zu kämpfen mich daran zu erinnern, dass er kein Mensch mehr war, wie er so neben mir den Kopf kreisen ließ. Das tat er vor jedem Flug aus Nervosität. Er war kein großer Fan vom Fliegen. Diese Kleinigkeiten waren es, die mich jedes Mal aufs Neue aus dem Gleichgewicht brachten. Bevor die Stewardess die Tür schließen konnte, war ich schon aus dem Flugzeug gesprungen und rannte zurück zum Hospital mit tränenverschleiertem Blick. Ich hörte nicht, ob mir jemand folgte, aber es war mir auch egal, solange sie mich nicht einholten, also nahm ich die Beine in die Hand. Noch im Lauf zückte ich meine Dadao und stürmte, ohne ein einziges Mal innezuhalten, in das Haus der Angestellten hinauf zu Constantins Zimmer. Auch hier standen dieselben Wachen von gestern, doch sie waren in Alarmbereitschaft und stürzten sich sofort auf mich. Zum ersten Mal kämpfte ich ohne die geringste Angst, wobei, das war nicht richtig. Es war mir einfach nur egal. Der Schmerz, der mich all die Jahre betäubt hatte, ich hatte seine Quelle gefunden und ich würde alles dafür geben, sie auszumerzen, auch wenn ich wusste, dass es den Schmerz nicht würde verschwinden lassen, aber es würde ihn erträglicher machen. Davon war ich überzeugt.

Die Schränke waren gut, sie gingen gleichzeitig auf mich los, ließen mir kaum Raum zum Atmen, aber ich hatte den verbissenen Willen und die Wut auf meiner Seite, die mir bis dahin ungekannte Kräfte verliehen. Mein Tritt sollte den ersten gegen die Wand befördern, doch er schnappte sich meinen Fuß und zog mich seinerseits an sich. Ich nutzte den Schwung und sprang auf ihn zu, um ihm einen schnell gezogenen Dolch ins Herz zu stoßen. Ich sah nicht dabei zu, wie er zusammensackte, sondern fiel gleich über seinen Kollegen her. Wir tauschten ein paar Schläge, denen wir entweder auswichen oder sie parierten, aber es war eine willkommene Abwechslung mal gegen einen bewaffneten Vampir zu kämpfen. Ein hektischer Ausfallschritt sorgte dafür, dass ich mir einen tiefen Schnitt am rechten Oberarm, bis auf den Knochen zuzog. Sofort ließ ich das Dadao in dieser Hand fallen und der Vampir grinste mich siegessicher an. Ich verlor Blut, mehr als gut war. Der Rand meines Blickfelds flackerte schon, ich musste volles Risiko gehen, also stürzte ich mich einfach auf ihn. Ich erreichte mein Ziel: Ich brachte ihn aus dem Gleichgewicht und wir stürzten zu Boden. Der harte Aufprall sorge dafür, dass ein weiterer Schwall Blut aus meiner Wunde floss. Verbissen kämpfte ich gegen die Ohnmacht an und stach mit dem Dadao auf den Vampir ein. Der erste Schlag saß bereits und ein zweiter trennte seinen Kopf vollständig vom Schädel, doch ich wartete nicht, sondern riss sofort einen langen Streifen Stoff von seinem Hemd und band es umständlich um meinen Arm. Die Blutung war zwar nicht vollständig gestoppt, aber ich war der festen Überzeugung, dass ich wenigstens nicht sofort sterben würde. Dann rappelte ich mich schwerfällig auf und betrat schwankend das Zimmer. Bevor ich jedoch das Bett erreichen konnte, war ich schon zusammengebrochen.

 

Deutschland

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Kapitel 27 - Familienbande

Als ich wieder erwachte, lag ich auf einem ausgeklappten Sitz im Flugzeug, die Wunde verbunden und eine Bluttransfusion angelegt. Sie hatten mich zurückgeholt, bevor ich Constantin hatte töten können, ich hatte versagt.

„Ah, unser kleiner Ausreiser ist ja schon wieder wach“, meinte Oswald amüsiert und trat an mich heran, wo sein Blick dann plötzlich todernst wurde, „ich war nie ein großer Fan von Constantin, diesem unbedachten jungen Vampir, was der einzige Grund ist, warum du noch lebst, aber solltest du je wieder so einen Mist bauen, werde ich dich einfach dort liegen und verbluten lassen, haben wir uns verstanden?“

Ich nickte, noch immer etwas benommen, aber es schien Oswald zu genügen, denn das leichte Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück.

„Hach“, seufzte er versonnen, „aber es ist wirklich schade um die Stewardess.“

Dann war er auch schon wieder verschwunden und es dauerte einen Moment, bis ich es realisierte. Fast hätte ich die Nadel aus meiner Vene gerissen, doch dann sah ich sie neben mir auf einem anderen ausgeklappten Sitz liegen. Kreidebleich und erschöpft, aber noch am Leben. Sie hatten ihr Blut abgenommen, um es mir zu geben, denn ich war der wertvollere Mensch für sie und nun hatte ich auch eine Erklärung, warum auf diesem Flug überhaupt eine Stewardess anwesend war: Sie war der Notfallblutspender. Wie konnte man sich nur freiwillig auf sowas einlassen? Zu meiner Überraschung gesellte sich Tamara zu mir.

„Na, wie geht es dir Menschlein?“

„Erschöpft“, meinte ich mit einem schwachen Lächeln und sie tätschelte meine Schulter.

„Das war aber auch wirklich dumm von dir einfach allein loszupreschen, nicht dass ich dich nicht verstehen würde, ich wäre auch ziemlich wütend, wenn jemand meinen Bruder gewandelt und mir nichts gesagt hätte. Einfach zu glauben dass er tot ist, aber es kann doch noch gar nicht so lange her sein, ich meine, du bist doch noch ziemlich jung, oder?“

Tatsächlich hielt Tamara inne und wartete auf eine Antwort.

„Es ist jetzt etwas mehr als drei Jahre her.“

„Oh Gott, er ist ja noch ein Baby! Und wie es aussieht hört er die ganzen Regeln von den Zwillingen zum ersten Mal. Da wird Constantin aber einiges an Ärger bekommen, dass er so wenig Acht auf seine eigene Schöpfung gegeben hat. Nicht auszudenken, was hätte passieren können, wenn er sich befreit hätte und auf die Jagd gegangen wäre! Ich meine, ich erinnere mich noch an meine erste Jagd, es war einfach der absolute Oberhammer! Diese ganzen neuen Eindrücke waren einfach krass, es gibt nichts Vergleichbares. Wenn du willst kann ich ihn mitnehmen, allerdings erst, wenn ich aus New York zurück bin, außer Oswald erlaubt mir ihn mitzunehmen, aber ich kann mir vorstellen, dass du ihn erst einmal bei dir behalten möchtest. Ihr habt sicher einiges nachzuholen. Ich hatte nie Geschwister, deshalb kann ich das nicht so ganz nachvollziehen, aber als ich dich gesehen hab, wie du zusammengebrochen bist, als du ihn erkannt hast. Nicht auszudenken, wie du dich gefühlt hättest, wenn du es erst gemerkt hättest nachdem du ihm den Kopf abgeschlagen hast. So kann man eigentlich schon von Glück reden…“

Mehr bekam ich nicht mit, denn mir fielen vor Erschöpfung die Augen zu und ich sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Als ich wieder erwachte, lag ich auf meinem Bett im Hotel, die Nadel aus meinem Arm war verschwunden und Luca und Roman saßen am Fuß meines Bettes.

„Wo ist Andreas?“, fragte ich sofort, während ich mich hastig aufsetzte.

„Der neue Vampir? Unten bei Oswald Kleines. Stimmt es wirklich?“

Ich nickte und sank erschöpft auf die Kissen zurück.

„Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut Kleines.“

„Es war ein Schock, ihn so plötzlich vor mir zu sehen. Ich glaube, ich hab es noch immer nicht so ganz verdaut. Ich meine, wie ist das überhaupt möglich? Schließlich war er tot – tot tot, wenn ihr versteht was ich meine. Muss man nicht am Leben sein, um verwandelt zu werden?“

„Im Regelfall ja, aber manche Seelen – oder wie man es auch nennen will – bleiben auf der Erde zurück, weil sie nicht loslassen können. Sie glauben noch etwas erledigen oder beenden zu müssen. Ist das der Fall, kann ein mächtiger Vampir sie zurück in ihren Körper binden und zu einem der ihren machen.“ 

Wieder einmal glänzte Roman mit dem Wissen um Dinge, von denen ich nie zuvor gehört hatte.

„Und wie lange ist sowas möglich?“

Roman zuckte mit den Schultern.

„Ich würde mal schätzen solange die Seele hier festhängt.“

„Jetzt gibt es also auch noch Geister wirklich?“,  fragte ich, halb im Scherz.

„Nicht so, wie in den Filmen, sie können nichts tun und wir können sie nicht sehen.“

Ich glaubte ich sollte langsam von meiner alten Einstellung abrücken und einfach alles als wahr annehmen, bevor das Gegenteil bewiesen würde. Damit wäre die Sache wahrscheinlich leichter und ich würde deutlich weniger Schocks erleben.

„Woher wissen wir dann überhaupt, dass sie existieren?“, fragte ich skeptisch und Roman schenkte mir ein schiefes Lächeln.

„Ist es zu viel verlangt einfach daran zu glauben?“

Ich verdrehte schnauben die Augen und Roman lachte.

„Na gut. Wir haben unser gesamtes Wissen über sie aus Schriften der Hexen.“

Damit konnte ich etwas anfangen.

„Aber kommen wir zum eigentlichen Thema zurück Sam. Was machen wir mit deinem Bruder?“

Anstelle einer Antwort wandte ich einfach meinen Blick Luca zu. Der verstand und nickte.

„Klar Kleines.“

„Du musst gar nicht darüber nachdenken?“, fragte Roman verdutzt und ich schenkte ihm ein schwaches Lächeln.

„Das ist der Unterschied zwischen famulus und heres, wir machen keinen. Vampir ist Vampir, egal wer sie für uns in ihrem vorigen Leben waren. Für mich ist Andreas schon vor drei Jahren gestorben, das da unten ist nur noch eine leere Hülle.“

Ich sah, dass Roman es nicht verstand und wahrscheinlich niemals würde. Natürlich hatte man es ihm genauso eingetrichtert wie mir, dass ein Vampir nichts mehr mit dem Menschen, der er einmal gewesen war, zu tun hatte, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er es auch akzeptierte. Ich seufzte schwer.

„Wahrscheinlich geh‘ ich jetzt besser mal nach unten, bevor Andreas noch etwas über mich herausrutscht und somit meine wahre Identität rauskommt.“

Vorsichtig schwang ich die Beine aus dem Bett und die Wände blieben tatsächlich, wo sie hingehörten.

„Du solltest dich ausruhen“, meinte Roman, aber man hörte heraus, dass er wusste ich würde nicht auf ihn hören, also sparte ich mir meine Antwort.

Vorsichtig bewegte ich mich durch die Gänge und hinunter zu Oswalds Zimmer. Es war Tigris, der mir die Tür öffnete.

„Sie warten schon auf dich“, meinte er knapp und ließ mich vorbei.

Als ich den Raum betrat, wandten die drei Männer, die darin standen, mir alle gleichzeitig den Kopf zu. Sofort fiel ich auf die Knie und begrüßte Oswald in gewohnter Weise. Mich überraschte nur die Anwesenheit des dritten Mannes. Er war alt, und damit meinte ich wirklich alt. Der älteste gewandelte Vampir, den ich je gesehen hatte. Er musste mindestens 80 Jahre bei seiner Verwandlung gezählt haben, was seine tiefen Falten, sein lichtes weißes Haar und seine gebeugte Haltung verrieten. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen und doch kamen mir seine Züge seltsam vertraut vor. Vielleicht spielte ich aber jetzt auch vollkommen verrückt, nachdem Andreas wieder in mein Leben getreten war.

„Ah, du bist wieder wach Kind. Darf ich dir Eugen vorstellen“, Oswald deutete auf den alten Vampir, „er ist einer meiner liebsten Boten. Die Menschen nehmen ihn wegen seines Äußeren nie ernst und auch meinesgleichen unterschätzt ihn überraschend oft.“

Wieder fiel mir der große Unterschied der Gefolgewahl zwischen Oswald und Constantin auf, denn bei Oswald galt eindeutig Qualität statt Quantität, ich vermutete nämlich, dass es sich auch bei Eugen um einen Alten handelte. Die Frage war nur, wie Oswald sie dazu brachte für ihn die Lakaien zu spielen. An seiner reizenden Persönlichkeit lag es sicher nicht.

„Ihr habt recht, sie riecht falsch“, meinte Eugen dann plötzlich an Oswald gewandt und ich sah im Augenwinkel, wie Andreas sich versteifte.

„Na dann wäre das auch geklärt. Du kannst wieder gehen Eugen.“

Eugen verneigte sich und verließ, ohne auch nur irgendetwas anzusehen, mit gebeugtem Rücken den Raum.

„Eugen ist sehr geschätzt in meiner Welt“, begann Oswald mit seinem immerwährenden Lächeln, „niemand kann so gut wie er Gerüche unterscheiden. Eigentlich wollte ich, dass er herausfindet, was du bist, aber da wir jetzt durch eine glückliche Fügung deinen Bruder hier haben, habe ich ihn auch noch etwas anderes überprüfen lassen. Es ist mir eine Freude dir mitzuteilen, dass ihr nicht blutsverwandt seid. “

Es schien Oswald eine diebische Freude zu bereiten mir das mitzuteilen, doch ich ließ mich nicht so leicht aus der Fassung bringen. Nicht heute, wo meine Reaktionen wegen des Blutverlustes sowieso noch etwas träge waren.

„Meister, mein Bruder ist nun ein Vampir. Natürlich hat sich der Geruch verändert.“

Oswald machte amüsiert eine wegwerfende Handbewegung.

„So funktioniert das mit den Gerüchen nicht. Auch nach der Wandlung bleibt die Grundessenz dieselbe, es kommt nur noch eine Note hinzu. Sozusagen der Vampirgeruch, der euch Menschen fehlt.  Und selbst darunter hat Eugen nicht die geringste Familienähnlichkeit gefunden.“

Wenn das so war, dann gab es jetzt zwei Möglichkeiten: Erstens, dieser Vampir war ein Betrüger, der meinem Bruder nur verdammt ähnlich sah und zweitens, ich hatte mit meiner Vermutung, dass ich adoptiert war, recht gehabt. Und die Erste war verdammt unwahrscheinlich.

„Hast du es gewusst Andi?“, richtete ich meine volle Aufmerksamkeit auf meinen Bruder.

Es dauerte keine dreißig Sekunden, bis er unter meinem Blick zusammenbrach, wie immer.

„Es tut mir leid Luna. Mom und Dad wollten es dir sagen… aber jedes Mal hat sie der Mut verlassen.“

„Ihr habt es also alle gewusst?“

„Luna, ich bin sechs und Tom vier Jahre älter als du gewesen. Natürlich haben wir es gewusst, aber für uns hat es keinen Unterschied gemacht. Du warst… bist unsere kleine Schwester und wirst es auch immer sein.“

Obwohl ich es besser wusste, stiegen mir die Tränen in die Augen. Ich durfte nicht vergessen, dass sich noch Oswald mit uns im Raum befand und er jede noch so kleine Regung wahrnahm, aber ich konnte die Frage einfach nicht zurückhalten.

„Was habt ihr mir noch verschwiegen?“

„Mehr haben Mom und Dad uns auch nie darüber erzählt. Sie haben uns nur gesagt, dass deine Eltern gestorben sind und du niemanden mehr auf dieser Welt hast und dass wir deswegen jetzt deine neue Familie sind. “

„Okay“, meinte ich und atmete tief durch.

Meine Eltern waren also nicht meine leiblichen Eltern. Damit konnte ich fertig werden. Das war alles gar kein Problem.

„Du böser Junge, verschweigst ihr das interessanteste Detail“, tadelte Oswald Andreas amüsiert und ich blickte in überrascht an.

Was denn noch?

„Es ist nicht weiter wichtig Luna.“

Ich verstand die Botschaft klar und deutlich: Bitte frag nicht weiter nach, lass es auf sich beruhen. Aber wieso? Oswald schien zu glauben, dass es eine wichtige Information war.

„Wie es aussieht, will es dir dein Bruder nicht erzählen, das ist aber wirklich schade“, schloss Oswald dieselben Züge wie ich, „aber kommen wir zu einer weitaus erfreulicheren Nachricht: Kind, ich habe beschlossen deinen Bruder bei mir zu behalten. Zwar ist er eigentlich viel zu jung, um Teil meines Gefolges zu sein, aber in seinem Fall werde ich eine Ausnahme machen. Ich bin nämlich der festen Überzeugung, dass er es schaffen wird trotzdem eine große Bereicherung zu sein.“

Nachdenklich blickte ich meinen Bruder an. Ich wusste nicht, was es war, das Oswalds Interesse an ihm geweckt hatte. Klar, Andi war eine furchteinflößende riesige Erscheinung, aber dafür hatte er ja schon die Zwillinge. Andi war Informatiker gewesen, also schied auch das schon mal aus oder konnte es sein, dass Oswald tatsächlich einen unerfahrenen Vampir bei sich behalten würde, damit sich dieser um seine Computer kümmerte? Für mich nur schwer vorstellbar. Doch keiner dieser Kommentare konnte meine Neugier lange genug verdrängen, also wandte ich mich an Oswald.

„Meister, was war es, das mir mein Bruder nicht sagen wollte?“

Oswald kicherte amüsiert.

„Du willst es also wirklich wissen?“

Ich nickte entschlossen.

„Luna, nicht…“, begann mein Bruder, doch ich bedeutete ihm mit einem strengen Blick zu schweigen, was er zu meiner Verwunderung auch tat.

„Nun gut. Dein reizender Bruder hier war vor seiner Verwandlung ebenfalls ein Vampirjäger. Ist es nicht wunderbar, diese Familienähnlichkeit trotz der fehlenden Blutsbande?“

Kapitel 28 - Ein Stück Vergangenheit

Ich war nicht in der Lage zu sprechen sondern konnte meinen Bruder nur anstarren. Es war eine Sache gewesen herauszufinden, dass er zu einem Vampir geworden war, dafür konnte er schließlich nichts, aber die Tatsache, dass er auch ein Jäger gewesen war – das war einfach zu viel. Ich wusste einfach nicht, wie ich das nicht hatte merken können, ich meine, für mich war es so unglaublich schwer gewesen neben der Jagd noch ein einigermaßen normales Leben führen zu können… wie hatte mir das nur entgehen können? Mein eigener Bruder…

„Und was ist mit Tom?“, fragte ich schließlich und Andreas ließ den Kopf hängen.

Er also auch, meine beiden Brüder waren Jäger gewesen, genauso wie meine Eltern. Warum war ich daraus ausgeschlossen worden?

„Warum ich nicht?“

„Mom und Dad waren nur in der Pflicht je einen Nachfolger für sich selbst in die Vereinigung zu bringen und Dad meinte immer zu uns: ‚Wollt ihr dieses Leben eurer kleinen Schwester antun?‘ Wir wollten dir einfach ein normales Leben schenken.“

Ich verstand es, aber das konnte mich nicht daran hindern wütend zu werden.

„Normales Leben, normales Leben?! Dass ich nicht lache! Sieh dich um, mach dir klar, wo wir uns befinden. Ist das vielleicht normal?!“

„So war das ja auch nicht geplant…“

„Aber es war vorhersehbar! Das einzige, das ihr damit bewirkt habt, ist, dass ich unvorbereitet war! Es ist eure Schuld, dass Jamie und die anderen tot sind!“

„Jamie ist tot?“, fragte Andreas plötzlich überrascht und ich nickte.

Fast wäre mir der Überfall herausgerutscht, aber ich biss mir gerade noch rechtzeitig auf die Zunge.

„Das wusste ich nicht, es tut mir so leid Luna. Seit wann?“

„Ungefähr ein halbes Jahr nach der Gasexplosion.“

„So sehr ich das hier auch genieße“, mischte sich Oswald ein, „aber ich habe auch noch andere Dinge zu erledigen, besonders nach unserer kleinen Aktion vorher. Versuch ihn nicht umzubringen Kind.“

Andreas und ich verließen in angespanntem Schweigen den Raum und stiegen in den Aufzug, um nach oben zu fahren.

„Sammy?“, fragte Andres mich zögerlich.

„Nenn mich nicht so.“

„Oh stimmt, vielleicht hören sie uns noch.“

„Nein“, meinte ich energisch und wandte mich ihm zu, „nicht deswegen. Was auch immer du sein magst, mein Bruder bist du nicht, du hast kein recht mich so zu nennen!“

Zu meiner Überraschung gab er keine Widerworte sondern blickte nur erschöpft zu Boden.

„Ich kann es dir nicht übel nehmen, Mom und Dad haben es mir genauso beigebracht. Ich dachte, ich wäre sofort nach der Verwandlung verschwunden, aber jetzt sind drei Jahre vergangen und ich bin immer noch ich. Vielleicht, weil ich in dieser Zelle eingesperrt war und man mich von Anfang an hat hungern lassen, ich weiß es nicht. Fest steht aber, dass ich keiner von denen bin.“

Ich schnaubte verächtlich.

„Wenn du keiner von denen wärst, dann hättest du deiner kläglichen Existenz schon längst ein Ende bereitet.“

„Das habe ich auch versucht“, gab Andres zu und überraschte mich damit, „und einmal wäre es mir fast gelungen, aber sie haben mich jedes Mal wieder zusammengeflickt. Und dann, als ich endlich wieder die Chance dazu hatte, standst du plötzlich vor mir.“

„Hättest du den Mund gehalten, dann wärst du jetzt tot.“

„Ich war mindestens genauso geschockt wie du, das kannst du mir glauben. Als sie mir erzählten Mikhail hätte dich aufgespürt… ich war mir sicher, dass du keine Woche mehr zu leben hättest. Und dass sie mich endlich würden sterben lassen.“

„Wie lang gehört unsere Familie schon zu den Vampirjägern?“, wechselte ich das Thema.

„Moms Familie schon… ewig und Dad in der dritten Generation. Sie beide waren sehr gut, was ihnen schließlich auch zum Verhängnis wurde.“

„Sehr gut?“, hakte ich nach.

„Oh ja“, meinte Andreas und ein Lächeln erschien auf seinen Lippen, während wir mein Zimmer betraten, „Dad hatte sich auf die Altenjagd spezialisiert und Mom tötete mehr Jungvampire als je ein anderer Jäger zuvor. Oma und Opa haben das mit dem Warten bis zum Erwachsenwerden nicht so ernst genommen. Sie hatten Mom schon seit sie sechs Jahre alt gewesen war mit auf die Jagd genommen. Ihr Familienmotto war: Das Blut meiner Feinde…“

„… soll von den Dolchen meiner Kinder tropfen“, beendete Roman den Satz.

Erschrocken fuhr ich herum. Ich hatte Luca und ihn gar nicht bemerkt.

„Du kennst es?“, fragte ich Roman überrascht.

„Ich hab dir doch gesagt Mom und Dad waren Legenden.“

Luca und Roman sahen mich verwirrt an. Ich hatte ganz vergessen, dass sie es noch nicht wussten.

„Andreas hat mir ein paar Dinge über meine Familie erzählt, die ich noch nicht wusste. Wie zum Beispiel, dass er, mein Bruder und meine Eltern Vampirjäger waren.“

„Ihr gehört dem Beloussow-Klan an?“, fragte Roman skeptisch und ich sah fragend zu Andreas, welcher nickte.

„Unsere Großmutter mütterlicherseits war Yana Beloussow, später Yana Young, falls dir das etwas sagt.“

„Natürlich“, meinte Roman spöttisch, „so wie wohl jeder, der schon einmal in Russland in der Vampirjägerszene unterwegs war, das Motto des Beloussow-Klans kennt sowie einige der Familienmitglieder.“

„Das verstehe ich nicht“, wandte ich mich mit fragendem Blick an Roman.

„Der Beloussow-Klan ist eine der größten Familien überhaupt, die Vampire jagen. Ihr Stammbaum ist so weit verzweigt, dass eigentlich keiner mehr genau weiß, wer wirklich zu dieser Familie gehört und viele es einfach behaupten und sich das Familienmotto über den Kamin hängen.“

Ich sah zurück zu Andreas, welcher verächtlich die Augen verdrehte und etwas auf Russisch sagte. Man musste die Sprache nicht sprechen, um zu verstehen, dass es eine Beleidigung gewesen war. Nicht, dass ich die Tatsache übersah, dass mein Bruder plötzlich Russisch sprach, was mir – wieder einmal – vollkommen neu war, aber es hätte auch verrückter kommen können, also blieb ich ruhig.

Roman schien etwas verwirrt, während er und Andreas sich weiter auf Russisch unterhielten.

„Verstehst du was?“, wandte ich mich an Luca.

Der schüttelte den Kopf.

„Entschuldigung Kleines, nicht meine Sprache.“

Schließlich schnaubte Roman verächtlich und wandte sich wieder uns zu. Fragend blickte ich ihn an.

„Nichts, was es sich zu wiederholen lohnt.“ 

Ich schüttelte enttäusch den Kopf, ließ es aber tatsächlich auf sich beruhen.

„Und was machen wir jetzt?“

„Nun, ich weiß nicht was die beiden machen, aber wir müssen uns dringen einmal unterhalten.“

„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass wir dich mit ihr allein lassen“, meinte Roman spöttisch.

Andi zuckte mit den Schultern.

„Mir egal, dann bleibt eben hier. Sammy, pack deine Sachen.“

Verdutzt sah ich ihn an.

„Was?“, brachte ich schließlich hervor.

„Ich weiß nicht, was sie dir versprochen haben, aber egal was es war: sie haben gelogen und es wäre es sowieso nicht wert. Pack deine Sachen, ich bring dich hier raus.“

Es verletzte mich, dass er diese Schlussfolgerung gezogen hatte, sehr sogar.

„Du glaubst wirklich, dass ich so tief gesunken bin?“, fragte ich mit hochgezogener Augenbraue und verschränkte die Arme vor der Brust.

Andi hob an zu sprechen, doch ich ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Glaubst du wirklich, ich wäre so dumm?!“, zischte ich und zog das T-Shirt an meiner Seite hoch, damit meine Tätowierung zum Vorschein kam, „Meine Familie wurde von Vampiren getötet, meine Freunde wurden von Vampiren getötet und du glaubst ernsthaft, dass ich mich dieses Missgeburten anschließen würde?!“

Ich merkte erst, wie aufgebracht ich war, als sich von hinten Romans Hand auf meine Schulter legte. Ich schloss die Augen und atmete tief durch.

„Die Mörder von Jamie waren auch Vampire?“, fragte Andi fassungslos und ich nickte.

„Sie haben nach mir gesucht, Andi. Das ist es, was es mir eingebracht hat, dass ihr mir nichts erzählt habt.“

Ich öffnete wieder meine Augen und sah ihn anklagend an.

„Es ist alles eure Schuld.“

„Sammy“, meinte Andy mit verzweifeltem Ausdruck und streckte die Hand nach mir aus, ließ sie aber auf halben Weg wieder fallen.

„Sag mir die volle Wahrheit und gib deiner wertlosen Existenz wenigstens noch etwas Sinn, bevor wir sie beenden“, meinte ich kalt.

Auch wenn die anderen nicht sofort begriffen, so wusste Andi sehr genau, wovon ich da sprach.

„Wo soll ich anfangen?“

„Unsere Großeltern sind wirklich alle schon tot?“

„Dads Eltern schon, aber Moms leben noch.“

„Wo?“

„In der Nähe von Moskau.“

Ich war so nah bei ihnen gewesen.

„Und meine leiblichen Eltern?“

Andi zuckte mit den Schultern und wirkte dabei so unendlich menschlich.

„Die haben Mom und Dad uns gegenüber nie erwähnt. Sie sind immer sehr wütend geworden, Wenn Tom oder ich sie darauf angesprochen haben, also haben wir das einfach irgendwann gelassen. Aber wenn du meine Vermutung hören willst: Wahrscheinlich waren deine Eltern befreundete Vampirjäger, die gefallen sind. “

Das klang tatsächlich soweit einleuchtend. Es gefiel mir, bis auf die Vorstellung, dass ich dann ein heres wäre. Dann kam mir ein Gedanke und obwohl ich wusste wie schwachsinnig es war, musste ich Andi danach fragen.

„Ich weiß es ist unwahrscheinlich, aber erinnerst du dich vielleicht noch an einen hochgewachsenen Mann mit wirklich sehr langem blondem Haar, fast bis zur Taille…“

Ich sprach nicht weiter, denn plötzlich war Andis sowieso schon weißes Vampirgesicht noch bleicher geworden.

„Wann hast du ihn gesehen?“, fragte er mich eindringlich und mit todernster Stimme.

„Nur ein einziges Mal, da war ich vielleicht drei. Kennst du ihn? Ich hatte nämlich für einen Moment geglaubt, dass er vielleicht mein richtiger Vater ist.“

Andi schüttelte energisch den Kopf.

„Was?“, fragte ich, zugegebenermaßen etwas ängstlich.

„Dieser Mann war ganz sicher nicht dein Vater.“

„Was macht dich da so sicher?“

„Weil Dad uns vor ihm gewarnt hat?“

„Gewarnt?“, fragte ich nach, weil er wie gebannt ins nichts starrte.

„Er hat gesagt sollten wir ihn je wieder auch nur aus der Ferne sehen, dann müssten wir ihm das sofort sagen und wir würden auf der Stelle fortziehen.“

Überrascht blickte ich Andi mit großen Augen an.

„Aber wieso das denn? Hat Dad dir gesagt warum?“

„Er meinte nur, dann würden wir alle sterben und kein Vampirjäger der Welt wäre in der Lage das zu verhindern.“ 

Kapitel 29 - Erkenntnis

Ich schluckte schwer.

„Aber, wer war er?“

„Ich hab keine Ahnung, ich weiß nur, dass Mom und Dad eine unglaubliche Angst vor ihm hatten. Schon wenige Tage später sind wir ja dann auch weggezogen.“

„Ich dachte das war wegen der Schule mit der Sportförderung, auf die du so gerne wolltest.“

Andi lächelte traurig.

„Nein, wir sind geflohen.“

Ich nickte und kam auf das vorherige Thema zurück.

„Wissen unsere Großeltern vielleicht mehr?“

„Ich kann es mir vorstellen, allerdings habe auch ich sie nur ein paar Mal getroffen. Sie haben uns nicht mehr besucht, nachdem wir umgezogen waren.“

Ich dachte nach. Vielleicht würde sich ein Besuch bei ihnen lohnen – ich bezweifelte, dass Andi mich anlog, egal, was er war.

„Kann ich sie irgendwie erreichen?“

„Nun, du wirst sie sicher über die Vereinigung auftreiben können…“

„Das ist doch nicht dein Ernst!“, rief Roman plötzlich wütend aus und ich wandte mich ihm überrascht zu.

„Was?“

„Dass du diesem Ding einfach so blind vertraust!“

Andi verdrehte die Augen.

„Keine Sorge, ich hab das im Griff“, meinte ich wegwerfend und beachtete Roman nicht weiter.

Ich wusste, dass Andi getötet werden musste, aber da er nicht wegrannte, konnte ich ihm vorher ruhig noch ein paar Fragen stellen.

„Luca, denkst du Mattia könnte für uns herausfinden, wo meine Großmutter lebt?“

„Klar Kleines“, meinte er und hatte auch schon sein Handy aus der Hosentasche gezogen.

Roman rang die Hände und verließ entgeistert das Zimmer.

„Was ist denn sein Problem?“, fragte Andi mit hochgezogener Augenbraue.

„Er ist Roman Kosloff“, antwortete ich und ging einfach einmal davon aus, dass Andi um seine Vermittlervergangenheit wusste.

Und natürlich behielt ich Recht.

„Oh, ein Kosloff?!“, meinte er und pfiff anerkennende durch die Zähne, „und er weiß das selbst auch?“

„Noch nicht sehr lange.“

„Ja, dann wäre ich auch etwas nervös bei Regelverstößen.“

„Du wirst trotzdem sterben, egal, was du mir jetzt erzählst.“

Andis Lächeln verrutschte um keinen Millimeter.

„Ich weiß, aber ich bin froh, dass ich wenigstens dich vorher noch einmal sehen durfte.“

Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte, also ließ ich es einfach. Dann war zu meinem Glück auch gerade Luca fertig mit seinem Telefonat und wandte sich an uns.

„Also ich hätte die Adresse.“

„Jetzt brauchen wir nur noch eine Ausrede, um dorthin fahren zu können.“

„Ich bezweifle, dass Oswald uns nach Moskau in Constantins Revier schickt Kleines. Die beiden sind sich nicht sonderlich grün.“

„Aber Constantin verweilt momentan im Hospiz. Hat Oswald denn keine Ambitionen sich Constantins Posten unter den Nagel zu reißen?“

Luca kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf.

„Nein“, antwortete zu unserer Überraschung Andi auf unsere Frage.

„Woher weißt du das?“, fragte ich skeptisch.

„Noch aus meiner Jägerzeit. Oswald ist Nationalist, um nichts in der Welt würde er seine Heimat verlassen. Was aber nicht bedeutet, dass er sich nicht freuen würde, wenn Constantin stirbt.“

„Warum verstehen die beiden sich denn eigentlich nicht?“

Andi zuckte mit den Schultern.

„Damit bin ich dann leider auch nicht überfragt, aber sie hatten lange Zeit sich gegenseitig auf die Füße zu treten. Mich wundert es immer eher, wenn sich die Vampire untereinander verstehen.“

„So wie Nikolas und Oswald?“, erinnerte ich mich, „Sie schienen Freunde zu sein.“

„Sowas in der Art, ja. Sie wussten einfach, dass sie sich nie in die Quere kommen würden. Alles, was Oswald wollte, war über seine Heimat zu herrschen und alles, was Nikolas wollte, war die Leitung des Hospitals. Sie hatten nichts voreinander zu befürchten.“

Ich dachte einen Moment darüber nach. Besser gesagt ich dachte darüber nach, wie ich Nikolas getötet hatte. Ich wusste einfach nicht, wo ich diese Kraft hergenommen hatte. Es war die Zeit gekommen, dass ich mich mit dieser Kleinigkeit auseinandersetzte. Ich vertraute Luca und auch – wie ich überrascht feststellte – meinem Bruder. Für einen Moment blitzte das Bild von Régine in meinen Gedanken auf und ich erlaubte mir die beiden zu vergleichen. Gab es gute Vampire? Und wenn ja, war mein Bruder wirklich einer von ihnen? Es tat mir im Herzen weh, aber ich stand noch immer zu meinem Entschluss, den ich nach dem Verlassen Frankreichs getroffen hatte: Es würde für mich keinen Unterschied machen. Besser einer zu viel starb, als einer zu wenig, ich durfte mich nicht mehr erweichen lassen. Ich war eine Jägerin. Und er war ein Monster.

„Andi, Luca“, begann ich mit ernster Stimme, was die beiden mich sofort ansehen ließ, „was wisst ihr über magiebegabte Wesen?“

Während Luca verständnislos dreinblickte, wurde Andi kalkweiß.

„Ja?“, wandte ich mich an ihn, doch er schüttelte nur den Kopf.

„Das sind eigentlich alles mehr Geschichten…“

„So wie die von Hexen?“

Überrascht blickte er mich an.

„Woher weißt du von ihnen?!“

„Die Vermittler“, meinte ich bloß und hielt es nicht für notwendig das auszuführen.

Ich hatte nämlich den leisen Verdacht, dass Luisa deswegen Ärger bekommen könnte und das wollte ich nicht.

„Diese Plappermäuler!“, meinte Andi aufgebracht, „Sie konnten noch nie ihre Klappe halten.“

Ich ließ mich davon nicht beirren.

„Also?“, fragte ich nachdrücklich und er seufzte schwer.

„Es sind wirklich nur Geschichten – zumindest was man mir erzählt hat.“

„Dann ist es ja auch nicht weiter schlimm, wenn du sie mir erzählst.“

Und in diesem Moment wusste ich, dass er wirklich ein Jäger, ein heres gewesen war. Selbst jetzt, wo er das geworden war, was er eigentlich gejagt hatte, wollte er sich an diese bescheuerten Regeln der Jäger halten. Fast hätte ich über die Ironie der Situation gelacht.

„Bitte Andreas, es wäre wichtig.“

Er musterte erst Luca dann mich – und knickte schließlich ein, ich sah den Moment ganz genau in seinen Augen.

„Ich weiß wirklich nicht viel… eigentlich nur, dass sie existieren und das ihr Auftauchen Ärger bedeutet.“

„Wieso das?“, fragte ich neugierig.

„Weil Papa meinte, dass der blonde Mann ein magiebegabtes Wesen gewesen sei.“

Und der Kreis schloss sich. Vielleicht war dieser Mann nicht mein Vater, aber er war wie ich gewesen – wenn man Nikolas‘ und Oswalds Worten Glauben schenken wollte. Und um einmal wirklich ehrlich zu sein, tief in mir drinnen war mir schon lange klar gewesen, dass etwas mich von den anderen unterschied. Dass ich nicht war wie sie und zwar nicht nur auf diese verstockte Teenagerart. Auch wenn ich nicht wusste, was der Ausdruck magiebegabt genau bedeutet, so war ich mir doch inzwischen ziemlich sicher, dass ich genau das war. Und dass der Mann mit dem langen blonden Haar mich hatte zurückholen wollen. Wo auch immer zurück lag.

„Kennst du jemanden, der mir mehr über diese Wesen erzählen könnte?!“

Zu meiner Enttäuschung schüttelte er den Kopf.

„Unsere Eltern vielleicht, wenn sie noch am Leben wären. Eventuell könnt dir auch unsere Großmutter weiterhelfen.“

Ich seufzte schwer. Ich musste diesen blonden Mann finden. Wenn er mich allerdings in all den Jahren auch gesucht und nicht gefunden hatte, wusste ich nicht, wie gut meine Chancen standen. Also erst einmal meine Großeltern. Fragte sich bloß, wie ich von hier wegkam. Mein Plan wäre ja immer noch Oswald einfach sofort zu töten, aber wahrscheinlich würde uns Roman wieder einen Strich durch die Rechnung machen. Wann war die Jagd nur so kompliziert geworden? Damals in Amerika, da war ich einfach aus dem Haus gegangen und hatte jeden Vampir getötet, der mir über den Weg gelaufen war. Hier in Europa aber nahm einem die Politik jegliche Möglichkeit auch nur irgendetwas zu tun. Sollten die Vampire doch im Chaos versinken, wenn wir einen ihrer Anführer umbrachten. War das nicht sogar gut für uns?

„Ich muss mit ihnen sprechen.“

„Was ist hier los Kleines?“, mischte sich nun auch endlich wieder Luca in die Unterhaltung ein.

Er musterte mich skeptisch, aber das brachte mich nicht im Geringsten ins Wanken. Es gab Dinge, die ich einfach für mich behalten musste.

„Ich muss mit meiner Familiengeschichte aufräumen, bevor ich noch die Krise kriege“, sagte ich zumindest einen Teil der Wahrheit.

Sie kauften es mir nicht ab, aber sie fragten auch nicht weiter nach und ich rechnete ihnen das hoch an. Schließlich seufzte ich schwer.

„Ich geh dann mal nach Roman sehen“, meinte ich mit einem schwachen Lächeln und trat aus dem Zimmer.

Ich musste nur ein kurzes Stück den Gang hinunter und klopfte dort an die Tür. Fast sofort öffnete mir Roman und auch wenn sein Gesichtsausdruck grimmig war, so ließ er mich doch hinein.

„Ich verstehe nicht, wieso gerade du so extrem auf Andi reagiert hast“, meinte ich, während ich mich auf die Bettkante setzte, „obwohl du über unsere schnelle Entscheidung ihn zu töten doch so empört gewesen bist.“

„Aber genau das ist es doch“, meinte Roman seufzend.

Verständnislos sah ich ihn an.

„Ihr wart euch sofort einig ihn zu töten“, erklärte er, „und doch plaudert ihr da drüben mit ihm, als wäre nichts. Ich dachte ihr seid famulus!“

„Ja, eigentlich springen wir wirklich jeden Vampir an ohne vorher viele Fragen zu stellen“, gab ich zu, „aber selbst mich hat die letzte Zeit verändert. Besonders die Wichtigkeit von Informationsbeschaffung… er weiß so viel Roman, besonders über meine eigene Vergangenheit. Würdest du dir diese Chance entgehen lassen, wenn sie sich dir böte?“

Ich wusste, dass ich damit einen wunden Punkt bei ihm ansprach. Die Vermittlergeschichte war noch sehr frisch, der Verrat, den er fühlte, noch ungemildert. Ja, ich sah ihm an, dass er an meiner Stelle genau dasselbe getan hätte.

„Also hast du immer noch vor ihn zu töten?“, lenkte er nun endlich ein und ich lächelte breit.

„Aber natürlich. Das stand niemals infrage.“

Eindeutig erleichtert setzte sich Roman neben mir auf das Bett.

„Gott sei Dank, ich hatte mir schon sorgen gemacht. Wenn du wirklich noch an ihm gehangen hättest… ich weiß nicht, ob ich es über mich gebracht hätte ihn zu töten.“

„Deshalb habe ich auch Luca gefragt“, meinte ich lächelnd, „ich wusste, dass es dich belasten würde jemanden zu töten, der mir einmal wichtig gewesen ist. Egal, was er jetzt ist.“

Plötzlich schnaubte Roman amüsiert und ich sah ihn verwundert an.

„Auch wenn du jetzt eigentlich eine heres bist, die famulus wirst du wohl niemals aus dir rauskriegen.“

Ich verdrehte die Augen und nahm die Worte als den Scherz, der sie waren. Dann lehnte ich meinen Kopf an seine Schulter.

„Wann ist mein Leben nur so kompliziert geworden“, seufzte ich schwer und Roman legte den Arm um mich.

„Das Leben ist nur so kompliziert, wie man es zulässt.“

Fragend wandte ich ihm mein Gesicht zu und er schenkte mir ein warmes Lächeln.

„Kompliziert ist nur, was uns stört. Wenn du lernst mit etwas umzugehen, dann ist es kein Problem mehr.“

Wenn es doch nur so einfach wäre.

 

Kapitel 30 - Gerufen

Am nächsten Morgen erwachte ich überraschend frisch und ausgeruht. Ob es der Akzeptanz, was ich war, oder der Tatsache, dass Roman neben mir lag geschuldet war, war mir in diesem Moment egal. Jedoch nicht, ob man mich hier fand, also zog ich mich rasch an und huschte zurück in mein Zimmer. Dort genehmigte ich mir erst einmal eine entspannende Dusche. Als ich aus dem Bad trat, stand Tigris vor mir. Es gab einen Grund, warum ich selbst in der Dusche bewaffnet war.

„Was gibt es?“, fragte ich und ließ mich nicht von der Tatsache beirren, dass ich nur im Handtuch vor ihm stand.

Nun, im Handtuch und mit Messern, die mithilfe einer Lederscheide an meinem Oberschenkel befestig waren. Und ich registrierte, dass auch Tigris sie bemerkt hatte.

„Wir wurden gerufen.“

Irgendetwas sagte mir, dass er damit nicht Oswald meinte.

„Von wem?“

„Mikhail war sehr erbost über das, was im Hospital geschehen ist. Er verlangt nach Oswald in Moskau und wir werden ihn begleiten.“

Ich konnte es nicht verhindern, dass mir meine Gesichtszüge entglitten und natürlich sah es Tigris. Allerdings deutete er es falsch – zu meinem Glück.

„Keine Sorge Mensch, er weiß nicht, dass du versucht hast seinen Schöpfer zu töten, auch wenn ich dir nicht versichern kann, dass der Meister es ihm verschweigen wird.“

Wie glücklich wäre ich, wenn darin das größte Problem bestünde. Klar, ich hatte nach Moskau gewollt, aber ganz sicher nicht zu Mikhail, der ganz genau wusste, wer ich war. Der mich damals aufgespürt hatte und mit dem eine weitere Begegnung meinen sicheren Tod bedeuten würde. Das war nicht gut.

„Warum ich?“, fragte ich also stattdessen, mit der kümmerlichen Hoffnung, vielleicht doch noch aus dieser Sache herauszukommen.

„Na eben weil du Constantin angegriffen hast. Der Meister amüsiert sich gerne.“

Ja, auf Kosten meines Lebens.

„Warum leistet der Meister diesem Ruf überhaupt Folge?“, kam mir meiner Meinung nach eine berechtigte Frage.

„Es war nun einmal das Hospital, das der Meister angegriffen hat und trotz seines jungen Alters bekleidet Mikhail im Moment eine höhere Stellung als der Meister. Er hat keine Wahl.“

Also war sich Oswald doch sehr wohl den Grenzen seiner Macht bewusst. Was mich nicht gerade beruhigte. Es bedeutete für mich nur, dass Oswald mich nicht beschützen könnte, selbst wenn er es wollte und sogar das bezweifelte ich schwer. Wieso sollte er auch? Ich war ja nur ein Mensch… Ach stimmte ja. Ich hatte es schon wieder vergessen. Kein Mensch, ein magiebegabtes Wesen. Etwas sehr Seltenes hier, wie Oswald gemeint hatte. Vielleicht war ich es ja dann doch für ihn wert gerettet zu werden?

Nein, ich musste selbst einen Weg finden aus der Sache wieder rauszukommen. Und möglichst dabei keinem bekannten Vampir in die Arme zu laufen.

„Wann brechen wir auf?“

„Sofort.“

Also keine Gnadenfrist und keine Zeit irgendwelche Überlegungen anzustellen. Ich würde Mikhail gegenübertreten. Dem Vampir, der dieses ganze Schlamassel losgetreten hatte. War die ganze Sache tatsächlich noch keine 6 Wochen her? Dieser unheilvolle Abend, an dem ich Mikhail im Club begegnete. Aber ich hatte in dieser Zeit auch viel erfahren über meine Familie und mich. Meine geliebten Eltern und Brüder waren alle Jäger gewesen, genauso wie bereits ihre Eltern zuvor. Ohne es zu wissen hatte ich nach ihrem Tod ihr Erbe angetreten. Warum hatte mir das bei meinem Eintritt in die Vereinigung nur niemand erzählt? Weil sie ihre Geheimniskrämerei einfach viel zu sehr liebten. Und dann die Tatsache, dass ich adoptiert war. Ein adoptiertes magiebegabtes Wesen. Hatten meine Eltern es gewusst? Hatten sie vorgehabt es mir zu sagen?

„Sofort“, wiederholte Tigris nachdrücklich und holte mich damit aus meinen Gedanken.

„Natürlich“, meinte ich nickend und lief an ihm vorbei an meinen Schrank.

Ohne in weiter zu beachten ließ ich das Handtuch fallen und schlüpfte in meine Kleider. Es hatte keinen Sinn ihn hinauszuschicken und außerdem war ich nicht besonders prüde.

„Okay“, meinte ich, als ich fertig war und stellte zu meiner Belustigung fest, dass Tigris mir den Rücken zugewandt hatte, „von mir aus können wir los.“

Mit diesen Worten schob ich die Dadao in den Halfter und trat neben ihn.

„Trägst du eigentlich jemals keine Waffe?“, fragte mich Tigris zu meiner großen Überraschung.

Ich war so verdattert, dass ich ehrlich antwortete.

„Seit ich eine Jägerin bin nicht mehr.“

Schweigend folgte ich ihm nach unten, doch Oswald war nicht dort.

„Wo ist der Meister?“

„Er und Aryeh haben sich schon heute Nacht auf den Weg gemacht.“

„Und warum bist du nicht mit ihnen gegangen?“

„Ich musste erst noch einen Unterbringungsort für Loreley finden.“

Stimmt, die hatte ich schon wieder ganz vergessen. Was wurde jetzt aus ihr, da das Hospital nicht mehr da war? Wie lange die Vampire wohl brauchten es neu zu besetzten? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das besonders lange dauern würde. Aber bis dahin?

„Holen wir nicht noch die anderen?“, fragte ich verdutzt, als er den Weg in Richtung Tiefgarage einschlug.

„Die anderen Menschen werden nicht mitkommen.“

Ich wusste nicht, ob ich erleichtert oder ängstlich war. Auf der einen Seite war es gut, dass sie nicht mitkamen. Es war sicherer. Auf der anderen hätte ich etwas mentale Unterstützung gut gebrauchen können.

„Nehmen wir den Jet?“

„Den nahmen der Meister und Aryeh. Wir werden uns mit einem Linienflug begnügen müssen.“

Der Gedanke einen uralten Vampir wie Tigris einen Linienflug nehmen zu sehen erheiterte mich. Außerdem verschaffte er mit noch etwas kostbare Zeit einen Plan zu entwickeln.

Zumindest hatte ich das gehofft, aber als das Flugzeug wieder auf der Landebahn aufsetzte, war mir immer noch keine rettende Idee gekommen. Mir würde nichts anderes übrig bleiben als die Maske überzustreifen und auf das Beste zu hoffen. Weil das bei Vampiren ja auch immer so gut funktionierte.

„Warst du schon einmal auf Constantins Anwesen?“, fragte ich, als wir uns in den Mietwagen mit den getönten Scheiben gesetzt hatten.

Er warf mir – zu meiner großen Verwunderung – einen amüsierten Blick zu.

„Jeder Vampir meines Alters hat wahrscheinlich schon mehr Zeit auf diesem Anwesen verbracht, als du gelebt hast. Auch wenn es nicht immer Constantin gehört hat.“

Tigris hatte es beiläufig erwähnt, also biss ich mir auf die Zunge, um nicht weiter nachzufragen. Er durfte nicht wissen, wie sehr ich an seinen Informationen über die Vampirgesellschaft interessiert war. Aber jetzt nahm etwas anderes meine Aufmerksamkeit gefangen, als Tigris plötzlich am Wegrand anhielt. Bevor ich fragen konnte wieso, öffnete sich auch schon die Tür zur Rückbank und Tamara stieg ein. Ich konnte nicht anders als sie einen Moment verdutzt anzustarren. Ihre zuvor verbissene Miene lockerte sich ein wenig auf und sie schenkte mir ein kleines Lächeln, bevor sie wieder finster Tigris anstarrte.

„Oswald hatte mir versprochen, dass er mich nicht nerven würde, während ich in Amerika bin.“

Aber natürlich, Tamara sollte eigentlich gerade bei ihrem totkranken menschlichen Ehemann sein.

„Es war Constantin, nicht der Meister, der nach uns gerufen hat und das weißt du auch.“

Ärgerlich warf sie ihr feuerrotes Haar, das sie zu einem langen Zopf zusammengefasst hatte, über die Schulter.

„Und ihr glaubt wirklich, dass es so gut ist mich mitzubringen?“

„Wieso?“, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.

Aber die Idee erschien mir nicht mehr ganz so gut, als Tamara mir ihr perfekt geschminktes Gesicht zuwandte. Sie wirkte so anders als gestern.

„Constantin ist… total altmodisch und die Art wie ich lebe findet er alles andere als toll“, antwortete sie mit einer zu ihrer Haltung im Widerspruch stehenden Gelassenheit in der Stimme.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie Oswalds Wohlwollen fand. Was er überhaupt an einer ehemaligen Elitesoldatin so besonders fand, dass er sie in seine ausgewählte Runde aufnahm. Aber eine gute Killerin war sie wirklich, das musste man ihr lassen. Trotzdem war ich mir sicher, dass ich sie im Ernstfall hätte überwältigen können.

Viel zu schnell fuhren wir die mir schon bekannte lange Auffahrt entlang und ich zog mir die Maske über den Kopf. Eine riesige Menge Adrenalin rauschte durch meine Adern und ich war zum Zerreisen gespannt. An was denkt man, wenn man dem Tod entgegenblickt? Sollte ich an irgendetwas Bestimmtes denken? Vielleicht an die Menschen, die ich in Amerika zurückgelassen hatte? Meine beste Freundin Nala, die noch immer unwissend und glücklicherweise lebendig war. Ich vermisste sie jeden Tag, denn sie war der letzte Rest Familie, der mir geblieben war – mein Vampirbruder zählte nicht. Und Darius, der Vampirjäger, der mich zu dem gemacht hatte, was ich heute war. Er würde Nala bis zum bitteren Ende beschützen, so wie er mich damals beschützt hatte, da war ich mir sicher. Wie er wohl mit den Umständen in Europa zurechtkommen würde? Allerdings hatte ich zu Anfang auch nicht geglaubt damit zurechtkommen zu können. Und jetzt stand ich hier und lief freiwillig in mein Verderben anstatt zu töten, was mir über den Weg lief. Roman hatte zwar betont, dass ich eine famulus wäre, aber für mich fühlte sich das schon seit ich in Europa war nicht mehr so an. Darius könnte das besser beurteilen, er hatte mich bereits zuvor gekannt. Vielleicht fehlte er mir sogar noch mehr als Nala, schließlich war Darius mein einziger Vertrauter und Lehrer gewesen. Ihn hatte ich immer um Rat gefragt, wenn ich nicht weiterwusste. Aber hätte er mir in meiner jetzigen Situation überhaupt helfen können? Hätte er mich aus ihr befreien können? Ich bezweifelte es, denn auch er stand in der Hierarchie der Vampirjäger ziemlich weit unten.

Und in diesem Moment schwor ich mir, dass wenn ich das Anwesen wieder lebend verlassen würde, ich alles daran setzen würde das Konstrukt der Vampirjägervereinigung zu durchbrechen. Unwissenheit hatte mich bereits mehr als einmal fast das Leben gekostet. Das durfte sich nicht weiter wiederholen, ich war zu lange passiv und hörig gewesen. Allerdings musste ich dafür erst einmal den heutigen Tag überleben.

Tigris stoppte den Wagen direkt vor dem Aufgang ins Haus.

„Na das kann ja heiter werden“, murmelte Tamara und stieß die Wagentür auf.

Auch Tigris und ich stiegen aus und standen plötzlich zwei Vampiren gegenüber, die wie aus dem Nichts erschienen waren. Ein rascher Blick zeigte mir, dass ich sie tatsächlich kannte und es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Es waren die Vampire, die mich damals zusammen mit Mikhail in Singapur aufgegriffen hatten. Bei meiner erfolglosen Flucht. Sie steckten in maßgeschneiderten Anzügen, was weder Eliots lange Narbe am Hals, noch Raouls schrankartige Gestalt kaschierte. Sie trugen Sonnenbrillen und warteten offensichtlich ungeduldig darauf, dass wir die Treppenstufen heraufkamen. Für mich war die Situation bizarr. Ich hatte sie sofort erkannt und nicht den geringsten Zweifel gehabt, aber die beiden würdigten mich nicht einmal eines Blickes. Um genau zu sein hatten sie nur Augen für Tigris. An ihrer Stelle hätte ich mich wahrscheinlich aber genauso verhalten. In ihren Augen stellte natürlich der Alte die größte Gefahr dar, nicht der Jungvampir oder gar der Mensch. Vielleicht war es aber auch einfach die Tatsache, dass sie zuvor schon Aryeh gesehen hatten und sich fragten, wie zur Hölle er an ihnen vorbei nach draußen gekommen war, nur um jetzt wieder mit uns zurückzukehren.

Als Tigris an sie hintrat, verneigten die beiden sich ehrgebietend, bevor sie uns schweigend die Tür öffneten und in bleibender Stille durch das Haus führen. Ich konnte es nicht verhindern, dass ich beim Betreten dieses Gebäudes eine Gänsehaut bekam. Dieses Haus… es barg einfach jetzt schon zu viele schlechte Erinnerungen für mich, ich wollte einfach nicht noch mehr.

Eine Erinnerung blitze in meinen Gedanken auf. Constantin hatte erwähnt, dass er meinen Vater kannte und ich war total ausgerastet vor Angst. Jetzt wusste ich endlich, woher er ihn gekannt hatte: Er hatte ihn getötet. Panik kroch meinen Nacken hoch, aber ich kämpfte sie nieder. Constantin war nicht hier, er würde sterben und ich würde auch in der Lage sein Mikhail zu besiegen. Daran musste ich einfach glauben.

 

 

Russland

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Kapitel 31 - Blind

Der Weg, den wir durch das Haus einschlugen, war mir nur allzu bekannt und ich wusste nur allzu bald, wohin wir gingen: Das Turmzimmer, in dem mich auch damals Constantin empfangen hatte. Als wollte jemand mit Gewalt meine Alpträume heraufbeschwören. Als wollte jemand meine Ängste vom letzten Mal auf diesem Weg endlich wahr werden lassen. Und dann waren wir da. Wir standen vor dieser Tür und ich spürte, wie meine Hände begannen zu zittern. Schnell verschränkte ich sie hinter meinem Rücken. Ohne ein Wort zu sagen, öffnete Raoul uns die Tür und wir traten ein. Der Raum sah genau so aus, wie beim letzten Mal, nur dass heute hinter dem großen Mahagonischeibtisch ein anderer Vampir saß. Das kinnlange braune Haar umrahmte seine engelsgleichen Gesichtszüge und ließ es so surreal erscheinen, dass dieses perfekte Wesen so böse sein sollte. Ihm gegenüber, auf einem einfachen Holzstuhl, saß Oswald, flankiert von Aryeh. Die Gesichter aller waren ausdruckslos. Tatsächlich richtete Mikhail als erstes das Wort an den Jungvampir neben mir.

„Tamara, es ist schön dich einmal ohne dein Haustier anzutreffen.“

Ihre Mundwinkel zuckten nach oben, doch Tamara verbiss sich mit aller Gewalt ein Knurren. Mikhail beachtete es nicht weiter, sondern wandte sich wieder Oswald zu.

„Es war sehr dumm von dir das Hospital anzugreifen.“

„Eine Grundreinigung war überfällig.“

„Und trotzdem keine äquivalente Rache für Nikolas.“

Ich konnte es nicht fassen. Mikhail schenkte mir keinerlei Beachtung. Er war doch ein ausgezeichneter Sucher, roch er mich denn nicht einmal? Ich war verwirrt.

„Einer von ihnen war es gewesen, ich habe uns nur die Zeit und Mühe erspart den Schuldigen ausfindig zu machen.“

„Einige Vampire sind jetzt sehr wütend auf dich. Sie fordern von mir, dass du getötet wirst.“

„Dafür, dass ich ihre Spielzeuge getötet habe?“, schnaubte Oswald amüsiert, „ich bitte dich, keiner dieser Vampirblut hätte überlebt. Sie waren alle schwach.“

Er spie dieses Wort mit vor Verachtung triefender Stimme aus, als würde allein die Benutzung ihn beschmutzen.

„Dann lass mich wenigstens eines deiner Spielzeuge töten.“

„Du weißt, dass ich mich mit niederen Geschöpfen nicht abgebe.“

„Und doch hast du ein Vampirblut und einen Menschen mit dir gebracht. Woher der Sinneswandel?“

„Bitte Mikhail, beleidige mich nicht. Du weißt, dass Tamara alles andere als gewöhnlich ist, du hast es selbst gesehen und was das Kind betrifft, sie mag vieles sein, aber ganz gewiss kein Mensch.“

Nun sah mich Mikhail interessiert an und das gefiel mir ganz und gar nicht. Er musste mich doch erkennen? Aber er starrte mich einfach nur an, bis er schließlich aufgab und zurück zu Oswald sah.

„Was ist sie?“

„Ich bin noch dabei das herauszufinden, es ist schwerer als gedacht.“

„Woher hast du sie?“

„Ein Geschenk von Pascal.“

„Ist sie dazu in der Lage?“, fragte Mikhail und schien das vorherige Thema endgültig vergessen zu haben.

„Auch das gilt es noch herauszufinden. Sie ist hier aufgewachsen.“

Mikhail schien enttäuscht, während ich keine Ahnung hatte wovon sie sprachen. Wozu sollte ich ihrer Meinung nach in der Lage sein?

„Aber um auf das Thema zurückzukommen, es ist eine Sache die Vampirblut im Hospital abzuschlachten – meinetwegen – dass jedoch versucht wurde den Angriff auf Constantin auszuweiten ins unverzeihlich!“

Ah, jetzt waren wir endlich bei dem Part angelangt, in dem ich starb. Ich hatte mich schon gefragt, ob er noch kommen würde.

„Ach das“, meinte Oswald mit einem schalkhaftem Lächeln, „verzeih‘, aber das war etwas Persönliches zwischen Constantin und dem Kind.“

Sie hat Yusuf und Abdullah getötet?“, fragte Mikhail so ungläubig, dass es nicht nur an eine Beleidigung grenzte, sondern eindeutig schon war.

„Oh ja, das Kind ist wirklich beeindruckend. Ich habe sie noch keine Woche bei mir, wurde aber so gut unterhalten wie in Jahrhunderten nicht mehr.“

Mikhail schüttelte in einer sehr menschlichen Geste den Kopf.

„Schon seit ich dich kenne versuchst du ein magiebegabtes Wesen in deinen Besitz zu bringen und als dir aus dem Nichts eines in den Schoß fällt wunderst du dich gar nicht?“

„Manchmal muss man die Dinge so nehmen, wie sie kommen Mikhail. Das wirst du mit der Zeit sicher noch lernen.“

Ein Seitenhieb, den Oswald nicht gerade besonders blumig Mikhail an den Kopf geworfen hatte. Doch auch wenn Mikhail darüber erbost war – was man ihm aber nicht ansah – so schwieg er zu dem Kommentar.

„Es muss aber trotzdem Konsequenzen haben, dass du das Hospital angegriffen hast. Ich wollte großzügig sein, aber da du mein anderes Angebot nicht angenommen hast, ist mein nächstes Angebot endgültig: Entweder dein Leben, oder die Zwillinge arbeiten von jetzt an für die nächsten hundert Jahre für mich.“

Es erschien ein Zug um Oswalds Mundwinkel, den ich zuvor noch nie gesehen hatte und weswegen ich einen Moment brauchte ihn zu erkennen: Wut. Zum ersten Mal bröckelte Oswalds Fassade und ließ mich einen winzigen Blick auf seine wahre Gestalt erhaschen. Ich bekam eine Gänsehaut. Es war, als breitete sich Oswalds Präsenz im Raum aus, wurde größer und größer, bis sie schließlich allgegenwärtig und alles zu verschlucken schien. Alle meine Instinkte verlangten lauthals, dass ich sofort diesen Raum verließ und auch Oswalds Vampire schienen etwas nervös zu werden. Nur Mikhail blieb unbeeindruckt, als hätte er diese Situation schon sehr viele Male durchlebt. Er wirkte beinahe gelangweilt.

„Es ist entschieden“, meinte Mikhail mit einer schneidenden Stimme, die endgültig schien.

Für einige Momente starrten die beiden sich einfach nur in die Augen, lieferten sich ein Blickduell der Giganten. Es schien, als könne es in alle Ewigkeit dauern, doch dann sah Oswald plötzlich ruckartig weg und blickte aus dem Fenster.

„Tigris, Aryeh, ihr habt Mikhail gehört“, sagte Oswald und man hörte deutlich, wie er innerlich kochte.

Im nächsten Moment hatten die Zwillinge schon Aufstellung hinter Mikhails Stuhl genommen und Tamara sich auf Aryehs Platz postiert. Die ganze Szene erschien surreal, besonders weil ich immer noch damit rechnete, dass sich Mikhail auf mich stürzen würde.

Als hätte er gehört, dass ich an ihn dachte, wandte er sich plötzlich mir zu.

„Welchen Grund hattest du Constantin anzugreifen?“, fragte er mit samtweicher Stimme.

Nun hatte ich ein Problem. Verweigerte ich die Antwort, war ich tot. Sprach ich, würde er mich jetzt aber wirklich erkennen und ich war tot. Fragte sich nur, wie ich sterben wollte. Ich öffnete gerade den Mund, um zu sprechen, als auch schon Oswald das Wort ergriff.

„Wir sind hier also fertig, ja?“

Mikhail hob an zu einer Erwiderung, doch Oswald schnitt ihm sofort das Wort ab.

„Fordere mich nicht heraus, du hast dir heute schon zu viel herausgenommen.“

Oswalds stimme war kalt und schneidend wie Eis. Er meinte es ernst und das schien auch Mikhail zu begreifen.

„Ja, ihr könnt jetzt gehen.“

Ohne irgendjemandem auch nur noch einen einzigen Blick zuzuwerfen, war Oswald auch schon verschwunden. Tamara und ich folgten ihm in menschlichem Tempo. Und niemand hielt uns auf. Niemand erkannte mich oder warf mir auch nur einen zweiten Blick zu, obwohl ich in voller Jägerausrüstung mit Maske durch das Anwesen lief. Und da sah ich sie. Das an den Schläfen ergraute Haar, fest im Nacken du einem Dutt zusammengefasst, mit erhobenem Haupt wie es sonst kein menschlicher Diener im Reich der Vampire wagte: Sophia Martinez, die Frau, die mir die Flucht ermöglicht hatte. Da war sie, furchtlos und schritt durch diesen für sie so gefährlichen Ort, nur um für ihren Sohn da sein zu können. Ihr Sohn, den Constantin gegen seinen Willen zu einem Vampir gemacht hatte. Und als ihr Blick über mich glitt, da wusste ich, dass auch sie mich erkannt hatte. Trotz der Maske. Ihre Miene verzog sich kein Stück, aber ich sah es in ihren Augen, als sich unsere Blicke trafen. Und das Lächeln darin, als sie meine Begleitung genauer unter die Lupe nahm. Im Bruchteil einer Sekunde hatte sie meinen ganzen Plan begriffen, ohne dass ich auch nur ein Wort hatte zu sagen brauchen und ich verstand auch noch die Botschaft für mich, die in ihrem Blick lag: Ich werde auf deiner Seite kämpfen, wenn es so weit ist. Dann war sie an uns vorbei und ich konnte es nicht fassen, dass ich gerade eine ganze Unterhaltung mit nur einem einzigen Blick geführt hatte. Und wie mutig Sophia war. Ich wusste nicht, ob ich an ihrer Stelle diese Stärke noch in mir hätte, nach all den Jahren, in denen sie schon in diesem Haus arbeitete. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was sie schon alles gesehen hatte. Diese Frau schien unzerstörbar.

Tamara trieb mich beinahe ins Auto und ich hatte noch nicht einmal die Tür ganz geschlossen, da trat sie auch schon das Gaspedal zur Gänze durch.

„Was ist denn los?“, fragte ich, während ich hastig versuchte den Sicherheitsgurt anzulegen.

„Das musst du noch fragen?“, schnaubte Tamara sehr undamenhaft, „Mikhail hat Oswald die Zwillinge weggenommen! Es gibt nicht vieles, wie man Oswald so echt wütend machen kann, aber das ist ne Möglichkeit. Oswald geht nirgendwo hin, ohne dass nicht mindestens einer der beiden an dabei ist. Ich wüsste nicht, dass das überhaupt schon einmal so gewesen wäre. Und ich kann es auch nicht fassen, dass die beiden ihn tatsächlich einfach so *bam* verlassen haben. Ich dachte sie würden sich wehren.“

„Wieso? Ist es so schlimm Mikhail unterstellt zu sein?“

Der Gedanke schien Tamara zu amüsieren.

„Nein, nicht dass ich wüsste. Für ihn sind wir alle zwar nur so olle Schachfiguren, aber das ist echt nichts Ungewöhnliches. So wird wenigstens die Spreu vom Weizen getrennt. Wenn ich daran denke, wie viele noch von denen übrig sind, die mit mir geschaffen wurden… nach meinem letzten Stand waren wir noch zu fünft. Einfach krass, wenn man bedenkt, dass wir einmal 66 waren!“

Ich musste schlucken. 65 Vampire wurden auf einmal zusammen mit Tamara geschaffen? Das erschien einfach so… so unglaublich. Und furchteinflößend, es bescherte mir eine Gänsehaut. War das etwa die gängige Praxis hier in Europa? Denn in Amerika war es definitiv nicht so, das hätte ich gemerkt.

„Das waren noch echt heftige Zeiten. Wir waren noch ein wirkliches Sondereinsatzkommando. Aber leider haben die Meisten ihre Fähigkeiten echt gewaltig überschätzt. Fast zwanzig sind schon in unserer ersten Schlacht abgekratzt. Echt schade, aber ehrlich gesagt hatte man es denen schon von Anfang an angesehen, dass sie es nicht machen würden. Sie waren entweder nicht skrupellos genug, um zu überleben, oder sie waren zu überheblich. Überraschenderweise gehörten alle Tussen meiner Einheit in die letzte Kategorie. Das waren vielleicht Miststücke. Es tat mir überhaupt nicht leid, als ich eine von ihnen selbst erledigen musste. Sie hatte schließlich zuerst jemanden aus unserer Einheit einfach so getötet. War doch klar, dass eine Beziehung zwischen zwei Vampiren nicht funktionieren kann! Das war das erste, was man uns nach unserer Verwandlung eingebläut hat: Die Zeit ist der größte Feind von Gefühlen, denn der stete Tropfen höhlt den Stein. Irgendwann ist es vorbei und je später, desto schlimmer wird es für einen. Trotzdem haben so viele von uns diese Regel gebrochen – wie krass dumm muss man sein? Das war noch so ein Punkt, den einfach niemand zu raffen schienen: Bloß weil sie Vampire waren, hieß das noch lange nicht, dass sie sich einfach ihren Vorgesetzten widersetzen durften, auch wenn das bloß Menschen waren. Diese Kerle wussten vielleicht, wie man einen Pflock schwingt. Ich bin diesen Männern bis sie abgekratzt sind aus dem Weg gegangen, dabei waren sie nur Menschen. Du gehörst übrigen auch in diese Kategorie.“

Überrascht blickte ich sie an.

„Nun, diese Männer, sie haben Brutalität und Unberechenbarkeit ausgestrahlt – gefährlich, aber damit lässt sich arbeiten. Du jedoch, du strahlst einfach nur Tod aus. Da krieg sogar ich eine krasse Gänsehaut, obwohl ich eigentlich sowieso überhaupt nicht mehr am Leben bin.“

Ich grinste schief.

„Danke für das Kompliment. Nicht gerade das Schlechteste in meiner Position. Aber wie geht es jetzt eigentlich weiter, da die Zwillinge fort sind?“

„Nun, Oswald wird jemanden brauchen, der ihren Posten übernimmt.“

„Und wer wird das sein?“

„Keine Sorge, einen Menschen würde er nie für diesen Posten auswählen und auch ich genüge nicht den Ansprüchen.“

Ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen.

„Und was heißt das jetzt?“

„Dass uns sehr bald die Ehre zu Teil wird einen weiteren Alten kennenzulernen.“

Kapitel 32 - Es ist Zeit

„Wie schafft es Oswald eigentlich diese ganzen Alten für ihn arbeiten zu lassen?“, ließ ich endlich diese Frage hervorbrechen, die mich schon so lange quälte.

„Oh, das ist ganz einfach: Oswald ist noch einmal um einiges älter als sie. Ich meine, er war schon ein Alter, als die meisten von ihnen noch in Windeln rumrannten! Oh, und er ist nicht die Art von Vampir, der man eine Bitte abschlägt. Das solltest du dir auch merken.“

„Wie alt ist Oswald denn?“

„Weiß ich nicht und ich kenne auch niemanden, der es wüsste. Er macht ein großes Geheimnis darum.“

„Darf ich dich noch was fragen?“

Tamara lachte.

„Bitte bitte, ich bin kein Geheimniskrämer, aber du musst dir vorher immer die Frage stellen, ob du die Antwort wirklich hören willst.“

Ich nickte.

„Was macht dich für Oswald so besonders?“

Ihr Gesichtsausdruck wurde ernst und sie blickte auf die Straße, während sie für einen Moment nachdachte.

„Ich glaube da hängen mehrere Sachen zusammen, aber das alles hat mit dem Sondereinsatzkommando zu tun, in dem ich war, du weißt schon, das das nur aus Vampiren bestand. Manchmal vermiss ich es, das Feeling, dass jedes Mal, wenn man uns rausgelassen hat, wir ein paar Genicke brechen durften. Uns hat man nämlich keine Knarren in die Hand gegeben, wäre aber sowieso Schwachsinn gewesen und wir haben uns dann spätestens draußen auf dem Schlachtfeld welche gekrallt. Wir waren Tötungsmaschinen, Killer, Blutjunkies, wie man es auch immer nennen möchte, aber kein einziger von uns war unglücklich…“

Tamara schwieg für einen Moment und schien sich zu erinnern.

„Doch viel zu schnell war der Krieg zu Ende und sie brauchten uns nicht mehr. Blöd wie sie waren, glaubten sie uns einfach killen zu können. Dann haben wir sie alle getötet. Und sind anschießend gegenseitig auf uns losgegangen, weil wir haben das überlebt und wir sind besser getrennte Wege gegangen. Ich hab mich dazu entschieden cold turkey - auf kalten Entzug zu gehen und schloss mich in einer Hütte hoch oben in den Alpen ein. Dort hat mich Oswald gefunden, mir geholfen meinen Blutdurst in den Griff zu kriegen und mich dann mitgenommen. Er hat gesagt ich wäre zu wertvoll um zu verrotten. Natürlich hab‘ ich ihm das gerne geglaubt. Ich mein‘, ich weiß, dass ich gut töten kann, aber ich glaub eher, dass er mich gewollt hat, weil es einfach nicht in meiner Natur liegt Fragen zu stellen. Ich will echt nicht das warum wissen, macht alles nur kompliziert. Man ist glücklicher, wenn man so was nicht weiß.“

War das wirklich schon alles? Ich konnte es mir nicht vorstellen, da musste einfach mehr dahinter stecken. Ich würde da mehr auf Tamaras Disziplin setzen. Welcher Jungvampir, der zur Tötungsmaschine erzogen wurde, beschloss schon freiwillig auf kalten Entzug zu gehen und tat es dann auch tatsächlich. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass Tamara Insania überleben würde. Und da hatte ich es, das war es. Die Sterberate war so unglaublich hoch, es überlebte so gut wie keiner. Aber bei Tamara, da sah die Sache ganz anders aus. Ihre Überlebenschancen, die schienen wirklich gut. Ein Alter, den man schon von Beginn an formen konnte und an dem die Zeit nicht verschwendet war. Ja, das war wertvoll, das konnte ich mir vorstellen.

„Haste eigentlich Hunger? Oder Durst? Bei Constantin gab es ja echt nichts für Menschen. Und ich glaub auch nicht, dass Tigris dran gedacht hat. Wobei, das kannst du ja auf dem Rückweg machen. Ich kann seinen Wagen ja nicht mehr zurückfahren.“

Fragend sah ich sie an.

„Egal was bei Oswald abgeht, ich flieg jetzt zu meinem Mann. Hab keinen Bock auf das, was in Deutschland jetzt abgehen wird, ehrlich nicht. Er wird echt krass drauf sein. Du kannst doch Auto fahren, oder?“

„Äh, ja“, meinte ich perplex.

Ich würde allein sein. In Moskau. Und Oswald würde wahrscheinlich jede Sekunde bemerken, die ich zu spät kam. Und bei seiner schlechten Stimmung würde ich hart für jede einzelne bezahlen. Und es würde sich lohnen. Ich würde nie wieder so eine Gelegenheit bekommen.

„Ich weiß, ich könnte auch einfach zu Flughafen laufen, aber ich find’s in so nem Schlitten schon cooler. Außerdem ist es kalt. Klar, ich merk das nicht mehr so wie früher, aber ich weiß, dass es kalt ist und das ist echt schon genug. Was für’n Wetter die wohl gerade in New York haben? Wahrscheinlich genauso beschissen. Aber jetzt kommt ja bald der Frühling! Boa, wie ich mich drauf freue, wenn es endlich wieder richtig warm wird. Ich hab genug von diesem beschissenen Wetter. Und da redet man von Klimaerwärmung! Also ich merk ja nix…“

Tamara plapperte fröhlich vor sich hin, während ich aus dem Fenster sah. Ja, es war kalt, aber die ersten Zeichen des Frühlings waren schon deutlich zu sehen. Noch ein, zwei Wochen, dann würde der Schnee vollkommen geschmolzen sein. Aber viel wichtiger war jetzt erst einmal, dass ich zu meinen Großeltern kam. Es war an der Zeit, dass ich mal etwas Licht ins Dunkeln meiner Vergangenheit brachte. Je schneller ich das in Erfahrung brachte, desto schneller könnte ich das vampirische Selbst meines Bruders da hinschicken, wo es hingehörte. Je eher ich das hinter mich brachte, desto besser.

Der Wagen stoppte und ich stellte überrascht fest, dass wir bereits am Flughafen waren.

„So, jetzt schaffe ich meine hübschen Hintern besser so schnell wie möglich in das nächste Flugzeug, dass dieses Mal niemand mir mehr Stress machen kann, solange ich noch auf demselben Kontinent bin. Viel Glück mit Oswald, Menschlein. Sag und tu ja nichts Falsches, das könnte dich krass schnell den Kopf kosten. Tschau.“

Und weg war sie, ohne auch nur eine Antwort von mir abzuwarten. Nicht dass ich eine gehabt hätte. Langsam fädelte ich den Wagen wieder in den Verkehr ein und fuhr zurück in die Stadt. Ich hatte mir am Abend zuvor tatsächlich noch die Adresse notiert, in der dummen Hoffnung, dass mich meine Reise nach Moskau nicht in den Tod sondern zu meinen Großeltern führen würde. Anscheinend war diese Hoffnung doch nicht so dumm gewesen. Aber aus einer dummen Angst heraus gab ich die Adresse nicht in das Navigationsgerät ein, sondern schaltete es aus und nahm sogar den Akku heraus. Ironischerweise machte mich die „neue“ Technik immer etwa paranoid, obwohl ich mit ihr aufgewachsen war. Also hielt ich schließlich nochmal an und kaufte mir am Flughafen einen Stadtplan und ließ mir von einer netten Frau an der Information, die sich tatsächlich ausgezeichnet in Moskau auskannte, den Weg beschreiben. Eine knappe halbe Stunde später – ich hatte auch noch tatsächlich etwas gegessen – saß ich wieder im Wagen und meine Fahrt ging weiter. Es war merkwürdig wieder in Moskau zu sein. Ich erkannte einige Straßenzüge und Gebäude wieder und ich stellte fest, dass selbst obwohl ich nur zwei Tage in der Stadt verbracht hatte, ich das Leben, wie ich es dort geführt hatte, vermisste. Für ganz kurze Zeit war alles wieder in Ordnung gewesen. Ich war nicht auf der Flucht gewesen, keiner hatte mich verfolgt, ich hatte nicht mein Leben und meine Familie hinterfragt.

Aber die Rache an Constantin war mir wichtiger, als jedes noch so schöne Leben. Er hatte meiner Familie zu viel Leid beschert, als dass ich ihm noch weiter sein Dasein gestatten konnte.

Mein Handy klingelte und ich fuhr vor Schreck zusammen. Hastig nahm ich ab.

„Was?“, zischte ich, ohne nachzufragen, wer am anderen Ende der Leitung war.

Ich musste es auch nicht, schließlich gab es nur eine Person, die diese Nummer hatte.

„Kleines, wir müssen dringend mal darüber reden, dass du die ganze Zeit ohne ein Wort zu uns mit den Vampiren abhaust.“

„Was kann ich dafür, dass sie euch nicht besonders leiden können?“, seufzte ich schwer.

Ich hatte wirklich keine Nerven für diese Diskussion.

„Dann sag uns doch einfach, was wir falsch machen Kleines.“

„Ich weiß es doch auch nicht.“

„Also, wo bist du Kleines?“

„Moskau.“

„Moskau?!  Kleines, wie kam es denn dazu?“

„Mikhail hat in seiner Stellung als Constantins Vertreter Oswald zu sich gerufen, um ihn für seine Taten im Hospital zu rügen. Als Strafe hat er ihm die Zwillinge weggenommen, du solltest dir also in seiner Gegenwart deine blöden Sprüche verkneifen.“

„Moment moment, eins nach dem anderen Kleines. Du warst bei Mikhail? Hat er dich etwa gesehen?“

Ich schnaubte amüsiert.

„Ich stand direkt vor ihm und er hat mich unter meiner Jägermaske nicht erkannt. Echt genial übrigens, diese Dinger. Warum benutzen wir sie in Amerika eigentlich nicht?“

„Weil sie schon etwas auffällig sind und hier sowieso alle Angst vor Terroristen haben, Kleines. Und er hat dich wirklich nicht erkannt?“

„Er hat sich nicht einmal für mich interessiert. Sein Hauptaugenmerk lag auf Oswald. Die beiden scheinen sich nicht sonderlich grün zu sein.“

„Gibt es überhaupt einen Alten, der Oswald leiden kann? Mir fällt nämlich keiner ein, Kleines.“

„Wie wär’s mit den Zwillingen?“, fragte ich spöttisch.

„Verwechsele Ergebenheit niemals mit Zuneigung, Kleines. Das kostet dich sonst noch einmal den Kopf. Aber du hast gesagt die Zwillinge wurden Oswald abgenommen? Was meinst du damit Kleines?“

„Dass sie die nächsten einhundert Jahre für Mikhail arbeiten werden.“

„Das ist eine harte Strafe, wenn man bedenkt, dass er nur ein paar Vampirblut umgebracht hat.“

„Nun, die Strafe war auch mehr auf die Tatsache bezogen, dass ich versucht habe Constantin anzugreifen“, gestand ich Zähneknirschen und Luca lachte.

„Ja, das hätte ich mir doch eigentlich denken können, nicht wahr Kleines? Aber wann bist du denn wieder hier?“

„Um ehrlich zu sein wollte ich noch einen kleinen Zwischenstopp einlegen.“

Luca verstand sofort.

„Ah, du willst bei deinen Großeltern vorbeischauen Kleines. Heißt das etwa, du bist allein?“

„Oswald hat alleine den Privatjet genommen und Tamara hab ich am Flughafen abgesetzt. Jetzt liegt es an mir den Wagen zurück nach Deutschland zu bringen.“

„Also heißt das Kleines, wir sollen Oswald bei Laune halten, bis du wieder zurück bist.“

Es war eine Feststellung, keine Frage.

„Nun, ich an eurer Stelle würde ihm ja aus dem Weg gehen.“

„Wir sind doch…“

Ich schnitt ihm sofort das Wort ab.

„Jaja, mir schon klar. Aber wenn es dich nicht weiter stört, würde ich jetzt auflegen. Ich bin gleich da.“

„Klar, kein Problem Kleines. Meld‘ dich, wenn du Ärger hast.“

„Immer“, meinte ich mit einem Schmunzeln und legte auf, denn die Straßenbeschilderung forderte nun meine volle Konzentration.

Ich fuhr einmal quer durch die Stadt in einen der eindeutig besser betuchten Randbezirke der Stadt. Es dauerte eine Weile, dann fand ich schließlich das richtige Haus und stellte direkt vor der Einfahrt den Wagen zu dem gepflegten kleinen Herrenhaus ab. Dann atmete ich tief durch. Ich hatte keine Ahnung, was ich sie genau fragen wollte oder was ich tun würde, wenn sie gar nicht erst zuhause wären. Aber noch viel wichtiger war die Frage: Sollte ich meine Dadao mitnehmen? Denn diese waren wirklich sehr auffällig. Ich überlegte lange, grübelte, und entschloss mich schließlich dagegen sie zu tragen. Meine versteckten Messer mussten wohl oder übel ausreichen. Schließlich ging ich auch nicht in ein Haus voller Vampire, auch wenn mir das im Moment tatsächlich lieber gewesen wäre. Denn auch wenn diese Menschen meine Großeltern – wenn auch nicht leiblichen – waren, so hatte ich sie doch noch nie getroffen. Was würden sie sagen, wenn ich so plötzlich vor der Türe stand? Würden sie überhaupt mit mir sprechen? Beging ich gerade einen riesigen Fehler?

Ich mahnte mich selbst sofort mit diesem Unfug aufzuhören, denn das machte die Sache auch nicht besser und beantwortete mir keine meiner Fragen. Ich riss mich zusammen und stieg aus dem Wagen aus. Gemächlichen Schrittes ging ich die lange Auffahrt hinauf. Das Knirschen des Kieses unter meinen Stiefeln machte mich beinahe verrückt und ich musste darauf Acht geben nicht meinen Schritt zu beschleunigen. An der Tür angekommen blickte ich lange auf das Klingelschild mit dem Namen „Young“ darauf und starrte ihn an. So lange war meine Familie schon tot und ich hatte geglaubt nun allein zu sein und jetzt lag ein Teil dieser totgeglaubten Familie nur einen Knopfdruck von mir entfernt. Ich riss mich zusammen und betätigte die Klingel.

Kapitel 33 - Eine Geschichte über die Vergangenheit

Einen unendlich langen Augenblick geschah überhaupt nichts. Dann öffnete sich die schwere Eingangstüre langsam und ich stand einer alten Frau gegenüber. Sie musste wohl Anfang achtzig sein, ihre Haltung war leicht gebeugt, ihre Haut runzlig, was aber nicht verbergen konnte, dass sie von Narben übersäht war, und ihre Augen müde. Sie trug einen hellgrauen Rollkragenpullover aus Wolle und einen schwarzen, knöchellangen Rock.

Erschöpft richtete sie das Wort auf Russisch an mich und ich stoppte rasch meine Musterung, um mit ihr zu Sprechen.

„Miss Young?“, fragte ich zögerlich und ihr Gesicht wurde sofort wacher, als ich sie auf Englisch ansprach.

„Ja Mädchen, was willst du?“

„Mein Name ist Samantha Ariana Anderson.“

Und plötzlich änderte sich ihr Gesichtsausdruck vollkommen, wurde erst fassungslos, dann erfreut und schließlich skeptisch.

„Das sagt mir noch immer nicht, was du hier willst.“

„Antworten.“

„Die soll dir deine Mutter geben.“

Sie sagte es zwar, aber ich sah meiner Großmutter an, dass sie selbst schon wusste, warum ich nicht meine Mutter, sondern sie fragte, aber sie musste es mit eigenen Ohren hören, bevor sie es glauben konnte.

„Sie ist gestorben.“

Meine Großmutter verzog keine Miene.

„Wann?“

„Vor drei Jahren schon.“

„Wie?“

Ihre Stimme brach ein winziges kleines Bisschen am Ende des Wortes und das veranlasste mich auch dazu ihr die gesamte Wahrheit zu sagen, wovon ich nach meinen Gesprächen mit Constantin fest überzeugt war.

„Eine Vergeltungsaktion der Vampire. Sie haben das Haus mit einer Gasexplosion in die Luft gejagt.“

Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen, dann trat sie einen Schritt in der Tür zurück.

„Komm rein Samantha.“

Die klassische Schlichtheit, die das Haus von außen zeigte, setzte sich auch im Inneren fort, sodass die Einrichtung fast karg, spartanisch wirkte. Zumindest sah es hier nicht so aus, wie man sich das Haus einer Großmutter vorstellte. Die einzige Dekoration an den Wänden waren teilweise uralte Portraitzeichnungen, die wahrscheinlich meine Vorfahren darstellten. Keiner von ihnen sah besonders freundlich drein. Als wir das Wohnzimmer betraten, mit den alten, wahrscheinlich unendlich kostbaren Möbeln, sah ich zum ersten Mal Anzeichen, dass in dem Haus irgendjemand auch wirklich lebte, denn überall waren Zierdeckchen und neben einem dampfenden Teeservice lag ein aufgeschlagenes Buch. Meine Großmutter bedeutete mir mich zu setzen und goss mir eine Tasse ein. Erst dann richtete sie wieder das Wort an mich.

„Also Samantha, was wolltest du wissen?“, fragte sie und lehnte sich auf dem Sofa zurück.

„Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll“, gab ich erstaunt zu.

„Der Anfang bietet sich dazu immer ganz gut an.“

Aber welcher Anfang? Meine Kindheit oder wann ich zum Vampirjäger wurde.

„Als Mom und Dad und meine Brüder starben…“, ich schluckte, „da wusste ich nicht, was geschehen war. Ich weiß nicht wie, aber sie hatten es geschafft es all die Jahre vor mir geheimzuhalten. Ich zog fort, weil ich einfach nicht mehr dort bleiben konnte, aber die Vampire hatten die Suche nach mir noch nicht aufgegeben. Anscheinend sollte die Rache nach Mom und Dad auch noch unbedingt ihre Kinder miteinschließen. Sie fanden mich circa ein halbes Jahr später, überfielen meine Freunde und mich und töteten sie alle. Dann schritt eine Gruppe von Vampirjägern ein und rettete mich. Ihr Anführer, Darius, klärte mich schließlich auf und ich beschloss mich ihnen anzuschließen. Ich zog zurück in die Nähe von L.A. und zweieinhalb Jahre fristete ich ein einigermaßen ruhiges und friedliches Leben, jagte Vampire und studierte Jura. Bis die, die mich gesucht hatten, mich vor etwa sechs Wochen erneut fanden. Es war Mikhail, der Russe. Ich versuchte zu fliehen, doch er fing mich fast sofort wieder ein und brachte mich zu Constantin nach Moskau. Der erzählte mir, dass er Papa gekannt hatte, aber sagte mir nicht, warum er mich noch festhielt und nicht einfach tötete. Ich befand mich dort einige Zeit, bevor mir eine menschliche Angestellte half zu fliehen. In Moskau trat ich mit der dortigen Vampirjägerzentrale in Kontakt, doch weil Constantin schon wieder nach mir suchen ließ, brachten sie mich fort, nach Brasilien, auf eine kleine, einsame Insel. Sie wollten, dass ich dort ausharrte, doch als das erste Versorgungsboot kam, ergriff ich die Chance und floh. Der Vampirjäger, den ich überwältigt hatte, stellte sich als Luca Foresta heraus, den man ebenfalls ins Exil geschickt hatte. Wir beschlossen uns gegenseitig zu helfen und so flogen wir nach Frankreich, um Lucas letzten Auftrag zu vollenden und Pascal Ledoux zu töten. Ich schlich mich bei den Angestellten ein und da ich mich zum ersten Mal in der Gegenwart von Alten befand, muss ich zugeben, dass es mich etwas verwirrte. Einer der anderen menschlichen Angestellten tötete dann Pascal, bevor wir es konnten, und wir nahmen ihn mit uns nach Deutschland, wo es auch noch Lucas Auftrag gewesen war Oswald zu töten. Inzwischen war auch noch Roman Kosloff zu uns gestoßen und wir begaben uns gemeinsam, als Pascals Geschenke, in Oswalds Dienst, der uns annahm wegen der unruhigen Zeiten. Als ich mit einem seiner vampirischen Diener, Tigris, dem Hospital einen Besuch abstattete, tötete ich Nikolas. Auch wenn Oswald nicht erfuhr, dass ich es getan hatte, so war er doch außer sich vor Wut und kehrte mit uns zurück, um das gesamte Hospital abzumetzeln. Dort…“, ich riss mich zusammen, denn ich musste es sagen, „dort fanden wir unter den Vampiren Andreas, den sie von den Toten zurückgeholt hatten, damit sie mich finden konnten. Aus Wut versuchte ich Constantin, der in einer Art Koma im Hospital lag, zu töten, aber ich schaffte es nicht. Aus diesem Grund ließ Mikhail Oswald zu sich rufen, da ein Angriff auf Constantin für ihn unverzeihlich war. Als Strafe nahm er Oswald die Zwillinge. Erzürnt darüber flog Oswald sofort zurück nach Deutschland und ich nutzte die Chance den Wagen zurückfahren zu müssen, um dir einen Besuch abzustatten, weil Andreas mir einige Dinge gesagt und ich einiges festgestellt habe, was Fragen aufwirft, auf die ich allein keine Antwort finde.“

Das war es, das war alles, was ich in den letzten sechs Wochen erlebt hatte. Bis auf die Traumbesuche, aber die würde ich meiner Großmutter bei gegebener Zeit zumuten.

„Es gibt da eine Sache, die die Alten, die mich getroffen haben, immer wieder betont haben, und das war die Sache, dass ich alles war, nur aber nicht menschlich…“

Ich brachte es nicht über mich direkt zu fragen und meine Großmutter seufzte erschöpft.

„Es wäre die Aufgabe deiner Eltern gewesen mit dir darüber zu reden. Sie wollten es tun, wenn du alt genug bist, aber wie es scheint, hatten sie sich dagegen entschieden.“

„Du weißt also, was ich bin?“, fragte ich aufgekratzt.

Zu meiner unendlichen Enttäuschung, schüttelte sie den Kopf.

„Nein Samantha, es tut mir leid. Aber ich kann dir sagen, wie du zu meiner Tochter und zu meinem Schwiegersohn gekommen bist.“

Gierig darauf, auch nur auf die winzigste Frage eine Antwort zu finden, blickte ich sie neugierig an.

„Vor knapp vierundzwanzig Jahren, war in Europa plötzlich die Hölle los, im wahrsten Sinne des Wortes. Lange wussten wir nicht wieso alle Vampire, ausnahmslos, in heller Aufruhr waren und sich kein einziger von ihnen auf einen Kampf mit uns einließ. Sie waren auf der Suche, mehr wussten wir auch nicht, und das machte uns Angst, denn was konnte es sein, dass die Vampire so endgültig gefangen nahm? Es dauerte fast ein halbes Jahr, bis wir den Grund dafür erfuhren in einer einmaligen Situation, wie sie vorher noch nie dagewesen war. Die Vampire baten uns um Hilfe, nein, sie verlangten sie viel mehr. Es war widersinnig und verrückt, doch der Große Rat stimmte zu, in der Hoffnung endlich Frieden zwischen Vampiren und Menschen zu schaffen. Und so erfuhren wir, dass sie nach zwei der Ihrigen suchten. Zwei Vampiren, uralt an Jahren, die ausgebrochen waren aus ihren Zellen, in die sie eingesperrt worden waren für Taten, die wir uns nicht einmal erträumen wollten. Das zumindest behaupteten die Vampire. Und wir glaubten ihnen, schließlich hatten diese beiden sie sogar dazu getrieben um unsere Hilfe zu bitten. Unsere Besten wurden ausgesucht, um an der Seite ausgewählter Vampire nach den Beiden zu suchen, darunter auch deine Eltern. Sie brauchten ungefähr ein weiteres halbes Jahr, und die geflohenen Vampire schließlich in die Enge zu treiben. Es kam zu einer Schlacht und ja, dieser Begriff ist zutreffend, auch wenn unser Feind nur aus zwei Vampiren bestand, so fuhren wir eine ganze Armee auf. Und in dieser Schlacht erfuhren wir, warum die Vampire um unsere Hilfe in diesem Kampf gebeten hatten. Nicht, weil wir die Suche nach ihnen perfektioniert hatten, sondern weil sie Bauernopfer neben den Vampirblut gegen diese beiden so unendlich stark wirkenden Vampire brauchten. An diesem Tag starben so viele, sowohl von uns, als auch von ihnen. Keiner von uns hatte jemals zuvor eine solche Stärke gesehen, nicht einmal annähernd. Und dann gelang deinem Vater schließlich das Unmögliche: Er pfählte einen der Vampire, den Mann. Daraufhin versuchte die Frau zu fliehen, aber eine Alte, Zora, stellte sich ihr in den Weg, einer der wenigen Vampire, die noch einen Funken Anstand im Leib hatte. Leider war sie keine besonders gute Kämpferin und im nächsten Wimpernschlag war ihr Genick gebrochen. Nikolas stürzte sich keine Sekunde später auf sie und riss ihr den Kopf ab. Und dann war es vorbei, aber aus irgendeinem Grund schienen die Vampire noch nicht zufrieden und da wurden wir das erste Mal skeptisch. Unbemerkt verschwanden deine Eltern in die Richtung, in die die Frau hatte fliehen wollen, während die anderen Jäger die Vampire ablenkten. Sie fanden eine versteckte Höhle und in einer Nische sorgsam versteckt ein circa drei Monate altes Baby, dich Samantha. Das stellte sie vor ein großes Rätsel, denn Vampire konnten keine Kinder bekommen. Die einzige logische Erklärung war, dass die Vampire das Kind magiebegabter Wesen in die Finger bekommen hatten und diese beiden Vampire versucht hatten es davor zu beschützen benutzt zu werden. Wahrscheinlich hatten die beiden zuvor die schwangere Magiebegabte geschützt, was mit ihr geschehen war, konnten wir uns nicht erklären, aber deine Eltern beschlossen die Aufgabe der beiden getöteten Vampire fortzuführen und nahmen dich mit sich. Aber sie waren sich auch sicher, dass die Vampirjägervereinigung ihnen dich wieder abnehmen würden, wenn sie ihnen die Wahrheit über dich verrieten, also kamen sie zu mir, da sie dich nicht ohne Papiere nach Amerika bringen konnten. Ich half ihnen und riet ihnen sich auch in Amerika bedeckt zu halten. Sich von der Vampirjagd zurückzuziehen, wenn sie wirklich dazu in der Lage sein wollten dich zu beschützen. Schließlich waren sie sogar gezwungen ihre Identität zu wechseln, aber wie es scheint haben sie euch am Ende doch gefunden.“

Ich ließ mich auf dem Sessel zurückfallen. Das war sie also, die Wahrheit darüber, wo ich herkam. Oder zumindest, wie ich zu meinen Eltern gekommen war. Es war viel, ja, aber mit den Grundzügen hatte ich ja bereits gerechnet. Nur dass ich nicht von einer klassischen Adoptionsstelle adoptiert worden war, aber damit konnte ich leben. Und jetzt wusste ich auch sicher, warum die Vampire so besessen von mir waren. Was die nächste Frage aufwarf.

„Was unterscheidet denn magiebegabte Wesen von uns? Sind sie auch unsterblich?“

„Nein, nur die wenigsten. Es ist ein Wissen, dass seit Jahrhunderten wohl gehütet ist und ich verlange auch von dir, dass du es für dich behältst Samantha, hast du das verstanden? Du darfst es wirklich niemandem erzählen.“

Ich nickte, wenn auch etwas ängstlich und neugierig zugleich.

„Jedes magiebegabte Wesen, ausnahmslos, ist in der Lage Portale zu den anderen Welten zu öffnen.“

Okay, das war mir jetzt eindeutig zu viel.

„Was?“, war alles, was ich hervorbrachte.

„Ja Samantha, und vor langer Zeit sind einmal die Vampire durch sie von ihrer Welt zu uns gekommen. Oder was dachtest du, woher sie kommen? Wesen, die sich so extrem von allem anderen hier in unserer Welt unterscheiden, die einfach nicht in das Konzept unserer Welt zu passen scheinen. Es heißt, das Leben in ihrer Welt sei unmöglich geworden und sie mussten fort, sie hatten keine Wahl als sie zu verlassen. Wie sie die Fähigkeit verloren die Portale zu öffnen, das weiß keiner, nun, zumindest hat es mir keiner erzählt.“

„Also leben in diesen Welten solche Dinge wie Nixen?“, fragte ich auf das Wesen zurückgreifend, von dem die Vampire es am wahrscheinlichsten fanden, dass ich es war.

„Genau“, meinte meine Großmutter mit einem schwachen Lächeln.

„Und woher weiß ich, was genau ich bin?“, fragte ich skeptisch.

„Nun, dein menschliches Aussehen ist schon einmal ein Hinweis. Leider kenne ich mich mit diesem Thema nicht besonders gut aus, auch wir wissen nur sehr wenig darüber. Man bekommt magiebegabte Wesen nur sehr selten zu Gesicht und eigentlich sprechen sie auch nicht mit einem. Das meiste unseres Wissens besteht aus Vermutungen und getroffenen Annahmen. Aber wir würden gerne wissen, warum sie uns so meiden.“

„Und woher weiß ich dann eigentlich, dass ich wirklich ein magiebegabtes Wesen und nicht doch nur ein Mensch bin?“

„Nun Samantha, du selbst meintest doch, dass die Vampire sagten du seist alles, außer menschlich. Sie haben einen um einiges feineren Geruchssinn als wir. Wenn sie sagen du bist kein Mensch, dann ist das auch so.“

„Aber sie konnten auch nicht herausfinden, was ich war. Heißt das nicht, dass sie sich vielleicht auch einfach nur irren?“

„Es ist viel wahrscheinlicher, dass wir deiner Spezies zuvor einfach noch nie begegnet sind, so wenig Kontakt wie wir zu magiebegabten Wesen haben.“

„Und wie schaffe ich es so ein Portal zu öffnen?“

„Würden die Vampire so nach dir suchen, wenn sie das wüssten? Nein, und sowohl für Menschen, als auch Vampire ist es unmöglich. Warum auch immer, aber wir sind nicht dazu in der Lage. Einige haben schon versucht magiebegabten Wesen durch die Portale zu folgen. Aber wenn der Öffner des Portals es nicht möchte, dann ist es unmöglich.“

Kapitel 34 - Die Vampirjägervereinigung

„Warum wollen sie eigentlich überhaupt durch diese Portale?“

„Bist du denn nicht neugierig Samantha?“

Ich überlegte einen Moment. Natürlich war ich neugierig auf die Leute, die so waren wie ich, das stand außer Frage, aber was würde es alles nach sich ziehen, wenn ich lernte die Portale zu öffnen? Einen Moment war ich abgelenkt von der Tatsache, dass ich die Existenz von Portalen und anderen Welten einfach so hinnahm, aber ich war mir ziemlich sicher, dass der Zusammenbruch noch kommen würde, wenn auch verspätet.

„Ich weiß nicht, ob es es wert ist. Dann wäre ich wie die anderen nicht mehr hier sicher.“

„Ist das nicht schon längst so?“

Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Meine Großmutter hatte Recht, oder? Ich war auf der Flucht, hatte meine Identität ändern müssen und versteckte mich nun im Dienst eines Vampirs. Ich hatte zwar vor mich meines Problems, Constantin, zu entledigen, aber jetzt, da auch andere Vampire wussten oder zumindest vermuteten, dass ich ein magiebegabte Wesen war, würde ich dann je meine Ruhe haben? War das überhaupt noch möglich? Aber ich wusste nun einmal auch nicht, was mich auf der anderen Seite dieser Portale erwartete. Ob es da besser für mich werden würde. Da stellte sich mir eine Frage.

„Woher weißt du eigentlich von den Portalen?“

„Ich bin Mitglied des Großen Rates.“

Das saß. Damit hatte ich nicht gerechnet. Meine Großmutter, Mitglied des mächtigsten Organs der Vereinigung. Langsam musste ich wirklich zusammenbrechen. So viel Information konnte ich einfach nicht verkraften. Oder einfach wie die Portale in einem Fach ganz weit hinten in meinem Hirn zu verstecken, wo es dann zu einem späteren Zeitpunkt hervorbrechen konnte.

„Darfst du mir das eigentlich überhaupt erzählen?“, fragte ich dann schließlich nach einem Moment der Stille.

„Wer sollte mich denn zur Rechenschaft ziehen?“, fragte sie mich zu meiner großen Überraschung amüsiert.

Mir fiel nichts darauf ein.

„So ohne zu Zögern wir Vampire töten, so viel Skrupel haben sie einem Menschen, besonders einen Jäger, auch nur ein Haar zu krümmen. Unser Konstrukt ist fragil und wenn es in sich zusammenstürzt, dann haben wir wieder Chaos wie damals.“

„Die Vereinigung ist schon einmal zerfallen?“

„Mehr als einmal, wie gesagt, das Konstrukt ist wacklig und inzwischen sind sie so weit, dass sie eigentlich niemandem mehr vertrauen, was die Vereinigung nicht gerade stärkt. Gerade jetzt, wo es endlich einmal wieder, nach so langer Zeit, Unruhen in der Hierarchie der Vampire gibt.“

„Unruhen?“

„Pascal und Régine Ledoux sind untergetaucht, Constantin wird plötzlich durch Mikhail den Russen vertreten und alle Bewohner des Hospitals getötet. Es macht ihnen Angst, lässt sie unruhig und unvorsichtig werden. Und wie du mir erzählt hast, warst du für das meiste mitverantwortlich.“

„Nicht ganz“, gab ich zähneknirschend zu und meine Großmutter sah mich überrascht an.

„Eigentlich bin ich für alles mitverantwortlich, denn ich war es, die Constantin während eines Traumbesuches verletzt hat und seit dem liegt er in dieser  Art Koma.“

Nun war es an meiner Großmutter für einen Moment sprachlos zu sein.

„Und da behauptet man noch der Große Rat wisse über alles Bescheid.“

„Nun, da ich ja offiziell noch in Brasilien sein sollte und mich mit meiner Reise nach Frankreich der Vereinigung widersetzt hatte, war es mir nicht so eilig damit sie über irgendetwas zu informieren.“

„Wo genau in Brasilien warst du denn überhaupt?“

„Auf einer kleinen Insel vor der Küste von João Pessoa, wieso?“

Meine Großmutter schüttelte den Kopf.

„Nun, wer auch immer in der Vereinigung dich dort hingeschickt hatte, wusste sehr genau, wer deine Eltern waren.“

„Wie kommst du darauf?“, fragte ich, obwohl ich schon die Antwort erahnen konnte.

„Weil dieses Sicherer Haus deiner Mutter gehört hat.“

„Bist du dir da sicher? Ich meine, es gibt sicher mehr als eine Insel dort vor der Küste und es kann doch auch sein, dass andere Jäger dort ihr Sicheres Haus haben.“

„Ich glaube nicht an Zufälle Samantha, und das solltest du auch nicht, wenn du in dieser Welt überleben willst.“

„Also war das wirklich Moms Haus?“, fragte ich kleinlaut.

„Ja, ich hab es ihr schließlich zu ihrem ersten getöteten Vampir geschenkt.“

„Aber warum sollte man mich dort hinschicken?“

, vielleicht aber auch nicht.“

Ich lehnte mich auf dem Sofa zurück und fuhr mir erschöpft mit der Hand durch die Haare.

„Kommst du klar Samantha, oder ist das alles ein bisschen zu viel für dich?“

„Um ehrlich zu sein bin ich mir da noch nicht so ganz sicher. Ich glaube, ich muss dass alles erst einmal verarbeiten.“

„Konnte ich denn dir deine Frage soweit schon einmal beantworten?“

„Ja, aber leider hast du mir mindestens doppelt so viele neue Fragen mit auf den Weg gegeben.“

Meine Großmutter lächelte schwach.

„Das Leben wäre doch langweilig, wenn es uns direkt mit der Lösung serviert werden würde.“

Ein halbes Lächeln stahl sich auch auf meine Lippen.

„In mein altes Leben vor der Jagd könnte ich nicht mehr zurück, das stimmt.“

„Und wie sehen deine Pläne eigentlich aus?“

„Nun, wir wollen erst Oswald töten und uns anschließend Constantin vornehmen. Danach haben Luca und ich hoffentlich wenigstens etwas Frieden.“

„Fürchtet ihr euch denn nicht vor Vergeltungsaktionen seitens der Vampire?“

„Darüber habe ich auch schon nachgedacht, aber dabei besteht wenigstens noch die Chance, dass die Vampire uns aus Angst fernbleiben. So wie es gerade ist, werden sie mich ganz sicher nicht in Ruhe lassen.“

„Deine Eltern glaubten auch, dass wenn sie nur furchterregend genug wären, sie nichts zu befürchten hätten und du siehst, was daraus geworden ist. Fakt ist, dass wenn man einmal ein Jäger war man auch immer einer bleiben wird, egal ob heres oder famulus, das spielt keine Rolle.“

„Dann sag mir, was ich sonst tun soll.“

„Es tut mir leid, aber für deine Situation gibt es leider kein Vorgangsschema, an das du dich halten könntest. Natürlich gab es schon vor dir magiebegabte Wesen, die in unserer Welt aufgewachsen waren, aber das ist nie besonders gut ausgegangen.“

„Nie besonders gut ausgegangen?“, fragte ich zögerlich nach.

„Nun, die meisten wurden gewalttätig, weil sie als Kinder geraubt worden waren, und es als ihre Pflicht sahen Rache zu nehmen. Der Rest hat sein Leben in dem Streit zwischen Vampiren und Jägern um sie verloren.“

„Großmutter…“, ich zögerte, aber diese Frage brannte mir schon so lange auf der Seele und jetzt endlich saß hier jemand vor mir, der vielleicht sogar eine Antwort darauf hatte, „Es ist mehr ein Krieg, oder?“

Ihr Lächeln wurde traurig.

„Damals wie heute ist es nur das Ziel der Jäger die Vampire zur Strecke zu bringen, die Menschen wahllos töten. Damals, weil wir ihnen auch ihr Recht auf Existenz eingeräumt haben. Heute, weil wir schlicht und ergreifend nicht dazu in der Lage wären sie auf einen Schlag auszurotten. Und weil wir festgestellt haben, dass egal wie anständig ein Vampir auch sein mag, er früher oder später, und leider meistens früher, jeglichen Anstand fahren lässt und zum Monster wird.“

„Das hört sich so an, als ob du es selbst erfahren hättest.“

„Nein Samantha, das habe ich nicht, aber es wurden genügen dieser Geschichten aufgezeichnet. Trauriger- und klischeehafterweise handelte es sich meistens um eine unglückliche Romanze.“

Ich schnaubte wenig amüsiert und etwas angewidert.

„Ich bin da ganz deiner Meinung, und dass es auch noch Jäger gewesen waren, die sich hatten verleiten lassen, macht die ganze Geschichte noch viel enttäuschender.“

„Ich verstehe nicht, wie man so naiv sein kann.“

„Nun, Liebe macht ja bekanntlich blind. Sogar gegenüber der Tatsache, dass unsterbliche Wesen wie Vampire mit dem Begriff Liebe nichts mehr anfangen können. Zumindest in dem Sinne, in dem wir es verstehen.“

„Was passiert denn mit solchen Liebchen, wenn die Vampire das Interesse an ihnen verlieren?“

„Nun, wenn es normale Menschen sind, dann ist das unser Stichwort und wir versuchen sie irgendwie aufzufangen, aber wenn es einer von uns ist… diese Person hat eigentlich keine Chance mehr auf eine Aufnahme in unsere Reihe. Diese Menschen sind für uns Verstoßene, der Kontakt zu ihnen unerwünscht. Es ist hart, ja, aber wir haben auf die unangenehme Weise gelernt, dass es so das Beste ist. So ungern ich diesen Ausspruch verwende, aber ihr Gedankengut ist unwiderruflich vergiftet. Sie zögern und wie du weißt Samantha, bedeutet das für uns den Tod. Eine solche zusätzliche Gefahrenquelle können wir uns nicht leisten.“

„Und die Vampire lassen sie einfach so gehen?“, fragte ich ungläubig.

„Die meisten, ja. Wovor sollten sie sich auch fürchten? Diese Menschen sind ihnen in der Regel völlig ergeben. Nur wenigen zeigen genug Erbarmen, um sie zu töten.“

Ich wusste nicht, ob ich in dieser Sache mit meiner Großmutter einer Meinung war, aber ich hatte so ein Vampirliebchen auch noch nie kennengelernt. Vielleicht würde eine solche Begegnung auch meine Einstellung ändern.

„Und einige wenige, meist sehr junge, naive Vampire, verwandeln ihren menschlichen Geliebten.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich meine, selbst wenn man sich als Jäger so verwirren lassen sollte eine romantische Beziehung zu einem Vampir einzugehen, so sollte man doch vor dieser einen Sache zurückschrecken!“

„Oh, zu damaligen Zeiten ist es häufiger vorgekommen, als es die Vereinigung guten Gewissens zugeben kann.“

Ich konnte nicht verhindern, dass mir die Kinnlade herunterklappte.

„Wirklich?“, fragte ich verdattert.

„Oh ja, und es ist noch immer ein ernsthaftes Problem. Weniger in Amerika, aber hier in Europa, mit den vielen alten Vampiren, die es über die Jahrhunderte perfektioniert haben Frauen zu verführen. Es ist ein weit verbreitetes Hobby von ihnen. Gott sei Dank können keine Kinder aus diesen Verbindungen entstehen.“

„Aber, was halten denn die anderen Vampire von ihresgleichen, die solch eine Beziehung eingehen?“

„Solange sie den Menschen wie ein Spielzeug behandeln oder ein Tier, stellt es für sie kein Problem dar. Aber die meisten machen solch eine Beziehung sowieso nicht publik, also stellt sich diese Frage nicht.“

„Und es gab wirklich Vampire, die ihre Liebchen verwandelt haben?“

Das war eine Tatsache, die mich einfach nicht losließ. Natürlich, das war eines der größten und am weitesten verbreiteten Klischees – besonders in der Belletristik – was Vampire betraf, aber irgendwie hatte ich immer gehofft, dass es nur ein Gerücht war.

„Oh ja. Der wohl bekannteste Vampir, der sich diesen Fauxpas geleistet, ist Constantin, auch wenn es bei ihm keine Jägerin, sondern einfach nur eine gewöhnliche Frau gewesen war.“

 

Kapitel 35 - Von Vampiren und Schergen

Bevor ich im Hospital in seinem Kopf gewesen war, wäre ich wahrscheinlich noch überrascht gewesen, aber jetzt erschien es fast schon logisch.

„Was ist mit ihr passiert?“

„Ich weiß auch nicht viel darüber, die Sache ist schon sehr lange her, die Unterlagen darüber längst verloren gegangen. Wenn ich mich nicht sehr Irre, muss es um das Jahre null herum, vielleicht aber auch schon dreißig Jahre zuvor, wer weiß das heute schon noch so genau, geschehen sein. Die eine Tatsache, die aber noch sehr klar überliefert wurde, ist, dass sie nach der Verwandlung… verrückt geworden ist. Sie stellte eine so große Gefahr dar, dass es die Vampire selbst waren, die sie töteten.“

„Ich weiß nicht, das scheint so gar nicht zu dem Constantin zu passen, dem ich begegnet bin.“

„Nun, dieser kleine Zwischenfall ist schon deutlich über 2000 Jahre her Samantha. Ein Wesen verändert sich nach so langer Zeit. Wie gesagt, egal wie gut sie einmal gewesen waren, eines Tages ist es damit vorbei.“

Ich nickte und kam zurück auf das ursprüngliche Thema.

„Sag mal, wissen vielleicht die Vampire mehr über magiebegabte Wesen?“

„Ziemlich sicher sogar. Wenn man dem Gerede glaubt, dann ist es ihnen auch schon ein-, zweimal gelungen eines zu fangen. Aber diese haben nie sonderlich lange überlebt. Man sagt die Vampire wurden… ungeduldig.“

Ich konnte nicht verhindern, dass ich kalkweiß wurde. Das also stand mir bevor, wenn ich endlich den Dreh mit den Portalen rausbekommen sollte. Oder vielleicht sogar schon früher, wenn einer der Vampire besonders ungeduldig werden sollte.

„Also sollte ich in dieser Richtung definitiv nicht nachfragen.“

„Das stimmt, du solltest nicht, aber er gibt sonst niemanden, an den du dich wenden kannst. Sie sind die einzigen, die überhaupt in der Lage sind die magiebegabten Wesen aufzuspüren.“

„Und welcher Vampir wird mich wohl am wenigsten schnell umbringen?“, fragte ich mit einem Hauch von Sarkasmus in der Stimme.

„Nun, unter normalen Umständen wäre Oswald keine schlechte Wahl gewesen, aber jetzt, wo ihm die Zwillinge genommen worden sind… er wird unberechenbar sein…“

Plötzlich wurden die Augen meiner Großmutter weit.

„Was?“, fragte ich ängstlich.

„Oswald wird sich Ersatz für die Zwillinge holen.“

„Ja, das hab ich mir schon gedacht. Was ist so schlimm daran?“

„Ich bin mir sicher, er wird sie zu sich holen.“

„Wer ist sie?“, hakte ich nach, als sie nicht weitersprach.

„Ihr Name ist Melisa. Sie war der erste Mensch, den Oswald verwandelt hat und ist sein größter Stolz. Aber wir Jäger nennen sie nur Melisa die Schreckliche, denn sie ist grausam und gewalttätig. Sie steht schon lange auf der Abschussliste, aber bisher ist noch jeder Jäger gestorben, der es versucht hat. Und wir haben auch wenig Hoffnung, dass Insania sie dahinraffen wird.“

„Aber meintest du nicht, dass sie der erste Vampir ist, den Oswald je gewandelt hat? Waren da nicht noch die Ledoux‘ Geschwister?“

„Ja, und noch einige mehr, aber es gibt für die Vampire im Großen und Ganzen zwei Gründe einen Menschen zu verwandeln: Um sich neue Untergebene zu schaffen oder aus Liebe. Die Ledoux‘ hat er aus zweckmäßigen Gründen gewandelt genauso wie jeden anderen bis auf Melisa. Sie hat er immer mehr wie seine Tochter, als seine Dienerin behandelt. Wenn du ihr begegnest, wirst du merken, was das für einen Unterschied macht. Mich persönlich würde interessieren, was er nur an ihr gefunden hat, dass sie in seinen Augen so besonders macht. Auch die anderen Vampire sind nicht besonders begeistert von Melisa, aber sie respektieren Oswald, sonst hätten sie sich schon längst der Kleinen entledigt.“

„Aber wenn sie so besonders für ihn ist, wieso bist du dir dann so sicher, dass Oswald sie als seine Leibwächterin zu sich rufen wird?“

„Weil er ihr vollkommen vertraut. Es ist momentan einfach so unruhig in der Vampirwelt, da würde ich auch niemanden um mich haben wollen, an dem ich auch nur den geringsten Zweifel hege.“

Ich nickte, das konnte ich nachvollziehen.

„Und wie verhält sie sich gegenüber von Menschen?“

„Wie es gerade ihrer Laune entspricht. Wenn sie auch nur die geringsten Anzeichen von Langeweile, Wut oder Ähnlichem zeigt, würde ich so schnell wie möglich ihre Reichweite verlassen.“

Dieser Vampir war ein Faktor, den wir nicht geplant gehabt hatten. Sie würde uns einige Schwierigkeiten bereiten. Am liebsten würde ich sie auf der Stelle töten.

„Wie alt ist sie eigentlich?“

„Geboren wurde sie 1381 in Venedig, gewandelt 1397 ebendort.“

„Woher weiß man das so genau?“, fragte ich überrascht.

„Sie war die Tochter eines reichen Kaufmannes, dessen Familie bis heute gut betucht ist, weshalb alle Familienunterlagen noch existieren. In ihnen ist ihr Geburtsdatum vermerkt, so wie der Tag, an dem sie verschwand.“

„Geraubt oder davongelaufen?“

„Die Familie behauptet geraubt, da sie sich natürlich nicht vorstellen können, dass ihre ehrwürdige Vorfahrin davongelaufen ist, aber ihr Charakter lässt eher darauf schließen, dass sie bewusst gegangen ist. Außerdem hatte die Vereinigung schon damals Oswald im Auge, auch wenn es da noch viel schwerer gewesen war. Sie haben versuch Melisa zu warnen, doch Oswald war schneller und hatte sie schon mit sich genommen. Aber wahrscheinlich hätte sie sie sowieso nur ausgelacht.“

Ich nickte.

„Und wie trete ich ihr dann am besten gegenüber?“

„Nun, wenn sie nicht bemerkt, dass du existierst, dann wäre das schon einmal nicht schlecht. Denn egal wie interessant du für Oswald bist, Melisa bekommt, was sie will.“

„Selbst wenn ich in der Lage wäre Portale zu öffnen?“, fragte ich skeptisch.

„Es wäre ihm zuzutrauen. Auch wenn er versuchen würde sie anderweitig zu  besänftigen. Aber wer weiß, vielleicht würde er da endlich die Grenze ziehen.“

„Vielleicht ist das auch die Lösung.“

Meine Großmutter sah mich fragend an.

„Es zu provozieren. Das Oswald sie endlich einmal in die Schranken weist.“

Sie schenkte mir ein nachsichtiges Lächeln.

„Wenn du das versuchst Samantha, dann wirst du morgen schon tot sein. Bitte hör‘ auf meinen Rat und mische dich nicht in diese eine Sache ein.“

„Okay“, meinte ich zähneknirschend, „aber du hast nichts dagegen, wenn ich ihr den Kopf abschlage?“

Sie schnaubte amüsiert.

„Tu dir nur keinen Zwang an, aber pass bitte auf dich auf, ja?“

Ich schenkte ihr ein breites Lächeln, ohne jedoch zu antworten. Dann seufzte ich schwer.

„Kannst du mir etwas über meine Eltern erzählen, zu der Zeit, als sie selbst noch Jäger waren?“

Ein verträumtes Lächeln erschien auf dem Gesicht meiner Großmutter.

„Nun, über deinen Vater kann ich dir nicht so viel erzählen, aber natürlich über deine Mutter. Wie du weißt, haben wir damals in Amerika gelebt. Und deine Mutter machte sich wirklich ausgezeichnet. Im Alleingang hat sie ihren ersten Vampir mit zwölf getötet, danach war sie eigentlich nicht mehr zu stoppen. Ihren hundertsten Vampir tötete sie, da war sie noch keine fünfzehn. Auch wenn die Vereinigung sie nicht anerkennen wollte, da Svenja noch nicht alt genug war ihre Versprechenstätowierungen zu erhalten, aber wir haben auf diesen neumodischen Kram sowieso nie so viel Wert gelegt.“

„Svenja?“, hakte ich überrascht nach.

„Aber natürlich, du erinnerst dich nicht daran, du warst ja schließlich auch noch viel zu jung. Das ist der eigentliche Name deiner Mutter, den, den ich ihr gegeben hatte, bevor ihr eure Identität wechseln musstet.“

„Hatte ich auch einen anderen Namen?“

„Aber natürlich. Du hießt Lennox, Tom hieß Jasper, Andreas hieß Robin und Scott hieß Robert.“

Robert. So hatte der blonde Mann meinen Vater genannt. Andreas hatte von ihm gewusst, vielleicht war es bei meiner Großmutter ebenso.

„Großmutter, haben dir meine Eltern eigentlich davon erzählt, dass bei und ein Mann aufgetaucht ist, nach dem Identitätswechsel, mit langem blondem Haar, der Dad Robert nannte. Ich muss ungefähr drei Jahre alt gewesen sein.“

„Ein Mann mit langem blondem Haar?“, fragte sie nach und eine nachdenkliche Falte erschien auf ihrer Stirn, „nein, daran würde ich mich erinnern. Aber etwas stimmte definitiv nicht, kurz bevor ihr umgezogen seid. Allerdings hatten deine Eltern mit diesem Umzug auch den Kontakt zu allen aus ihrem alten Leben abgebrochen, weshalb ich bis heute nicht weiß, was genau los war. Ich weiß nur, dass sie Angst hatten.“

„Andreas meinte, dass Dad ihm gesagt hätte, dass dieser Mann ein magiebegabtes Wesen gewesen sei.“

„War er groß?“

„Über 1,80 m, wieso?“

„Nun, dann war er wahrscheinlich ein Elb.“

„Ein Elb?“, fragte ich und konnte mir ein kleines Kichern nicht verbeißen.

Meine Großmutter nahm es gelassen.

„Ja, ein Elb. Ironischerweise haben wir sie so genannt, eben weil sie unserer Meinung nach den Wesen aus den Fanasy-Geschichten so ähneln. Sie sind alle groß, haben sehr langes Haar und feine Gesichtszüge und sind allgemein von feingliedriger Gestalt. Und einige von uns sind überzeugt, denselben Elb, einen großen, blonden Mann, über die Zeit immer wieder gesehen zu haben, zumindest besagen das unsere Aufzeichnungen, weshalb wir auch glauben, dass sie unsterblich sind. Oder sie sehen sich alle einfach unglaublich ähnlich, aber selbst ich halte das für unwahrscheinlich.“

„War er dann bei uns, weil ich vielleicht auch ein Elb bin?“

„Es tut mir leid Samantha, aber du bist zu klein und auch deine Gesichtszüge sind nicht fein genug.“

„Und…“, plötzlich kam mir ein Gedanke, der mir eigentlich schon viel früher hätte kommen müssen, „was, wenn ich nur zur Hälfte ein magiebegabtes Wesen gewesen bin?“

„Darüber haben wir auch schon nachgedacht“, meinte meine Großmutter schwer seufzend und lehnte sich zurück, „aber wir haben es wegen des fluchtähnlichen Verhaltens der magiebegabten Wesen für unmöglich gehalten, dass es zu so einer Beziehung hätte kommen können.“

„Mom und Dad hatten Angst vor dem blonden Mann… Elb, das hätten sie sicher nicht gehabt, wenn er ein fluchtartiges Verhalten an den Tag gelegt hätte.“

„Ja, jetzt scheint es mir auch naiv, dass wir das damals so leichtfertig abgetan haben. Und das würde auch erklären, warum Oswald dein Geruch nicht bekannt ist.“

War also der blonde Mann… Elb, vielleicht am Ende doch mein Vater? Aber dann wäre er sicher nicht wieder einfach so gegangen, nein. Aber irgendeine Verbindung zu ihm musste es doch geben. War ich ein Halbelb, so lächerlich das auch klang? War das vielleicht der Grund, dass ich so eine talentierte Jägerin war?

„Ich muss wirklich mit jemandem sprechen, der mehr über magiebegabte Wesen weiß“, seufzte ich.

„Versuch es mit Oswald, aber ich würde dir davon abraten es in Melisas Gegenwart zu tun.“

„Aber natürlich, man sollte das unberechenbare Wesen nicht auch nur in geringster Weise auf sich aufmerksam machen, ich hab’s verstanden.“

„Gut, und nimm das bitte nicht auf die leichte Schulter.“

„Wie viele Vampire hat Mom eigentlich insgesamt getötet?“, wechselte ich das Thema.

„Insgesamt? Vierhundertsechsundachtzig.“

Vor Überraschung riss ich die Augen weit auf. Ich kannte diese Zahl. Ich kannte sie so gut wie jeder andere amerikanische Vampirjäger, ach was sagte ich da, wie jeder andere Vampirjäger auf der Welt. Jeder von uns kannte diese eine bestimmte Zahl, denn sie gehörte zur erfolgreichsten Jungvampirjägerin, die es in den USA jemals gegeben hatte.

„War… war Mom Child’s Death?“

Ein breites Lächeln erschien auf dem Gesicht meiner Großmutter.

„Ja, das war sie.“

 

Kapitel 36 - Verschwunden

Das waren wirklich… große Neuigkeiten für mich. Und es hieß, dass meine Mutter nicht nur gut sondern einfach nur genial in dem gewesen war, was sie getan hatte. Child’s Death war eine Legende. Die Rassel. Jetzt ergab alles einen Sinn. Ich war wirklich im Moms Sicherem Haus gewesen. Sie musste die Rassel dort deponiert haben, aus welchem Grund auch immer. Vielleicht wollte sie nicht, dass jemand las, was darauf geschrieben stand, war aber auch zu nostalgisch gewesen, um sie wegzuwerfen. Wobei sich nostalgisch so gar nicht nach meiner Mutter anhörte. Allerdings konnte ich mir selbst bei ihr etwas Nostalgie vorstellen, wenn man sein gesamtes Leben hinter sich lassen musste, weil man ein Kind schützen wollte, das nicht einmal das eigene war.

„Und das alles musste sie wirklich wegen mir aufgeben?“

Meine Großmutter machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Ach was, es war schon längst überfällig, dass deine Mutter die Jagd aufgab, schließlich hatte sie bereits zwei kleine Kinder. Aber zur Ruhe setzte sie sich erst, als meine Mutter – deine Urgroßmutter – starb und mir ihr Platz im Großen Rat angeboten wurde, woraufhin ich zurück nach Moskau zog. Dann kamen die Sache mit den Alten auf der Flucht und deine Eltern beschlossen in diesem besonderen Falle und weil sie ausgewählt worden waren eine Ausnahme zu machen. Ich war mir sicher sie würden das als Grund nutzen wieder voll einzusteigen, aber dann bekamen sie dich und plötzlich war alles anders. So gesehen war zumindest ich sehr froh, als sie plötzlich mit dir an meiner Türschwelle standen.“

Ich lächelte glücklich und meine Großmutter erwiderte es.

„Ich bin so froh, dass ich die Gelegenheit gefunden habe mit dir zu sprechen.“

„Und ich bin froh, dass du den Weg zu mir gefunden hast Samantha.“

„Was mich noch interessieren würde, bist du eigentlich in der Position etwas bei der Vereinigung zu ändern?“

„Du meinst wegen ihrer Geheimniskrämerei? Ich kämpfe schon seit fast 25 Jahren gegen diese Kindereien an, aber sie sind festgefahren und haben Angst. Für sie ist einfach zu viel in der Vergangenheit passiert, als dass sie in die Zukunft schauen könnten. Es ist zum verrückt werden, aber sie wollen einfach keine Risiken mehr eingehen.“

„Ich glaube eher, dass es die Unwissenheit sein wird, die die Jäger in die Arme der Vampire treiben wird. Einfach nicht zu wissen, was einem da draußen gegenüberstehen könnte, obwohl man sich doch dazu verpflichtet hat es bis zum Letzten zu bekämpfen, das ist widersinnig. Mich persönlich hat es schon mit dem Gedanken spielen lassen mich gänzlich von der Vereinigung loszusagen, wo ich doch eigentlich keine richtige Hilfe von ihr erwarten kann.“

„Alles ist besser als alleine dort draußen zu stehen, glaub mir Samantha. Du magst vielleicht Alten dort draußen begegnet sein, aber die wahren Schrecken der Vampire hast du noch nicht gesehen.“

Ich wusste nicht, ob ich da mit meiner Großmutter einer Meinung war. Der kleine Gong einer Uhr ließ mich überrascht herumfahren und die angezeigte Uhrzeit vor Entsetzen meine Augen weit aufreißen. Wir würden diese Diskussion zu einem anderen Zeitpunkt fortsetzen müssen.

„Ich muss zu Oswald zurückkehren. Es wäre wahrscheinlich keine gute Idee ihn zu diesem Zeitpunkt in noch schlechtere Laune zu versetzen, als er bereits ist.“

Ich nahm mir Kugelschreiber und Stift vom Tisch und schrieb rasch meine Handynummer darauf.

„Unter dieser Nummer bin ich eigentlich immer zu erreichen. Außer dir hat sie nur noch eine einzige andere Person.“

Ich zögerte einen Moment, dann stand ich auf und umarmte meine Großmutter.

„Danke, für alles.“

Sie erwiderte die Umarmung.

„Pass auf dich auf Samantha, wir beiden sind die Letzten unserer Familie und ich erwarte, dass du eines Tages meinen Platz im Rat einnimmst.“

Überrascht löste ich mich aus der Umarmung und sah ihr in die Augen.

„Aber… wir sind doch gar nicht… nun, wirklich verwandt.“

„Du bist die Tochter meiner Tochter, egal was die Menschen je sagen werden, das ändert nichts für mich.“

Ich umarmte sie noch ein letztes Mal glücklich, bevor ich das Haus verließ und in den Wagen stieg, um mich zügig auf den Weg zurück zu machen. Wobei zügig eine Definitionssache war. Denn ich war mir sicher, dass ich so oder so schon eine Menge Ärger bekommen würde, also legte ich noch einen zweiten kleinen Umweg ein. Auch wenn es Schwachsinn war, so wollte ich doch unbedingt noch einmal dorthin zurückkehren. Jetzt, wo ich im Auto saß, fielen mir hunderte und aberhunderte von Fragen ein, die ich meine Großmutter noch hätte stellen sollen, aber jetzt war es zu spät dafür. Ich würde einfach darauf hoffen müssen, dass ich sie wiedersah und dann die Gelegenheit haben würde sie nach all diesen Dingen zu fragen.

Aber ich war angekommen. Zumindest glaubte ich das. Aber es war unmöglich. Ich stieg aus dem Wagen aus. Und stand auf einer weiten Ebene. Dort war nichts. Nichts. Das war unmöglich. Der einzige Hinweis, dass hier einmal etwas gewesen war, war die aufgewühlte Erde, aber das könnte auch einfach nur bedeuten, dass es sich um einen brachen Acker handelte. Verwirrt lief ich zu der Stelle, von der ich mir sicher war, dass sich dort das Tor befunden hatte, an dem ich den rotgelockten Vampir getötet hatte, aber das Hospital blieb verschwunden. In dümmlichstem Verhalten streckte ich die Hand nach vorne, aber nach allem, was ich so erfahren hatte, wären unsichtbare Gebäude nun wirklich nichts Außergewöhnliches mehr gewesen. Doch zu meiner großen Erleichterung blieb die Mauer verschwunden. Was nun aber ganz andere Fragen aufwarf: Wie zum Beispiel wo zur Hölle das Hospital geblieben war. Gestern noch hatte ich die Insassen abgeschlachtet, aber wir hatten das Gebäude doch vollkommen intakt gelassen… Ich konnte nicht verhindern, dass ich eine Gänsehaut bekam. So etwas dürfte nicht möglich sein, aber ich war mir sicher, dass die Vampire es getan hatten. Sie hatten die Umstände genutzt und das Hospital versetzt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Constantin hatte nicht gelogen. Aber da waren doch noch die Katakomben. Die Katakomben, in denen mindestens 130 uralte Vampire schlummerten, bestraft für Verbrechen… ich stockte. Nein, das musste ein Zufall sein, ein dummer, dummer Zufall. Trotzdem konnte ich nicht umhin diese Schlussfolgerung zu ziehen. Zwei uralte Vampire hatten mich als Säugling geschützt. So alt und mächtig, wie es die Vampirjäger noch nie gesehen hatten und in diesen Katakomben waren Vampire unglaublichen Alters eingesperrt. Und ich wusste, dass zwei aufgebrochen worden waren. Konnte das sein? Waren es tatsächlich genau diese beiden Vampire gewesen? So viele alte Vampire gab es nun auch wieder nicht. Allerdings warf das wieder die Frage auf, warum sie mich beschützt hatten, wenn sie doch wegen irgendetwas dort unten in den Katakomben eingesperrt worden waren. Ich schüttelte den Kopf. Wieso kam mir eigentlich noch irgendetwas absurd vor? Hier stand ich, ein magiebegabtes Wesen, was mir eigentlich das Recht entzog noch irgendetwas merkwürdig zu finden.

Mit energischen Schritten ging ich über das Feld und suchte. Strich mit meinen Schuhen die Erde fort, klopfte mit dem Knauf meiner Dadao auf den Boden. Nach einer halben Stunde und als ich schon langsam begann ungeduldig zu werden, schlug mein Knauf endlich auf metallischen Untergrund. Hastig strich ich die Erde fort und tatsächlich, da war eine Metallluke. Ich versuchte sie hochzuziehen und stellte mit einer Grimasse fest, dass sie versiegelt war. Seufzend ließ ich mich auf dem Boden sinken und strich mir erschöpft mit der Hand übers Gesicht. Was wollte ich eigentlich damit bezwecken? Was brachte es mir dort hinunter zu gehen? Wollte ich einen dieser Vampire befreien? Die hatten die letzten Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende ihre Zelle nicht verlassen, was sollten sie mir schon sagen können? Nein, wenn ich ehrlich war, wollte ich einfach nur noch einmal nach diesen Präsenzen fühlen, jetzt, wo es mir nicht mehr ganz so eine Heidenangst einjagte. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Es dauerte eine Weile, bis ich sie fand, aber dann war es, als hätte man eine Lichterkette eingesteckt. Ich sog scharf den Atem ein und begann zu zählen. Meine Vermutung war richtig gewesen, die Gänge, die sich unter den Gebäuden befunden hatten, waren verbunden. Es waren nicht nur 130, es waren 284. Obwohl ich es nicht sah, wusste ich, dass mein Gesicht kalkweiß geworden war. 284, damit würde sich die Zahl der Alten mehr als verdoppeln. Deutlich mehr als verdoppeln. Warum saßen sie dort unten? Ich hätte meine Großmutter fragen sollen, vielleicht hätte sie die Antwort gewusst. Ich erhob mein Gesicht der Sonne entgegen. Ich war müde. Wann hatte ich das letzte Mal einen wirklich geruhsamen Schlaf gehabt? Sicher nicht, seit ich bei Oswald war. Tiefschlaf war in der Nähe von Vampiren einfach nicht möglich. War das wirklich erst vor vier Tagen gewesen? Es war so viel geschehen. So abgedroschen wie es sich anhörte, aber ich war wirklich nicht mehr dieselbe. Ich strich mir gedankenverloren über meinen linken Arm. Da es hier so kalt im Vergleich zu L.A. war, trug ich automatisch immer langärmlige Kleidung, die die Narben verdeckte, aber ich hatte sie ganz sicher nicht vergessen. Wie immer holte der bloße Gedanke an sie mich zurück auf den Boden der Tatsachen. Auch wenn ich ein magiebegabtes Wesen war, so war ich doch eindeutig nicht unverwundbar.

Ich öffnete die Augen und erhob mich wieder von dem kalten Boden. Noch immer konnte ich nicht fassen, was die Vampire hier in einer Nacht geschafft hatten. Wo hatten sie nur den Bauschutt hingebracht? Was eigentlich vollkommen nebensächlich war, weswegen ich es aus meinen Gedanken strich. Eigentlich war ich hierhergekommen, um über zwei Dinge nachzudenken: Dass ich Nikolas den Kopf abgerissen hatte und dass mein Bruder ein Vampir war. Erst das leichtere der beiden Themen: Ich war stark, sehr stark sogar. Zumindest in Situationen, in denen ich mich um mein Leben fürchtete. Vielleicht hatte ich deshalb trotz meines waghalsigen Verhaltens so lange als Vampirjäger überlebt. Jetzt musste ich nur noch einen Weg finden mir diese Kraft jederzeit zugänglich zu machen. Sollte ich wirklich um Oswalds Hilfe bitten? War das eine gute Idee? Er würde definitiv versuchen mich ihm hörig zu machen, dass ich jedem seiner Befehle ohne zu zögern Folge leistete und bis zu einem gewissen Grad würde ich ihm Folge leisten müssen, wenn ich wollte, dass er mir weiterhalf. Bisher waren seine Aufträge immer problemlos machbar gewesen. Nichts allzu schweres, weder physisch noch psychisch, aber ich war mir sicher, dass sich das ändern würde, wenn er mich weiter in seinen Kreis zog. Es würde Luca nicht gefallen, dass ich damit Oswalds Tod hinauszögerte, aber ich brauchte ihn noch. Was eine weitere Frage aufwarf: Was sollte ich Luca und Roman sagen? Meine Großmutter hatte gemeint, dass meine Eltern gute Gründe gehabt hatten der Vereinigung nichts von mir zu erzählen und so gern ich Roman mochte, er war ein heres. Er würde es nicht für sich behalten können. Luca vertraute ich in dieser Hinsicht schon mehr, aber bei ihm war ich mir sicher, dass er mit der Tatsache an sich, dass ich ein magiebegabtes Wesen und kein Mensch war, nicht klarkommen würde. Eigentlich hatte ich mich schon entschieden. Es war meine Sache. Sie würden es einfach ohne zu fragen akzeptieren müssen. Vielleicht würde ich sie sogar fortschickten. Wenn ich erst einmal meine Fähigkeiten entschlüsselt hätte, würde ich sicher auch allein mit Oswald fertig werden. Und so sehr ich mich auch für diesen Gedanken hasste, aber die anderen waren hier einfach im Weg.

Ich zog eines meiner Dadao und betrachtete das Licht der untergehenden Sonne, das sich auf der Klinge spiegelte. Ich vermisste meine alten Waffen, auch wenn diese Klinge viel besser Verarbeitet und von eindeutig höherer Qualität war, als meine eigenen Waffen. Aber meine Pflöcke fehlen mir einfach, wären für Vampire jedoch sowieso zu eindeutige Waffen gewesen. Ich seufzte schwer und schob es zurück in den Halfter, dann sprang ich leichtfüßig auf. Nun sollte ich meine Rückkehr wirklich nicht weiter hinauszögern, besonders, da ich nun einen Grund mehr hatte zurückzukehren.

Gemütlich schlenderte ich über die aufgewühlte Erde zurück zum Wagen. Noch an der Tür nahm ich den Halfter mit den Dadao wieder ab und legte ihn auf den Beifahrersitz, bevor ich mich selbst in die weichen Ledersitze fallen ließ. Dann drückte ich auch schon das Gaspedal durch und raste los. Ich drehte das Radio voll auf, um meine Gedanken zu übertönen und die Monotonie des Autofahrens genießen zu können. Anders wäre ich auch nicht wach geblieben, denn die viele Aufregung der letzten Wochen zehrte an mir. Aber natürlich funktionierte es nicht so ganz und ich dachte über die Dinge nach, die ich von meiner Großmutter erfahren hatte. Die Sache, die mir am meisten im Gedächtnis geblieben war, war die Tatsache, dass die Vereinigung einmal – und irgendwie immer noch – ein friedvolles Zusammenleben mit den Vampiren anstrebt. Ich war mir nicht sicher, wie viele famulus bleiben würden, wenn sie davon wüssten. Allerdings waren wir auch nur ein verschwindend geringer Teil. Ich fragte mich, ob Roman um diese Tatsache wusste. Wahrscheinlich, aber wer wusste schon, wer in der Vereinigung über was informiert war. Es war, als wäre diese Organisation von Kindern gegründet worden.

Ob meine Großmutter wirklich Wort halten könnte? Es erschien mir einfach unglaublich und unmöglich eines Tages Mitglied des Großen Rates zu sein. Das war absurd. Und außerdem war kein famulus je ein Mitglied gewesen. Nun, jetzt wo ich so darüber nachdachte, wahrscheinlich auch kein magiebegabtes Wesen, aber es gab für alles ein erstes Mal. Ein breites Grinsen erschien auf meinem Gesicht. Ich würde den Laden sicher ganz schön aufmischen. Wer wohl noch so alles Mitglied war? Ich wusste nicht einmal, wie viele es waren. Auch noch so eine Frage, die ich meiner Großmutter hätte stellen können. Ich sollte eine Liste schreiben.

Und als hätte ich nicht schon genug Probleme, erschien in diesem Moment ein Blaulicht in meinem Rückspiegel. Obwohl ich die Sprache auf der Anzeige nicht verstand, so wusste ich doch sehr wohl, was sie von mir wollten. Mit einem Seitenblick auf die Dadao auf dem Beifahrersitz fluchte ich und fuhr beim nächsten Rasthof aus, damit ich erfahren konnte, was diese Polizisten von mir wollten. Nach einer kurzen Überlegung wischte ich die Dadao unter den Sitz und hoffte einfach, dass man das Auto nicht durchsuchen würde. Ich hatte seit fast zwei Tagen nicht geschlafen und noch immer über acht Stunden Fahrt vor mir. Und der Polizist, der an mich herantrat sprach eine vollkommen unverständliche Sprache. Ein Blick auf das Navigationsgerät verriet mir, dass wir inzwischen in Polen waren.

„Ach scheiße“, murmelte ich und legte die Hände aufs Lenkrad, wie ich es aus Amerika gewohnt war.

Durfte man in Polen Waffen mit sich tragen? Ich hatte keine Ahnung, aber von dem ausgehend, was ich über die Europäer wusste, sicher nicht. Das Gefängnis sollte allerdings um einiges besser sein. Allerdings wusste ich nicht, ob dann noch mein gefälschter britischer Pass funktionieren würde. Wobei, dank meiner Großmutter wusste ich jetzt, dass ich mein ganzes Leben lang nur gefälschte Pässe besessen hatte. Wäre schon ein beschissener Zufall wenn mich gerade heute das Glück dahingehend verlassen würde.

Einer der Polizisten kam ganz gelassen auf mich zu, nichts von dem weit entfernten Anbrüllen in Amerika und stellte sich lächelnd, wenn auch achtsam neben mein Fenster. Ich ließ die Scheibe herunterfahren. Er sagte etwas auf einer Sprache, die ich nicht verstand und ich sah ihn entschuldigend an. Verwundert zog er die Stirn kraus und rief seinem Kollegen etwas zu. Ich war sowas von geliefert.

 

Deutschland

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Kapitel 37 - Melisa

Das Herz plumpste mir in den Schoß, als auch noch sein Kollege an meinem Fenster erschien.

„Sie Englisch sprechen Miss?“, fragte er in gebrochenem Englisch und ich nickte zögerlich.

„Mein Kollege tut leid, dass er nur Polnisch. Ihr Rücklicht kaputt sein. Bis Tag warten sollten zum Weiterfahren. Sonst vielleicht gefährlich.“

„Oh“, war alles, was ich erstaunt hervorbrachte, „das tut mir schrecklich leid, das hab ich gar nicht bemerkt!“

Der Polizist schenkte mir ein weiteres breites Lächeln.

„Nicht schlimm, passieren kann. Einfach bis Tag warten und dann reparieren. Dann gut.“

Er hob die Hand zum Gruß.

„Schönen Abend.“

Und schon waren sie wieder in den Wagen gestiegen. Noch immer angespannt fuhr ich den Wagen in eine der Parkbuchten. Vielleicht war es gar nicht so schlecht eine Weile zu schlafen. Ich stellte mir den Wecker auf sieben Uhr, dann sollte die Sonne aufgegangen sein und ich fiel fast sofort, als ich die Augen schloss, in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Der Wecker klingelte viel zu früh. Und mir tat wirklich alles weh. Wie würde das erst werden, wenn ich älter wurde?  Ich schnitt eine Grimasse und stieg aus dem Wagen, um meine verspannten Muskeln etwas zu dehnen. 25 Stunden Fahrt waren echt kein Zuckerschlecken. Und ich hatte noch ein gutes Stück weg vor mir. Ich machte noch einen kurzen Abstecher in die Raststätte, wusch mich etwas auf der Toilette und kaufte mir ein Sandwich im Gasthof. Dann schwang in mich wieder in den Wagen, um so viel der verlorenen Zeit aufzuholen wie möglich.

Der Rest der Fahrt verlief ruhig und ereignislos und es hatte mir tatsächlich sehr gut getan etwas zu schlafen. Doch dann fuhr ich in die Tiefgarage des Hotels ein und war wieder in der Realität, meiner Realität. In der ich einem mächtigen Vampir zu Füßen kroch und auf dessen Hilfe ich jetzt angewiesen war. Und der wegen den Zwillingen jetzt sicher in der Stimmung wäre mir einen Gefallen zu tun. Wie zum Beispiel mich einen Kopf kürzer zu machen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich diese Art von Gespräch anfangen sollte.

Schon als ich die Eingangshalle betrat, merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Nicht dass sich die Menschen darin anders verhielten als sonst, aber sie alle wirkten… angespannt und so wurde ich es natürlich auch. Ich betrat den Fahrstuhl und überprüfte unauffällig den Sitz meiner Waffen. Mit jedem Stockwerk stieg meine Anspannung, bis sich die Türe schließlich öffnete.

Im ersten Moment glaubte ich im falschen Stockwerk ausgestiegen zu sein. Der cremefarbene Teppich vor mir war getränkt von dunkelrotem Blut, welches auch die Tapete mit vielen weit verteilten Spritzern verzierte. Ich zog meine Dadao, die ich in der Jacke versteckt hatte, hervor und betrat schleichend den Raum, dann zerriss ein schallendes Gelächter die Stille, welches mir eine Gänsehaut bescherte und ich schritt eilig um die Ecke herum und stand endlich im Hauptraum.

Der Anblick, der sich mir bot, war genau das, was ich mir eigentlich immer unter einem Vampir wie Oswald vorgestellt hatte. Ich hatte schon geglaubt, dass der Eingang einen schrecklichen Anblick geboten hatte, aber in diesem Raum schien es keinen Gegenstand zu geben, der nicht mit Blut bespritzt oder davon getränkt war und ein Schleichen auf dem vollgesogenen Teppich war unmöglich. Die Leichen der unterschiedlichsten Menschen lagen im Raum verteilt, von denen einer schöner als der andre war. Zumindest mussten sie das zu Lebzeiten gewesen sein, jetzt waren sie teilweise zerfetzt oder ihre Einzelteile lagen im Raum verstreut. Auf seinem gewohnten Sessel saß Oswald, das einzige makellose Ding in diesem Raum und vor ihm, wunderschön mit bis zur Hüfte reichendem, glattem blondem Haar, alabasterfarbener Haut, hellblauen Augen und einer feingliedrigen, zarten Gestalt, tanzte eine junge Frau in Gewändern aus einer längst vergangenen Zeit und lachte höhnisch. Niemand brauchte mir zu sagen, dass es sich bei ihr um Melisa handelte und nun verstand ich auch, was meine Großmutter gemeint hatte. Ja, dieser Vampir war gefährlich und ich fragte mich, warum die Vampire sich selbst noch nicht um sie gekümmert hatten. Ich an ihrer Stelle hätte es getan. Als Oswalds Blick in meine Richtung glitt, ließ ich mich schnell auf die Knie fallen und schlug die Faust gegen die Brust.

„Ah, das Kind ist zurück.“

Plötzlich war Melisa wie verwandelt. Sie brach ihren Tanz ruckartig mitten in der Bewegung ab, fuhr zu mir herum und starrte mich hasserfüllt an. Ich senkte den Blick, dass sie die trotzige Herausforderung in meinen Augen nicht sah.

„Darf ich dir mein Geschöpf Melisa vorstellen? Sie wird mir Gesellschaft leisten, solange die Zwillinge fort sind. Aber du wirst das ja wahrscheinlich sowieso nicht mehr erleben.“

„Ich finde es nicht gut, dass hier Menschen sind“, meinte Melisa mit ihrem zu einem Strich verzogenen, blutverschmierten Mund, „noch dazu, wenn sie noch immer nach Jäger stinken wie dieser da.“

„Gemach meine Tochter, gemach. Hab ich es dir nicht besser beigebracht?“, meinte Oswald mit einem Hauch von Tadel in der Stimme.

Plötzlich war Melisas Blick hochinteressiert und sie musterte mich scharf. Dann trat sie noch einen Schritt näher und sog tief die Luft ein. Überrascht stockte sie.

„Sie riecht… nach so vielen Dingen, aber… ich kann ihren eigenen Grundgeruch einfach nicht ausmachen.“

Erneut roch Melisa und sah mich dann skeptisch an.

„Nein, ich kann nichts finden“, gab sie zähneknirschend zu und trat zurück zu Oswald, der ihr doch tatsächlich tröstend den Kopf tätschelte.

„Mach dir darüber keine Gedanken meine Tochter. Selbst Eugen war nicht dazu in der Lage ihren Grundgeruch herauszufiltern. Er meinte, so etwas wie ihr wäre er noch nie zuvor begegnet.“

„Glaubst du mit ihr werden wir endlich dazu in der Lage sein?“, fragte sie sehnsüchtig.

Die Portale, natürlich war auch Melisa daran interessiert. Oder besser zu meinem Glück. Sie würde mich doch sicher nicht umbringen, wenn auch sie unbedingt einen Weg durch diese Portale finden wollte – hoffte ich zumindest.

„Das hoffe ich Melisa.“

Für einen Moment blickte sie verträumt in die Ferne, bevor sie zu lachen und sich fröhlich und etwas verrück so schnell, dass meine Augen ihr kaum folgen konnten, im Kreis zu drehen begann. Es war verwirrend und gleichzeitig ungemein faszinierend, denn es schien eine Art Tanz zu sein und auch oder gerade weil Melisa ihn so unglaublich schnell ausführte, war er wie hypnotisierend. Dann wurde es makaber, als sie sich eine der Leichen vom Boden schnappte und sie als Tanzpartner verwendete, doch während sie sie so durch die Gegend schwang, schien der Mensch wieder lebendig zu sein. Warum nur bevorzugte Oswald diesen Vampir so ungemein? Ich konnte es mir nicht erklären. Sie schien einen riesigen Knacks zu haben und zwar keinen von der guten Sorte.

Einen Moment war ich mir unsicher, wie ich mich bemerkbar machen konnte, doch als hätte er es gewusst, wand sich Oswald mir zu.

„Ja Kind?“, fragte er mit einer leicht erhobenen Augenbraue über seinem rechten Auge.

„Es ist nur so Meister“, begann ich zögerlich, „dass ich euch mitteilen wollte, dass ich es nun auch selbst endlich eingesehen habe, dass ich… nicht menschlich sein kann und wollte euch bitten mir dabei zu helfen herauszufinden, was ich bin.“

Melisa tanzte lachend mit der Leiche weiter durch den Raum, während Oswald mich interessiert musterte.

„Was hat dich zu diesem Sinneswandel gebracht, Kind?“

Ich überlegte für einen Moment, wie nahe an der Wahrheit ich bleiben sollte.

„Andreas klärte mich darüber auf, dass wir keine leiblichen Geschwister seien, Meister, sondern dass ich adoptiert worden sei. Jetzt, da ich nicht mehr weiß, wo ich herkomme, ist alles möglich, eben auch, dass ich kein… Mensch bin.“

Oswald nickte.

„Das wird unsere Arbeit um einiges leichter machen, Kind“, meinte Oswald mit einem breiten Lächeln.

„Meister, also werdet Ihr mir helfen?“

Oswalds Lächeln wurde noch breiter.

„Ich hätte mich mit oder ohne deine Hilfe mit dieser Frage weiter befasst, Kind, wie gesagt.“

Diese Formulierung klang deutlich nach einer Folterandrohung und mit meinem Nicken akzeptierte ich sie als genau diese.

„Gut. Aber erst musst du ein Vampirblut für mich aufsuchen, sein Name ist Ludwig. Als ich rief, folgte er nicht. Beende seine kümmerliche Existenz.“

Ich war überrascht, nickte aber eifrig.

„Natürlich Meister. Wo kann ich ihn finden?“

„Ein Loft in Frankfurt. Tigris… Melisa wird dir die Adresse geben.“

Als sie ihren Namen hörte, unterbrach Melisa ihren Tanz und stand im nächsten Moment auch schon bei Oswald.

„Aber natürlich“, meinte sie mit einem so strahlenden Lächeln, dass die Sonne daneben verging, und rauschte aus dem Zimmer.

„Verzeiht mir Meister, aber wie wollen Sie herausfinden, was ich bin?“

„Keine Sorge, ich habe da so meine Methoden. Es wäre sehr von Vorteil, wenn ich um deine Lebensspanne wüsste, dann könnte ich mich besser vorbereiten, aber bis das geklärt ist werde ich einfach einmal annehmen, dass sie so kurz wie die eines Menschen ist.“

„Ihr seid also schon auf magiebegabte Wesen getroffen Meister?“

„Sie sind nicht so selten hier, wie sie uns glauben machen wollen, man muss nur wissen, wie man sie erkennt.“

„Nicht so selten Meister?“

„Nun, die meisten sehen wir einmal nur kurz und dann nie wieder aber einige wenige… die tauchen immer und immer wieder auf, als wären sie auf der Suche nach etwas. Und es sind in den letzten Jahren immer mehr geworden. Leider sind sie auch sehr schnell, selbst für unsere Verhältnisse.“

Melisa huschte in den Raum zurück und warf mir einen Zettel entgegen, den ich mit einer raschen Bewegung aus der Luft fischte.

„Oh, und ich möchte, dass du mir Ludwigs Halskette mitbringst. Sie wäre ein so schönes Souvenir.“

Ich nickte.

„Natürlich Meister.“

Dann schlug ich mir mit der Faust gegen die Brust und wollte gehen, doch Oswalds Worte hielten mich zurück.

„Mir wäre es lieber, wenn du erst in den Abendstunden auf deine Mission gehst. Wer müde ist, ist träge und wird getötet. Leider aber nutzt du mir tot nichts. Schlafe, bis die Sonne untergeht.“

Ich nickte erneut.

„Wie ihr wünscht Meister.“

Dann drehte ich mich um und verließ das Zimmer, um nach oben in meine eigenen Räume zu gehen. Erschöpft fiel ich dort aufs Bett und schlief sofort und ohne meine Kampfausrüstung abzulegen ein.

Es war eine Hand an meiner Schulter, die mich weckte. Als ich die Augen öffnete, fiel noch immer sanftes Licht durch das Fenster und so brachte ich einen Moment, um Roman zu erkennen. Ich schenkte ihm ein schwaches Lächeln.

„Was gibt’s?“, fragte ich schläfrig und gähnte.

„Oswald spannt dich ziemlich ein.“

„Ja. Er mag mich, warum auch immer.“

„Es ist aber vor allem gefährlich.“

Nun setzte ich mich doch auf.

„Ist nicht der Sinn und Zweck dieser Aktion sein Vertrauen so weit wie möglich zu gewinnen, Informationen zu sammeln und ihn dann zu töten? Also ich habe da nichts von Spaziergang im Park gehört, du etwa?“

„Aber Luca und mich nimmt er so gut wie nicht wahr und jetzt wo auch noch die Zwillinge fort sind… vielleicht sollten wir die ganze Sache doch abblasen.“

„Du weißt ganz genauso wie ich, dass wir so eine Chance wie jetzt nicht wiederbekommen werden. Ich werde sie nicht aufgeben, bloß weil es ein wenig schwierig wird, das wussten wir vorher.“

„Ich will doch nur, dass du sicher ist Sam“, meinte er flehend.

„Leider bin ich keine Porzellanfigur, die du in einer Vitrine vor der Außenwelt wegsperren kannst. Ich bin Jägerin, genau wie du, aber das wusstest du ebenfalls.“

„Ja“, meinte er mit einem schwachen Lächeln, „aber das bedeutet noch lange nicht, dass es mir gefällt."

Kapitel 38 - Man überrascht nie aus

„Jetzt ist eigentlich nicht die Zeit über so etwas auch nur nachzudenken Roman und das weißt du auch.“

Seine Lippen verzogen sich zu einer dünnen Linie.

„Ich weiß…“

„Gut“, fiel ich ihm ins Wort, „dann belassen wir es dabei.“

„Warum hast du in deiner Kleidung geschlafen?“, versuchte Roman wenig erfolgreich das Thema zu wechseln.

„Weil ich gleich wieder los muss. Ein Auftrag von Oswald.“

„Wen musst du jetzt hierher bringen?“

„Niemanden.“

„Okay, formulieren wir es so: Wen sollst du für ihn töten?“

„Ein Vampirblut namens Ludwig, das in Frankfurt lebt, Stadtvampir. Schon mal von ihm gehört?“

Roman schüttelte den Kopf.

„Er kann nicht besonders bekannt sein.“

„Wirklich? Keine grausame Schlächtergeschichte, die du mir erzählen kannst?“

Er schenkte mir ein sarkastisches Lächeln, das sich aber sofort wieder glättete.

„Ich bin nicht gekommen, um mit dir zu streiten Sam.“

„Dann lass es uns doch einfach nicht tun.“

„Ich geb‘ mein bestes, es ist nur einfach nicht leicht für mich. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich war, als damals meine Schwester die Jagd aufgegeben hat.“

Anscheinend führten wir dieses Gespräch also doch jetzt.

„Du weißt, dass ich das nicht tun würde.“

„Aber kannst du nicht wenigstens einmal darüber nachdenken?“

„Ich habe schon oft darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn ich den Job an den Nagel hängen und ihm ein bürgerliches Leben vorziehen würde. Selbst in der Vorstellung konnte ich keine einzige Sekunde genießen, weil ich mich schuldig fühlte. Schuldig, weil ich wusste, was in den Schatten auf sie lauerte und nichts tat um die Unschuldigen zu beschützen. ‚Meine Pflicht endet mit meinem Tod.‘“

„Du zitierst die famulus?“

„Ich bin eine famulus und werde es auch immer sein.“

Für einen Moment herrschte Schweigen. Er war Roman, der es schließlich brach.

„Das ist es also?“, fragte er und schien selbst überrascht, aber ich war mir sicher, dass ihm mindestens genauso bewusst gewesen sein musste wie mir, dass wir keine Zukunft hatten.

Auch wenn ich nicht damit gerechnet hatte, dass wir so schnell an unsere Grenzen stoßen würden.

„Sieht ganz so aus.“

Roman ließ sich auf einen Stuhl fallen und strich nachdenklich über sein kurzes Haar.

„So hatte ich mir das nicht vorgestellt.“

„Ich auch nicht“, stimmte ich ihm lahm zu, „aber ich würde Lügen, wenn ich sagen würde, dass ich es nicht habe kommen sehen.“

„Beziehungen zwischen heres und famulus standen schon immer unter einem schlechten Stern“, stimmte Roman mir zu.

Er hatte Recht. Aber streng genommen war ich ja eine heres. Würde dieses Wissen vielleicht meine Einstellung noch ändern?

Roman hatte mein Zögern bemerkt und blickte mich fragend an.

„Ich habe mich nur gefragt…“, ich haderte einen Augenblick damit ihm die Wahrheit zu sagen, aber er verdiente sie, „ob ein famulus sich je ändern kann.“

Er schenkte mir ein warmes Lächeln.

„Ich geb‘ die Hoffnung nicht auf.“

In diesem Moment versank die Sonne hinter dem Horizont.

„Ich muss los“, meinte ich mit einem tonlosen Seufzer und stand vom Bett auf.

„Pass auf dich auf.“

Ich verdrehte die Augen – nur halb zum Spaß.

„Immer.“

Dann war ich auch schon aus dem Zimmer heraus und auf dem Weg in die Tiefgarage. Es erfüllte mich eine gewisse Vorfreude – das konnte ich nicht leugnen – aber schließlich zog ich auch los einen Vampir zu töten. Als ich für einen Moment meine blitzenden Augen im Rückspiegel sah, jagte ich mir selbst einen Schauer über den Rücken. Das hatte es so an sich, wenn man einer nach Blut dürstenden Bestie direkt in die Augen sah.

Ich schüttelte das Gefühl ab und machte mich auf die knapp dreistündige Fahrt.

Ich musste zugeben, die Tatsache, dass es auf deutschen Autobahnen keine Geschwindigkeitsbegrenzung gab, gefiel mir sehr. Es ließ alle Städte in Deutschland nur einen Katzensprung entfernt scheinen. Frankfurt selbst hatte, wie anscheinend alle Städte hier, eine große und wunderschöne Altstadt, die ich leider hinter mir lassen musste. Es machte mich nervös wie nah ich dem lebhaften Stadtzentrum kam, aber dann hörte ich endlich das charakteristische ‚Sie haben das Ziel erreicht. Das Ziel befindet sich zu ihrer Rechten.‘

Ich legte meine Waffen an, überlegte einen Moment und ließ dann die Maske im Auto zurück. Mit einem Vampir sollte ich ja gerade so noch fertig werden. Ich ging an die Tür. Verstört bemerkte ich die frühlingshafte verspielte Dekoration. Es hing ein Kranz aus getrockneten bunten Blumen an der Tür, die Fenster waren mit kitschigen Blumenwiesen beklebt. Neben der Tür stand ein Holzhase in Latzhosen und gekringeltem Hemd, auf dem Boden lag eine gepunktete Fußmatte auf der ‚Willkommen‘ stand. Ich schüttelte kurz den Kopf, sah mich kurz um und trat dann die Tür ein. Das erste was mir auffiel, war, dass an der Garderobe auch die Jacke einer Frau hing. Am Boden standen auch Frauenschuhe. Warum hatte mir niemand gesagt, dass hier auch eine Frau lebte? Oder hatten sie es etwa nicht gewusst? Die Wände waren in einem warmen Orange gestrichen, der dunkelbraune Teppich schien schon älter aber gut gepflegt und an der Wand hingen heimelig wirkende Stillleben. Ich schloss die Tür. Das hier sah nicht aus wie die Wohnung eines Vampirs. Ich wurde Misstrauisch. Hatte mir Melisa etwa die falsche Adresse gegeben. Plötzlich ertönten Schritte auf dem knarzenden  Dielenboden und eine Frau Mitte dreißig kam um die Ecke aus einer Tür. Vor Schrecken über meinen Anblick ließ sie den Wäschekorb, den sie gerade getragen hatte, fallen und sah mich mit großen Augen an. Sie war eindeutig ein Mensch. Ihr langes, karamellfarbenes Haar war zu einem lockeren Dutt zusammengefasst, aus dem sich schon einige Strähnen gelöst hatten, ihre runden Gesichtszüge waren genauso wie der Ausdruck in ihren braunen Kulleraugen ängstlich.

„Wo ist er?“

Die Frau riss sich augenscheinlich zusammen.

„Sie… Sie sind wegen Ludwig hier, hab ich Recht?“, antwortete sie mir ohne die geringsten Probleme in Englisch.

Ich nickte. Also war ich doch richtig.

„Aber… Sie sind ein Mensch?…“

„Oswald schickt mich“, beantwortete ich nicht ihre Frage.

„Er… er ist im Wohnzimmer“, meinte sie schwach und deutete auf die Tür am rechten Ende des Flurs.

Ich wandte mich schon zu gehen, als ich mich noch einmal zu ihr umdrehte.

„Sie sollten gehen.“

Zu meiner Überraschung schüttelte die Frau den Kopf. Ich zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.

„Egal wie es ausgeht, heute Abend wird noch eine Leiche zu begraben sein.“

Nun konnte ich meine Neugier doch nicht länger zurückhalten.

„Wer sind Sie?“

„Ich bin Ludwigs Tochter.“

Ein amüsiertes Schnauben entfuhr mir.

„Nicht seine leibliche Tochter, natürlich, aber er hat mich großgezogen. Mir die Windeln gewechselt, Sprechen, Laufen und später Lesen und Schreiben beigebracht. Er hat mich getröstet und gepflegt, wenn ich verletzt oder krank war. Er hat mich jeden Tag zur Schule gebracht und er war derjenige, der stolz hinter der Kamera geweint hat, als ich meinen Abschluss machte und später als ich heiratete. Ich weiß nicht wie sie so Jemanden nennen, aber ich nenne ihn Vater.“

Ich hatte sie aufgebracht. Von ihrer vorherigen Angst war nichts mehr übrig, jetzt funkelte sie mich wütend an. Ich ließ mich davon nicht beeindrucken.

„Gut, sie können vor der Tür warten, bis ich fertig bin.“

Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte ich sie mir auch schon geschnappt und vor die Tür verfrachtet. Ich warf noch schnell ihre Schuhe und Jacke hinterher, bevor ich die Tür wieder schloss und mich zu dem Zimmer begab, das sie mir gezeigt hatte. Als ich die Tür öffnete, umgab mich sofort wieder die Gemütlichkeit, die auch die anderen Räume innehatten. Dieser hier besaß einen dieser modernen Kachelöfen, die das Zimmer nicht mehr zurußten. Vor einem großen Fernseher standen ein Sofa und ein Sessel auf einem flauschigen Teppich. Auf dem geschwungenen, grauen Sessel saß ein Vampir, der Mitte Vierzig gewesen sein musste, als er verwandelt worden war. Sein bereits leicht ergrautes braunes Haar war kurz geschnitten, die Kleidung kleinbürgerlich wie aus dem Lehrbuch. Sein Blick war müde, als er sich mir zuwandte und ich erschrak über den Zustand seines Gesichts.

„Ah“, meinte er mit brüchiger Stimme, „Oswald ist meiner Existenz endlich überdrüssig.“

Was war los mit diesem Vampir?! Seine Wangen waren tief eingefallen, unter seinen leicht trüben braunen Augen lagen tiefe schwarze Ringe. Er wirkte sehr krank, aber das war unmöglich, schließlich war er ein Vampir. Ein feines Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

„Ein grausiger Anblick, nicht wahr?“

Ich konnte nichts außer ihn einfach weiter entsetzt anzustarren.

„Nein Mädchen, ich sah nicht schon so aus, als ich verwandelt wurde.“

Sein freundliches, erschöpftes Lächeln war es, das mich schließlich wieder zurückholte.

„Ich habe bisher nur einen einzigen Vampir getroffen, der sich nicht vollständiger Gesundheit erfreute.“

„Und ich bisher noch keinen außer mir. Wie es scheint bist du mir einen Schritt voraus.“

„Wie ist es passiert?“

„Oh, das ist leicht zu erklären. Ich hatte eine Auseinandersetzung mit einem anderen Vampir, doch auch wenn ich gewann, so wurde ich schwer verletzt. Die Heilung laugt den Körper aus.“

Er zeigte zur Verdeutlichung auf sich.

„Aber ich konnte es nicht über mich bringen das Leben eines Menschen zu nehmen, nur damit ich wieder meinen schöneren Körper zurückerlangte. Auch wenn ich jetzt nicht mehr so aussehe, ich fühle mich gesund. Und im Großen und Ganzen gesehen war es auch ein Glück, sonst wäre es der Familie meines Schwiegersohnes vielleicht bald aufgefallen, dass ich nicht altere.“

„Sie haben sich geweigert ein Leben zu nehmen? Heißt das etwa, dass Sie kein Blut zu sich nehmen.“

„Blut kann nur von einem lebenden Menschen genommen werden, der um sein Leben fürchtet. Blutdienern wird immer erst im Nachhinein ihre Erinnerung vernebelt, was mit der Zeit einen ziemlichen Knacks im Gehirn zurücklässt. Aber sag du mir, wie ich noch so etwas hätte tun sollen können, nachdem ich die große Freude und Ehre gehabt hatte Lisa großzuziehen. Egal welchen Menschen ich auch vor mir hatte, ich sah ihr unschuldiges, lächelndes Kindergesicht vor mir, das mir vertrauensvoll zulächelte. Ich brachte es einfach nicht mehr über mich, also ließ ich es.“

„Sie,… Sie haben es einfach so gelassen?“, fragte ich ungläubig.

Ludwig nickte.

„Aber, das ist doch unmöglich!“

Er lächelte nachsichtig.

„Das habe ich auch geglaubt und ich hatte mich darauf eingestellt dafür zu sterben, dass ich ein Menschenkind als meine Tochter zu mir genommen hatte. Doch Jahr um Jahr verging und nachdem ich den ersten Hunger überwunden hatte wurde mir bewusst, dass nichts mit mir geschah. Und da realisierte ich, dass wir belogen worden waren. Vampire brauchen kein Blut, um zu leben.“

 

Kapitel 39 - Das Tagebuch

„Aber…“, begann ich sofort, brach jedoch ab, um noch einen Moment darüber nachzudenken.

Wenn es wahr war, was Ludwig da sagte, dann machte es die ganze Situation wohl nur noch schlimmer. Was meine Großmutter wohl dazu sagen würde. Würde sie dann noch immer ein friedliches Zusammenleben anstreben?

„Das würde einfach alles ändern“, sprach ich es schließlich laut aus.

Sein Lächeln wurde breiter.

„Jetzt musst du mir aber verraten, was ein Mensch, besonders aber einer, der noch immer die Werte der Jäger in sich trägt, in den Diensten Oswalds zu suchen hat?“

Natürlich, dieser Mann war alles andere als dumm. Ich hätte besser aufpassen müssen, aber er hatte mich einfach auf so vielen Ebenen gleichzeitig überrascht.

„Ich brauche seine Hilfe.“

Ludwig musterte mich eindringlich.

„Und dir kann niemand sonst in dieser Sache helfen?“

„Ich wüsste von keinem.“

Zu meiner Überraschung nickte Ludwig verständnisvoll.

„Es muss dir etwas schwer auf der Seele lasten, dass du dafür bereit bist unter Oswald zu dienen.“

„Bisher hatte ich viel Glück“, gab ich zu.

„Ja, es hilft, dass ihr Jäger die Leben von Vampiren geringschätzt. Ich würde an deiner Stelle aber trotzdem vorsichtig sein. Wer an Oswalds Seite steht, der hat viel Macht. Lass sie dir nicht zu Kopf steigen, denn Oswald ist dafür bekannt, dass er seine Geschöpfe an einem Tag liebt und ihnen am nächsten den Kopf abreißt. Du solltest dir wirklich überlegen, ob dir seine Hilfe das wert ist.“

„Er ist auf mich genauso angewiesenen, wie ich auf ihn.“

Zumindest hoffte ich das. Ludwig sah den Zweifel in meinen Augen. Er seufzte schwer.

„Lisa hat mich so weich gemacht und zu allem Überfluss erinnerst du mich auch noch an sie.“

Überraschend leichtfüßig erhob er sich aus seinem Sessel und ging zu einem der Bücherregale an der Wand. Ludwig hatte nicht gelogen, sein Zerfall war wirklich rein äußerlich. Er zog ein alt aussehendes, kleines Büchen, fast schon ein Heft, heraus, kam zurück und reichte es mir. Fragen sah ich ihn an.

„Was ist das?“

„Etwas, wofür dich Oswald töten wird, sollte er jemals erfahren, dass dieses Buch auch nur existiert.“

Ich schlug den schweren Ledereinband auf und las die erste Seite. Vor Überraschung hätte ich es beinahe fallen gelassen.

„Ich verlasse mich darauf, dass du das Wissen in diesem Buch nicht missbrauchen wirst“, meinte Ludwig schwach.

„Woher hast du es?“, fragte ich fassungslos.

„Vor langer Zeit fand ich es. Mich wundert eher, dass du es Lesen kannst.“

Entrückt sah ich auf. Ludwig lächelte.

„Ich hatte da so einen Verdacht. Die Sprache nennt sich nechitayemyy. Es ist die Muttersprache der magiebegabten Wesen. Ich selbst brauchte fast ein halbes Jahrtausend, um es lesen zu können. Vielleicht brauchst du Oswalds Hilfe jetzt nicht mehr und kannst dich von ihm befreien, bevor es zu spät ist.“

„Woher haben Sie das gewusst?“

„Ich habe das Buch, oder vielleicht besser das Tagebuch, gelesen:  ‚Ich kann es nicht fassen, dass all die Geschichten wahr sind. Diese Wesen sind eingesperrt auf diesem Planeten, wissen nichts von uns anderen oder Portalen. Auch wenn sie einmal zu uns gehört haben, so beweist doch das, und die Tatsache, dass sie nicht in der Lage sind die unlesbare Sprache zu lesen, dass dieses Volk schon lange verloren ist.‘

„Diese Völker schon lange verloren sind“, berichtigte ich ihn.

Ludwig sah mich überrascht an.

„Wirklich?“

Ich nickte.

„Das ergibt keinen Sinn.“

„Nicht, wenn man die verschiedenen Völkerstämme der Menschen betrachtet“, meinte ich.

„Das stimmt“, meinte Ludwig mit einem entschuldigenden Lächeln, „wahrscheinlich rege ich mich nur gerade über meinen eigenen Fehler auf.“

Er ließ sich zurück auf seinen Sessel sinken und seufzte schwer. Sein Lächeln verrutschte etwas.

„Es ist Zeit. Ich habe dir alles gegeben, was ich dir geben konnte.“

Irgendwie hatte ich geglaubt, dass wenn der Moment tatsächlich direkt vor ihm stehen würde, die Bestie noch aus ihm herausbrechen würde. Ich schämte mich. Als ich die Dadao ziehen wollte, warf er mir ein entschuldigendes Lächeln zu und griff nach einer Schatulle, die unsichtbar in den Tisch eingelassen gewesen war. Ludwig reichte sie mir und ich öffnete sie. Nachdem ich das feine Seidentuch zurückgeschlagen hatte, kam eine Art Pflock zum Vorschein. Er war so lang wie mein Unterarm mit einem in braunes Leder gewickelten Griff. Was ihn jedoch so außergewöhnlich machte, war, dass er bereits direkt nach Griff kaum so breit wie mein kleiner Finger war und nur, wenn das Metall im Licht der Lampe schimmerte die obere Hälfte überhaupt zu sehen war.

„Was ist das?“, fragte ich verwundert.

„Das ist ein Assassinenpflock. Er stammt aus einer Zeit meines Lebens, auf die ich nicht besonders stolz bin. Von ihnen gibt es auf der ganzen Welt nur dreizehn und glaub mir, du willst keinem seiner vampirischen Besitzer je begegnen.“

Ludwig schloss für einen kurzen Moment die Augen.

„Ich will, dass du mich mit dieser Waffe tötest. Zum einen wäre es ein angemessenes Ende und zum anderen möchte ich, dass mich meine Tochter anständig begraben kann. Auch wenn ich sie auf den Tag vorbereitet habe, so möchte ich ihr doch wenn möglich keinen entstellten Leichnam zumuten.“

Ich nickte und legte das Kästchen beiseite. Diesen letzten Wunsch würde ich ihm mit Freude erfüllen. Ich war froh, dass Oswald mich geschickt hatte. Wahrscheinlich hätten sowohl Oswalds vampirische Diener als auch meine Jägerfreunde ihn entstellt auf dem Sessel zurückgelassen, wie es sich gehörte. Ich war schon immer einen Ticken zu weich für diesen Job gewesen. Mit einer Hand half ich Ludwig auf und stützte ihn.

„Es tut mir leid“, sagte ich und meinte es wirklich ernst, „ich glaube, dass ich von Ihnen genauso viel hätte lernen können, wie von Oswald.“

Ludwig lächelte schwach.

„Alles was ich weiß, steht in diesem Buch. Meine Zeit ist gekommen, ich habe lange genug gelebt, um das zu erkennen. Versprich mir nur, dass du ein Auge auf meine Tochter haben wirst.“

„Ihr wird nichts geschehen.“

Mit diesen Worten rammte ich ihm den Pflock direkt ins Herz. Ich hatte so viel Kraft angewandt, wie ich es von einem herkömmlichen Pflock gewohnt gewesen war und musste den Schwung hart abbremsen, damit die schlanke Waffe nicht vollkommen durch ihn hindurchglitt. Einen unendlich langen Moment klammerte er sich noch an mir fest, bevor seine Augen völlig trüb wurden und er in meinen Armen zusammensank. Vorsichtig ließ ich ihn auf den Sessel gleiten, reinigte den Pflock an meiner Kleidung und legte ihn behutsam zurück in das Kästchen. Anschließend schloss ich Ludwig die Augen und faltete ihm seine Hände im Schoß, sodass es aussah, als würde er einfach friedlich schlafen. Würde es keine Autopsie geben, dann würde auch niemand das kleine Loch auf seinem Brustkorb bemerken. Ich nahm mir das Kästchen und verließ die Wohnung. Vor der Tür stand noch Lisa. Als sie mich erblickte, füllten sich ihre Augen sofort mit Tränen, doch sie weinte nicht.

„Er war ein guter Mann“, war alles, was ich sagte.

Lisa nickte und verschwand an mir vorbei im Haus. Ich hatte keinen Hass in ihren Augen gesehen, was mich zugegebenermaßen faszinierte. Ich hätte mich gehasst. Mit dem Auto fuhr ich aus der Stadt, jedoch nicht sofort zurück zu Oswald. Ich machte einen Zwischenstopp an einer Raststätte und holte das Buch hervor. Den Beweis, dass ich ein magiebegabtes Wesen war. Ich blickte auf die erste Seite. Das war also meine Muttersprache. Jetzt, wo ich darauf achtete, merkte ich endlich, dass das Buch nicht auf Englisch geschrieben war. Zuvor hatte ich es einfach überlesen und jetzt, da ich sie endlich las, formte sich auch der Klang der Worte in meinem Kopf, als hätte ich sie tatsächlich schon mein Leben lang gekannt. Und plötzlich vermisste ich, was ich nie kennengelernt hatte und ich verstand die Wassernymphe, von der Nikolas mir erzählt hatte. Die Wassernymphe, die alle getötet hatte, die Schuld am Tot ihrer Eltern gewesen waren. Natürlich hätte ich mich nicht gegen meine Eltern gewandt, sie hatten keine Schuld. Aber die Vampire, die die Hetzjagd auf meine Eltern begonnen hatten, sie würden dafür bezahlen mir meine Welt genommen zu haben. Ich atmete tief durch und konzentrierte mich auf den Text:

 ‚Tag 1: Ich kann es nicht fassen, dass all die Geschichten wahr sind. Diese Wesen sind eingesperrt auf diesem Planeten, wissen nichts von uns anderen oder Portalen. Auch wenn sie einmal zu uns gehört haben, so beweist doch das, und die Tatsache, dass sie nicht in der Lage sind die unlesbare Sprache zu lesen, dass diese Völker schon lange verloren sind. Dennoch verstehe ich nicht, warum es uns verboten ist hierher zu kommen. Diese Wesen, die all ihre Magie verloren haben, was sollen sie schon gegen jemanden wie mich ausrichten können? Und es ist wirklich eine Schande, was sie mit diesem einst so wunderschönen Planeten angestellt haben. Mein Vater hat mir von ihm erzähl. Er war dort gewesen. Vor langer Zeit, selbst nach unseren Maßstäben. Damals, als die Völker noch friedlich miteinander gelebt hatten. Er meinte, was passiert ist, hätte alle überrascht. Keiner hatte damit gerechnet, dass sich jemand zu so etwas erdreisten könnte. Es war richtig ihnen ihre Magie zu nehmen. Ich will mir gar nicht vorstellen, was geschehen wäre, wenn sie heute noch die Möglichkeit hätten zwischen den Welten zu wandern.

Tag 2: Mein Vater muss inzwischen wissen, dass ich fortgegangen bin, ich bezweifle aber, dass er mich hier vermuten wird, also bleiben mir noch ein paar Tage, um diese Völker zu studieren. Der Planet ist in erbarmungswürdigem Zustand. Ich suchte eine der großen Siedlungen auf. Die Maßstäbe übertrafen alles, was ich kannte. Es müssen Millionen gewesen sein, die dort auf engstem Raum zusammenlebten. Wer hat sich nur so etwas erdacht? Der Planet ist hoffnungslos überbevölkert und ich bezweifle, dass das noch lange gutgehen wird. Anscheinend wird hier doch dringender unsere Hilfe benötigt, als ich gedacht hatte. Ich werde meinen Vater bitten sich selbst ein Bild zu machen. Er wird mir sicher Recht geben, dass wir diesen Planeten nicht länger sich selbst überlassen dürfen. Aber vorher müsste der Zwist zwischen den Völkern behoben werden. Das jedoch halte ich für unmöglich.

Tag 3: Ich beobachtete heute einige des im Verborgenen lebenden Volkes und war entsetzt. In meinem langen Leben dachte ich schon alles gesehen zu haben, aber bei diesen grausigen Taten, die ich nicht einmal vermag niederzuschreiben, bedeckte sogar ich mir meine Augen. Sie haben nichts mehr mit dem Volk zu tun, über das ich gelesen und von dem mir die anderen erzählt haben. Vielleicht sind sie doch der wahre Grund, dass wir uns von diesem Planeten distanziert haben. Ich würde auch nicht wollen, dass diese Wesen mein Volk mit ihrer perversen und blutrünstigen Lebensart infizieren.

Tag 4: Alles hier auf diesem Planeten schein verdorben. Ist das das Schicksal, das einen heimsucht, wenn man von den anderen Welten getrennt wird? Würden wir uns auch dahin zurückentwickeln? Heute sind bereits die ersten Sucher durch Portale aufgetaucht. Mein Vater hat sie wahrscheinlich umgehend informiert. Jeder weiß um mein Interesse um den verbannten Planeten. Ich muss den Standort wechseln, wenn ich meine Beobachtungen abschließen will.

Tag 5: Die Krieger, die nach mir ausgesandt wurden, sind gut. Jedoch habe ich deutlich mehr Erfahrung mich unbekannten Gegebenheiten anzupassen. Als ich durch die große Siedlung ging, konnte ich sie schnell abschütteln. Dabei wurde ich Zeuge eines Mordes. Ein Mann, der sich erdreistete das Leben eines anderen zu nehmen, nur weil er ihm dessen Besitz neidete. Zur Strafe nahm ich ihm auch sein Leben und setzte die beiden im Wald bei. Ich weiß nicht, ob das ihren Riten entspricht, ich nahm es einfach einmal an.

Tag 6: Heute folgte ich wieder einem Mitglied des im Verborgenen lebenden Volkes. Sie scheinen eine sehr strikte Hierarchie zu haben. Ich wurde Zeuge, wie die Frau von einem Misserfolg berichtete und sich daraufhin ohne sich zur Wehr zu setzten töten ließ. Ich weiß nicht, ob ich sie dafür bewundern oder bemitleiden soll.

Tag 7: Inzwischen gewöhne ich mich an die Siedlungen. Sie scheinen durchaus ihre Vorzüge zu haben, auch wenn sie nicht gerade gesund für den Planeten sind. In der Nacht konnte ich endlich zeuge dessen werden, weswegen ich hierhergekommen war: Der Verwandlung eines Mitglied des Siedlungsvolkes in ein Mitglied des verborgen Volkes. Es war eine sehr blutige und brutale Angelegenheit, wie anscheinend alles, das mit dem verborgenen Volk zu tun hat. Augenscheinlich blieb der Übergang erfolglos. Die Mitglieder des verborgenen Volkes schienen aber wenig traurig oder erzürnt darüber. Anscheinend ist dies häufiger der Fall. Dem, dem die Verwandlung misslungen war, wurde jedoch von den anderen schwer gescholten. Sie bezeichneten ihn als schwach und als Schande für Ihresgleichen. Ich hatte Mitleid mit ihm.

Tag 8: Die Krieger hätten mich heute fast gefunden. Jedoch trafen sie stattdessen zuerst auf Mitglieder des verborgenen Volkes. Was sich dann vor meinen Augen abspielte, bewegte mich endgültig zu dem Entschluss meine Forschungen abzubrechen. Kaum hatte das verborgene Volk erkannt, dass es sich um Krieger aus meiner Welt handelte, stürzten sie sich erbarmungslos auf sie. Keiner von ihnen überlebte den Angriff, aber auch einer der Krieger wurde schwer verletzt. Ich wollte nicht, dass so etwas passiert. Vielleicht sollte ich einfach die Tatsache akzeptieren, dass wir diese Welt zulange allein gelassen haben. Sie wissen nicht einmal mehr, wer mein Volk für sie sein sollte. Sie haben jeglichen Respekt verloren. Aber was kann man schon von Wesen erwarten, die den Tod verloren haben?

Tag 9: Ich habe beschlossen den Kriegern nachhause zu folgen. Seit sie gestern fortgegangen sind, werde ich das Gefühl nicht mehr los, dass man meine Anwesenheit bemerkt hat. Vielleicht…‘

 

 

Kapitel 40 - Gelegenheiten muss man ergreifen

Hier brach es einfach ab. Die restlichen Seiten waren ebenfalls leer. Ich wusste beim besten Willen nicht, warum Ludwig seinen Inhalt für so brisant hielt. Ja, ein magiebegabtes Wesen war hier gewesen, um uns zu erforschen und hatte und als verkommene Subjekte identifiziert, um es mal Klartext auszudrücken. Aber es verriet uns auch – zumindest wenn ich es richtig verstand – dass wir alle einmal dazu in der Lage gewesen waren die Portale zu nutzen und dass uns diese Fähigkeit genommen wurde als Strafe. Vielleicht konnte ich aber auch einfach nicht das zwischen den Zeilen lesen, das Ludwig dort gesehen hatte. Ich hätte diesen Text lesen sollen, bevor ich ihn getötet hatte, aber dafür war es jetzt zu spät. Und damit war ich noch immer auf Oswalds Hilfe angewiesen. Nichts hatte sich geändert, nur dass ich wie immer nur noch mehr Fragen hatte. Zu der Zeit ‚davor‘. Es konnte doch noch gar nicht so lange her sein, wenn sein Vater ihm davon erzählt hatte. Allerdings wusste ich auch nicht, wie als dieses Buch war. Einhundert Jahre mindestens würde ich sagen. Allerdings kannte ich nicht das Papier, aus dem es gefertigt worden war. Vielleicht hatte es von Natur aus diese gelbliche Farbe. Aber viel wichtiger: Warum war der Eintrag so plötzlich abgebrochen? Eigentlich gab es nur eine logische Antwort darauf: Am Tag zuvor waren die Krieger seines Volkes angegriffen worden und hatten nur mit Mühe überlebt. Dieser Mann hatte sich mehr nach einem Gelehrten angehört. Wenn er angegriffen worden wäre, hätte er das sicher nicht überlebt. Das hätte auch erklärt, warum er sei n Forschungstagebuch zurückgelassen hatte. Ich legte das Heftchen auf den Beifahrersitz und lenkte den Wagen zurück auf die Autobahn.

Viel zu schnell war ich zurück. Ich fuhr ohne Umschweife mit dem Aufzug in Oswalds Suite. Als sich die Fahrstuhltüren öffneten, wurde ich von einem sauberen Gang überrascht. Wer auch immer hier saubergemacht hatte war ein wahres Genie. Als ich das Zimmer betrat, stieß ich auf einen ungewöhnlichen Anblick. Oswald saß in seinem Sessel, außer ihm war das Zimmer leer. Sein Kopf war gegen die Lehne zurückgesunken, seine Augen geschlossen und die Atmung flach. Schlief er etwa? Neugierig trat ich näher und beugte mich über ihm. Nichts. Ich entschloss mich dagegen ihn zu wecken, wandte mich um und schlich aus dem Zimmer. Hätte ich ihn vielleicht doch einfach töten sollen? Vampire mussten nicht schlafen, aber sie konnten es. Und dabei waren sie anscheinend genauso hilflos wie Menschen. Aber er war der einzige, von dem ich wusste, der etwas über magiebegabte Wesen wusste. Und ich hatte mir den Assassinenpflock bereits ungelegt. In der spezialangefertigten Scheide sah er aus wie ein gewöhnlicher Dolch, der mir jetzt um die Hüfte baumelte. Allerdings glaubten Vampire nicht an im-Schlaf-gestorben-Geschichten. Und würde ich bei einer sitzenden Person überhaupt den Pflock im richtigen Winkel ansetzen können. Was war mir wichtiger? Etwas über mich zu erfahren oder das zu tun, weswegen ich hier war? Ich fluchte innerlich. Und das zeigte mir, dass ich die Entscheidung eigentlich schon getroffen hatte. Das hier, wenigstens den Versuch, war ich Luca schuldig, also ging ich zurück in den stark reinigungsmittelausdünstenden Raum. Oswald hatte seine Position nicht im Geringsten verändert. Was, wenn er doch wach war? Ich ging weiter auf ihn zu, die Hand auf den Griff des Pflocks gelegt. Das war es, warum wir und in das Gefolge eines Vampirs einschlichen, dass sie in unserer Gegenwart ihre Vorsicht fahren lassen würden, wenn auch nur ein einziges Mal. Das würde uns reichen.

Lautlos zog ich den Pflock aus dem Halfter und trat direkt vor ihn. Müsste er jetzt nicht aufwachen? Spürte er nicht die nahende Gefahr?

Ob Oswald wohl geahnt hatte, dass es gerade seine perfekte Haltung, selbst im Schlaf, geschuldet sein würde, dass ich ihn töten konnte. Ich hielt den Atem an, holte aus und stieß zu. Einen Moment, bevor der Pflock unter seine Haut fuhr, öffnete Oswald die Augen, doch es war zu spät. Er konnte nicht mehr verhindern, dass sich die Spitze des Pflocks in ihn hineinbohrte. Ich spürte nicht, wann er auf sein Herz traf, dazu war er zu scharf. Es war Oswalds amüsiertes Schnauben, das mich hastig aufblicken ließ.

„Netter Schachzug“, meinte er mir einem breiten Grinsen, „jetzt bin ich an der Reihe.“

Ohne dass ich in der Lage war etwas zu tun packte Oswald mich an der Kehle und schleuderte mich einmal quer durchs Zimmer. Ich schlug hart gegen die gegenüberliegende Wand, die Luft wurde mir aus den Lungen getrieben und meine Augen begannen zu tränen.

„Du solltest tot sein“, stieß ich mühsam hervor, während ich mich aufrappelte.

„Kind“, meinte Oswald mit leicht tadelndem Ton und kam bedrohlich langsam auf mich zu, „das bin ich doch schon längst.“

Er griff wieder nach meiner Kehle, doch dieses Mal war ich vorbereitet. Und mir der Tatsache vollauf bewusst, dass ich kein Mensch war. Ich duckte mich unter Oswalds Hand hinweg und zog dabei mit einem heftigen Ruck den Pflock wieder aus seiner Brust. Ich wurde mit einer schmerzverzerrten Grimasse belohnt.

„Warum hat es dich nicht umgebracht?“, fragte ich atemlos, während ich mich auf die Beine schwang.

Oswalds lächeln wurde breiter.

„Ich bin ein bisschen zu alt für diese ganze Pflock-durchs-Herz-Nummer Kind. Wie schade, dass ich dich jetzt töten muss. Ich hätte dich so gerne noch ein Weilchen länger studiert.“

Zu alt für Tod durch einen Pflock im Herzen? Das war mir neu. Allerdingst wusste ich auch nicht im Entferntesten, wie alt Oswald war. Und Insania war eine weitaus verrücktere Sache, als das hier. Auch wenn sie mir momentan weniger Probleme bereitete. Hätte ich ihm doch nur gleich enthauptet, aber nein, ich hatte ja mein neues Spielzeug unbedingt benutzen müssen. Allerdings? War der Assassinenpflock nicht eine Vampirwaffe?

Wie aufs Stichwort begann Oswald zu taumeln, fing sich jedoch sofort wieder. Verwirrt sah er mich an.

„Was war das für eine Klinge?!“, schrie er mich beinahe an und zum ersten Mal vernahm ich einen Anflug von Panik in seiner Stimme.

Ein breites Lächeln stahl sich auf mein Gesicht.

„Ein Assassinenpflock“, meinte ich und durfte beobachten, wie die letzte Farbe aus seinem Gesicht wich.

„Woher hast du ihn?“, fragte er tonlos, bevor er selbst auf die Antwort kam, „Ludwig, aber natürlich. Er konnte nicht einfach so von der Welt verschwinden, nein, er musste mich unbedingt mit sich reisen.“

Ich warf einen Seitenblick auf den Pflock. Aus was war er hergestellt worden? So eine Waffe, wenn ich sie replizieren könnte, dann würde das Leben der Jäger um einiges leichter machen.

Oswald wankte zurück zu seinem Sessel und schnappte sich etwas von der Unterseite der Sitzfläche. Ich musste ein paar Schritte näher treten, erkannte jedoch erst, was er in der Hand hielt, als Oswald es sich in die Brust rammte. Es war ein hauchdünner Metallstab, der wahrscheinlich genau die Wunde füllte, die ich mit dem Assassinenpflock geschaffen hatte.

„So leicht bin ich nicht zu töten, Kind“, meinte er mit einem schelmischen Grinsen und kam in bedrohlicher Langsamkeit auf mich zu, „du hast einen guten Start hingelegt, das muss man dir lassen, aber jetzt ist es für dich Zeit zu sterben.“

Und er machte einen Satz. Ob von der Verletzung noch verlangsamt oder meinen neu entdeckten Reflexen geschuldet, ich sah ihn kommen und wischte ihn einfach aus der Luft. Trotzdem schaffte ich es nicht ihn zu Boden zu schlagen. Er landete einige Schritte von mir entfernt auf seinen Füßen und lachte.

„Fast freue ich mich, dass du dich gegen mich erhoben hast, Kind. Gegen ein magiebegabtes Wesen habe ich in meinem ewig langen Leben noch nicht das Vergnügen gehabt bis auf den Tod zu kämpfen. Komm Kind, langweile mich nicht länger.“

„Du bist es doch, der spricht“, meinte ich, nahm seine Einladung aber an und zog mit der freien Hand noch ein Dadao, bevor ich mich auf ihn stürzte.

In die Dadaoklinge lief er direkt hinein, nur dem Pflock wich er aus. Ich musste unbedingt herausfinden, was ihn so besonders machte. Die Wunde schien er ja an sich ganz gut weggesteckt zu haben. Apropos Wunde, das Dadao hatte sich irgendwie in Oswalds Schulter verfangen, was mehr zu seinem Nachteil gereichte, als zu meinem. Ich grinste schief und zog kräftig schräg am Dadao, was dazu führte, dass ich Oswald heftig gegen Wand donnerte. Doch ebenso wenig wie mir war ihm das überlegene Grinsen aus dem Gesicht zu wischen. Stellte sich nur noch die Frage, wer damit Recht behielt.

Krallen, die mir meine Bauchdecke aufrissen, waren die sofortige Strafe für mein Abschweifen in Gedanken. Nur der instinktive Schritt nach hinten hatte meine Organe davor bewahrt jetzt auf dem Teppich verteilt vor mir zu liegen. Leider blutete ich trotzdem ziemlich heftig. Das war nicht gut und würde sicher Melisa auf den Plan rufen. Ich sollte mich besser beeilen.

Oswald schloss die Augen und sog genüsslich die Luft ein.

„Wahrhaftig“, meinte er und öffnete wieder seine Augen, „selbst dein Blut, nichts an dir verströmt den charakteristischen Geruch eines Menschen. Du riechst nur nach deiner Umgebung. Vielleicht wirst du doch nicht so gut schmecken, wie ich es mir erhofft hatte.“

Jetzt wo auf einen von uns das Ende zukam, wieso spielte ich da eigentlich nicht ein bisschen mit ihm?

„Constantin meinte, mein Blut sei es nicht wert getrunken zu werden“, meinte ich schulterzuckend, „aber da hat anscheinend jeder von euch eine andere Meinung.“

Und tatsächlich, ich konnte beobachten, wie ein leichtes Zögern durch seinen Körper ging.

„Was hast du mit Constantin zu schaffen Kind?“

Ein hämisches Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht auf.

„Ich hab ihn in seinen derzeitigen Zustand geschickt und welch ein Zufall, da ist noch ein Platz mit deinem Namen drauf frei.“

„Wie hast du das geschafft? So ein Zustand wie der von Constantin, der war bisher noch nie dagewesen?“

Ich schnalzte missbilligend mit der Zunge und schüttelte den Kopf, ohne jedoch das Grinsen aufzugeben.

„Wissen für Wissen, Oswald.“

Tatsächlich gab er seine Kampfhaltung auf und stellte sich locker hin. Verwirrt festigte ich den Griff um den Pflock.

„Was wird das?“, fragte ich mit zusammengezogenen Augenbrauen.

„Ich habe lange genug gelebt, um zu wissen, wann jemand zu töten ist und wann man jemanden behalten sollte. Du hast gerade deinen Wert immens gesteigert und dir damit das Recht verdient zu leben.“

„Einfach so? Ich habe gerade versucht dich zu töten. Hast du keine Angst, dass ich es wieder versuchen könnte?“

„Nein, denn du brauchst mich auch. Oder willst du nicht mehr etwas über dich und Deinesgleichen erfahren?“

„Und wie sollte ich darauf vertrauen können, dass du mich nicht einfach plötzlich umbringst?“

„Konntest du das etwa vorher?“, fragte er mit einem spöttisch nach oben gezogenen Mundwinkel.

Er hatte Recht. Ich hatte einfach nur eine Gelegenheit ergriffen, was aber nichts an der Tatsache änderte, dass ich ihn eigentlich brauchte. Ich steckte den Pflock zurück in die Scheide.

„Einverstanden“, meinte ich und drückte die Hände auf meine Bauchwunde.

„Ich könnte mich um das kümmern“, meinte Oswald und deutete mit dem Kinn auf meinen Bauch, „sozusagen als kleines Friedensangebot.“

„Wie?“, fragte ich skeptisch.

Er lächelte breit und zeigte dabei seine Zähne. Ich schrak zurück, woraufhin er lachte.

„Eisspray, Wundsalbe und Verbandszeug“, meinte Oswald amüsiert, „was hast du denn gedacht?“

Oswald hatte Humor. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Für einen Moment war er verschwunden und im nächsten Moment tatsächlich mit besagten Dingen zurück. Ich hatte inzwischen die zerfetzte Lederweste geöffnet und mit einem der Tischdeckchen das Gröbste an Blut fortgewischt. Oswald war mit jedem der fünf Nägel an seiner Hand fast bis zum ersten Gelenk tief  in meine Bauchhöhle eingedrungen. Das würde ziemlich hässliche Narben geben.

„Ich bin mir nicht sicher, ob das vielleicht genäht werden sollte“, seufzte ich schwer.

Wie aus dem Nichts zauberte Oswald Nadel und tatsächlich einen dieser in Krankenhäusern benutzten Fäden her und warf sie mir mit dem restlichen Zeug zu.

„Warum habt ihr hier sowas?“, fragte ich überrascht.

„Nach einigen Jahren neigen Blutdiener dazu empfindlich zu werden und es ist nicht immer leicht auf die Schnelle neue aufzutreiben.“

Genau das, was ich hatte hören wollen. Ich wischte noch einmal – jetzt aber mit einer sauberen Mullbinde – über die Wunden, sie bluteten aber einfach zu stark, als dass ich sie anständig sauber bekam. Resigniert ließ ich mich in einer halb liegenden Position auf dem Sofa nieder und spürte großzügig Eisspray auf die Wunde. Dann presse ich die erste Kratzfurche zusammen und schob mit einem energischen Ruck die Nadel durch die Haut.

Kapitel 41 - Frieden

„Augenscheinlich hast du so etwas noch nie gemacht“, meinte Oswald amüsiert.

„Sonst bin ich eigentlich immer schneller“, antwortete ich ohne aufzublicken.

Obwohl ich keinen Schmerz dank des Eissprays fühlte, war es doch ein komisches Gefühl sich die Nadel durch die Haut zu stecken.

„Wenn du erlaubst“, sagte Oswald, der plötzlich neben mir stand und hatte mir auch schon die Nadel aus der Hand genommen.

Ich zuckte zurück, doch er ließ sich davon nicht beirren und nähte mit erschreckender Routine einen Kratzer nach dem anderen, ohne sich von dem Blut beirren zu lassen, das ihm über die Finger floss. Als er fertig war, musste ich zugeben, dass er es besser gemacht hatte, als ich jemals zu in der Lage gewesen wäre.

„Danke“, meinte ich, während er die Wundsalbe aufstrich und mir anschließend den Verband umlegte.

„Ich würde mir nicht danken, du schuldest mir jetzt einen Gefallen Kind.“

Natürlich.

„Das hatte ich mir schon fast gedacht.“

„Sieh diese Narben in Zukunft als Strafen für deinen Ungehorsam an. Dieses Mal konnten wir noch eine Übereinkunft erzielen, aber das nächste Mal werde ich dich unter keinen Umständen am Leben lassen, egal wie wertvoll du auch für mich geworden sein solltest, hast du das verstanden Kind? Ich erlaube jedem unter mir einen Akt der Rebellion, das heute war deiner.“

Ich nickte. Das nächste Mal würde auch ich nicht zögern.

„Also, nun erzähl mir, wie du dazu in der Lage warst Constantin so vollkommen von der Bildfläche verschwinden zu lassen.“

„Aber wenn du das weißt, was ist dir mein Leben dann noch wert?“, fragte ich und blickte ihm trotz des Risikos direkt in die Augen.

Oswald verstand, was ich damit sagen wollte und lächelte.

„Nicht viel, das stimmt.“

„Ich werde dich davor beschützen und mehr nicht. So bleibe ich für dich nützlich.“

„Und wie kann ich mir dann sicher sei, dass du dasselbe nicht mit mir machst.“

Ich schnaubte amüsiert, fing mich aber sofort wieder, als ich Oswalds wenig freundlichen Blick sah.

„Du musst mir einfach glauben, wenn ich sage, dass ich es bevorzugen würde dich auf klassische Art und Weise zu töten, nämlich mit dem Kopf neben deinem Körper.“

„Du würdest wirklich einen faszinierenden Vampir abgeben“, seufzte er und beobachtete amüsiert, wie ich leichenblass wurde, „keine Sorge. Ich möchte nicht das Risiko eingehen, dass du die Verwandlung nicht überlebst. Oder noch schlimmer, durch die Verwandlung die Fähigkeit verlierst die Portale zu öffnen.“

„Was erwartest du auf der anderen Seite?“

„Nichts, was dich interessieren müsste, Kind.“

„Okay, kannst du mir dann vielleicht wenigstens schon einmal etwas über magiebegabte Wesen erzählen? Vielleicht über die Unterschiede zwischen denen, die immer wiederkehren und denen, die nur ein einziges Mal kamen?“

Oswald warf mir einen amüsiert nachsichtigen Blick zu.

„Nun, das ist einfach. Die, die nur ein einziges Mal kamen, waren… Kinder, auch wenn sie äußerlich schon für solch dümmliche Aktionen zu alt an Jahren wirkten. Sie waren alle fast ausnahmslos eingeschüchtert von unserer Welt und sind vor Angst wieder durch eines der Portale in ihre Heimat zurückgeflüchtet. Die Wiederkehrenden kommen noch nicht so lange hierher, bis auf eine Ausnahme. Zuerst glaubten wir nicht, dass er ein magiebegabtes Wesen ist, aber er ist unsterblich und kein Vampir, also gibt es keine andere Erklärung. Er ist das eine magiebegabte Wesen, das jeder Vampir eines gewissen Alters schon einmal zumindest aus der Ferne gesehen hat. Und auch der einzige, dem wir uns freiwillig nicht nähern. Auch wenn sein Äußeres unscheinbar und so menschlich ist, so hat uns Mutter höchstpersönlich eingeprägt uns von ihm fernzuhalten. Er ist das einzige Wesen vor dem sie sich zu fürchten scheint.“

Ein Wesen, das sogar die oberste Vampirherrscherin zum Zittern brachte? Wo doch schon ihre kleinsten Untertanen so naiv furchtlos waren? Ihm wollte ich begegnen.

„Und ihr respektiert ihren Wunsch euch von diesem Wesen fernzuhalten?“

„Natürlich. Wir würden den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben, wenn wir es nicht täten. Mutter ist nicht so verzeihend, wie ich es zu dir war. Du solltest mir dankbar sein.“

„Und es gibt nicht zufällig jemanden, der es trotzdem getan hat und noch lebt?“

Oswald lachte.

„Nein.“

„Und die anderen wiederkehrenden Wesen?“

„Sie kamen erst sehr viel später. Der erste von ihnen war ein großer Elb mit langem blondem Haar, wobei sie alle groß sind und langes Haar haben. Er kommt noch keine fünfundzwanzig Jahre hierher. Die anderen um einiges kürzer. Es war, als hätte er ein Welle losgetreten. Dies gab uns aber auch die Chance sie zu beobachten und schließlich einen von ihnen gefangen zu nehmen.“

Das war tatsächlich eine große Neuigkeit.

„Gefangen zu nehmen? Das heißt er lebt noch?“

„Im tiefsten Kerker in Mutters Anwesen seit drei Jahren und noch immer weigert er sich standhaft ihr ein Portal zu öffnen. Ich bin mir sicher, dass sie bald die Geduld mit ihm verlieren oder er doch eine Möglichkeit sich das Leben zu nehmen finden wird.“

„Was für eine Art magiebegabtes Wesen ist er?“

„Ein Elb. Was heißt, dass er nicht auf einen natürlichen Tod hoffen kann. Wenn Mutter es wünschen sollte, wird er bis zum Ende aller Tage dort unten bleiben.“

Ich nickte abwesend und versuchte es mir vorzustellen in alle Ewigkeit in einen dunklen Raum eingesperrt zu sein, wahrscheinlich sogar noch angekettet. Es gelang mir nicht.

„Und für welche Art magiebegabtes Wesen hältst du mich?“

„Nun, ich kann dir sagen, was du nicht bist Kind. Du bist kein Elb, dafür bist du zu klein und deine Züge zu rund. Du bist keine Fee, denn du hast noch nie die Gestalt gewandelt. Du bist keine Elfe, denn dafür bist du viel zu groß. Das einzige, was ich sonst noch kenne, sind die Nymphen. Da gibt es Wasser-, Wald-, Feuer- und Luftnymphen, aber ich bezweifle, dass du unter Wasser atmen, mit Tieren und Bäumen sprechen, Feuer beschwören oder so hoch und weit springen kannst, dass du scheinst zu fliegen, oder habe ich Unrecht?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Aber was, wenn ich nur zur Hälfte eines dieser Dinge wäre?“

Entrückt sah mich Oswald an, öffnete den Mund und schloss ihn unverrichteter Dinge wieder. Es dauerte einen Moment, bis er sich fing.

„Darüber habe ich, ehrlich gesagt, noch nie nachgedacht. Und ich wüsste auch nicht, was solch ein Kind für Fähigkeiten aufzuweisen hätte.“

Oswald musterte mich scharf.

„So wäre wieder alles möglich.“

„Bist du schon einmal so einem Wesen begegnet?“

Oswald schüttelte den Kopf.

„Nicht, dass ich wüsste. Aber vielleicht ist das die Erklärung für die wiederkehrenden magiebegabten Wesen. Wie alt bist du Kind?“

„Ich werde in knapp einem halben Jahr 23.“

„Nun, wir wissen nicht, wann genau die wiederkehrenden magiebegabten Wesen zum ersten Mal kamen, aber es würde passen. Ich schätze es ist zu viel zu hoffen, dass du einmal einem von ihnen begegnet bist?“

Sollte ich das lieber für mich behalten? Oder sollte ich es Oswald, in der Hoffnung, dass er dadurch mehr herausfinden konnte, die Wahrheit sagen? Ich meine, ich hatte diese Vermutung ja schon eine ganze Weile. Und wenn ich ehrlich war, konnte ich jede Hilfe gebrauchen, die zu kriegen war.

„Ein großer Elb mit langem blondem Haar, das am Oberkopf zusammengefasst war, in einem klassischen dunkelgrauen Anzug mit weißem Hemd, als ich ungefähr drei Jahre alt gewesen bin“, ratterte ich beinahe mechanisch, während ich erinnernd in die Ferne blickte.

Ich riss mich zusammen und kam wieder zurück in die Gegenwart.

„Ein magiebegabtes Wesen im Anzug? So etwas habe ich noch nie gesehen. Sie alle trugen immer die anscheinend für ihr Volk traditionelle Kleidung. Aber das macht deinen Verdacht eigentlich nur noch wahrscheinlicher, Kind. Ein Elb, der an unsere Verhältnisse angepasst lebte, wie konnte uns das nur entgehen?“

„Nun, ich bin mir sicher er gab sich alle Mühe nicht aufzufallen“, meinte ich spöttisch und Oswald warf mir einen ausdruckslosen Blick zu.

„Meine Späher sind sehr gut. Sie hätten ihn bemerkt, wenn er da draußen wäre.“

„Und trotzdem bin ich jetzt hier“, meinte ich amüsiert grinsend.

„Ja“, gab Oswald zu, „aber im Nachhinein betrachtet hat es zu meinen Vorteil gereicht. Hätten wir von einer Beziehung zwischen einem Elb und einem Menschen erfahren, aus dem ein Kind hervorgeht…“

Er verstummte und blickte mich plötzlich scharf an.

„Du bist zweiundzwanzigeinhalb?“

Ich hätte lügen sollen. Wie hatte ich nur so dumm sein können. Natürlich. Die Vampire hatten von dieser Beziehung gewusst, zumindest einer ihrer Anführer und sie hatten nach dem Kind gesucht, nur unter falschem Vorwand. Nämlich dass sie auf der Suche nach zwei entflohenen vampirischen Schwerverbrechern waren. Und ich sah Oswald an, dass er gerade genau dasselbe dachte.

„Ja“, antwortete ich und versuchte dabei ahnungslos zu wirken, „wieso? Ist das wichtig?“

Er sah mich an, doch ich blickte ihm nicht direkt in die Augen. Das vorher war eine – wenn auch recht dumme – Machtdemonstration gewesen, aber ich war ganz sicher nicht nachlässig geworden.

„Ich weiß es noch nicht.“

Und ob er es wusste, aber er war noch nicht bereit diese Information mit mir zu teilen. Aber ich hatte vorher gewusst, dass er mir nicht sein gesamtes Wissen bei Kaffee und Kuchen mitteilen würde, schließlich war Oswald nicht bescheuert. Was die ganze Sache aber sicher um einiges einfacher machen würde. Und als wäre die ganze Sache nicht schon bizarr genug, begann auch noch mein Magen zu knurren. Oswald schnaubte amüsiert.

„Ihr Menschen seid einfach zu…bedürftig. Ihr braucht so viel: Schlaf, Essen, andere Menschen. Kein Wunder dass da kaum noch Zeit bleibt etwas Produktives zustande zu bringen, nicht Kind?“

Ich würdigte diese Aussage mit keiner Antwort, aber das schien Oswald nicht weiter zu stören.

„Ich gebe dir am besten etwas Zeit für deine menschlichen Bedürfnisse, wir sehen uns, wenn die Sonne wieder aufgegangen ist. Du kannst jetzt gehen Kind.“

Ich schlug mit der rechten Faust gegen meine Brust und ging hinauf in mein Zimmer, wo ich mir erst einmal etwas zu Essen bestellte. Einer der großen Vorteile in einem Hotel zu wohnen. Ich stellte mich unter die heiße Dusche, während ich wartete. Viel schneller als erwartet, klopfte es. Ich wickelte mir rasch ein Handtuch um und öffnete die Tür. Kaum war sie einen Spalt offen, zog ich auch schon das lange Messer, das immer an meinem Oberschenkel befestigt war.

„Netter Zahnstocher“, meinte die kleine Frau, deren Haut und kurzgeschorenen Korkenzieherlocken die Farbe von Zartbitterschokolade hatten, mit einem breiten Lächeln, machte aber auch keine Anstalten mir näher zu kommen.

Ihre Haut, selbst im Gesicht, war übersäht mit verschlungenen Tätowierungen, die auch unter ihrer schwarzen Kleidung – vermutlich eine Art Kampfanzug – hervorlugten. Ich hatte Angst vor ihr. Warum wusste ich nicht, aber sie strahlte einfach etwas aus, das mir eine Gänsehaut bescherte. Ich wollte einfach nur, dass sie wieder ging.

„Dein Essen“, meinte sie und streckte mir ein Tablett mit dieser klischeehaften Haube obenauf entgegen, „genieß es.“

Als ob ich auch nur einen einzigen Brocken davon anrühren würde. Ich wusste, dass diese Frau ein Mensch war – eindeutig – aber etwas stimmte mit ihr ganz und gar nicht. Sie war – anders. Sie war mehr. Kein magiebegabtes Wesen, aber irgendetwas stimmte trotzdem nicht mit ihr.

„Wer bist du?“, fragte ich und festigte den Griff um mein Messer.

 

Kapitel 42 - prisluga, die Auserwählten

„Ich bin diejenige, die dir dein Essen bringt.“

„Das habe ich nicht gemeint“, sagte ich unbeeindruckt.

„Was denn? Hast du etwa noch nie eine menschliche Dienerin gesehen?“, fragte sie spöttisch.

„Keiner der Blutdiener hat bisher so ausgesehen“, meinte ich und deutete mit dem Messer an ihr herab.

Empört stemmte sie eine Hand in die Hüfte.

„Sehe ich etwa wie eine Snackbar für dich aus?! Ich bin eine prisluga, merk‘ dir den Unterschied.“

Ich konnte nicht anders, als sie fassungslos anzustarren.

„Aber wozu brauchen sie dich dann?“

„Als ob man mit einem zurückgebliebenen Affen spricht!“, seufzte sie und verdrehte die Augen, „also hör‘ mir jetzt genau zu: Mit dem Essen ist alles in Ordnung, ich werde es auch gerne Vorkosten.  Oder schick mich direkt wieder damit weg. Egal was du tust, tu es gleich, denn ich würde heute gerne auch noch etwas Schlaf bekommen.“

„Warum habe ich dich bis jetzt noch nicht gesehen?“, ignorierte ich ihre kleine Ansprache.

„Weil ich mich normalerweise nicht mit Normalsterblichen wie dir abgebe. Aber Oswald meinte ich soll mal eine Ausnahme machen, weil du ja kein Mensch bist.“

„Er hat es dir erzählt?“, fragte ich fassungslos.

„Mich lügt man nicht an“, meinte sie schulterzuckend, „sonst wäre ich auch nicht viel nützlicher als ein normaler Mensch. Und jetzt iss. Oh, und wenn du jemandem von deinen anderen menschlichen Freunden von mir erzählst, dann bist du tot. Und du würdest dir wünschen, dass es ein Vampir getan hätte.“

Mit einem breiten Grinsen drückte sie mir das Tablett einfach in die Hand und verschwand den Gang hinunter. Und mir zitterten doch tatsächlich die Knie vor Angst. Vor einem Menschen. Ich schloss die Tür hinter mir und schüttelte den Kopf. Vor einem winzigen Menschen. Seufzend stellte ich das Tablett auf den Tisch und nahm die Haube ab. Ein Steak – medium – mit buntem Pfeffer und Bratkartoffeln. Genau das, was ich jetzt brauchte. Den dekorationswürdigen Salat an der Seite aß ich nach kurzem Überlegen schließlich auch noch mit, konnte ja nicht schaden. Dann war mein Kopf auch endlich wieder in der Lage sich auf etwas anderes zu konzentrieren, als meinen leeren Magen. Nämlich die neueste Frage auf meiner schier endlos wirkenden Liste: Was zur Hölle war eine prisluga? Würde mir Oswald eventuell eine Antwort darauf gegen? Er hatte sie schließlich zu mir geschickt. Allerdings fiel das nicht unter unsere Vereinbarung, also bezweifelte ich es. Aber ich würde auch nicht schlafen können. Das war einfach die eine Frage, die das Fass zum Überlaufen brachte. Ich wälze mich sicher noch eine Stunde auf dem Bett, bevor ich schließlich seufzend aufgab und wieder aufstand. Ich schlüpfte in meine Jägerausrüstung, nur um festzustellen, dass das Oberteil nicht mehr zu gebrauchen war. Oswald hatte es ziemlich erfolgreich zerfetzt. Zum Glück hatte ich noch einige andere Kleidungsstücke zur Sicherheit mitgebracht und so zog ich mir ein lindgrünes Oberteil mit einem langen Ärmel, das meine Narben verdeckte an. Der Stoff war fest, aber leider nicht annähernd so ein guter Schutz, wie mein altes Oberteil. Ich würde mir schnellstmöglich ein Neues anfertigen lassen müssen. Aber jetzt ging ich erst einmal zurück hinunter in Oswalds Suite. Er saß noch in demselben Sessel wie immer und lächelte verzückt, als ich eintrat.

„Noch ist die Sonne nicht aufgegangen, was führt dich hierher Kind?“

„Was ist eine prisluga?“, fragte ich mit vor der Brust verschränkten Armen.

Oswalds Lächeln fiel in sich zusammen und im nächsten Moment stand er keine Handbreit von mir entfernt. Ich konnte nicht verhindern, dass ich zurückzuckte.

„Wer hat dir davon erzählt?“, fragte er mit tonloser Stimme, die mir eine Gänsehaut bescherte.

Beherzt trat ich einen Schritt zurück.

Du hast sie doch gerade zu mir geschickt! Sie hat mir mein Essen gebracht.“

Plötzlich hatte Oswald ein Handy in der Hand und tippte eine Nummer ein. Ich war viel zu fasziniert von der Tatsache, dass er ein Handy besaß und benutzte, als dass ich auch nur irgendetwas tun konnte.

„Ist eine prisluga angekommen und du hast mir nichts davon erzählt?“, spie Oswald aufgebracht ins Telefon.

Es war wie ein Autounfall. Man wusste, man sollte wegschauen, aber man konnte einfach nicht. Ich hatte Oswald noch nie so gesehen. Es war fast schon wieder amüsant, aber auch beruhigend, dass nicht nur ich diesen seltsamen Respekt gegenüber einer Sterblichen, einem Mensch empfand.

„Bring sie zu mir, sofort. Und lass sie nichts außerdem tun. Ich übernehme auch die Verantwortung.“

Dann legte er auf und sah mich wieder an.

„Und jetzt sag du mir, was ihr gesprochen habt.“

„Nun, nichts wirklich. Sie kam an meine Tür, ich spürte, dass etwas nicht mit ihr stimmte und fragte, wer sie sei. Viel mehr, als dass sie eine prisluga ist und mir mein Essen bringt, kam dabei nicht heraus. Oh, und dass sie mich töten würde, falls ich den anderen Menschen, mit denen ich hier bin, von ihr erzählen würde.“

„Weiß sie, was du bist?“

„Sie meinte du hättest es ihr gesagt. Aber jetzt nehme ich auch an, dass das nicht der Wahrheit entspricht.“

Dann hörten wir auch schon wieder den Aufzug und im nächsten Moment kam Melisa mit der Frau von zuvor um die Ecke. Was mir sofort auffiel war, dass der Vampir einen respektvollen Abstand zu ihr hielt. Wer zur Hölle war diese Frau.

„Meister“, meinte Melisa und verneigte sich formvollendet in ihrem wallenden Nachtgewand – man musste wirklich dieses Wort verwenden – vor Oswald, „dies ist prisluga Glory. Sie wurde hierhergeschickt, um einen Teil ihrer Prüfung zur opekun zu absolvieren.“

„Und kaum war ich hier, fand ich äußerst interessante Dinge“, nahm sie umgehend den Faden auf und schenkte Oswald ihr breites Lächeln.

Erschrocken stellte ich fest, dass sie ihm ohne mit der Wimper zu zucken direkt in die Augen sah.

„Sagt mir, Oswald, wusstet Ihr, dass diese junge Frau ein magiebegabtes Wesen ist?“

Ihre Stimme war freundlich, aber die unterschwellige Drohung fast schon eine Beleidigung.

„Ja“, meinte Oswald und richtete sich etwas auf.

Für einen Moment herrschte Schweigen, in dem Glory anscheinend darauf wartete, dass Oswald weitersprach.

„Nun, mich überrascht, dass ich dann die nächste Frage überhaupt stellen muss, aber warum wurde Mutter noch nicht unterrichtet?“

„Es konnte noch nicht die Art des magiebegabten Wesens bestimmt werden, das sie ist.“

„Und Ihr denkt Ihr wärt dazu besser in der Lage als wir?“, fragte sie mit hochgezogener Augenbraue und einem Hauch von Spott in der Stimme.

Wie konnte sie sich diesen Ton nur erlauben? Ich sah, dass Oswald am liebsten hier und jetzt ihren Kopf an der Wand zerschmettern würde. Warum tat er es nicht einfach?

„Ich wollte nur unnötige Arbeit ersparen, falls sie sich als nutzlos erweisen sollte. Sie ist nur halbblütig.“

Überrascht wandte Glory mir ihren Blick zu und musterte mich noch einmal genauer.

„Tatsächlich? Ein Mischling? Das wäre wirklich faszinierend. Und eigentlich auch ein Grund mehr sie sofort Mutter auszuhändigen.“

War sie so etwas, wie ein Überwacher der Überwacher? Nun, es wäre durchaus sinnvoll dafür einen Menschen einzusetzen. Sie lebten nicht lange genug, um in irgendeiner Weise langfristigen Schaden anrichten zu können, aber irgendwie bezweifelte ich das.

„Es reicht!“, zischte Oswald und Glory wandte sich wieder ihm zu.

Jetzt war ihm wohl doch endlich der Geduldsfaden gerissen.

„Sei vorsichtig, was du sagst, Mädchen, noch bist du nur eine prisluga und Mutter würde mir deinen Tod sicher verzeihen. Nicht zu vergessen, dass du einem Vampir Respekt schuldest! Ich bin kein einfaches Vampirblut, das du herumschubsen darfst. Wenn mir danach ist, dann darf ich dich sogar zu meiner Blutdienerin machen also erkenne, wo dein Platz ist!“

Das saß. Zumindest empfand ich das so, aber Glory schien nicht besonders beeindruckt.

„Fertig?“, frage sie und stemmte sich die Hände in die Hüften, „Gut, dann bin ich jetzt dran um dich daran zu erinnern, dass es für mich egal ist, wie viele Jahre dein untotes Leben schon zählt. In dieser Welt ist noch immer mein Wort für dich Gesetz, denn was ich sage ist der Wille Mutters. Du kannst mich gerne von hier fortschicken, töten oder sogar zu deiner Blutdienerin machen, aber das wird dann das letzte sein, was du jemals getan hast und das weißt du auch. Denkst du wirklich du wärst der erste Vampir, der dieses kleine Machtspielchen an mir versucht? Ich wäre nicht prisluga geworden, wenn ich mich von so etwas würde einschüchtern lassen. Morgen werde ich die Frau mit zurück zu Mutter nehmen und damit ist die Diskussion beendet.“

Sie war taff, das musste ich ihr lassen. Und vielleicht ein winziges bisschen naiv, geblendet von der Macht, die sie zu besitzen glaubte, aber so sprach man einfach nicht, mit niemandem. Besonders aber, wenn dieser niemand einen mit einer einzigen, nachlässig ausgeführten Bewegung umbringen konnte. Ach verdammt.

„Glory“, mischte ich mich vorsichtig in das Gespräch ein.

Überrascht und etwas fassungslos drehten sich alle drei zu mir um. Wenigstens hatte ich die Situation entschärft.

„Könnte ich dich kurz sprechen?“

„Natürlich“, meinte sie verdattert und bedeutete den Vampiren, ohne auch nur in ihre Richtung zu sehen, den Raum zu verlassen.

Wieder so ein Moment, aber wieder leisteten sie diesem Befehl eines Menschen brav Folge.

„Also, was ist?“, fragte sie, als die beiden weg waren.

„Ich versteh die ganze Sache hier zwar nicht so ganz, aber egal wie viel höher du in der Hierarchie stehst, so will ich dir den Rat geben doch bitte wenigstens etwas respektvoller gegenüber Oswald zu sein. Wenn du weiter so mit ihm sprichst, dann wird es ihm sicher egal sein, welche Konsequenzen ihn erwarten.“

„Spielst du etwa auf den Vorfall im Hospital an?“

Ich war nicht überrascht, dass sie davon wusste.

„Ja.“

„Dann denke ich, bin ich es, die dir etwas erklären muss: Das was im Hospital geschehen ist, war keine große Sache. Ein paar Vampirblut umzubringen, die meisten von ihnen befallen von tjashjolaja boljesn. Was Oswald erhalten hat war die Höchststrafe. Wenn er jedoch mich töten sollte, dann steht die Mindeststrafe dafür genauso hoch, wie bei der sinnlosen Tötung eines echten Vampirs: Ein Jahrhundert lang Folter durch die opekun, was eigentlich um einiges schlimmer ist, als der endgültige Tod. Die meisten Vampire oder Vampirblut, die danach wieder herauskamen, mussten getötet werden, weil sie verrückt geworden waren. Der Rest war auch verrückt und lebt zurückgezogen irgendwo in Sibirien.“

Der Rest?“, fragte ich mit ungutem Gefühl im Magen und Glorys Lächeln wurde unheimlich.

„Exakt. Genau einem einzigen Vampir war es gestattet danach zu gehen. Seitdem wurde er jedoch nie wieder gesehen. Ich bin mir sicher, dass Oswald es nicht riskieren würde, dass es ihm genauso ergeht.“

Ich schluckte.

„Darf ich noch etwas fragen?“

„Tu dir keinen Zwang an.“

„Warum wird deine Tötung so hoch bestraft? Versteh mich nicht falsch, aber warum ist dein Menschenleben den Vampiren so viel wert?“

Glorys immerwährendes Lächeln wurde nachsichtig.

„Weil ich auserwählt bin.“

Ich wollte schon nachhaken, doch dann pfiff sie unglaublich laut und die Vampire waren zurück im Zimmer und mit ihnen meine Gelegenheit nachzuhaken dahin. Wozu war sie auserwählt? Was hatte das zu bedeuten?

„Okay, dann wäre soweit ja alles geklärt“, meinte Glory lächelnd, als mein Bruder den Raum betrat.

„Es wurde gerufen?“, fragte er wie in Trance.

 

Kapitel 43 - Das Ende

„Oh nein, das darf doch nicht wahr sein!“

Glory war aufgebracht. Das war nicht gut. Was nun noch die Frage übrig ließ: Warum war sie aufgebracht? Fragend sah ich in die Runde, aber niemand beachtete mich. Alle sahen Glory an.

„Erkläre mir das!“, rief sie aufgebracht und sah dabei Oswald direkt in die Augen.

„Nur ein Vampir, den ich aus dem Hospital mitgenommen habe.“

„Als ob du das nicht siehst! Er ist ein Zurückgeholter! Du weißt welche Gefahren so einer birgt! Deshalb ist es nicht gestattet!“

„Nicht ich habe ihn erschaffen“, meinte Oswald und ich glaubte die Spur eines Lächelns um seine Züge wahrnehmen zu können.

„Wer dann?“, fragte Glory skeptisch.

„Constantin.“

Warum auch immer, aber Oswald schien gerade eine Bombe zum Platzen gebracht zu haben. Nur ich verstand noch nicht so ganz warum. Glory hatte es auf jeden Fall für einen Moment verstummen lassen. Was war es, das ich nicht wusste?

„Das würde er nicht wagen“, sagte sie mit bebender Stimme, die um ein vieles gefährlicher klang als ihre aufgebrachten Schreie von zuvor.

„Und doch hat er es getan.“

„Er würde es nicht wagen!“, schrie sie diesmal und ihr plötzlicher Ausbruch sorgte dafür, dass sowohl ich, als auch Melisa zusammenzuckten.

Als ich ihr in die Augen sah, sah ich nur noch reine Wut darin. Wut und Hass. Sie wollte Constantin tot sehen für das, was er getan hatte. Warum war es für sie so viel schlimmer, wenn er es getan hatte? Bei Oswald war sie zwar auch nicht gerade erfreut gewesen, aber es kam nicht annähernd an diese Ausmaße heran.

„Ja, er hat das Vertrauen der opekun missbraucht, nicht wahr? Nachdem ihr sein Vergehen so großzügig vor Mutter gutgeredet und ihn verteidigt hattet. So undankbar“, meinte Oswald geheuchelt traurig und schüttelte den Kopf.

Du, halt den Mund!“, fuhr sie Oswald an, „du bist keinen Deut besser als er!“

„Nun, ich mag zwar viele Dinge getan haben, aber ich stand zu einer jeden einzelnen.“

„Das weiß ich, oder hätte ich dir sonst geglaubt?“, zischte Glory.

„Manchmal vergesse ich einfach, wie viel sie euch prisluga schon erzählen.“

„Alles, was wir wissen müssen.“

Glory fuhr sich mit der Hand über ihr kurzes Haar.

„Denk nicht, dass du damit vom Haken bist Oswald. Auch du hast verfehlt diesen Zurückgeholten, diesen zhizni mertvetsy zu melden. Warum hast du ihn behalten? Nachdem du doch schon die Zwillinge für ein Jahrhundert verloren hast.“

„Weil er mein Bruder ist“, meinte ich und trat vor.

Glory wandte sich mir überrascht zu.

„Ah, natürlich. Sein Leben für deine Kooperation?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Meine Kooperation steht in keinerlei Zusammenhang mit ihm.“

„Ach, was reden wir um den heißen Brei herum!“, meinte Oswald amüsiert, „sie möchte ihn selbst töten, hat aber damals im Hospital einfach noch nicht den Mut dazu gefunden und ich wollte ihr die Gelegenheit nicht nehmen.“

Ich warf einen raschen Seitenblick zu Andreas, der endlich langsam zu realisieren schien, wo er sich befand.

„Dann tu es jetzt, Mädchen. Zhizni mertvetsy sollten nicht am Leben sein, das ist falsch.“

„Warum?“, fragte ich ehrlich verwundert, „was ist bei ihnen so anders?“

Und tatsächlich, zu meiner großen Überraschung wurde Glorys Ausdruck weich und sie erklärte es mir.

„Weil sie tot waren und das für länger als nur einen Augenblick. Ja, es stimmt dass die Verwandlung den Körper wieder regeneriert, aber wenn die Verwesung schon zu weit fortgeschritten war, dann setzt sich nicht mehr alles so zusammen, wie es sollte. Diese Vampirblut werden alle, ausnahmslos, auf kurze Zeit verrückt und das nicht im positiven Sinne. Sie sind eine Gefahr für uns alle. Auch wenn sie noch so sehr wie die wirken, die wir verloren haben, das ist nur von kurzer Dauer. Es gibt einfach Dinge, die tot bleiben müssen.“

Ich verstand. Nur allzu gut.

„Wie lange dauert es, bis man verrückt wird?“, mischte sich nun zu meiner großen Überraschung Andreas mit besorgter Stimme in die Unterhaltung ein.

„Das ist bei jedem anders. Mit etwas Glück hast du ein paar hundert Jahre. Mit etwas Pech ein paar Tage. Wir wissen nicht, was die Faktoren sind, die das entscheiden, und das macht es so gefährlich.“

„Deshalb war ich also während meiner ganzen Zeit im Hospital eingesperrt?“

Glory nickte.

„Das nehme ich an. Trotzdem hättest du nie erschaffen werden dürfen.“

„Und du nimmst Luna, meine Schwester, jetzt mit dir? Wohin?“

„Zu Mutter. Sie wird wissen, was zu tun ist.“

Andreas nickte und sah mich an. Ich wusste nicht, wonach er suchte, aber nach nur einem Augenblick schien er es gefunden zu haben. Dann trat er einen Schritt vor zu Glory hin, hob seine Hände und brach ihr das Genick. Ich konnte nichts anderes tun, als ihn fassungslos anzustarren.

„Jetzt können Sie sie hierbehalten, oder?“, fragte Andreas gefasst, aber ich wusste trotzdem, dass er furchtbare Angst hatte, „Jetzt müssen Sie Mutter nichts mehr von meiner Schwester erzählen, oder?“

Auf Oswalds Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, während er sich über die Leiche beugte.

„Ja, jetzt kann alles wieder so weiterlaufen, wie es geplant war, bevor diese prisluga hier aufgetaucht ist.“

Oswald hob wieder seinen Kopf und schlenderte auf Andreas zu.

„Aber leider nicht für dich. Jetzt wirst du zu Mutter gehen und der Strafe für deine Tat entgegensehen müssen.“

Andreas nickte.

„Das war mir bewusst.“

„Sieh das Positive daran. Ich bin mir sicher, dass sie die Strafe vollziehen werden, ehe sie dich töten. Das heißt, dass dir noch – zumindest nach menschliches Maßstäben – ein langes Leben bevorsteht.“

Ich spürte, wie sich meine Hände zu Fäusten ballten.

„Auch das war mir bewusst“, war alles, das Andreas sagte.

„Was, wenn ich ihn gleich hier töte?“

Alle Augen drehten sich überrascht zu mir um.

„Man könnte behaupten ich hätte versucht ihn aufzuhalten und dass meine Klinge nur einen Moment zu spät kam.“

Oswald schien amüsiert, wie immer, wenn ich etwas in seiner Gegenwart zu sagen hatte.

„Ja, das wäre durchaus eine Möglichkeit.“

Ich blickte Andreas, meinem Bruder, fragend in die Augen.

„Könntet ihr uns dafür allein lassen?“, fragte ich zögerlich.

Oswald seufzte enttäuscht.

„Schade, ich hätte wirklich zu gerne zugesehen.“

Und im nächsten Augenblick waren er und Melisa aus dem Raum. Ich hatte nicht geglaubt, dass er wirklich gehen würde.

„Bist du dir wirklich sicher?“, fragte ich, während ich den Assassinendolch aus der Scheide zog.

Andreas nickte und lächelte schwach.

„Wir wussten beide worauf es hinausläuft, als du mich zum ersten Mal so gesehen hast. Ich hätte mir nur gewünscht, dass wir etwas mehr Zeit miteinander gehabt hätten.“

„Ich war bei Großmutter“, hatte ich plötzlich das Bedürfnis ihm zu erzählen.

Seine Augen weiteten sich für einen Moment vor Überraschung.

„Du hattest Recht, sie wusste vieles. Wie zum Beispiel, dass ich tatsächlich ein magiebegabtes Wesen bin. Dass Mom Child’s Death war. Dass die Vampire schon so lange nach mir suchen, eben weil sie wissen, dass ich ein magiebegabtes Wesen bin.“

„Aber du hast trotzdem noch viele Fragen.“

Ich lächelte schwach.

„Es tut mir leid, dass ich dir nicht mehr dabei werde helfen können die Antworten darauf zu finden.“

„Ich habe dich in dieser Gestalt sowieso kaum ertragen.“

„Ich weiß.“

„Wirst du dich wehren?“

„Gegen dich? Niemals.“

Ich festigte den Griff um den Assassinendolch, aber noch musste ich meinem Bruder etwas sagen.

„Ich habe mir jeden Tag gewünscht, dass du mich nicht vor dir aus dem Haus gestoßen hättest.“

„Und ich war jeden Tag meines neugewonnenen aufgezwungenen Lebens froh darum. Froh und stolz, dass meine kleine Schwester die Welt der Vampire so ins Wanken gebracht hatte. Ich wäre dazu nie in der Lage gewesen. Es hatte einen Grund, dass du diesen Tag überlebt hast.“

„Ich wünschte nur es hätte wenigstens eine Möglichkeit gegeben…“

„Nein Sammy“, unterbrach mich Andreas sofort, „denk nicht einmal so!“

„Ich weiß dass es dumm ist“, seufzte ich, „aber die Schuldgefühle geben mir die nötige Stärke das alles hier durchzuhalten.“

„Das stimmt nicht Sammy und das weißt du auch.“

Ich holte tief Luft.

„Es ist an der Zeit“, meinte ich.

„Ich weiß.“

Ich holte aus und stieß zu, während ich mit dem anderen Arm den Körper meines Bruders stabilisierte. Fast sofort verließ seine Beine die Kraft. Er öffnete den Mund und ich beugte mich vor, um seine Worte verstehen zu können.

„Räche uns nicht.“

Wie schade, dass ich nicht so vergebend wie mein Bruder war.

Epilog

Sie war fort. Er saß hier fest und sie war einfach gekommen und wieder gegangen. Warum hatte sie das tun können und er nicht? Erschöpft strich er sich mit der Hand übers Gesicht und spürte dabei ihr klebriges Blut zwischen den Fingern. Als er wieder aufsah, war die Gestalt zurück. Er seufzte schwer.

„Was willst du noch?“, fragte er entnervt.

„Dasselbe wie zuvor.“

„Warum hast du sie gehen lassen?“, ignorierte er die Antwort.

„Weil ich sie nicht festhalten kann, das liegt nicht in meiner Macht.“

„Also verstehe ich das richtig: Einen mickrigen Menschen kannst du nicht festhalten aber dafür einen jahrhundertealten Vampir?“

Die Gestalt lachte amüsiert.

„Nein, sie ist kein Mensch, sie ist viel mehr. Ob du es dir eingestehen kannst oder nicht, aber in der Runde von uns dreien warst du das mickrige Wesen.“

„Warum bist du fort, als sie sich auf mich stürzte? Es wirkte so, als wärst du vor ihr geflohen.“

„Was erhoffst du dir von den Antworten auf diese Fragen?“, beantwortete die Gestalt seine Frage mit einer Gegenfrage.

„Ist das nicht egal? Du meintest es wäre mir unmöglich von hier zu entkommen und dass du es mir so angenehm wie möglich machen wolltest. Wo also ist der Schaden, wenn du mir antwortest?“

Für einen Moment herrschte Stille und es schien, als würde die Gestalt ihn durch die Kapuze hindurch mustern. Dann antwortete sie.

„Weil sie noch nicht bereit dazu war auf mich zu treffen. Eigentlich hätte sie mir noch überhaupt nicht begegnen dürfen.“

„Wieso?“

„Es gibt schon genug Dinge, die sie noch zu erfahren hat. Dieses kann warten.“

„30 Monate?“

Die Gestalt schnaubte amüsiert.

„Du hast mir zugehört.“

„Heißt das, dass du dann auch hinter ihr her sein wirst?“

„So würde ich das nicht ausdrücken.“

„Und wie würdest du es dann ausdrücken?“

Er hörte die Gestalt leise lachen. Dann strich sie sich mit einer fließenden Bewegung die Kapuze von ihrem Kopf  und blickte ihn mit fremden und zugleich vertrauten Augen aus tausend und gleichzeitig einem einzigen Gesicht lächelnd an. Entsetzt wich er zurück.

„Das… das ist… was bist du?“

„Ich bin die Vergangenheit und bald auch die Gegenwart und die Zukunft.“

„Aber… aber…“, begann er stotternd, konnte den Satz aber nicht beenden, während er die Gestalt weiterhin fassungslos anstarrte.

Er sah tausend Gesichter und doch wieder eines. Sie schoben sich übereinander, rückten umher und es bereitete ihm Kopfschmerzen sie anzusehen, doch er konnte nicht wegschauen. So etwas hatte er noch nie zuvor gesehen.

„Was bist du?“, fragte er erneut, „Hast du einen Namen?“

„Nicht nur einen, ich habe viele, aber welcher es auch ist, er verbreitet Angst und Schrecken.“

„Willst du mir etwa jetzt damit Angst machen?“, fragte er skeptisch.

Die Gestalt blickte noch amüsierter als zuvor.

„Ich weiß, dass du bereits Angst hast.“

Er wollte einen spöttischen Kommentar von sich geben, doch dann schoben sich die Gesichter wieder übereinander und er erstarrte in Furcht, als er die Züge erkannte. Sie waren verschwommen, nicht so wie die anderen und nur für einen winzigen Augenblick dominerten sie das Gesicht, dann waren sie wieder verschwunden, aber jetzt war er sich sicher.

„Das ist es also, darum geht es hier.“

Die Gestalt beugte sich barmherzig lächelnd vor, sodass ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren.

„Gar nichts weißt du, Mensch.“

 

ANMERKUNG

Hey Leute,

 

der zweite Teil der "Geschichte eines Jägers"-Reihe ist jetzt endlich fertig. Ich hatte viel Spaß beim Schreiben und würde mich freuen, wenn ihr mir eine kurze Rückmeldung geben könntet, wie ihr Vampire Myrmidon fandet.

 

Ich hoffe wir sehen uns im dritten Band wieder.

LG Yarra

Leseprobe: Geboren unter dem Neumond

Es ist schon lustig, was eine einzige taktisch verbreitete Geschichte alles bewirken kann. Für mein Volk war es nichts geringeres, als absolut unentdeckt unter den Menschen leben zu können. In der heutigen Zeit war es sogar noch leichter, weil keiner mehr glaubte, dass so etwas wie wir existieren könnte. Eins kann ich euch aber versichern: Wir sind real und wir gehören in eure Alpträume.

Kleiner Scherz am Rande, wir sind ganz zahm – zumindest die meiste Zeit. Nicht aber in Nächten wie heute: der Nacht des neuen Mondes. Ja, ihr habt richtig gehört. Nicht der Vollmond zwingt unseren Körper uns zu verwandeln, sondern der Neumond. Clever, nicht wahr? Dafür gibt es auch eine richtige Erklärung: Wenn ihr in der Schule brav aufgepasst habt, dann wisst ihr auch, dass der Mond nachts leuchtet, weil er das Licht der Sonne reflektiert. Nur das Licht der echten Sonne unterdrückt unsere genetische Besonderheit und ist es verschwunden, bricht unser wahres Selbst unkontrolliert hervor.

Oh, ich bin übrigens kein Werwolf – falls das so rübergekommen sein sollte. Ich verwandle mich in eine Nachtigall. Okay, ich hör‘ auf mit den schlechten Witzen. Ich verwandle mich in einen schwarzen Leoparden und bin damit der ganze Stolz meiner Familie. Das Verwandlungsgen wurde nämlich relativ bescheuert vererbt. So wurde meine Mutter zwar in eine Verwandlungsfamilie geboren, war aber nie selbst in der Lage sich zu verwandeln. Dass mein Vater sich überhaupt auf sie eingelassen hat, hat das ganze Rudel empört. Ja, in der freien Wildbahn sind Leoparden Einzelgänger, aber wie so vieles anderes auch ändert sich das wenn man die meiste Zeit als Mensch lebt. Aber zurück zum Hauptpunkt: Als meine drei älteren Brüder alle nicht in der Lage waren sich zu verwandeln, war das Rudel kurz davor meinen Vater zu zwingen sich mit einer echten Leopardengeborenen fortzupflanzen. Und dann brachte meine Mutter mich zur Welt und ich verwandelte mich nicht nur in einen Leoparden, sondern sogar noch in einen schwarzen Leoparden. Danach war das Rudel verstummt, denn bei uns hat die Fellfarbe nichts mit einer genetischen Besonderheit zu tun – nun zumindest keine genetische Besonderheit, die nur die Fellfarbe bestimmt. Als schwarzer  Leopard geboren zu werden bedeutet, dass man ein Vorrecht darauf hat der nächste Rudelführer zu werden – noch vor den Jungen des Amtierenden – denn ich war von Natur aus stärker und schneller als jeder andere Leopardengeborene. Und in meiner verwandelten Gestalt auch bedeutend größer.

Aber der Neumond startete jeden Moment und mit der schwindenden Kraft der Sonne spürte ich, wie mein Blut zu kochen begann. Ich ließ lächelnd meine Schultern kreisen und warf einen Blick zurück auf die anderen Mitglieder des Rudels, die hinter mir standen. Für die heutige Nacht hatten wir es zum ersten Mal durchsetzen können in zwei Gruppen zu jagen – endlich einmal ohne unsere Eltern. Es war eine Art Übung, um meine Führungsqualitäten zu testen, aber ich hatte keine Angst davor. Ich konnte jeden von ihnen leicht überwältigen – keiner von ihnen war ausgewachsen oder besonders geschult im Kampf. Ich würde die Situation unter Kontrolle haben.

 

„Roshanak, du musst aufstehen.“

Ein Fauchen entfuhr meiner Kehle – eine Nachwirkung der Verwandlung, die noch keine halbe Stunde zurücklag. Warum ich mich hingelegt hatte wusste ich selbst nicht. Meine Mutter ließ sich davon aber nicht beeindrucken, sondern schloss einfach ihre Hand um meinen Nacken und zog mich daran hoch. Sofort war ich hellwach und schlug panisch um mich.

„Kein Leopardengehabe in meinem Haus, haben wir uns verstanden junge Dame?“

Anstelle einer Antwort wimmerte ich und meine Mutter ließ mich wieder los.

„Brauchst du ein Frühstück oder hast du heute Nacht schon genug gegessen?“

„Hast du noch Hühnchen?“, fragte ich, während ich mich unter der Decke hervorschob.

„Im Kühlschrank. An deiner Stelle würde ich mich beeilen, sonst isst dein Vater dir noch alles weg.“

Das war tatsächlich eine realistische Gefahr, also stürzte ich augenblicklich die Treppe hinunter und tatsächlich hielt mein Vater das Hühnchen komplett in der Hand und biss gierig davon ab.

„Dad!“, rief ich empört und er hob den Kopf und sah mich mit blutverschmiertem Mund fragend an.

„Was?“

„Das ist das letzte Hühnchen.“

Augenverdrehen riss er das Hühnchen in zwei und gab mir eine Hälfte, auf die ich mich sofort gierig stürzte. Als meine Mutter die Treppe hinunter kam schüttelte sie nur verständnislos den Kopf. Obwohl sie keine Leopardengeborene war, war sie noch immer ein Leopardenblut, was bedeutete, dass sie sich zwar bei Neumond nicht verwandelte, jedoch alle anderen Vorteile unseres Daseins genoss, wie geschärfte Sinne und größere Stärke als Menschen. Oh, und die animalischen Gelüste während Neumondnächten nicht zu vergessen, denn gestern waren es noch zwei rohe Hühnchen gewesen.

Meine Brüder besuchten alle schon das College, weshalb sie nur selten zuhause waren. Noch ein Vorteil nur ein Leopardenblut zu sein, sie mussten nicht zu jedem Neumond zurück bei ihrem Rudel sein. Eine Freiheit, die es für mich nie geben würde. Allerdings hatte ich um ehrlich zu sein auch Angst unser Dorf zu verlassen, denn hier gehörte fast ein Viertel der Bevölkerung zu unserem Rudel. Hier war ich sicher. Was ich in einer großen Stadt tun sollte, wusste ich nicht. Dort wäre ich verloren.

Ich leckte mir genüsslich die Finger, als ich mit meinem Frühstück fertig war.

„Du solltest noch duschen, bevor du in die Schule gehst Roshanak und du auch Saimen, ihr stinkt beide fürchterlich.“

 Mein Vater und ich grinsten uns für einen Moment an, bevor ich dem Wunsch meiner Mutter nachkam. Tatsächlich wurde das Wasser erst einmal braun, als ich mich unter die Dusche stellte. Mir war vorher nicht bewusst gewesen, wie schmutzig ich noch war. Aber die anderen und ich hatten auch ordentlich einen draufgemacht – jeder der Jungs hatte sich unbedingt mit mir messen wollen, etwas was uns unsere Eltern nie erlaubt hätten. Denn während ich nur wirklich schmutzig war hatten die Jungs heute sicher ein paar üble blaue Flecken. Hoffentlich hatte keiner von ihnen mehr gebrochene Knochen, denn das würde wirklich Ärger geben.

Nach dem Duschen blieb mir keine Zeit mehr meine Haare zu föhnen, also flocht ich mir meine langen schwarzen Haare zu einem langen Zopf über die Schulter, schlüpfte in Shorts, Top und kurze Stiefel, legte dick Kajal auf und war im nächsten Moment schon aus dem Haus.

Um es mal am Rande erwähnt zu haben, meine Familie hatte ordentlich Kohle und damit meine ich, dass keiner von uns je auch nur einen Tag in seinem Leben arbeiten müsste und trotzdem ein ausschweifendes Leben führen könnte. Trotzdem lebten wir in einem kleinen Einfamilienhaus und ich hatte ewig betteln müssen, bis mir meine Eltern endlich den BMW X6 M gekauft hatten. Ich meine, wenn man das Geld hatte, wieso sollte man es dann nicht auch ausgeben? Außerdem hatte mein Vater sowieso eine Schwäche für gute Autos.

Wie immer fuhr ich viel zu schnell und ohne auch nur ein einziges Verkehrszeichen zu beachten, aber hier draußen im Nirgendwo glich es einen Wunder, wenn man mal einem Polizisten begegnete. Die Fahrt zu meiner Schule dauerte eine gute Dreiviertelstunde und lag in einer kleinen verschlafenen Stadt namens Dusty Bridge. Keine Ahnung, wer an dieser besonders kreativen Namensgebung beteiligt war, besonders da es in der Stadt keine einzige Brücke gab und Nebel hatte ich dort auch noch nie erlebt. Vielleicht hatten sie auch nur aufzählen wollen, was sie alles in diesem Kaff nicht hatten. Dafür gab es hier in der Umgebung riesige Waldflächen, in denen einem das Leopardendasein richtig Spaß machen konnte, besonders da die Jagd auf uns verboten war und die Leute sich hier auch dran hielten. Zwar hauptsächlich aus Angst aber hey, man nimmt, was man kriegen kann. Ein Vorteil, wenn man zu einer aussterbenden Rasse gehörte.

Auf dem Parkplatz war mein Platz wie immer frei, niemand wagte es seinen Wagen dort abzustellen. Dafür hatten meine Mitschüler zu viel Angst vor den Leuten aus meinem Dorf. Besonders erinnerten sie sich aber noch an meine Brüder. Bahadir, der Älteste, war im Eishockeyteam gewesen und hatte mehr Zeit für Gewalttätigkeit auf der Strafbank verbracht, als je ein Schüler unserer Schule zuvor. Gahzem hatte dem Lacrosseteam angehört und wenn der Schiedsrichter nicht hingesehen hatte mehr als einmal mit dem Schläger nach einem Gegner ausgeholt. Und schließlich Nazzal, Quarterback, der ebenfalls durch sein brutales Verhalten in die Annalen der Schule eingegangen war. Alle warteten schon gespannt darauf, was ich tun würde, um an die Familientradition anzuknüpfen, aber ich war inzwischen in meinem letzten Jahr und war noch immer keinem Sportclub beigetreten, obwohl sie noch immer nicht aufgegeben hatte mich zu fragen, denn schon allein meine Anwesenheit auf dem Spielfeld würde dafür sorgen, dass die Gegner heulend vom Spielfeld rannten.

Gut, dass ich in keinem Sportclub war, war so nicht richtig, aber Schwimmen zählt in diesem Fall nicht, weil es keine Gruppensportart war. Und wasserfesten Kajal zu finden, der beim Schwimmen nicht verschmierte, war echt schwer.

Aber jetzt war ich erst einmal auf dem Weg zum Unterricht. Wie immer starrten ein paar Jungs verträumt meinen Wagen an während ich ausstieg, der Rest vergewisserte sich, dass ich einen BH trug – High School. Sofort war Sascha an meiner Tür und grinste mich breit an. Ich verdrehte die Augen.

„Hast du mich vermisst?“, fragte er neckisch.

„Du meinst seit wir uns vor keinen zwei Stunden gesehen haben? Wohl eher nicht.“

Er warf mir einen amüsierten Blick zu und nahm mir, bevor ich es verhindern konnte, geschickt meine Schultasche ab und hängte sie sich über die Schulter.

„Das heute Nacht war echt abgefahren. Denkst du, du könntest das für nächsten Monat wieder in die Wege leiten?“

„Ich glaub‘ kaum, dass dein Dad das gut finden wird. Aber du kannst ihn gerne selbst fragen.“

„Du weißt, dass er auf mich nicht hören wird.“

Ich lachte auf.

„Und du glaubst bei mir wäre das anders?“

„Nun, bei dir muss er wenigstens so tun als ob. Oh, mein Bruder kommt übrigens heute wieder zurück.“

„Ich weiß“, meinte ich schlicht und konnte nur schwerlich verhindern eine Grimasse zu ziehen.

Sascha und Alexander waren die beiden Söhne unseres Rudelführers und es war Alexander, dem ich mit meiner Geburt seine ihm zugedachte Rolle als Nachfolger seines Vaters genommen hatte. Er war sechs gewesen, als ich geboren wurde und der Ältestenrat feststellte dass ich ein schwarzer Leopard war. Verständlich, dass er nicht mein größter Fan war. Meine Eltern fühlten sich natürlich auf verdrehte Weise furchtbar schuldig und haben mit meiner Namensgebung deutlich ihre zukünftigen Absichten mit mir klar gemacht: Roshanak, der Name der Frau Alexander des Großen. Und so stand schon nach keiner Woche meines schönen Lebens auf diesem Planeten fest, wen ich einmal heiraten würde. Alexander und ich versuchten so gut wie möglich damit klarzukommen, aber wir hatten in den siebzehn Jahren meines Lebens einfach keinen Draht zueinander gefunden. Wenn er, wie jetzt, bei anderen Rudeln zu Besuch war, rief er mich mindestens jeden zweiten Tag an, aber das Gespräch dauerte selten länger als zwei Minuten.

Sonst war Alexander der erste, der es geschafft hatte als Leopardengeborener sein Rudel davon überzeugen zu können an einer Universität weit weg vom Rudel zu studieren. Ein befreundetes Rudel war so freundlich gewesen ihn für diese Zeit bei sich aufzunehmen. Aber heute war der Beginn des letzten Monats Schule und Alexander hatte jetzt wieder frei, was hieß, dass er nachhause kommen würde. Und in zwei Monaten, wenn ich achtzehn geworden war, würden wir heiraten – nicht auf die Art der Menschen, auf unsere Art. Diese Art der Verbindung war für die Ewigkeit.

Wenigstens war dafür kein ‚ja, ich will‘ notwendig.

Ich wollte vor Unterrichtsbeginn noch ein wenig allein sein, also stahl ich Sascha geschickt meinen Rucksack, rief ihm ein „Bis später!“ zu und war auch schon zu meinem Lieblingsplatz verschwunden: dem Dach der Turnhalle. Eigentlich war es streng verboten sich hier oben aufzuhalten, aber mal ehrlich, wen interessierte das schon?

Ich legte mich rücklinks hin und schloss die Augen, um für einige Momente das warme Sonnenlicht auf meiner Haut zu genießen. Entspannt atmete ich tief durch… und stockte. Ein fremder Geruch. Jemand war kurz vor mir hier oben gewesen. Alarmiert setzte ich mich auf und sah mich genau um, aber wer auch immer es gewesen war, jetzt war er fort. Trotzdem fand ich keine Ruhe und kletterte deshalb flink an der Regenrinne wieder hinunter, klopfte meine Hände an den Shorts ab und machte mich auf den Weg in mein Klassenzimmer.

Wenn ihr glaubt dass ich viele Freunde hab, dann liegt ihr richtig. Denn trotz der hohen Gewaltbereitschaft in meiner Familie, waren wir alle unglaublich gute Sportler und sahen verboten scharf aus. Nicht zu vergessen, dass wir in Geld schwammen – die perfekten Voraussetzungen für eine angenehme Schulzeit. Jeder wusste wer ich war und wollte auf meiner guten Seite stehen.

„Hey Shey“, rief mir Shannon, eine der übereifrigen, überschminkten, rosaliebenden Mädchen, zu.

„Hey“, meinte ich und nickte ihr zu, bevor ich mich auf meinen Platz fallen ließ.

Ich kritzelte gelangweilt auf meinem Block herum, bis der Lehrer den Raum betrat. Überraschenderweise war es nicht Mr Meyer. Dieser Mann war bedeutend jünger, vielleicht Mitte zwanzig, hochgewachsene, schlanke aber kräftige Figur mit einem scharfkantigen Gesicht und pechschwarzem Haar und hellbraunen, fast goldenen Augen. Sofort gefror mir das Blut in den Adern. Es war sein Geruch gewesen, den ich auf dem Dach wahrgenommen hatte und sein Aussehen wies ihn eindeutig als schwarzen Leopardengeborenen aus. Was wiederum bedeutete, dass er ein Rudelführer war. Was die Frage aufwarf was er hier, im Revier meines Rudels, zu suchen hatte.

Impressum

Texte: Yarra Mekian
Bildmaterialien: http://abcartattack.deviantart.com/art/Resistor-345528450
Tag der Veröffentlichung: 21.01.2014

Alle Rechte vorbehalten

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