Cover

Teil 1 - Der letzte Tag

Wollt ihr wissen, wie mein jämmerliches Leben endete? Auf einer High-School Toilette, besser gesagt auf der Jungentoilette meiner High-School und als wäre das nicht schon Blamage genug gewesen, hatte mir irgendein Idiot noch meine Bluse weggerissen, sodass ich nur in BH und Rock in der Lache aus meinem eigenen Blut lag. Wenigstens passt rot zu meinem Hautton.

Ihr denkt jetzt sicher, ich war eine dieser reichen und beliebten High-School-Zicken, die den ganzen Tag damit verbringen ihr Make-Up aufzubessern und ihre langen Haare mit Haarspray zu fixieren, aber wärt ihr nicht auch bitchig drauf, wenn ihr gerade umgebracht wurdet? Und außerdem hab ich – oder hatte? Keine Ahnung, wie man das sagt, wenn man tot ist – kurze Haare. So kurz, dass Frisuren mit Haargummis oder Flechten unmöglich sind, oder waren, ach mir doch egal. Ich meine, so richtig tot kann ich ja gar nicht sein, schließlich unterhalte ich mich mit euch, oder?

Hätte ich gewusst, dass ich heute sterben würde, hätte ich diesen bescheuerten beliebten Kids mal ordentlich die Meinung gegeigt. Na ja, eigentlich tat ich das ja sowieso andauernd, aber dann hätte ich sie nicht so mit Seidenhandschuhen angepackt. Gut, ich geb' ja zu, ich hab schon mehr als eines der Prinzesschen zum heulen gebracht, aber sie hatten es jedes einzelne Mal verdient. Ich meine, bloß weil sie sich für was besseres halten müssen sie mich nicht wie Dreck behandeln.

Zu erwähnen, dass die meisten Leute an meiner High-School nicht gerade meine größten Fans waren, ist wohl überflüssig. Im Nachhinein glaube ich sogar, dass einige Angst vor mir hatten. Na ja, jetzt ist es sowieso zu spät ein schlechtes Gewissen zu haben.

Aber vielleicht sollte ich von meinem letzten Tag unter den Lebenden erzählen, dass ihr eventuell mich und meine Verhaltensweisen besser versteht.

Mein Tag beginnt in der Regel um sechs Uhr morgens. Unsere Haushälterin Francis kommt dann, um mich zu wecken. Unter einer Haushälterin stellt man sich immer eine kleine rundliche Frau lateinamerikanischer Abstammung vor, aber Francis war das genaue Gegenteil. Sie kam aus Schweden, war groß, blond und perfekt. Wäre sie 30 Jahre jünger und hätte ich ernsthafte Selbstbewusstseinsstörungen wie diese Prinzesschen, hätte ich sie als ernsthafte Bedrohung angesehen. Aber so war ich nie gewesen und deshalb war Francis für mich zu meiner besten Freundin geworden. Leute meines Alters waren mir einfach in ihren geistigen Fähigkeiten...zu zurückgeblieben. Spaß beiseite, sie waren mir einfach zu niedere Instinkte fixiert, um es nett auszudrücken. Ich wollte meine Jungfräulichkeit nicht auf der Rückbank eines Wagens oder einer schäbigen Toilette verlieren. Badum-zzz (Schlagzeuggeräusch, für alle die es NICHT wissen). Ja, ich weiß, haha, wehe ich höre auch nur einen Kommentar.

Nach dem Aufstehen ging ich erst einmal in den Trainingsraum im Keller. Um zu erklären, warum ich jeden Morgen erst einmal zwei Stunden mit Krafttraining und der Bearbeitung eines Sandsacks verbrachte: Mein Vater war Profiboxer gewesen und er hatte nicht gewusst, wie er sonst eine Verbindung hätte zu mir aufbauen sollen. Und um ehrlich zu sein, war es echt gut für die Vater-Tochter-Beziehung, wenn man ab und an den Ärger auf den Vater rausprügeln konnte. Nachteilig für mich war allerdings, dass mein Vater die Äußerung meiner freien Meinung zu sehr gefördert hatte. Da jeder Angst vor meinem Vater, der 'Iron Fist' hatte, wagte es auch niemand mich zu belehren und so hatte ich praktisch keinen Filter zwischen meinem Hirn und Mund. Mein Vater fand das sehr erfrischend, meine Lehrer eher anstrengend. Aber das ist der Vorteil, wenn man auf eine teure Privatschule geht: Solange Daddys Scheck pünktlich kam, könnte ich mir sogar in der Cafeteria genüssliche eine Line reinziehen und meine Lehrer würden mir sogar noch ein Taschentuch reichen, um mir danach die Nase abzuwischen – oder sich mit mir eine reinziehen, um sich bei mir und meinem Vater beliebt zu machen. So zumindest war es auf der Middle School gewesen. Gut, um ehrlich zu sein auch auf der High-School, aber da hatte ich schon beschlossen solche Leute von vorneherein zu ignorieren und mich nicht weiter davon verwirren zu lassen. Und ihnen die ganze Sache vor den Latz zu knallen, das sind vielleicht schöne Erinnerungen.

Aber wieder zurück zu der äußerst spannenden Geschichte des letzten Tages meines Lebens. Während ich High-Kicks an den Sandsack austeilte und mir der Schweiß herunterlief genoss ich die vollkommene Stille. Viele Menschen hören ja Musik beim trainieren, ich finde das eher lästig.

Nachdem ich etwa eine Stunde trainiert hatte, hörte ich, wie jemand die Tür öffnete und musste mich nicht umblicken, um zu wissen, dass mein Vater hereingekommen war. Das war unser morgendlicher Ritus und wahrscheinlich der Teil des Tages, den ich jetzt am meisten vermissen würde. Ja, ich geb' es auch zu, ich bin ein totales Daddy-Kind, bin ich schon immer gewesen. Ich meine, wer würde es nicht lieben in der ersten Reihe zu stehen, während dein Daddy einen anderen Mann windelweich prügelt.

Und jetzt erwartet ihr sicher eine super traurige Geschichte zu meiner Mutter, aber da muss ich euch leider enttäuschen. Die beiden haben sich einvernehmlich scheiden lassen, noch bevor ich zur Schule ging, sie waren einfach zu verschieden. Meine Mutter ist eine erfolgreiche Vertragsanwältin und eigentlich immer auf Geschäftsreise. Deshalb lebe ich bei meinem Vater, aber jedes Mal, wenn sie in der Nähe ist, kommt sie uns besuchen. Eigentlich hatte sie sich für nächste Woche wieder angekündigt. Es tat mir leid, dass ich nicht mehr die Gelegenheit gehabt hatte sie zu sehen. Und dass ich am Morgen mit meinem Vater kein einziges Wort gewechselt hatte. Wir hatten einfach beide schweigend nebeneinander trainiert, wie immer, und dann war ich gegangen. Am Tag zuvor hatte ich gehört, wie einige Mitschülerinnen mich als Mannsweib bezeichnet hatten. Das war der Grund, warum ich an meinem Todestag einen Rock getragen hatte. Jetzt missversteht das bloß nicht! Ich gehörte trotzdem nicht zu den empfindlichen Prinzesschen, ich hab mir das nicht zu Herzen genommen, aber mein Ego hat es trotzdem etwas angekratzt. Bloß weil ich es nicht nötig hatte wie eine Prostituierte in der Schule rumzurennen hieß das noch lange nicht, dass ich hässlich war. Wenn das mir zum Verhängnis geworden war, würde ich auf diese Prinzesschen im Jenseits warten. Oder sie als Geister heimsuchen, wenn das ging – die Vorstellung gefiel mir. Vielleicht war tot sein doch ganz cool.

Mit dem Rock Motorrad zu fahren war eine echte Herausforderung, aber um nichts in der Welt wäre ich mit dem Auto gefahren. Die Saison zum Motorradfahren hielt nicht ewig und ich wollte keinen einzigen Tag aufgeben. Mein Vater hatte mir das Motorrad erst nach langem Zögern gekauft, aus dem gleichen Grund, aus dem er mich nicht in den Ring steigen lies: er hatte Angst, dass mir etwas passieren konnte – oder jemand anderem, ich war mir da bis jetzt noch nicht ganz sicher. In diesem Fall wäre es ihm lieber gewesen, wenn ich mehr nach meiner Mutter kommen würde. Diesen Gefallen würde ich ihm wohl jetzt nicht mehr tun können.

Ich stellte meine Maschine zwischen einem protzigen Mercedes und einem noch protzigeren Jeep ab. Ich fuhr zwar auch einen 1er BMW, aber man konnte auch übertreiben.

Mit meinem doch für mich eher ungewöhnlichen Outfit zog ich reichlich Blicke auf mich. Ob ich sonst je einen Rock in die High-School anhatte weiß ich nicht, aber die Gründe, warum ich das nicht getan hatte, wurden mir an diesem Tag wieder schlagartig bewusst: Man konnte sich wirklich nirgends einfach hinsetzten! Und wenn man sich hinsetzte durfte man für keinen Moment die Beine öffnen, sonst kamen von überall schon die Kommentare und Pfiffe, doch ein Blick der Marke 'Ruhe, sonst hol ich meinen Daddy' genügte, dass sie verstummten und blass wurden.

Noch vor der ersten Stunde traf ich am Spind leider auf Claire, die Königin der Prinzesschen. Sie lehnte sich genau dort an, wo mein Spind war, und dass mit voller Absicht, da war ich mir sicher.

„Claire, wenn du nach deinen offensichtlich missglückten Hungerkuren noch in der Lage bist einen Fuß vor den anderen zu setzten würde ich es sehr willkommen heißen, wenn du von dieser dir als einziges gebliebenen Fähigkeit Gebrauch machen würdest und deinen Arsch bewegst, oder was noch davon übrig ist. Danke.“

Mit dem letzten Wort schob ich sie einfach unsanft von meinem Spind fort, woraufhin sie ein wenig damenhaftes Quieken von sich gab.

„Eines Tages wirst du dafür büßen, Iron“, meinte sie in einem Versuch ihre Würde zurückzugewinnen.

Ich zuckte mit den Schultern.

„Pass auf, dass du dir dabei nicht deinen Arm brichst, wobei“, meinte ich mit einem heimtücksichen Lächeln, „das ist ja auch nicht mit deinem Becken nach dem übermäßigen Gebrauch deiner Hüfte mit dem gesamten Lacross-Team passiert.“

Claires Gesicht lief tiefrot an, bevor sie sich pikiert umdrehte und davonstolzierte.

Damit war sie Nummer eins auf der Liste der Menschen, denen ich Grund gegeben hatte mich töten zu wollen, und das nur an meinem Todestag.

Der Witz an meiner Aussage war, dass ich später wirklich noch am Trainingsplatz der Lacross-Mannschaft vorbei musste und sie natürlich von meiner Aussage an den Spinds gehört hatten.

„Yo, Iron, ich kann ja deine Beine sehen!“, rief mir irgendein Trottel der Mannschaft, nennen wir ihn der Einfachheit halber einfach einmal Tom, über das gesamte Spielfeld zu.

Entnervt blieb ich stehen und wandte mich Tom zu.

„Und ich durch deine Ohren hindurch die andere Seite des Spielfelds, das erklärt einiges, nicht allerdings, warum du einen Kinder-Tiefschutz trägst. Ach nein, warte“, ich schlug mir die Hand gegen die Stirn, „manchmal vergesse ich einfach, dass du eine Schwester bist.“

Die Mannschaft lachte und Tom warf mir einen gekränkten, todbringenden Blick zu, was ihn zu Nummer Zwei der Liste des Tages machte.

Weitere Worte der Mannschaft ignorierend ging ich weiter zur Mensa und setzte mich dort wie gewohnt allein an einen Tisch. Obwohl die Cafeteria immer überfüllt war, lies ich es nie zu, dass sich jemand zu mir setzte, aber ich denke, das ist bei dem Trottelprozentsatz einer Privatschule nur allzu gerechtfertigt. Trotzdem versuchte es immer wieder jemand, so auch heute.

Ich kannte ihn, sein Name war Aaron und er war der Captain der Baseball-Mannschaft, groß, blond, gutaussehend und hatte die Persönlichkeit einer notgeilen Grapefruit. Wie es aussah, hatte er mich heute seiner Abschussliste als würdig befunden und als er mir breit lächelnd entgegen kam, erwog ich ernsthaft ihm vor die Füße zu kotzen. Er war übrigens ein Rücksitz-Typ, wie er das aber bei seiner Körpergröße anstellte, war mir ein Rätsel.

„Hey Iron, darf ich mich zu dir setzen?“, meinte er charmant und ich spürte, wie sich sämtliche Blicke der umliegenden Tische auf uns richteten.

„Nein“, meinte ich schlichte und wandte mich wieder meinem Essen zu, doch leider war Aarons Ego zu groß, um sich von so einer Kleinigkeit entmutigen zu lassen.

Mit Höflichkeit kam man einfach nie zum Ziel.

„Komm schon, sein nicht so schüchtern“, schnurrte er und wagte es doch dann tatsächlich mit seiner Hand meinen Arm entlangzustreichen.

Das war zu viel, ich lies die Gabel laut klirrend fallen und warf Aaren einen eiskalten starren Blick zu.

„Hör zu, vielleicht ist es ja eine Grundvoraussetzung fürs Cheerleader-Team dich rangelassen zu haben, aber ich werde schon auf dich zukommen, wenn ich eine STD bekommen möchte, keine Sorge. Sogar einige deine Team-Kumpels können ein Lied davon singen, nicht wahr?“, fragte ich unschuldig und hörte, wie einige im Raum aufkeuchten.

Aarons Griff um meinen Arm verfestigte sich.

„Nimm das zurück“, zischte er.

Meine Erwägung für seine 'Heiligen Hallen' *hust* war vergessen.

„Die Wahrheit kann man nicht zurücknehmen“, meinte ich schlicht, befreite mich mit einem heftigen Ruck aus seinem Griff und wandte mich wieder meinem Essen zu, als wäre nichts gewesen.

Eine Weile noch stand er fassungslos und wutschnaubend neben mir, bevor er abrupt kehrt machte und die Cafeteria verließ. Damit hatte ich Nummer 3 auf der heutigen Liste.

Oh, was ich vielleicht noch erwähnen sollte: Was ich Nummer 3 an den Kopf geworfen habe, ist keinesfalls gelogen, ich hatte Aaron tatsächlich vor ein paar Tagen auf einer Party mit einem Team-Kumpel rummachen sehen. Nummer 2 hat natürlich kein Loch im Schädel, aber er benimmt sich doch des öfteren sehr weibisch und was Nummero Uno, unsere liebe Claire angeht: Sobald sie sich wieder vollständige Klamotten besorgen sollte, überdenke ich meine Aussage eventuell noch einmal, aber ich halte die Sache mit dem gesamten Lacross-Team durchaus für wahrscheinlich.

Denkt jetzt aber bloß nicht, dass wir schon am Ende der Tagesliste sind. Wie gesagt, ich habe keinen Filter zwischen meinem Hirn und meinem Mund und an dem Tag bin ich einfach zu vielen dummen Menschen über den Weg gelaufen.

Nummer 4 und 5 sind mir sozusagen gemeinsam über den Weg gelaufen, wenn man das so sagen kann. Nach dem Mittagessen musste ich nochmal zurück in den Geschichtsraum, weil ich eines meiner Bücher darin vergessen hatte. Als ich die Tür aufstieß überraschte ich Tiffany und unseren Geschichtslehrer Mr Bennett, wie sie halb auf dem Pult liegend rumknutschten und seine Hand an einer nicht für einen Lehrer bestimmten Position unter ihrem T-Shirt lag.

Da ich kein ganz normaler Mensch war, fiel auch meine Reaktion nicht ganz durchschnittlich aus: Ich lachte. Mr Bennett und Tiffany fuhren auseinander und er begann irgendeine Art von Erklärung zu stottern, doch ich holte einfach mein Buch und ging wieder zur Tür. Im Rahmen hielt ich noch einmal an und drehte mich zu den beiden um.

„Das wird einfach zu gut“, meinte ich mit einem gefährlichen Grinsen und ging, noch immer leise vor mich hin kichernd, zu meinem nächsten Fach.

Warum Tiffany und Mr Bennett Nummer 4 und 5 auf meiner Liste geworden sind? Nun, ihr habt mich ja jetzt schon ein bisschen kennengelernt, also seid ehrlich: Glaubt ihr wirklich, dass ich so ein Geheimnis für mich behalten würde? So eine Bombe platzen zu lassen, war einfach zu gut und auch wenn Mr Bennett wahrscheinlich seine Stelle verlor, daran hätte er vorher denken müssen, wobei dass dann wahrscheinlich seine geringste Sorge war, schließlich war Tiffany noch minderjährig.

Bei Nummer 6 fasste ich noch einmal den Entschluss nie wieder einen Rock in die Schule zu tragen, ich sah einfach zu gut darin aus. Oder es lag an den Tonnen Hormonen, die die ganzen Top-Sportler nicht

nehmen. Aber für mein Ego sagen wir einfach mal ersteres.

Hier ist aber wieder eine Erläuterung notwendig: Es gab nur eine einzige Person an dieser Schule, in der ich so etwas ähnliches, wie einen Freund sah. Sein Name war Eric und nach dem Mittag machte ich deshalb immer einen kleinen Umweg, vorbei am Football-Training, um mich kurz mit ihm zu unterhalten. Der Trainer gehörte auch zu den wenigen Menschen an dieser Schule, die mich wegen meiner etwas zu offenen Art nicht hassten und so gestattete er mir immer ein paar Minuten da zu bleiben.

„Coach Turner“, begrüßte ich den freundlichen, schon etwas älteren Herren.

„Ah, Iron, und, hast du es dir endlich anders überlegst und ersetzt einen der Weichlinge aus meinem Team?“

Ich lachte.

„Das ist leider gegen die Regeln, sonst würde ich keinen Moment zögern, das wissen sie doch Coach.“

Er lachte ebenfalls und brüllte der Mannschaft zu, sie solle schneller laufen, dann wandte er sich wieder an mich.

„Könntest du deinen Vater fragen, ob er wieder einen Talentscout zu unserem nächsten Spiel bitten könnte?“

„Sie denken Eric ist so weit?“, fragte ich mit leuchtenden Augen und der Coach nickte.

„Er und Leo haben wirklich gute Chancen auf eine Profikarriere, aber sag ihm noch nichts!“

Ich nickte und strahlte Eric an, als er auf uns zu kam.

„Hey Iron“, meinte er und musterte verwirrt meine gute Laune, „was ist dir denn heute Gutes passiert?“

Ich zuckte nur lächelnd mit den Schultern und drehte mich in einer schwungvollen Pirouette, damit ihm auch endlich die Besonderheit meiner heutigen Kleidung aufging.

„Ach du heilige Scheiße“, meinte er ganz meinen Erwartungen entsprechend, „hast du eine Wette verloren?“

Ich sah das Feixen in Erics Augen und streckte ihm die Zunge raus, woraufhin der Coach sich lachend in Richtung der nun auf ihn wartenden Mannschaft entfernte.

„Was ist denn hier los?“, meinte Leo, der sich nun zu uns gesellt hatte.

„Iron trägt allen ernstes einen Rock.“

Leo blickte an mir hinab und grinste frech. Ich verdrehte die Augen.

„Dann geh ich mal wieder“, meinte ich und drehte mich sofort um.

Natürlich musste bei dieser ruckartigen Bewegung eines meiner Bücher herunterfallen und seufzend beugte ich mich vor, um es aufzuheben. In diesem Moment spürte ich eine Hand auf meinem Hintern und fuhr augenblicklich herum. Während Eric noch in Schockstarre über Leos Tat verweilte holte ich aus und schlug Leo mit voller Wucht. Leider hatte ich aus der Trainingsgewohnheit heraus die Hand zu Faust geballt und konnte dabei zusehen, wie bei Leo die Lichter ausgingen.

„Oh fuck“, meinte Eric bloß und ich konnte ihm nur zustimmen.

Ich hatte gerade den Quarterback unseres Football-Teams mit einem Schlag ausgenockt. Nur einen Moment später war die ganze Mannschaft bei uns und der Coach schüttete Leo eine Ladung Wasser ins Gesicht, woraufhin dieser prustend wieder zu sich kam.

„Eric, leite das Training weiter. Leo, Iron, ihr kommt mit mir zum Rektor.“

Ich konnte es Coach Turner nicht vorwerfen, ich war selber Schuld, also folgte ich ihm widerstandslos und sah mit Befriedigung, wie sich die reche Gesichtshälfte von Leo bläulich einfärbte.

Vor dem Rektorat lies uns der Coach dann mit der Sekretärin allein zurück, bis der Rektor sich unser annehmen würde und ich konnte auf Leos Gesicht sehen, wie sich der Schmerz und die Scham der Demütigung durch den Schlag eines Mädchens mit dem blauen Fleck in ihn hinein fraßen. In dem Moment wurde er zu Nummer 6 auf meiner Liste.

Da Leo der Star unserer Schule war, musste er nicht einmal ins Büro unseres Rektors, sondern wurde direkt ins Krankenzimmer geschickt, ohne sich erklären zu müssen. Ich dagegen musste auf dem altbekannten Stuhl gegenüber des altbekannten Rektors Platz nehmen.

„Miss...“, begann er, doch ich unterbrach ihn.

„Iron.“

Es war ein altbekanntes Spielchen zwischen uns. Aus irgendeinem Grund glaubte der Rektor, dass wenn ich mich als Miss anreden lassen würde, plötzlich eine Dame aus mir werden würde.

„Also gut, Iron. Um was ging es denn bei diesem Zwischenfall?“

„Leo hat mir an den Hintern gefasst, ich habe entsprechend reagiert.“

„Einen Mitschüler bewusstlos zu schlagen sehe ich nicht als entsprechende Reaktion, Iron.“

„Das sagen sie bloß, weil er ihr kostbarer Quarterback ist, Mr Staker, und außerdem, was kann ich dafür, dass er so zart besaitet ist. Sie sollten mir lieber dankbar sein, dass sie es jetzt schon wissen und das nicht erst beim großen Spiel rausgekommen ist.“

Ich wusste, dass ich mich in diesem Moment um Kopf und Kragen redete, aber wieder einmal: fehlender Filter.

Ich konnte beobachten, wie Mr Staker immer wütender wurde.

„Iron“, brüllte er förmlich, „wenn so etwas noch einmal vorkommen sollte, dann...“

„Dann was?“, unterbrach ich ihn und verschlug ihm damit die Sprache, „Hier glauben sie vielleicht Macht zu haben, aber vergessen sie nicht, dass außerhalb der Schulmauern die echte Welt auf sie wartet und in der sage ich ihnen, was sie zu tun haben, also üben sie besser schon einmal für die Zukunft.“

Mit diesen Worten erhob ich mich und ging einfach und hatte damit Nummer 7 auf meiner Liste. Da ich keine Lust mehr hatte den Rest meiner nächsten Stunde zu besuchen, legte ich mich in den kleinen Innenhof und genoss die Strahlen der warmen Sonne. Als es klingelte, machte ich mich auf den Weg zur Toilette, doch das Mädchenklo war mal wieder hilflos überfüllt, also ging ich um die Ecke zur Jungstoilette. Im Nachhinein war das eine wirklich blöde Idee, findet ihr nicht auch? Aber ich musste wirklich dringend, also sah ich mich in dem Moment im Zugzwang. Als ich wieder aus der Kabine kam und mir nach dem Händewaschen gerade die Hände mit einigen Papiertüchern trocknen wollte, spürte ich wie sich jemand von hinten auf mich warf und mit dem Gesicht zu Boden drückte. Es ging alles zu schnell und bevor ich mich wehren konnte, spürte ich einen stechenden Schmerz in meinem Rücken. Dann wurde meine Welt schwarz.

 

 

Mein Name ist Eric Baldwin, ich bin 18 Jahre und besuche die letzte Klasse der Private Lincoln-High-School. Es ist eigentlich eine Schule für reiche Kids, aber die Football-Mannschaft da ist echt gut und sie wollten mich unbedingt haben. Meine 'normale' Herkunft machte mich dort zwar nicht zum Außenseiter, aber trotzdem fühlte ich mich auch nie wirklich zu diesen Menschen zugehörig – sie alle waren so bedacht auf den äußeren Schein. Da kann man sich vorstellen, was für eine Überraschung es für mich war Iron kennenzulernen. Sie trägt ihr Herz auf der Zunge und ist um kein Wort verlegen, ich habe nie einen ehrlicheren und herzlicheren Menschen kennengelernt, auch wenn das von Zeit zu Zeit doch anstrengend seien kann. Noch mehr aber faszinierte mich an ihr, dass sie so gar nicht das Bedürfnis verspürte von irgendjemandem anerkannt zu werden, dass sie selbst und ihr Vater das taten reichte ihr vollkommen. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als sie uns zum ersten Mal beim Training zusah. Sie hatte dunkle Shorts und eine durchscheinende dunkle Seidenbluse mit einem Top getragen, dazu Motorradstiefel. Sie hatte sich einfach neben den Coach gestellt und nach dem neuen Wunderkind, nach mir gefragt. Verblüfft über ihre Direktheit hatte der Coach mich hergerufen und ihr vorgestellt. Mit schief gelegtem Kopf hatte sie mich eine Weile gemustert.

„Einmal ein Sprint über die halbe Länge des Spielfeldes gegen mich, damit du zeigen kannst, was du so drauf hast Wunderkind“, war das einzige, was sie zu mir gesagt hatte.

Verdattert war ich ihr zur Mittellinie nachgelaufen, genauso wie der Coach, der uns dann auch den Countdown gezählt hatte. Obwohl ich mir wirklich die größte Mühe gegeben hatte, hatte ich keine Chance gegen sie und verlor, ohne sie auch nur ins Schwitzen gebracht zu haben. An der Ziellinie hatte sie mir ein Lächeln geschenkt und war dann einfach gegangen.

Von da an kam sie jeden Tag beim Training vorbei, doch eine Revanche hat sie mir nie gegeben.

Iron war eine schwierige Persönlichkeit, die oft Ärger bekam und mit anderen hatte, weshalb ich mich eigentlich andauernd um sie sorgte. Sie war aber ganz und gar nicht der Meinung, dass sich irgendjemand um sie zu sorgen brachte, was dazu führte, dass sogar ich, als eigentlich ihr bester Freund an dieser Schule, mich nie außerhalb der Unterrichtszeiten mit ihr traf. Nur diese wenigen Minuten beim Training jeden Tag. Natürlich hatte ich versucht sie beim Mittag an den Tisch der Footballer oder Abends, wenn ich mich mit Freunden traf, einzuladen, doch immer hatte sie lächelnd abgelehnt. Ich habe sie immer wieder eingeladen, nie aufgegeben, aber nicht, damit sie dabei war, ich wusste, dass sie nie ja sagen würde, sonder weil ich hören wollte, wie

sie mich ablehnt. Bei jedem anderen gibt sie einen beleidigenden Spruch von sich, nur bei mir lächelt sie und lehnt entschuldigend ab. Ich brauchte diese Momente, um mir selbst zu versichern, dass wir wirklich Freunde waren, dass ich ihr wirklich auch etwas bedeutete.

 

An dem Tag, als sie Leo schlug, machte ich mir große Sorgen um sie, denn Leo war bekannt für seinen Jähzorn und kurzen Geduldsfaden und als er nicht zum Training zurückkehrte, machte ich mich auf die Suche nach Iron. Als sie nicht an ihr Handy ging, breitete sich ein ungutes Gefühl in meiner Magengegend aus und ich eilte hektisch durch die Gänge, auf der Suche nach ihr. Ich hatte mich nicht einmal nach dem Training umgezogen, so besorgt war ich, dass mit Leo schließlich doch einmal jemandem wirklich der Geduldsfaden mit Irons Sprüchen gerissen war. Als ich die Schlange vor der Mädchentoilette sah, ging ich unwillkürlich auf sie zu und sprach eine von ihnen an.

„Claire, hast du zufällig Iron gesehen?“

Die zog empört eine Augenbraue in die Höhe.

„Was sollte ich denn mit diesem Miststück zu tun haben?“

Ich verdrehte die Augen und wandte mich an ein Mädchen bei den Spinds an der gegenüberliegenden Wand.

„Tiffany, hast du vielleicht Iron gesehen?“

„Wieso?“, meinte diese und blickte sich hektisch nach allen Seiten um, „hat sie dir gegenüber etwa etwas gesagt?“

Verwirrt blickte ich sie an.

„Nein, ich kann sie nur nicht auf ihrem Handy erreichen, also, hast du sie gesehen?“

„Sie lag vorhin im Innenhof, glaube ich“, meldete sich eine Stimme und ich drehte mich erleichtert zu der Sprecherin um, ich kannte sie nicht.

„Danke“, meinte ich erleichtert und wollte mich schon auf den Weg machen, als mich das fremde Mädchen noch einmal zurückhielt.

„Da ist sie schon wieder weg, aber so eilig, wie sie los ist, glaube ich musste sie aufs Klo.“

Ich blickte noch einmal zur überfüllten Mädchentoilette, dann fiel mir ein, dass Iron mal erwähnt hatte, dass sie immer auf die Männertoilette ausweichen würde, wenn diese sauerer wären.

Eiligen Schrittes ging ich um die Ecke, in einen Zwischenflur, wo sich die Jungstoilette befand und öffnete die Tür. Im ersten Moment sah ich sie gar nicht, da ich bei meinen fast 2m Körpergröße mein Kopf doch recht weit über der Erde schwebt, doch im nächsten Moment blickte ich nach unten und sah sie auf dem Fliesenboden liegen, der Oberkörper fast nackt mit einer Schnittwunde zwischen den Rippen, aus der Blut quoll und eine schillernd rote Lache auf den weißen Fließen bildete. Ich zögerte keine weiteren Moment sondern stürzte auf sie zu, riss mir das Trikot vom Leib und presste es auf die Wunde, dann schrie ich nach Hilfe.

Einen Augenblick glaubte ich, niemand würde mich hören. Einen Augenblick glaubte ich, niemand würde

kommen. Einen Augenblick glaubte ich, sie würde vor meinen Augen sterben. Einen Augenblick glaubte ich, ich würde sterben.

Dann schlug endlich die Tür auf und ein Lehrer, Mr Bitterman, schlitterte alarmiert zur Tür herein. Als er sah, wie ich in Irons Blutlache kniete und versuchte die Wunde zu verschließen, war er einen Moment wie versteinert und konnte uns nur anstarren.

„Helfen sie ihr“, flehte ich mit tränenschwangerer Stimme an.

Das schien ihn aus seiner Starre zu lösen. Er zückte sein Handy und wählte den Notruf. Dann trat er noch einmal auf den Gang und brüllte, jemand solle sofort die Krankenschwester hier rauf schaffen, es handle sich um einen Notfall.

Ich selbst war wie in Trance und merkte nicht einmal, dass sich mein Trikot bereits vollgesogen hatte und meine Hände rot von Irons Blut waren. Ich war nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen und hörte auch nicht, was Mr Bitterman zu mir sagte. Erst als die Krankenschwester kam und zwei Lehrer mich vorsichtig von ihr wegzogen, damit sie sich um Iron kümmern konnte, kam ich wieder zu mir.

„Ich muss ihr helfen“, meinte ich nur und lehnte mich gegen den Griff der Lehrer, doch diese stießen mich sanft wieder zurück.

„Du hast ihr schon geholfen, als du uns gerufen hast, doch jetzt ist die Schwester die bessere Hilfe für sie, glaubst du nicht auch?“, meinte Mr Bitterman mit ruhiger Stimme.

„Mr Bennett, helfen sie mir mal hier!“

Ich merkte, wie mich an einer Seite Hände losließen und sah dann, wie Mr Bennett zur Schwester eilte, um ihr zu helfen.

„Wo kam er denn her?“, fragte ich Mr Bitterman verwirrt.

„Das Geschichtszimmer liegt auf diesem Flur“, meinte Mr Bitterman ruhig, als wäre das die normalste Frage der Welt.

War es aber nicht, eigentlich wusste ich das.

Plötzlich ging die Tür auf und zwei Schüler, Aaron und irgendein Lacross-Spieler, kamen mit Verbandsmaterial und ähnlichem herein, was die Krankenschwester sofort erleichtert verwendete.

„Als ich hier hochkam, hab ich niemandem gesehen, woher kamen denn die beiden?“

„Sie waren auch hier in der Nähe unterwegs, aber beruhige dich jetzt erst einmal Eric, die Rettungskräfte dürften auch gleich da sein.“

Das waren sie dann zum Glück auch nur wenige Augenblicke später. Sie schlugen die Tür mit Wucht auf und verschafften sich schnell einen Überblick über die Situation und ließen sich auch von der Krankenschwester etwas erzählen. Sie überprüften den Druckverband und drehten dann Iron zum ersten Mal um. Ihr Anblick traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ihre Haut war kalkweiß, ihre schreckgeweiteten Augen waren trüb und blicken ist leere.

„Herzstillstand“, murmelte einer der Sanitäter.

„Iron!“, schrie ich verzweifelt und alle, bis auf die Rettungskräfte wandten sich mir überrascht zu, sie hatten es nicht gehört.

Als sie ihr die Pads auf die Brust klebten, musste ich wegsehen und bekam einen weiteren Schock. Nicht nur wirkte keiner im Raum besonders erschüttern, nein, viele von ihnen schienen sogar ein Lächeln zu unterdrücken.

„Weg!“, rief einer der Sanitäter.

Ich sah doch wieder zu Iron, nur um zu beobachten, wie ihr Körper unter dem Stromschlag zuckte, und instinktiv verkrampfte ich mich auch. Noch dreimal jagten die Rettungskräfte Strom durch Irons zierlichen

Körper, bis sie aufgaben.

„Wir haben eine Puls!“, meinte einer der Sanitäter plötzlich überrascht und ich brach vor Erleichterung zusammen.

Während einer der Sanitäter Iron weiter beatmete, schoben sie sie auf der Trage nach draußen, um sie auf schnellstem Wege ins Krankenhaus zu bringen. Ich rappelte mich auf und wich bis zum Krankenwagen nicht von ihrer Seite.

„Tut mir leid, sie können nicht mitfahren“, meinte einer der Rettungskräfte entschuldigend und ich nickte nur.

Ich sah dem Krankenwagen nach, wie er mit Blaulicht und Sirene vom Schulgelände fuhr und wich auch nicht von der Stelle, als er schon längst außer Sichtweite war. Erst, als sich eine Hand auf meinen Schulterprotektor legte, wandte ich den Blick ab und sah in das Gesicht von Coach Turner. Er schien um Jahre gealtert zu sein, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte.

„Kommst du zurecht mein Junge?“, durchbrach er schließlich die Stille.

„Ich weiß nicht Coach“, meinte ich wahrheitsgemäß und schüttelte den Kopf, „vor knapp 2 Stunden stand sie noch mit mir neben dem Feld und jetzt könnte sie...“

Ich konnte es nicht aussprechen, nicht einmal denken, denn das würde ich nicht überleben.

„Denk nicht so, mein Junge, noch hat sie eine Chance.“

„Ich verstehe einfach nicht, wer ihr so etwas antun könnte.“

„Nicht jeder hat ihre Art so verstanden, wie wir, Eric, aber ich hätte auch nie gedacht, dass einer so weit gehen würde.“

Eine Weile herrschte Schweigen.

„Bist du jetzt bereit, um mit der Polizei zu sprechen?“

Überrascht sah ich den Coach an.

„Wieso wollen sie mit mir sprechen?“

„Weil du sie gefunden hast und weil ich ihnen gesagt habe, dass du ihr einziger Freund an der Schule bist.“

Teil 2 - Die Verhöre

Verhör Nr. 1: Eric Baldwin

„Guten Tag, mein Name ist Detective Moore ich leite die Ermittlungen im Fall...“

„Iron“, unterbrach Eric ihn und der Detective sah ihn fragend an.

„Jeder nennt sie nur Iron, selbst die Lehrer“, erklärte Eric und der Detective nickte.

„Gut, dann im Fall von Iron. Sie sind Eric Baldwin, ein Mitschüler von ihr, ist das richtig?“

„Ja, wir besuchen dieselbe Stufe, haben aber keine gemeinsamen Kurse.“

„Und Sie waren als erster am Tatort.“

„Ja“, meinte Eric und klang plötzlich sehr zurückhaltend.

„Und wie fanden Sie Iron vor?“

Eric schluckte schwer.

„Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, eine tiefe Stichwunde im unteren Teil des Rückens, aus dem Blut quoll, das schon begonnen hatte eine Lache zu bilden.“

Zum Ende des Satzes war Erics Stimme immer leiser geworden und er beherrschte sich sichtlich um einen Gefühlsausbruch.

„Und sie haben niemand sonst am Tatort vorgefunden?“

„Nein“, meinte Eric und schüttelte den Kopf, „jetzt wo Sie es sagen, es war schon recht eigenartig, dass der Flur menschenleer war, aber andererseits sind auf diesem Zwischengeschoss nur zwei Unterrichtsräume, also war es vielleicht doch nicht so ungewöhnlich.“

„Was hatten Sie dann dort zu suchen?“, meinte der Detective und zum ersten Mal kam Eric in den Sinn, dass man ihn auch verdächtigen könnte.

„Natürlich habe ich nach Iron gesucht“, meinte er perplex.

„Und wieso haben Sie nach ihr gesucht?“

„Dazu müssen Sie wissen, dass Iron immer nach der Mittagspause kurz bei mir beim Training vorbeischaut, ich spiele nämlich Football, wie Sie an meinem Aufzug sicherlich schon bemerkt haben. Heute kam es zu einem kleinen Zwischenfall...“

Eric brach ab und sah den Detective unsicher an.

„Sie können es ruhig sagen.“

Eric atmete tief durch, und sprach es dann rasch aus.

„Leo griff Iron an den Hintern, weshalb sie ihn geschlagen hat.“

„Ah, und über eine Backenpfeife regt sich dieser Leo so sehr auf, dass er mit einem Messer auf Ihre Freundin losgeht?“, meinte der Detective herausfordernd.

„Nein, nein, Sie verstehen das nicht“, meinte Eric hektisch, „Irons Vater ist Profiboxer, Sie haben sicher schon von ihm gehört, sein Ringname ist 'Iron Fist'.“

„Das habe ich, aber ich verstehe noch nicht ganz, was Sie mir damit sagen wollen, Mr Baldwin.“

„Ich will damit sagen, dass Iron weiß, wie man Schläge richtig austeilt. Leo war danach eine halbe Minute bewusstlos.“

„Und was ist dann passiert?“

„Unser Coach hat die beiden zum Rektor gebracht.“

„Coach Turner?“

„Genau, er hat mir die Leitung des Trainings überlassen, ist aber schon kurz darauf, nachdem er die beiden abgeliefert hatte, wieder zurückgekommen und dann ging das Training eigentlich wie normal zu ende, nur dass Leo fehlte.“

„Dieser Leo ist also nicht zum Training zurückgekommen?“, horchte der Detective auf und Eric nickte schwach.

„Ich mag Leo wirklich sehr gern, er ist ein super Kumpel, aber leider hat er auch ein ziemliches Temperament“, gestand Eric kleinlaut und mit gesenktem Kopf.

„Dann hätte ich erst einmal keine weiteren Fragen an Sie, vielen Dank für ihre Zeit, Mr Baldwin.“

„Wissen Sie vielleicht, wie es Iron im Moment geht?“

Detective Moore wollte Eric schon sagen, dass es ihn nichts anginge, doch dann sah er den verzweifelten Blick des Jungen und musste ihm antworten.

„Sie ist noch nicht außer Lebensgefahr, tut mir Leid mein Junge.“

 

Verhör Nr. 2: Leo Piven

„Guten Tag, mein Name ist Detective Moore, ich leite die Ermittlungen im Fall von Iron. Sie sind Leo Piven, ist das richtig?“

„Das stimmt“, meinte Leo mit ruhiger Stimme.

„Woher kennen Sie das Opfer?“

„Sie kommt jeden Tag zum Football-Platz raus, um mit Eric und dem Coach zu reden, da hab ich sie auch ab und an Mal gesprochen und wir besuchen denselben Musik-Kurs.“

„Ich habe gehört, dass es am Tag des Angriffs zu einem Zwischenfall zwischen Ihnen und dem Opfer gekommen ist. Ich vermute mal, dieses blaue Auge haben Sie Iron zu verdanken?“

„Da vermuten Sie richtig, man, bei dem Mädchen steckt vielleicht ein Wumms hinter dem Schlag, das hätte ich ihr gar nicht zugetraut, glauben Sie mir.“

„Und Sie waren gar nicht wütend auf Iron, dass sie Sie vor ihrem kompletten Team einfach so niedergestreckt hat?“

„Verstehen Sie mich nicht falsch, ich finde sie hat total überreagiert, aber wo diese Sache jetzt mit ihr passiert ist kann ich ihr nicht mehr wirklich böse sein.“

„Das heißt also, Sie waren wütend auf sie, bis Sie sich mit einem Messer an ihr abreagiert hatten?“

„Hey!“, meinte Leo empört, „das habe ich nicht gesagt! Klar, Iron ist irre und regt manchmal auf, aber das ist doch kein Grund sie umzubringen!“

„Iron ist irre?“, hakte der Detective interessiert nach und Leo wirkte verlegen, dass ihm das herausgerutscht war.

„Nun ja, Iron ist voll der Einzelgänger, ich meine, die lässt Mittags nicht mal jemanden an ihrem Tisch sitzen und reden tut sie auch mit den meisten nicht, wenn dann beleidigen.“

Der Detective horchte interessiert auf.

„Iron hat also viele Feinde?“

Leo lachte auf.

„Machen sie Witze? Niemand kann Iron leiden. Na ja, bis auf Eric und vielleicht den Coach.“

„Wenn Iron so irre war, wieso haben Sie ihr dann an den Hintern gefasst?“

„Dass sie irre war bedeutet ja nicht, dass sie nicht auch heiß gewesen sein kann“, meinte Leo mit einem verschlagenen Grinsen, „und als sie sich mit dem kurzen Rock gebückt hat, hat sie ja beinahe darum gebettelt.“

„Ihnen ist bewusst, dass diese Einstellung in der Zukunft viel Ärger für Sie bedeuten wird, Mr Piven?“

Leo zuckte nur mit den Schultern.

„Wofür bezahlt meine Familie sonst unsere Anwälte?“

„Dann sollten Sie vielleicht einen dieser Anwälte herbestellen, denn so wie es aussieht, sind Sie momentan unser Hauptverdächtiger.“

Leo riss entsetzt die Augen auf.

„Haben Sie mir denn nicht zugehört, NIEMAND konnte Iron leiden!“

„Ja, aber nur Sie hatten am heutigen Tag einen Konflikt mit ihr.“

Leo lachte freudlos auf.

„Tut mir Leid Sie enttäuschen zu müssen.“

„Sie hatte heute noch mit anderen einen Konflikt?“, fragte der Detective überrascht.

„Sie kennen Iron wirklich nicht, die bricht am Tag mindestens fünf Streits vom Zaun, das können Sie mir glauben.“

„Sagen Sie mir jetzt, wer es war?“, fragte der Detective ungeduldig und ein süffisantes Grinsen breitete sich auf Leos Gesicht aus.

„Sie hätten mal hören sollen, wie sie mit dem Rektor geredet hat, als sie wegen mir zurechtgewiesen werden sollte.“

Der Detective hob spöttisch die Augenbraue.

„Der Rektor Ihrer Schule ist ein hochangesehener Mann. Was könnte Iron schon gesagt haben, damit er mit einem Messer auf sie losgeht?“

Wenn möglich wurde Leos Grinsen noch breiter.

„Sie hat ihn auf seinen Platz verwiesen.“

 

Verhör Nr. 3: Peter Staker

„Guten Tag, mein Name ist Detective Moore, ich leite die Ermittlungen im Fall von Iron. Sie sind Peter Staker, der Rektor der Privat Lincoln-High-School, ist das richtig?“

„Das ist korrekt“, meinte Mr Staker mit ruhiger Stimme.

„Nach meinen Informationen wurde Iron keine Stunde bevor sie angegriffen wurde in ihr Büro gerufen, worum ging es dabei?“

„Iron hatte einen ihrer Mitschüler, einen gewissen Leo Piven, tätlich angegriffen und Coach Turner brachte sie zu mir, damit ich sie maßregeln konnte.“

„Mir ist zu Ohren gekommen, dass Iron das an diesem Tag nicht mit sich machen lassen wollte.“

Der Rektor lachte freudlos auf.

„An diesem Tag? Dieses Mädchen ließ sich an keinem Tag von einem Maßregeln.“

„Wieso haben Sie sie dann nicht der Schule verwiesen?“

„Auf meiner High-School laufen die Dinge etwas anders, bei uns sind die Schüler vertraglich an unsere Schule gebunden, das zumindest war der eigentliche Gedanke dahinter, dass uns unter des Semesters nicht zu viele Schüler abspringen oder glauben in dieser Zeit Trips um die Welt machen zu können. Leider aber bindet es uns auch an die Schüler.“

„Ich sehe aber, dass Iron ihre komplette High-School-Zeit bei ihnen verbracht hat. Wieso haben Sie ihren Vertrag immer weiter verlängert, wenn sie so ein Störenfried war?“

„Wir haben ihn nicht verlängert. Irons Mutter ist Vertragsanwältin und hatte es geschafft uns zu einem Vertrag über die gesamte High-School-Zeit zu überreden. Unsere Anwälte haben nach Schlupflöchern im Vertrag gesucht, das können Sie mir glauben.“

„Iron wusste also, dass Sie sie nicht von der Schule werfen konnten?“

„Ja“, meinte der Rektor nun vorsichtig geworden.

„Das muss Sie doch ziemlich fertig gemacht haben, dass dieses Mädchen ihnen so auf der Nase herumtanzen konnte.“

„Sie war schwierig, aber nicht untragbar.“

„In dem genannten Stadium vielleicht, aber sagen wir einmal, sie hätte Sie wortwörtlich in die Schranken gewiesen, wäre es dann nicht untragbar geworden?“

Der Detective musterte den Rektor scharf, um keine seiner Reaktionen zu verpassen. Für einen Moment starrte Mr Staker einfach zurück.

„Ich würde jetzt gerne meinen Anwalt anrufen.“

 

Verhör Nr. 4: Elaine Reeser

„Guten Tag, mein Name ist Detective Moore, ich leite die Ermittlungen im Fall von Iron. Sie sind Elaine Reeser, die Sekretärin des Rektors Staker der Private Lincoln-High-School, ist das richtig?“

„Ja, das ist richtig“, meinte Ms Reeser schüchtern.

„Sie arbeiten schon seit drei Jahren für Mr Staker, was können Sie mir über ihn erzählen?“

„Er ist ein guter Chef, ich kann mich eigentlich über nichts beklagen. Er weiß, dass es nicht zu meinem Aufgabenbereich gehört seine Sachen aus der Reinigung zu holen oder ähnliches, das ist sehr erfrischend im Gegensatz zu meiner früheren Arbeitsstelle.“

„Und wie würden Sie sein Temperament beschreiben?“

„Er ist eigentlich ein sehr gelassener Mensch, niemals offensichtlich gestresst.“

„Und wie verhält er sich gegenüber Iron?“

„Oh“, seufzte Ms Reeser, „Iron ist ein ganz spezieller Fall. Ich weiß auch nicht, warum sich dieses Mädchen immer in Schwierigkeiten bringt. Ich habe zwar nur ein Jahr bevor sie zur Schule kam hier angefangen, aber sie gehörte von Anfang an zu unseren hochfrequenten Dauergästen.“

„Und wurde ihr Vater einmal wegen ihrem Verhalten zum Direktor bestellt?“

„Oh ja, gleich im ersten Semester, ich erinnere mich noch sehr genau an ihn, das war wirklich ein Schrank von einem Mann, ich hatte wirklich Angst vor ihm. Der Rektor lässt ja meistens die Tür zu seinem Büro offen, weswegen ich das Gespräch mitanhören konnte, wobei man das eigentlich nicht ein Gespräch nennen konnte. Der Rektor hat dem Vater vorgelesen, weswegen seine Tochter so oft zu ihm gerufen worden war und der Vater saß einfach stumm da und hat sich die Sache angehört. Am Ende meinte er bloß: 'Das ist alles? Und darüber regen Sie sich auf?' Dann erhob er sich und ging. Danach hat es der Rektor nicht mehr für nötig befunden den Vater je wieder wegen Irons Fehlverhalten einzuschalten.“

„Das ist ja interessant, dem Vater war also Irons Verhalten völlig egal?“

Ms Reeser zuckte mit den Schultern.

„So schien es zumindest.“

Der Detective nickte und notierte sich etwas.

„Um noch einmal auf diese Türsache zurückzukommen: War sie auch bei dem Gespräch am Tag des Zwischenfalls geöffnet?“

Die Sekretärin lief puterrot an.

„Ja, und was Iron da gesagt hat, war wirklich respektlos.“

„Wie respektlos?“, hakte der Detective sofort nach.

„Iron meinte zum Rektor, dass er vielleicht innerhalb der Schulmauern Macht hätte, aber außerhalb – in der echten Welt, wie sie es nannte – habe sie das Sagen und das solle er nicht vergessen.“

Der Detektiv stieß einen anerkennenden Pfiff aus.

„Das waren harte Worte, sie müssen den Rektor schwer getroffen haben.“

Ms Reeser nickte heftig.

„Das kann man wohl sagen. Etwa eine halbe Stunde lang lief er in seinem Büro auf und ab, bevor er dann losging, um Mittagspause zu machen.“

„War die Mittagspause denn nicht schon vorüber?“, fragte der Detective erstaunt.

„Die der Schüler, ja, aber der Direktor macht immer später Pause, manchmal sogar gar nicht. Er ist ein sehr fleißiger Mann und stolz auf seine Arbeit.“

„Würden Sie mir noch abschließend ihre persönliche Meinung so Iron geben?“

„Iron ist verzogen, wie viele der Kinder an dieser Schule, aber bei ihr kommt ihre schlechte Erziehung noch hinzu. Allerdings, was soll man auch erwarten, das Kind wurde von einem Boxer großgezogen.“

 

Es war das letzte Verhör für Detective Moore für diesen Abend gewesen und erschöpft ließ er sich hinter seinen Schreibtisch fallen.

„Und, wie waren die Verhöre?“, fragte ihn sein Partner Detective Hale.

„Ach, irgendwie hatte ich mir die Sache leichter vorgestellt Andrew.“

„Wieso, was ist denn?“

„Ich war mir so sicher, dass wir maximal zwei drei Verdächtige bekommen würden, aber das, was ich allein in diesen vier Verhören erzählt bekommen habe...anscheinend hatte dieses Mädchen nichts als Feinde. Ich meine, wie macht man das?“

Erschöpft ließ Moore sein Gesicht in seine Hände sinken.

„Es ist High-School, hast du das etwa schon vergessen?“

„Ich meine nicht diese Art von Feindschaft, ich rede hier von richtiger Feindschaft. Selbst diese schüchterne Sekretärin hab schlecht von dem Mädchen gesprochen.“

„Hast du nicht am Anfang einen Freund von ihr verhört?“

„Ja, und so wie es aussieht wird er der einzige bleiben, dem auch nur ein einziges gutes Wort über dieses Mädchen über die Lippen kommt.“

 

Verhör Nr. 5: Quentin MadEye

„Guten Tag, mein Name ist Detective Moore, ich leite die Ermittlungen im Fall von Iron. Sie sind Quentin MadEye, Irons Vater, ist das richtig?“

„Ja, aber nennen Sie mich doch Fist, mich hat schon seit Jahren niemand mehr mit meinem richtigen Namen angesprochen“, meinte Fist mit einem freundlichen Lächeln.

„Wenn es Ihnen so lieber ist, gerne Fist. Waren Sie gestern bei ihrer Tochter im Krankenhaus?“

Auf einen Schlag war das Lächeln verschwunden und Fist wirkte nur noch müde und krank.

„Ich war dort, bis ich zu diesem Termin erscheinen musste. Sie wurde gestern noch notoperiert, musste aber in ein künstliches Koma versetzt werden, damit sich ihr Körper besser erholen kann. Sie schwebt noch immer in Lebensgefahr.“

„Das tut mir sehr leid.“

„Das muss es nicht, Sie haben meiner kleinen Tochter ja kein Messer zwischen die Rippen gejagt.“

Ein kalter Schauer lief dem Detective über den Rücken, als er den harten Ausdruck in Fists Augen sah.

„Wie kam es eigentlich zu dem Namen Iron?“, fragte der Detective, um abzulenken.

Tatsächlich stahl sich wieder ein kleines Lächeln auf das Gesicht des Mannes ihm gegenüber.

„Als meine kleine Tochter zwei Jahre alt war, hat sie mich abgöttisch verehrt. Sie nannte mich nie nur Daddy, sondern immer Daddy Iron Fist, einfach, weil sie so stolz auf mich war. Eines Abends nach dem Training setzte sie sich wie immer auf meinen Schoß, damit ich ihr eine Gute-Nacht-Geschichte erzählte, doch an diesem Abend frage sie mich nur: 'Daddy Iron Fist, wieso heiße ich eigentlich so anders wie du? Kann ich nicht einfach wie du heißen, damit auch jeder weiß, dass du mein Daddy Iron Fist bist?' Ich war so gerührt, dass ich ihr den Vorschlag machte dass wir uns beide den Titel Iron teilten, weil sie ja meine Tochter war und wir beide deswegen aus dem gleichen Metall gegossen sind, aber ihre Form müsse sie noch herausfinden. Im Gegenzug sollte sie mich nur noch Daddy nennen.“

„Das ist eine unglaublich nette Geschichte und verzeihen Sie, wenn ich jetzt so direkt bin, aber das hört sich so anders als das an, was ich über das jetzige Verhalten ihrer Tochter gehört habe.“

„Die meisten Menschen verstehen Iron nicht und missinterpretierten ihr Verhalten dann als beleidigend und ich muss zugeben, dass das leider meine Schuld ist. Ich habe Iron von klein auf gesagt, sie solle mir immer genau das mitteilen was sie denkt, denn die direkten Gedanken sind die Ehrlichsten. Dieses Verhalten beherzigt sie bis heute, also ist eigentlich alles, was man ihr vorwerfen kann, dass sie zu direkt ist, aber bei einem können Sie sich bei meiner Tochter wenigstens sicher sein: Sie lügt nicht und das finde ich tausend Mal wichtiger, als immer taktvoll zu sein.“

„Aber viele Menschen kommen mit so direkten Konfrontationen nicht klar, ist Ihrer Tochter das bewusst?“

„Iron weiß sehr genau, dass die meisten Menschen sie genau deswegen nicht mögen, einfach, weil die meisten Menschen nicht mit der Wahrheit klar kommen und sie es, gelinde gesagt, meistens auch nicht sonderlich verpackt. In der Middle School hat sie einmal eine Zeit lang versucht sich anzupassen. Die anderen mochten sie zwar dann, aber es zerriss sie beinahe innerlich, also sagte ich zu ihr, dass die Menschen, die sie nicht so nahmen wie sie war, es nicht wert waren.“

„Ich möchte mich ja nicht in ihre Erziehung einmischen, aber wie glauben Sie wird Iron in der Welt mit dieser Einstellung zu Recht kommen?“

„Nun, wenn es mit dem Jura-Studium nicht klappt, kann sie noch immer den Berufsweg ihres Vaters einschlagen, da muss sie nicht viel reden.“

Detective Moore überlegte einen Moment, was er darauf antworten sollte, doch ihm fiel beim besten Willen nichts ein.

„Wissen Sie von Freunden ihrer Tochter?“

Diese Frage galt eigentlich mehr dem persönlichen Interesse des Detectives.

„Offen würde Iron nie jemanden als einen Freund von sich bezeichnen, das ist einfach nicht ihre Art, aber dem am nächsten kommen in der Schule ein Junge namens Eric Baldwin und der Coach Turner und natürlich unsere Haushälterin Francis Wikström.“

„Und wissen sie von irgendwelchen Feinden, die ihre Tochter hatte?“

„Niemand hatte den Mumm eine offene Feindschaft gegen meine Tochter zu führen, die Jungen hatten zu sehr Angst vor mir, die Mädchen hatten schon genug Angst vor meiner Tochter. Iron hat mir zwar ein paar Mal von einer Claire erzählt, doch dieser Disput scheint auf rein verbaler Ebene abgelaufen zu sein.“

 

Verhör Nr. 6: Claire Finney

„Guten Tag, mein Name ist Detective Moore, ich leite die Ermittlungen im Fall von Iron. Sie sind Claire Finney, ist das richtig?“

„Ja, das ist so richtig.“

„Ich komme direkt auf den Punkt: Sie scheinen nicht besonders gut mit Iron auszukommen.“

„Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts“, meinte Claire trocken.

„Mutig so etwas zu sagen, wo doch gerade jemand versucht hat Iron zu ermorden.“

„Auf der Männertoilette, da würde ich nicht einmal im Schutzanzug reingehen.“

„Das könnte ja jeder sagen und das wissen Sie auch, Miss Finney.“

„Sie haben wohl keine besonders gründlichen Nachforschungen über mich angestellt oder beobachtet, was ich in diesem Raum gemacht habe, bevor sie hereingekommen sind?“

„Nein“, meinte der Detektiv und zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.

„Ich leide an Mysophobie und bin nur eine Stufe von der Notwendigkeit entfernt zuhause unterrichtet zu werden. Ich könnte nie auch nur eine öffentliche Toilette betreten.“

„Sie hatten aber ausgesagt, dass Sie zur Tatzeit in der Schlange zur Toilette angestanden hätten.“

„Denken Sie etwa ich will, dass jeder von meiner Krankheit weiß? Ich stelle mich immer zur richtigen Zeit an, sodass ich es nie vor dem Klingeln bis in die Toilette schaffe. Ich kann ihnen gerne die Nummern meines Arztes und meines Therapeuten dalassen, damit Sie sich über mein Krankheitsbild informieren können.“

„Das wäre sehr zuvorkommen, aber erzählen Sie jetzt erst einmal von der Beziehung zwischen Iron und Ihnen.“

„Was gibt es da groß zu sagen? Eines Tages ist sie einfach an mich hin getreten und meinte, wenn ich weiter so fasten würde, könne sie mich noch vor Ende des Semesters in einem Sarg beschauen. Damit fing alles an und seit dem kam sie immer mal wieder zu mir und ließ so einen Spruch los, das hat mich rasend gemacht.“

„Und was sagen Ihr Arzt und Ihr Therapeut zu Ihrem Gewicht?“

„Das ist nicht der Grund, warum meine Eltern sie für mich eingestellt haben und das wissen die beiden auch.“

Der Detective hob beschwichtigend die Hände.

„Sie würden also sagen, dass Iron Sie einfach nicht leiden kann?“

Claire dachte einen Moment darüber nach und nickte.

„Ich finde, das triff es ziemlich genau.“

„Und ist etwas zwischen Ihnen am Tag des Mordversuches vorgefallen?“

Claire zuckte mit den Schultern.

„Nichts Außergewöhnliches. Sie ließ ein paar abfällige Kommentare darüber los, dass ich zu dünn sei. Ach warten sie, ich hatte sie zuvor ein wenig wütend gemacht, weswegen sie mir auch noch unterstellt hat etwas mit der gesamten Lacrosse-Mannschaft gehabt zu haben.“

„Und stimmt das?“, fragte der Detective ganz sachlich, woraufhin Claire entsetzt die Augen weitete.

„Natürlich nicht! Ich bin zwar mit ein paar von den Spielern ausgegangen, aber das war es dann auch.“

„Ich habe gehört, dass Iron angeblich nicht lügen soll. Heißt das nicht dann im Rückschluss, dass wenn Iron etwas sagt alle es sofort für bare Münze nehmen?“

„Es stimmt zwar, das Iron nicht lügt, aber selbst Schüler kennen den Unterschied zwischen einer Aussage und in einem Streit gegifteten Worten.“

„Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich selbst auf der High-School war, Miss Finney, und belügen kann ich mich selbst. Dieses Gerücht muss ihrem Ruf in der Schule sicher immensen Schaden zugefügt haben, Sie vielleicht sogar von ihrem sozialen Stand in der Schulhierarchie hinunter gestoßen haben. So was kann einen schon einmal so wütend machen, dass man das Betreten einer öffentlichen Toilette in Kauf nimmt, nicht wahr?“

„Wenn Sie die Sache so aufziehen wollen, dann sollten Sie erst noch mit Aaron Jones reden, den hat sie nämlich beim Mittagessen wirklich bloß gestellt.“

„Wie das?“

„Sie hat gesagt er wäre verkappt schwul, oder zumindest bisexuell. Aarons Familie ist streng katholisch, sein Vater beim Militär, das war also ziemlich heftig.“

 

Verhör Nr. 7: Aaron Jones

„Guten Tag, mein Name ist Detective Moore, ich leite die Ermittlungen im Fall von Iron. Sie sind Aaron Jones, ist das richtig?“

„Das ist korrekt, Sir.“

„Wie ich hörte, gab es zwischen Ihnen und Iron eine Auseinandersetzung beim Mittagessen am Tag des Mordversuches auf sie.“

„Das stimmt, Sir.“

„Und um was ging es bei dieser Auseinandersetzung?“

„Um mein Sexualleben und meine sexuelle Orientierung, Sir.“

Der Junge überraschte Detective Moore. Er hatte ohne mit der Wimper zu zucken geantwortet, und das auch noch mit der Wahrheit. Moore war sich sicher, dass der Vater des Jungen nur ein Tyrann seien konnte.

„Und hat es Sie aufgebracht, dass Sie in aller Öffentlichkeit darüber sprach?“

„Ja, Sir.“

„Weswegen?“

„Weil das kein Gesprächsthema für die Öffentlichkeit ist, Sir.“

„Und hatte Sie Recht?“, der Detective konnte einfach nicht widerstehen zu fragen.

„Es tut mir Leid Sir, aber es wurde mir aufgetragen nur Fragen zu beantworten, die direkt mit der Lösung des Falles in Verbindung stehen. Meinem eigenen Ermessen nach ist diese Information unwichtig. Sollten Sie jedoch anderer Meinung sein Sir, bitte ich Sie sich mit meinem Vater in Verbindung zu setzten, da er dann an meiner Stelle entscheiden wird.“

„In der Schule sind Sie als ziemlicher Frauenheld bekannt.“

„Ich bin Captain der Baseball-Mannschaft, Sir, das gefällt vielen Mädchen.“

„Haben Sie eine feste Freundin?“

„Ja, Sir.“

„Was hat diese zu Irons Anschuldigungen gesagt?“

„Sie war nicht sonderlich erfreut, Sir.“

„Dann wäre es also auch möglich, dass sie Iron angegriffen hat?“

„Das halte ich nicht für möglich, Sir.“

„Wieso?“, fragte der Detective wirklich interessiert.

„Weil sie Angst vor Iron hat, Sir. Das haben die meisten Mädchen.“

 

In seiner Kaffeepause setzte sich Moore wieder zu seinem Partner an den Schreibtisch.

„Und, haben die neuen Verhöre etwas gebracht?“

„Nein, nur noch mehr Verdächtige und das Opfer liegt im Koma im Krankenhaus.“

„Wie viele hast du denn gerade?“

„Momentan bin ich bei vier: Als erstes Leo Piven, ein Footballer, den sie durch einen Knock-Out gedemütigt hat. Als zweites den Rektor Mr Staker, den sie auf ihre höhere hierarchische Stellung außerhalb der Schule überdeutlich hinwies. Als drittes Claire Finney, ein wahrscheinlich magersüchtiges Mädchen, bei dem ich glaube, dass Iron ihr nur helfen wollte, was aber total missverstanden wurde. Und als viertes Aaron Jones, einem Militärsohn, dem sie verkappte Homosexualität vorgeworfen hat.“

„Und in welcher Reihenfolge siedelst du sie momentan an?“

„Das ist schwer, aber ich glaube: Militärsohn, Rektor, Footballer, Magersüchtige.“

„Und wem von denen traust du wirklich einen Mord zu?“

„Das ist ja das schlimme: jedem von ihnen.“

Ein Klopfen im Türrahmen ließ Moore herumfahren. Dort stand der Militärsohn.

„Was wollen Sie, Mr Jones?“

„Mir ist noch etwas eingefallen, Sir.“

„Ja?“

„Beim Mittagessen gestern hörte ich, wie im Lacrosse-Team darüber gesprochen wurde, dass Iron an diesem Tag einen Spieler als gehirnlos und als Tunte bezeichnet hat, Sir.“

„Und wer war es?“

„Das weiß ich leider nicht, Sir, deshalb hatte ich auch nicht sofort daran gedacht.“

„Danke Mr Jones, Sie können gehen.“

Der Junge beugte den Kopf und ging.

„Man, dem seinen alten Herren möchte ich nicht über den Weg laufen“, meinte Andrew und pfiff anerkennend.

„Das dachte ich mir auch, deshalb ist er bei mir ja auch momentan auf Platz 1. Bei so einem Vater muss einem einfach mal der Kragen platzen.“

 

Verhör Nr. 8: Austin Hurt

„Guten Tag, mein Name ist Detective Moore, ich leite die Ermittlungen im Fall von Iron. Sie sind Austin Hurt, Captain des Lacrosse-Teams, ist das richtig?“

„Das stimmt“, meinte Austin gelangweilt und setzte sich noch breitbeiniger auf den Stuhl.

„Erzählen Sie mir mal etwas über Iron, Mr Hurt.“

„Sie war ein richtig übles Miststück.“

„Aha, und wieso?“

„Hat einem immer Dinge an den Kopf geworfen, die sie gar nichts angingen.“

„Und ich habe gehört, das hat sie auch am Tag des Angriffs bei einem ihrer Team-Mitglieder gemacht.“

„Nicht nur an diesem Tag! Die Bitch hatte ja nichts Besseres zu tun!“

„Mr Hurt, bitte achten Sie auf ihre Wortwahl.“

Austin schnaubte entnervt.

„Also gut, sie hatte anscheinend nichts Besseres zu tun, als andere zu nerven.“

„Und gegen wen ging ihr Kommentar an diesem Tag?“

„Gegen Johnny.“

„Hat dieser Johnny auch einen Nachnamen?“

„Johnny Cox.“

„War das wirklich so schwer?“

„Nein, aber wenn Sie rauskriegen wer es war, wird das dann eigentlich öffentlich gemacht?“

„Natürlich, das müssen wir, wieso?“

„Weil ich der Person gratulieren will, die dieser Schlampe gab, was sie verdient hat.“

 

Verhör Nr. 9: Johnny Cox

„Guten Tag, mein Name ist Detective Moore, ich leite die Ermittlungen im Fall von Iron. Sie sind Johnny Cox, ist das richtig?“

„Jap.“

„Und wissen Sie, warum Sie hier sind?“

„Wenn es ist, weil Iron was Fieses mir gegenüber rausgelassen hat, müssen Sie die ganze Schule vorladen.“

„Wir haben uns erst einmal auf die Menschen beschränkt, die am Tag des Angriffs einen Disput mit ihr hatten, also wie wäre es, wenn Sie mir mal von ihrem erzählen.“

Johnny zuckte mit den Schultern.

„War eigentlich nichts Besonderes. Ich sagte einen Kommentar zu ihrem Rock, sie gab eine Erwiderung.“

„Und in dieser Erwiderung bezeichnete Iron Sie als gehirnlos und einen Transvestiten, ist das richtig?“

Johnny zuckte wieder mit den Schultern.

„Und?“

„So wie ich es gehört habe, schenkten die Schüler Irons Aussagen immer viel Glauben, das muss Sie doch fertig gemacht haben.“

„Ich bin im Lacrosse-Team, mein Ruf verträgt so einen erlogenen Kommentar ohne Probleme.“

„Leider gibt es da doch ein Problem, Mr Cox, denn es ist auch unter den Schülern bekannt, dass Iron nicht lügt.“

„Wer hat Ihnen das denn erzählt?“

„Ich habe es von mehreren Seiten gehört. So etwas kann einen einfachen Teenager-Konflikt schnell zu einem Mordmotiv machen, nicht wahr? Wenn jeder diese Sachen über einen glaubt?“

„Wenn Sie mich weiter beschuldigen wollen, dann rufe ich meinen Anwalt.“

„Haben Sie etwa etwas zu verbergen, Mr Cox?“

„Ich habe Iron nicht angegriffen“, meinte Johnny und verschränkte die Arme vor der Brust.

 

Verhör Nr. 10: Francis Wikström

„Guten Tag, mein Name ist Detective Moore, ich leite die Ermittlungen im Fall von Iron. Sie sind Francis Wikström, die Haushälterin der MadEyes, ist das richtig?“

„Das ist korrekt“, meinte Francis mit ruhiger Stimme.

„Erzählen Sie mir doch ein bisschen was über Iron.“

„Sie mag Lärm nicht, genauso wenig wie Mr Fist, weshalb den ganzen Tag im Haus Stille herrschen muss.“

„Ich dachte eher an etwas in Richtung von Irons Persönlichkeit, Ms Wikström.“

Für seinen Kommentar erntete der Detective einen kalten Blick von Francis.

„Das macht Irons Persönlichkeit aus. Iron liebt die Stille und mag folglich auch keinen Streit, was ja von vielen Seiten anders behauptet wird, aber das stimmt nicht. Sie hat auch nicht das Tourette-Syndrom oder ähnliches, sie sagt einfach nur die Wahrheit, wenn auch mit harten Worten.“

„Warum haben Sie spezifisch das Tourette-Syndrom erwähnt?“

Francis warf ihm einen weiteren kalten Blick zu.

„Natürlich bin ich wegen ihres Verhaltens mit Iron zu einigen Ärzten gegangen. Und ein paar behaupteten doch tatsächlich, dass es sich bei ihrem Verhalten um Tics handelte, beweisen konnte es aber keiner. Sie haben sie einfach nicht verstanden.“

„Sie sind nicht die Erste, die behauptet, dass niemand Iron versteht.“

„Ja, Mr Fist kennt dieses Problem auch nur zu gut. Ich weiß noch, wie wütend er war, als er die Diagnose dieser Scharlatane gehört hat.“

„Eigentlich hatte ich nicht von Fist gesprochen.“

Überrascht sah Francis ihn an.

„Wer dann?“

„Ein Junge namens Eric Baldwin.“

Ein Lächeln breitete sich auf Francis' Zügen aus.

„Ja, Iron hat mir von ihm erzählt. Ein netter Junge.“

„Iron scheint Ihnen sehr viel zu erzählen.“

Francis schenkte dem Detective ein nachsichtiges Lächeln.

„Iron hat keine Geheimnisse, weder vor mir, noch vor Mr Fist.“

„Es tut mir Leid, aber das kann ich bei einem Teenager einfach nicht glauben.“

„Sie müssen sich nicht entschuldigen, würde ich Iron nicht so gut kennen, ich würde es selbst für Humbug halten, aber jeden Tag beim Abendessen erzählt sie uns von jeder einzelnen Person, zu der sie etwas gesagt hat und fragt noch einmal nach, ob es wirklich okay war die Wahrheit zu sagen...“

Francis schlug sich schluchzend eine Hand vor den Mund, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Verlegen reichte ihr der Detective ein Taschentuch.

„Sie müssen herausfinden, wer das meiner Iron angetan hat. Wenn ich daran denke, dass ich sie nie wieder singen hören werde.“

Ein weiteres Schluchzen entfuhr Francis.

„Verzeihen Sie mir, wenn ich frage, aber meinten Sie nicht, dass Iron Lärm hasse?“

Das Schluchzen verstummte augenblicklich und Francis wandte sich wütend dem Detective zu.

„Irons Gesang war kein Lärm, Irons Stimme war ein Geschenk Gottes!“

 

Verhör Nr. 11: Toben Bitterman

„Guten Tag, mein Name ist Detective Moore, ich leite die Ermittlungen im Fall von Iron. Sie sind Toben Bitterman, ist das richtig?“

„Das ist korrekt.“

„Und Sie kamen als zweiter an den Tatort?“

„Das ist ebenfalls korrekt.“

„Können Sie mir schildern, wie es dazu kam?“

„Aber natürlich, ich war gerade auf der Treppe auf dem Weg nach oben, als ich einen Schüler um Hilfe rufen hörte. Natürlich bin ich sofort in Richtung der Schreie gelaufen und fand dann Eric vor, wie er versuchte Irons Blutung zu stoppen. Der Junge war so verzweifelt, es war furchtbar.“

„Über das normale Maß hinaus?“

„Er ist ihr einziger Freund an der Schule.“

„Woher wissen Sie, dass Iron keine anderen Freunde hat?“

„Das weiß jeder an der Schule, Detective, es ist kein großes Geheimnis, und außerdem besucht Iron auch meinen Musik-Kurs.“

„Zusammen mit Leo Piven, ist das richtig?“

„Ja. Die beiden Schüler, die ich zur Hilfe aus dem Gang geholt habe, waren auch Schüler aus diesem Musik-Kurs.“

„Aaron Jones und Johnny Cox?“, fragte der Detective überrascht.

„Ja genau. Wieso, ist das wichtig?“

„Die beiden sind dringend tatverdächtig.“

„Ja, es kam ab und zu Auseinandersetzungen zwischen ihr und den beiden, aber Iron und Claire musste ich an unterschiedliche Enden des Raumes verbannen.“

„Claire Finney ist auch in Ihrem Musik-Kurs?!“, fragte der Detective entsetzt und brachte Mr Bitterman dazu zusammenzuzucken.

„Ja“, meinte Mr Bitterman eingeschüchtert.

„Können Se mir eine Schülerliste dieses Kurses aushändigen?“

„Hören Sie, das ist der einzige Musik-Kurs für die Stufe am Nachmittag, deshalb ist es nicht weiter ungewöhnlich, dass diese Schüler alle in einem Kurs sind.“

„Ich glaube nicht, dass es Zufall ist, dass man versucht hat sie genau vor diesem Kurs zu töten.“

 

Als Moore aufgeregt an das Flipchart herantrat, blickte ihn sein Partner skeptisch an.

„Was ist denn mit dir los Richard?“

„Ich glaube, ein kleiner Durchbruch“, meinte Moore, ohne sich von seiner Schreibarbeit abzuwenden.

„Hör dir das an: Leo Piven, Claire Finney, Aaron Jones und Johnny Cox besuchen denselben Musik-Kurs, der zufällig auch der von Iron ist und zu dem sie auf dem Weg war, als sie ermordet wurde.“

„Sie hatten also alle denselben Weg, weshalb sich der Zeitpunkt anbot“, schloss Hale Moores Gedankengang, woraufhin dieser heftig nickte.

„Interessant ist auch, dass alle bis auf Leo mir diese Kleinigkeit verschwiegen haben. Und da Iron doch derer aller Meinung nach ein unvergessliches Miststück ist, frag ich mich warum?“

„Alle Achtung, vielleicht hast du jetzt genügend Druck zur Verfügung, dass einer dieser Schüler zusammenbricht.“

Moore grinste seinen Partner an.

„Das halte ich auch für sehr wahrscheinlich und bis morgen habe ich auch noch die restliche Klassenliste. Willkommen auf der Zielgeraden, Baby.“

 

„Erklär' mir nochmal, warum wir hier sind“, meinte Hale widerwillig.

„Interessiert sie dich denn überhaupt nicht? Ich meine, du hast doch auch die Verhöre gelesen!“

„Schon, aber ich verstehe nicht, warum wir dazu um sieben Uhr morgens im Krankenhaus sein müssen.“

„Weil das die Zeit ist, zu der ihr Vater nicht da ist. Du weißt, wie sehr ich es hasse mit Opfern und deren Familien in einem Raum zu sein.“

„Stimmt auch wieder“, meinte Hale und blieb so abrupt stehen, dass Moore in ihn hineinlief.

„Was sollte das denn“, maulte Moore, doch ein Blick in Irons Zimmer genügte, dass auch er verstummte.

Moore hatte zwar viele Vorstellungen von der Einrichtung von Irons Krankenzimmer gehabt, aber der Realität kam keine davon auch nur nahe. Obwohl Iron erst heute Morgen den Status 'in Lebensgefahr' aberkannt bekommen hatte und in ein normales Zimmer verlegt worden war hingen überall im Zimmer 'Get Well'-Luftballons, standen selbstgebastelte und gekaufte Gute-Besserungs-Karten, saßen Teddybären in jeder Ecke und ein großer Muffinkorb stand am Bettende, auf dem ein Zettel mit: 'Für unsere eifrigen Schwestern und Ärzte' klebte.

Moore fiel der Kinnladen herunter. Wenn das das Zimmer des meistgehassten Mädchens der Schule war, wie würde dann das des beliebtesten aussehen? Würde sie in Ballons schwimmen?

„Was tun Sie hier?“, fragte eine scharfe Stimme und die beiden Detectives drehten sich rasch um.

Vor ihnen stand ein großer junger Mann, Mitte zwanzig, in grüner OP-Kleidung und musterte sie mit seinen blauen Augen scharf.

Mit der gewohnten Bewegung holten die beiden Detectives ihre Ausweise hervor.

„Ich bin Detective Moore, das ist mein Partner Detective Hale. Wir wurden mit Irons Fall betraut.“

Die Miene des jungen Arztes lockerte sich, auch wenn seine Haltung angespannt blieb.

„Und Sie sind Irons Arzt?“, fragte Moore.

Überraschenderweise schüttelte der Mann den Kopf.

„Nein, ich bin Dr. Kendrick, ein Freund von Iron.“

Nach dem Zimmer hatten die beiden Detectives geglaubt, dass sie eigentlich nichts mehr überraschen könnte, doch dieser Mann hatte es geschafft.

„Iron hat keine Freunde“, meinte Moore perplex und der Arzt lachte.

„Ich weiß, Iron würde nie von sich aus jemanden einen Freund von sich nennen, aber wir haben uns zwei bis drei Mal pro Woche getroffen. Ich weiß ja nicht wie Sie das nennen, aber für mich ist das Freundschaft.“

„Dann können Sie uns vielleicht auch erklären, woher die ganzen Geschenke in Irons Zimmer kommen?“

„Aber natürlich, die sind von den anderen sogenannten Nicht-Freunden von Iron.“

„Aber sie hat in der Schule nur einen einzigen Freund“, meinte Moore verwirrt.

„Sie wissen wirklich noch überhaupt nichts über Iron, oder?“, meinte der junge Arzt lachend.

„Dann klären Sie uns auf.“

„Iron kommt jeden Mittwochabend und jeden Sonntag und liest und singt auf der Kinderstation vor und das schon seit vier Jahren. Ich selbst bin erst seit diesem Jahr in diesem Krankenhaus als Assistenzarzt, habe aber noch nie erlebt, dass sie einen Tag verpasst hätte. Außerdem kommt sie mindestens jeden zweiten Samstag für die Kinder, deren Eltern zu weit weg wohnen, um jedes Wochenende zu Besuch kommen zu können. Ich schätze die meisten Ballons sind von solchen Eltern, sie alle sind Iron unendlich dankbar.“

„Und Irons...Art stört diese Menschen nicht? Ist das nicht ungeeignet beim Umgang mit kranken Kindern?“

„Sollte man meinen, aber nein, mit Kindern ist Iron ganz anders und was die Eltern betrifft, gerade die brauche jemand, der ihnen Stärke gibt. Wenn das Kind krank ist, kann man kein Rumgerede ertragen, da möchte man klare Fakten und die gibt Iron ihnen ohne zu zögern. Die Karten sind übrigens von den Kindern und der große Teddy dürfte von den Schwestern kommen, wenn ich mich nicht irre.“

„Sie wollen mir also sagen, dass in diesem Krankenhaus jeder Iron gemocht hat?“, fragte Moore skeptisch.

„Auch wenn Sie es mir nicht glauben wollen: ja. Hier weiß jeder Irons Ehrlichkeit zu schätzen, auch wenn ich nicht weiß, ob es in ihrer Anfangszeit hier vielleicht auch schwer gewesen ist. Ich kenne sie nur als Teil des Krankenhausteams, sie wird sogar zu dem Betriebsfeiern eingeladen und wir haben ihren 18. Geburtstag groß auf der Kinderstation gefeiert. Als Dankeschön hat sie für uns alle gesungen, das war wirklich etwas besonders.“

„Sie meinten doch, sie singt zwei- bis dreimal pro Woche auf der Kinderstation?“

„Das haben sie falsch verstanden, Iron hat nur gesungen, wenn es einem Kind wirklich schlecht ging oder es im Sterben lag, denn sie hasst es so in der Aufmerksamkeit zu stehen. Meistens hat sie nur Gitarre gespielt und die Kinder singen lassen. Sie ist wirklich ein großartiger Mensch und wer auch immer ihr das angetan hat muss unbedingt dafür büßen.“

„Dr. Kendrick!“, rief eine Schwester aus einem der Zimmer heraus.

„Sie entschuldigen mich“, meinte er zu den Detectives und lief zu der Schwester, die ihn um Hilfe gebeten hatte.

„Hast du das erwartet?“, fragte Hale, als sie wieder allein waren.

„Um nichts in der Welt. Vor keiner Stunde habe ich geglaubt, sie wäre ein Monster, dass ihren Vater und diesen Jungen einfach nur geschickt an der Nase herumführt und jetzt ist sie plötzlich eine Heilige.“

„Wer auch immer ihr das angetan hat, er kann nichts von dieser Seite von Iron gewusst haben.“

Eine Weile standen die beiden Detectives einfach in dem Krankenzimmer und betrachteten Iron, die blass und klein wirkend intubiert in dem großen Krankenbett lag. Dann betrat eine Frau, Mitte dreißig vielleicht, den Raum, eine große selbstgestrickte dunkelrote Decke über dem Arm. Sie sah müde und erschöpft aus und hatte ihr Haar zu einem hohen Knoten aufgesteckt, aus dem sich schon zahlreiche Strähnen gelöst hatten. Die Frau nickte den Detectives kurz zu, bevor sie an Irons Bett trat und die Decke vorsichtig über sie ausbreitete. Dann strich sie dem Mädchen noch kurz liebevoll über die Hand, bevor sie sich anschickte den Raum zu verlassen.

„Entschuldigen Sie“, meinte Moore und zeigte seine Marke, „ich bin Detective Moore, das ist mein Partner Detective Hale. Wir wurden mit Irons Fall beauftragt.“

„Sophie Braff“, meinte sie und schüttelte den Detectives erschöpft die Hände.

„Woher kennen Sie Iron?“

„Meine zehnjährige Tochter Helen ist seit acht Monaten wegen eines aggressiven Tumors hier im Krankenhaus. Iron ist hier eine freiwillige Helferin und kommt zwei-, meistens aber dreimal die Woche auf die Kinderstation und zaubert dort ein Lächeln auf die kleinen Gesichter. Als mein Mann und ich nicht mehr weiter wussten, hat sie unseren Blickwinkel gerade gerückt.“

Liebevoll betrachtete Mrs Braff Irons so leblos wirkendes Gesicht.

„Sie hat uns gesagt, dass keine Hoffnung hoffnungslos ist, solange es nur einen gibt, der dafür kämpft. Solange wir nicht aufgeben würden, würde das auch unsere Tochter nicht.“

Nun wandte sie ihren Blick den Detectives zu.

„Sie hatten meiner Tochter noch sechs Monate gegeben, jetzt sind es schon acht. Der Tumor ist zwar noch nicht verschwunden, aber eine Streuung konnte verhindert werden. Ich weiß nicht, ob wir die Kraft zu diesem Kampf ohne Iron gehabt hätten. Wir verdanken ihr das Leben unserer Tochter und wer auch immer ihr das angetan hat verdient nichts Geringeres als den Tod.“

Über den Vormittag erschienen noch mehr Eltern von jetzigen und ehemaligen Patienten der Kinderstation und zur Überraschung der Detectives sagten sie alle ungefähr dasselbe: Dass sie Iron das Leben ihres Kindes verdankten und dass die Person, die dem Retter ihres Kindes fast das Leben genommen hatte, nichts als den Tod verdiente dafür, sich an so einer herzensguten Person vergangen zu haben.

„Ich versteh das einfach nicht, es ist, als wäre sie hier und in ihrer Schule zwei vollkommen unterschiedliche Personen gewesen“, meinte Hale zu Moore während einer Pause des ständigen Besucherstroms.

„Es fühlt sich fast so an, als hätte sie sich all ihre Herzlichkeit für die Kinder hier aufgespart und im Gegensatz dazu all ihre Bissigkeit in der Schule gelassen.“

„So würde ich das nicht sagen, Detectives“, meinte Dr. Kendrick, der in den Türrahmen gelehnt stand, „Iron ist hier genauso ehrlich, wie in der Schule, nur dass, wie gesagt, die Menschen hier ihre Ehrlichkeit zu schätzen wissen, egal, wie unverpackt sie serviert wird.“

„Wie war eigentlich ihre genaue Beziehung zu Iron?“, fragte Moore misstrauisch geworden.

„Sie wollen wissen, ob die Beziehung romantischer Natur war? Da muss ich Sie leider enttäuschen. Ich habe zwar Iron einmal gefragt, ob sie mit mir ausgehen würde, aber sie hat nein gesagt und seitdem ist etwas in diese Richtung auch nicht wieder zur Sprache gekommen.“

„Wie lange ist das her?“

„Ich hab sie an der Feier zu ihrem 18. Geburtstag gefragt. Iron meinte, sie würde sowieso bald zum Studieren wegziehen und dass diese wenigen Monate es nicht wert wären unsere Freundschaft zu verlieren. Im Nachhinein musste ich ihr da dann auch zustimmen.“

„Und Sie waren nicht wütend auf sie?“

„Haben Sie Iron jemals Lächeln sehen? Wenn sie lächelt, würde ich ihr alles verzeihen.“

 

Zurück auf dem Präsidium ließen sich die beiden Detectives schwer in ihre Stühle fallen.

„Denkst du, wir müssen diesen Dr. Kendrick mit auf die Liste der Verdächtigen setzten?“, fragte Hale.

„Nein, er hatte Dienst im Krankenhaus, als der Angriff geschah, aber vielleicht sollten wir ihn trotzdem mal herbestellen. Vielleicht hat Iron ja ihm gegenüber eine Ahnung verraten, wer es auf ihr Leben hätte abgesehen haben können.“

Ein Klopfen am Türrahmen ließ die beiden Detectives zur Tür herumfahren. Darin stand Kimberly Weston, die forensische Wissenschaftlerin.

„Hey Jungs.“

„Hey Kimberly, und, hast du mit dem Zeug von der Spurensuche irgendwas anfangen können?“

„Tut mir Leid, da war nicht viel zu machen“, meinte sie geknickt, „aber es war nun mal die Jungstoilette einer High-School. Wahrscheinlich waren die einzigen Spuren auf der Bluse, die der Täter mitgenommen hat und wenn er nicht ganz blöd ist, dann hat er sie inzwischen schon längst verbrannt. Die Unterwäsche war zerschnitten, nicht zerrissen, da war also auch nichts dran zu finden, aber wie geht’s denn eigentlich dem armen Mädchen?“

„Außer Lebensgefahr, aber noch immer im künstlichen Koma, damit sich ihr Körper erholen kann. Aufgeweckt wird sie in frühestens einer Woche und da das Messer in ihrem Rücken steckte und es keine Anzeichen von einem Kampf gab, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie ihren Angreifer nicht einmal gesehen hat. Es ist zum verrückt werden.“

„Das arme Ding, nicht nur, dass sie fast verblutet und wahrscheinlich auch fast vergewaltigt worden wäre nein, sie muss sich dann auch noch eine neue Schule suchen, wenn sie aufwacht.“

Moore und Hale blickten sich überrascht an.

„Staker“, meinten beide gleichzeitig und Moore stand auf, um es an die Tafel zu schreiben.

„Was?“, fragte Kimberly verwirrt.

„Es wäre ein Grund für Rektor Staker gewesen sie niederzustechen.“

„Der Rektor zählt zu den Verdächtigen?“, fragte Kimberly entsetzt.

„So sieht's leider aus, unsere Iron hatte viele Feinde.“

„Auf dem Foto sah sie aber echt wie ein Engel aus mit ihrem Lächeln.“

„Welches Foto?“, fragte Moore verwirrt.

„Oh sorry, hätte ich fast vergessen. Draußen wartet ein Junge auf euch, der hat sich das Bild gerade angesehen. Hab ihn natürlich gefragt wer das ist und er meinte, das wäre seine beste Freundin Iron. Das einzige Foto, das sie ihm je erlaubt hat von ihr zu machen. Aber es sind ja immer die hübschen Dinger, die getötet werden, ist euch das auch schon mal aufgefallen?“

„Würdest du ihn uns rein schicken Kimberly?“

„Klar, schon verstanden, bis irgendwann dann Jungs“, meinte sie fröhlich und winkte im Hinausgehen.

Nur wenige Momente später betrat Eric zögerlich den Raum.

„Mr Baldwin, Sie kommen uns gerade recht.“

 

Verhör Nr. 12: Eric Baldwin

„Ich verstehe nicht, warum wir wieder in diesem Raum sind, Detective Moore.“

„Wir haben noch einmal ein paar Fragen an Sie.“

„Äh, okay“, meinte Eric zögerlich.

„Sagen Sie uns mal, über was haben Sie denn eigentlich immer mit Iron gesprochen?“

„Hauptsächlich über das Training und die League, über Privates haben wir seltener gesprochen.“

„Und was hat sie ihnen über ihr Leben außerhalb der Schule erzählt?“

„Nun, ihre Eltern sind geschieden, ihr Vater ehemaliger Profiboxer, ihre Mutter Vertragsanwältin, zu beiden hat sie ein gutes Verhältnis. Die meiste Zeit verbringt sie auch zuhause, unternimmt viel mit ihrem Vater, geht wandern, Skifahren und andere Sportarten. Er ist ihr bester Freund. Ach sie bäckt auch sehr gerne.“

„Und das ist alles, was Sie ihnen über ihre außerschulischen Aktivitäten erzählt hat?“

„So ziemlich, wieso?“

„Was ist mit ihrer Arbeit im Krankenhaus?“

„Iron arbeitet im Krankenhaus? Das wusste ich nicht. Sie hat nur mal erwähnt, dass sie ehrenamtlich arbeitet.“

„Sie war zwei- bis dreimal wöchentlich dort, oft sogar den ganzen Tag, und ich soll ihnen glauben, dass sie Ihnen als ihrem einzigen Freund in der Schule nichts davon erzählt hat?“, meinte Moore skeptisch.

„Ihr Vater war ihr bester Freund, Francis ihre beste Freundin. Wenn Sie den beiden einmal etwas nicht erzählt hat, dann dürfen Sie sich wundern.“

Einen Moment suchte Detective Moore noch in Erics Augen nach einer Lüge.

„Okay, könnten Sie uns dann das Foto zeigen, dass Sie sich vorher im Gang angesehen haben?“

Eric schien überrascht, holte jedoch ohne Wiederworte seinen Geldbeutel heraus und zog ein abgegriffenes Foto hervor.

Es zeigte Iron, jedoch hatte sie nichts mit dem blassen Wesen zu tun, das die beiden Detectives im Krankenhaus gesehen hatten. Ein Großteil ihres kurzen Haares war mit Spangen zurückgehalten, sodass nur noch ihr Pony und einige lose Strähnen zusammen mit den hängenden Sichelohrringen ihr Gesicht umrahmten. Ihre Wangen leuchteten rot und sie lächelte herzlich, jedoch nicht direkt in die Kamera, sondern eindeutig in Richtung des Fotografen. Ohne einen Hauch von Make-Up war sie trotzdem umwerfend schön.

„Das war letztes Schuljahr, als mein Team die Meisterschaft gewonnen hat. Es war auch der einzige Anlass, zu dem wir länger als zwanzig Minuten miteinander gesprochen haben.“

„Sie haben Gefühle für sie, nicht wahr?“, meinte Moore, als er Eric das Foto zurückgab.

„Sie ist der ehrlichste und herzlichste Mensch, den ich je kennengelernt habe.“

„Das ist keine Antwort.“

„Genau das war beabsichtigt, ich weiß es nämlich selbst nicht, Detective.“

„Das ist Ihr Ernst, oder?“

„Sie können nicht halb so frustriert davon sein wie ich, glauben sie mir. Aber Iron ist einfach ein Mensch, um den man sich immer Sorgen machen muss, sodass man keine Zeit hat sich über seine Gefühle klar zu werden.“

„Man muss sich um Iron Sorgen mach?“, fragte Detective Moore interessiert.

„Sie haben bei ihren Gesprächen mit den anderen sicher schon mitbekommen, dass viele Irons Art nicht verstehen. Ich habe mir immer Sorgen gemacht, dass jemandem eines Tages der Geduldsfaden mit ihr reißen würde und leider hat sich diese Sorge als allzu begründet erwiesen. Wenn sie wieder aufwacht werde ich sie wahrscheinlich nicht einmal mehr beruhigt alleine das Klassenzimmer wechseln lassen können.“

Erschöpft legte Eric seinen Kopf in die Hand. Warum er sich über seine Gefühle noch unklar war, war Detective Moore schleierhaft.

 

Verhör Nr. 13: Dr. Dylan Kendrick

„Danke, dass Sie so kurzfristig für mich Zeit hatten, Dr. Kendrick.“

„Das steht außer Frage, ich möchte ja ebenfalls, dass der Täter so schnell wie möglich geschnappt wird.“

„Sie kennen Iron also etwa seit einem Jahr?“

„Genau. Als ich neu am Krankenhaus war, bin ich oft auf die Neugeborenenstation gegangen, wenn mir alles zu viel wurde. Ich weiß, das klingt merkwürdig...“

„Nein, überhaupt nicht“, unterbrach ihn Detective Moore, „meine Schwester ist ebenfalls Ärztin und hat in ihrer Anfangszeit dasselbe gemacht, ich verstehe Sie nicht falsch, keine Sorge.“

Dr. Kendrick lächelte erleichtert.

„Die Neugeborenenstation liegt natürlich in direktem Anschluss zur Kinderstation. Als ich einmal dort war, hab ich Iron singen hören. Ein fünfjähriges Mädchen lag im Sterben. Ihre Eltern waren schon auf dem Weg, aber sie mussten durchs halbe Land reisen. Als ich der Stimme nach zu dem Zimmer ging, sah ich Iron, die die Kleine in den Arm genommen hatte und ein Schlaflied für sie sang. Die Kleine lebte noch bis ihre Eltern kamen und als Iron dem Raum verließ, dass sie Abschied nehmen konnten, hab ich mich um Iron gekümmert. Der Tod der Kleinen hatte sie sehr mitgenommen. Seitdem hab ich immer mal wieder bei ihr vorbeigeschaut, wenn ich Pause hatte. Manchmal hat sie auch nach der Arbeit auf mich gewartet, wenn unser Arbeitsschluss ungefähr zeitlich zusammengefallen ist. Dann sind wir immer in das Café gegenüber der Klinik gegangen und haben noch ein oder zwei Stunden geredet, bevor sie nachhause gefahren ist.“

„Sie hatten also eine relativ enge Beziehung zu Iron?“

Dr. Kendrick lächelte schwach.

„So eng, wie es Iron zugelassen hat.“

„Hat sie Ihnen je von ihrem Schulleben erzählt?“

„Wenig, aber der Grund dafür war, dass sie einfach nichts zu erzählen hatte. Iron kam schwerlich mit Gleichaltrigen zurecht, was daher kam, da sie geistig schon sehr reif war. Das war sie wahrscheinlich schon immer, ich meine, welche Mittelschülerin opfert schon zwei Tage die Woche, um für kranke Kinder da zu sein?“

„Nun, einen Freund schien sie dann doch an der Schule zu haben. Hat sie Ihnen etwa nie von ihm erzählt?“, fragte Detective Moore unschuldig.

„Nein, aber wieso hätte sie das auch sollen?“

Dr. Kendrick ließ sich nicht auf die billige Schmierenkomödie ein, auch wenn sich sein Blick etwas verhärtete.

„Und über was haben Sie sich dann immer mit Iron unterhalten?“

„Das Gesundheitssystem, die mangelnde Wertschätzung von Ärzten, Politik...Dinge dieser Art.“

„Und ihre Familie?“

„Nun, ihre Eltern sind geschieden, haben aber noch immer eine sehr gutes Verhältnis zueinander. Sie erzählt ihrem Dad alles, hat auch vor ihrer Mutter eigentlich keine Geheimisse...das war es dann eigentlich auch schon.“

„Wenn Sie Iron beschreiben sollten, was würden Sie sagen?“, fragte Detective Moore, um einen Verdacht zu bestätigen.

„Hm“, überlegte Dr. Kendrick einen Moment, „ich würde sagen, sie ist der ehrlichste und herzlichste Mensch, dem es mir je vergönnt war kennenzulernen. Ich würde sie um nichts auf der Welt in meinem Leben missen wollen.“

Er hatte fast dieselben Worte wie Eric Baldwin verwendet und bestätigte damit Detective Moores Verdacht.

„Oh Mist“, murmelte dieser.

 

„Ach Andrew, warum können die Verdächtigen nicht weniger werden“, seufzte Moore und nahm den Marker, um einen weiteren Namen auf die Tafel mit den Verdächtigen zu schreiben.

„Eric Baldwin?“, fragte Hale überrascht, „was macht denn den besten Freund des Opfers tatverdächtig?“

„Dieser Dr. Kendrick hatte eine viel engere Beziehung zu Iron, also genau das, was sich Eric gewünscht hat. Was, wenn er es herausgefunden, Iron auf der Toilette zur Rede gestellt und als sie gehen wollte aus Wut auf sie eingestochen hat?“

„So leid es mir für den Jungen tut, aber das hört sich durchaus plausibel an.“

 

Verhör Nr. 14: Quentin MadEye

„Fist, ist Ihnen bewusst, warum wir Sie noch einmal zu uns gerufen haben?“, meinte der Detective beinahe gelangweilt.

„Ich dachte, Sie hätten etwas herausgefunden.“

„So kann man es auch nennen. Warum haben Sie uns verschwiegen, dass ihre Tochter ehrenamtlich im Krankenhaus arbeitet?“

„Weil ich es nicht für relevant hielt.“

Nun wurde Detective Moore doch wütend.

„Ihre Tochter verbringt zwei bis drei Tage die Woche dort und Sie halten es nicht für relevant?!“

Fist blieb jedoch vollkommen ruhig.

„Der Zwischenfall ereignete sich doch in der Schule, oder nicht? Iron hat sich immer sehr bemüht diese zwei Teile ihres Lebens strikt voneinander getrennt zu halten. Was in der Schule passiert, hat nichts mit dem Krankenhaus zu tun.“

„Wie gut kennen Sie Eric Baldwin?“

„Was hat das jetzt damit zu tun?“, fragte Fist verwirrt.

„Bitte beantworten Sie die Frage, Fist.“

„Ich kenne ihn nur aus den Erzählungen meiner Tochter, persönlich hab ich den Jungen nie kennengelernt. Wenn er mir auf der Straße begegnen würde, ich würde ihn nicht erkennen.“

„Nun, dann können Sie mir auch sicher nicht sagen, ob Eric vielleicht aus Eifersucht auf Iron eingestochen hat?“

„Wie kommen Sie denn jetzt plötzlich darauf?“, fragte Fist fassungslos.

„Da Ihre Tochter ja so ehrlich zu Ihnen ist, müssen sie ja sicher wissen, dass sowohl Dr. Kendrick aus auch Eric Baldwin mehr als nur Freundschaft für Ihre Tochter empfinden.“

„Ich weiß, dass Dylan Iron einmal gefragt hat, ob sie mit ihm ausgehen will, aber bei Eric wusste ich von nichts, und Iron sicher ebenso wenig, sonst hätte sie mir davon erzählt.“

„Wie kommt es, dass Sie Ihrer Tochter so blind vertrauen? Sie ist ein Teenager und die lügen nun einmal, das gehört einfach dazu.“

Fist lächelte schwach.

„Ich dachte bei Ihrer Arbeit darf man keine Vorurteile haben, wenn man Fälle akkurat lösen will?“

 

Auch nach diesem Verhör war Moore keinen Schritt weiter und rammte die Schublade mit aller Gewalt zurück in seinen Schreibtisch. Hale sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an.

„Sonst regst du dich doch auch nicht so schnell bei einem Fall auf, was ist los?“

„Ich war einfach überzeugt davon, dass dieser Fall leicht und binnen eines Tages abgeschlossen sein würde. Dass der Teenie-Täter vor Schuldgefühlen zusammenbrechen und gestehen würde, stattdessen rufen diese reichen verzogenen Kids einfach nach ihren Anwälten und keiner von denen lässt und jetzt mehr mit ihren Klienten sprechen, es ist zum wahnsinnig werden!“

Noch bevor Hale antworten konnte, sauste Kimberly um die Ecke hinein in ihr Büro.

„Ratet mal, was ich gerade mitbekommen habe?“, meinte sie mit einem Glitzern in den Augen.

„Tut mir Leid Kimberly, aber ich bin im Moment echt nicht in der Stimmung für deine Ratespielchen.“

Verschwörerisch beugte sich Kimberly zu Moore vor.

„Aber was ich dir zu sagen habe, wird dich auf jeden Fall aufmuntern, ich verwette mein Massenspektrometer darauf!“

Mit hochgezogener Augenbraue blickte Moore Kimberly an. Sie hatte sein Interesse geweckt.

„Gerade hat euer schicker Doktor auf dem Gang telefoniert und“, Kimberly legte eine dramatische Pause ein, „Iron ist aufgewacht.“

Teil 3 - Zurück von den Toten

Moore konnte sein Glück kaum fassen, als er die langen Krankenhausflure entlang eilte. Er würde endlich die Gelegenheit bekommen die Aussage des Opfers aufzunehmen und damit hoffentlich die Gelegenheit diesen Fall zu den Akten zu legen. Wieso hatte auch ausgerechnet er diesen High-School-Fall zugeteilt bekommen? Hatte Moore etwa in seiner Zeit dort nicht schon genug gelitten? Wenn er noch einen eingebildeten reichen Sportler verhören musste, würde er durchdrehen.

Als Moore um die letzte Ecke bog, blieb er abrupt stehen. Ein richtiger Menschenauflauf befand sich vor Irons Raum, dabei war es gerade mal zehn Minuten her, dass Kimberly ihm von dem Telefonat des Doktors erzählt hatte. Ein schneller Blick in die Runde zeigte ihm, dass es sich ausschließlich um Krankenhauspersonal handelte. Vorsichtig schob er sich zwischen den teils vor Erleichterung aufgelösten Menschen hindurch ans Krankenbett, doch der Anblick war nicht ganz das, was er erwartet hatte.

Iron hatte noch immer eine ungesund bleich wirkende Hautfarbe, ihr kurzes Haar war strähnig und stumpf und in ihrem Hals steckte noch ein Schlauch, der zum Beatmungsgerät führte. Alles in allem sah es nicht gerade so aus, als würde es dem Mädchen besser gehen, sondern als läge sie im Sterbebett.

„Was machen Sie hier? Die Besuchszeiten sind vorüber und der Aufenthalt im Krankenhaus ist nur Mitarbeitern und Patienten gestattet“, meine eine Moore unbekannte Stimme und er wandte sich dem Sprecher zu.

Vor ihm stand ein Arzt Ende vierzig, dessen Haar bereits einige graue Strähnen durchzogen.

„Guten Abend, mein Name ist Detective Moore“, meinte er mit höflichen Lächeln und zog seine Marke hervor, „ich wurde mit Irons Fall beauftragt.“

„Das erklärt noch immer nicht, was Sie hier machen“, meinte der Arzt unbeeindruckt, „Iron ist erst vor einer Viertelstunde überraschend aufgewacht und wir haben noch nicht einmal ihren Vater benachrichtigt.“

„Ich habe meine Quellen“, antwortete Moore auf die Frage mehrdeutig, „aber ich müsste dringend mit Iron sprechen. Wann wird sie extubiert?“

„Iron sollte noch nicht einmal wach sein! Das Messer hat innere Organe, darunter auch die Lunge, verletzt und egal wie viel Morphin wir ihr auch geben würden, sie wird höllische Schmerzen haben, was auch der Grund war, warum wir sie zu Beginn in ein künstliches Koma versetzt hatten, damit sie diese Schmerzen nicht zu ertragen braucht. Kommen Sie in frühestens einer Woche wieder.“

„Jetzt hören Sie mir mal zu“, meinte Moore wütend geworden, „jemand hat versucht Iron umzubringen und solange wird den Täter nicht haben könnte er auf die Idee kommen es wieder zu versuchen! Also helfen Sie mir jetzt entweder oder ich lasse Sie verhaften wegen Behinderung von Ermittlungen und fahrlässiger Körperverletzung!“

Moore hatte sich so in Rage geredet, dass er nicht bemerkt hatte, dass die restlichen Gespräche um ihn herum schon vor einer ganzen Weile zum Erliegen gekommen waren. Als er sich jetzt im Raum umsah, hefteten sämtliche Blicke auf ihm, doch derjenige, der ihm einen Schauer über den Rücken jagte, gehörte zu der für ihn momentan bedeutendsten Person in diesem Raum: Iron. Trotz ihres momentan schwachen Körpers und der hohen Dosen an Schmerzmitteln, die ihr sicher verabreicht worden waren, blickten diese Augen ihn klar und scharf an. Ohne den stechenden Blick von ihm abzuwenden tastete sie, offensichtlich angestrengt, mit ihrer Infusionsnadel bestückten Hand nach der der Krankenschwester, die ihr am nächsten stand und ergriff diese fest, als sie sie fand.

„Was ist denn Iron?“, fragte diese besorgt und Moore konnte ein Gefühl der Erleichterung nicht verhindern, als das Mädchen den Blick von ihm abwandte.

Sie begann Buchstaben in die offene Handfläche der Krankenschwester zu zeichnen.

„Iron, du sollst dich doch nicht überanstrengen“, jammerte diese, was nur zur Folge hatte, dass Iron ihren zitternden Finger mit mehr Nachdruck über die Handfläche zog.

Schließlich schien die Schwester zu begreifen.

„Stift? Du willst einen Stift?“

Ein Gemurmel ging durch den Raum und der Arzt, mit dem sich Moore gerade unterhalten hatte, meldete sich zu Wort:

„Schwester Isobel, holen sie einen der großen Graphitstifte und einen Block!“

„Natürlich Dr. Drescher“, meinte diese verwirrt und eilte aus dem Zimmer.

„Und der Rest von ihnen“, meinte Dr. Drescher nun an die Runde gewandt, „geht bitte zurück an die Arbeit. Sie können Iron gerne besuchen, jedoch nicht alle auf einmal, wir sollten uns an unsere eigenen Vorschriften halten. Außerdem glaube ich, ist die Schwesternstation momentan unbesetzt und das darf einfach nicht sein!“

Rasch leerte sich das Zimmer, bis nur noch Dr. Drescher und Moore übrig geblieben waren. Kurz darauf kehrte auch Schwester Isobel mit Block und Stift zurück, drückte Iron den Stift vorsichtig in die Hand und hielt ihr den Block, sodass sie schreiben konnte.

Der Graphitstift bewegte sich mit quälender Langsamkeit über das Papier, doch trotzdem bildeten sich Schweißperlen auf Irons Stirn und ihre Hand begann noch heftiger zu zittern.

„Iron, du brauchst dich nicht zu überanstrengen“, begann die Schwester vorsichtig und erntete dafür einen eisigen Blick von Iron, der sie sofort verstummen ließ.

Moore reckte seinen Hals, doch egal wie sehr er sich auch verrenkte, er konnte einfach nicht lesen, was das kranke Mädchen mit solch einer Verbissenheit versuchte ihnen mitzuteilen, doch er war sich sicher, dass er gleich den Namen des Angreifers auf diesem Blatt Papier vor sich haben würde. Als sie endlich den Stift absetzte blickte er die Schwester erwartungsvoll an.

„Und?“, fragte er ungeduldig, als diese nichts sagte.

Anstelle einer Antwort hielt Isobel ihm einfach den Zettel hin und Moore riss ihn ihr fast aus den Händen. Als er das Geschriebene auf dem Zettel las, verrutschte ihm das siegessichere Grinsen.

„Holt mir endlich den scheiß Schlauch aus dem Hals?!“, las Moore entsetzt vor und blickte dann Dr. Drescher an, „das fand sie so wichtig, dass sie all diese Kraft aufgewandt hat, um es uns mitzuteilen?!“

Moore war einfach unglaublich wütend. Er wusste, dass es unangebracht war und Iron nichts dafür konnte und der Fall erst zwei Tage alt war, aber verdammt nochmal hier handelte es sich doch nur um eine kleine High-School-Streiterei, die etwas aus dem Ruder gelaufen war, also wieso hatte er diesen Fall noch nicht gelöst, hier ging es schließlich nur um ein Paar Kinder, in deren Hirn nicht viel mehr abging, als wer gerade mit wem ging und was für Klamotten sie tragen sollten!

Dr. Drescher ignorierte Moores Gefühlsausbruch einfach und wandte sich an Iron, als wäre nichts geschehen.

„Tut mir Leid Iron, aber der Intubationsschlauch muss vorerst bleiben, wo er ist. Solltest du auf die Idee kommen ihn dir selbst herauszureißen, stecke ich ihn dir höchstpersönlich zurück in deinen Hals, verstanden?“

Iron verdrehte dramatisch die Augen und blickte dann von Dr. Drescher zu Detective Moore und wieder zurück.

„Oh, das ist Detective Moore, er wurde damit beauftragt den Angriff auf dich aufzuklären.“

Iron musterte Moore eindringlich, hob nach einer Weile den Arm und winkte ihn mit zitternder Hand energisch zu sich heran. Verwirrt trat Moore an ihr Bett, woraufhin sie sich seinen Arm nahm und mit ihren überraschend kalten Händen seinen Hemdsärmel hochschob. Dann begann sie mit dem weichen Graphitstift auf Moores Unterarm zu schreiben: Claire, Lacrosse-Spieler, Aaron, Tiffany, Mr Bennett, Leo, Mr Staker

Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis Iron diese Auflistung geschrieben hatte und als sie fertig war, ließ sie ihren Arm erschöpft auf die Matratze fallen. Moore las sich diese Liste mehrfach durch und es breitete sich wieder ein Lächeln auf seinen Lippen aus.

„Ist das eine Verdächtigenliste?“, fragte er aufgeregt.

Iron machte eine vage Handbewegung und Moore zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. Sie machte noch ein paar Bewegungen die er nicht deuten konnte, woraufhin Iron die Augen verdrehte und ihren Blick Dr. Drescher zuwandte.

„Ich glaube, sie will damit sagen, dass diese Liste womöglich unvollständig ist und jetzt gerade, glaube ich, will sie uns klar machen, dass sie ihre Ruhe möchte.“

„Schon verstanden, ich werde morgen noch einmal vorbeikommen.“

Moore verabschiedete sich, verließ das Krankenzimmer und wäre fast in ein kleines Mädchen, vielleicht sieben Jahre, hineingelaufen. Sie trug ein großes rotes Dreieckstuch um den kahlen Kopf gebunden und einen rosa, mit Pferden bedruckten Pyjama.

„Was machst du denn hier, solltest du nicht schon längst im Bett sein?“, fragte Moore erstaunt.

Ertappt blickte die Kleine zu Boden.

„Man hat uns gesagt, dass Iron die nächsten Wochen keine Zeit für uns hätte, aber dann hab ich auch Schwestern reden gehört, dass jemand Iron verletzt hätte, also bin ich sie suchen gegangen, nachdem der Arzt bei mir war.“

„Molly!“, schaltete sich eine Stimme hinter Moore ein und nur einen Moment später trat eine Krankenschwester an das Mädchen heran, hob sie hoch und setzte sich Molly auf die Hüfte, „du weißt doch, dass du nicht mehr aufstehen sollst, nachdem du abends deine Medikamente bekommen hast! Dir könnte schwindlig werden und du könntest stürzen!“

„Tut mir Leid“, meinte die Kleine entschuldigend, „ich wollte doch nur Iron sehen.“

Das fröhliche Lächeln der Krankenschwester wirkte plötzlich gezwungen und sie zog mit der freien Hand das Kopftuch des kleinen Mädchens zurecht.

„Das ist aber gerade schlecht, Molly.“

„Warum?“, fragte die Kleine fordernd.

Dann entglitten der kleinen Molly plötzlich ihre Gesichtszüge.

„Ist Iron etwa sehr krank? Hat sie jemand von uns angesteckt?!“

Tränen schossen in die Augen der Kleinen und die Krankenschwester versuchte verzweifelt sie zu beruhigen, während sie mit ihr den Gang zurück in Richtung Kinderstation lief.

Kopfschüttelnd machte sich Moore auf den Weg nach Hause, um die Liste auf seinem Arm würde er sich morgen, wenn er ausgeschlafen war, kümmern.

 

Die Recherche zu der Liste erwies sich als nicht allzu schwierig, da Moore ja nur zwei der Namen neu waren: Tiffany und Mr Bennett.

Mr Bennett konnte er schnell als Irons Geschichtslehrer identifizieren und wegen Tiffany sah Moore, einer Eingebung folgend, auf der Musik-Kurs-Liste nach und fand einen Treffer: Tiffany Murray.

 

Verhör Nr. 15: Philipp Bennett

„Guten Tag, mein Name ist Detective Moore, ich leite die Ermittlungen im Fall von Iron. Sie sind Philipp Bennett, ist das richtig?“

„Das stimmt“, meinte der Mitte zwanziger Mr Bennett und strich sich nervös über sein Jackett.

„Sie haben also bei der Erstversorgung von Iron geholfen?“

„Ja, nachdem Mr Bitterman nach der Krankenschwester gerufen hatte, bin ich aus meinen Klassenzimmer, das in demselben Flur, wie die Toilette liegt, dorthin gerannt und hab getan, was ich konnte, um zu helfen.“

„Iron war ja auch Ihre Schülerin, was halten Sie von ihr?“

„Nun ja, sie ist sehr eigenwillig und manchmal etwas uneinsichtig, wenn es um Ereignisse in der Geschichte geht, die nach ihrer Meinung anders abgelaufen sind, als es in den Büchern steht, aber solche Kämpfe wird es in der Geschichte wohl immer geben.“

„Und sie hat Ihnen nie einen Grund gegeben sie zu hassen?“

„Nein, wieso?“

„Mr Bennett“, begann der Detective, setzte sich seufzend auf und überging die Frage einfach, „ich gebe ihnen zehn Sekunden, um mir zu erklären, warum Sie mich anlügen.“

Der Lehrer wurde kalkweiß und Detective Moore konnte sich ein Lächeln des Triumphs fast nicht verkneifen.

„Das ist alles nur ein großes Missverständnis gewesen!“, begann Mr Bennett aufgeregt.

„Kommen Sie einfach zur Sache“, meinte der Detective beinahe gelangweilt.

„Sehen Sie, diese Mädchen sind in der letzten Klasse und eigentlich schon beinahe erwachsen...“

„Den Namen“, meinte Detective Moore, der begriffen hatte, angewidert.

„Tiffany Murray“, meinte Mr Bennett ergeben.

Nun konnte der Detective doch sein Lachen nicht mehr unterdrücken.

„Und seit wann hat Iron es gewusst?“

Nun sackte Mr Bennett vollkommen in seinem Stuhl zusammen.

„Sie hat es vor drei Tagen herausgefunden.“

„Also an dem Tag, an dem sie fast getötet worden wäre?“

„Ich habe nichts damit zu tun, das müssen Sie mir einfach glauben!“, rief Mr Bennett verzweifelt aus.

„Wenn ich das in den Unterlagen richtig sehe, dann ist Tiffany Murray minderjährig, das heißt, wenn Iron etwas gesagt hätte, hätten Sie nicht nur ihren Job verloren, sondern wären höchstwahrscheinlich auch noch im Gefängnis gelandet. Für mich ist das ein verdammt gutes Motiv, Mr Bennett.“

„Jetzt wandere ich doch sowieso in den Knast, oder?“

„Worauf Sie einen lassen können.“

 

Verhör Nr. 16: Tiffany Murray

„Guten Tag, mein Name ist Detective Moore, ich leite die Ermittlungen im Fall von Iron. Sie sind Tiffany Murray, ist das richtig?“

„Jupp“, meinte die wasserstoffblonde Tiffany und betrachtete ihre langen, künstlichen Nägel.

„Wie ich hörte, haben Sie einige Kurse zusammen mit Iron besucht. Können Sie uns etwas über sie erzählen?“

„Sie war ein fieses Miststück“, meinte Tiffany ohne von ihren Nägeln aufzublicken.

„Und gibt es auch einen Grund für diese Meinung?“

Nun sah das Blondchen doch von ihren Nägeln auf.

„Einen?!“, meinte sie empört, „Schon allein, was sie vor drei Tagen abgezogen hat reicht dafür, sie auf immer und ewig in die Hölle zu bringen!“

Detective Moores Interesse war geweckt und er lehnte sich lässig in seinem Stuhl zurück.

„Das müssen Sie mir schon genauer erläutern, Miss Murray.“

„Nun, jeder an der Schule weiß, dass Iron kein Geheimnis lange für sich behalten kann. Man muss sie nur mit irgendwas etwas aufregen und sie wirft es einem an den Kopf! Haben sie eigentlich eine Ahnung, wie die Leute seit ihrem kleinen Ausbruch mit Aaron umgehen?! Wenn das so weiter geht muss er die Baseball-Mannschaft verlassen!“

„Was wäre wohl mit Ihnen passiert, wenn Ihre Beziehung zu einem Lehrer publik geworden wäre“, sinnierte der Detective.

Er konnte sehen, wie sich Tiffanys Augen in der Erkenntnis weiteten, dass sie sich gerade selbst – umgangssprachlich ausgedrückt – in die Scheiße geritten hatte.

„Oh Shit...das Miststück hat es schon wieder geschafft.“

„Was geschafft?“

„Mir eine Menge Ärger einzubrocken. Ich würde jetzt gerne meinen Vater anrufen.“

 

„Und Andrew, wie war dein Tag bis jetzt?“, fragte Moore Hale in der Mittagspause, als sie gemeinsam in ihrem Büro ein Sandwich aßen.

„Ich hab mit Arzt und Therapeuten von dieser Claire Finney gesprochen. Sie ist bei einem Grundschulausflug zu einer Kläranlage in eines der Becken gefallen und zeigt seitdem anscheinend zwanghaftes Reinigungsverhalten auf. Den letzten Sommer hat sie sogar in einer Klinik verbracht, weil ihre Eltern sie in ihrem Bad aufgefunden hatten, wie sie versuchte sich die Hände mit einer Stahlbürste zu reinigen, nachdem sie in der Einfahrt gestolpert und sich mit den Händen auf dem Boden abgestützt hatte. Das Mädchen kann nicht mal ihre Eltern umarmen, wenn diese nicht frisch geduscht sind und frisch gewaschene, desinfizierte Kleidung an haben und ihre Bettlaken müssen jeden Tag gewechselt werden. Selbst beim Essen kann sie den Bakterienwahn nicht abstellen, du hast das Mädchen ja auch gesehen, sie ist schwer untergewichtig. Na ja egal, mein Fazit ist jedenfalls: Wegen ihres Krankheitsbildes kommt sie als Täterin nicht in Frage.“

„Und du bist dir da wirklich sicher?“, fragte Moore skeptisch.

„Hast du dir mal das Überwachungsvideo vom Verhörraum, bevor du zu ihr hereingekommen bist, angesehen?“

„Nein.“

Hale stand auf und verschwand aus dem Büro. Kurz darauf kam er mit einer DVD zurück, schob sie in das Laufwerk von Moores Computer und drückte auf Play.

Man sah, wie Andy, eine Kollegin, Claire die Tür aufhielt und diese den Raum betrat. Dann schloss Andy die Tür wieder und Claire öffnete die große Handtasche, die sie dabei hatte. Heraus zog sie ein in eine Folie eingeschweißtes Tuch sowie ein Desinfektionsspray und bearbeitete den Stuhl gründlich, auf dem sie später gesessen hatte. Einige Male versteifte sie sich plötzlich bei dieser Prozedur, schloss dann die Augen und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Man musste schon blind sein, um nicht zu sehen, dass das Mädchen kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand.

Moore lehnte sich überrascht in seinem Stuhl zurück. Claire hatte nicht gelogen, sie litt an einer schweren Form von Mysophobie und wäre nicht in der Lage gewesen diese Tat zu verüben, egal, wie wütend sie gewesen wäre.

„Dann können wir sie wohl von der Liste der Verdächtigen streichen.“

Hale nickte und entfernte sogleich den Namen von der Tafel, dabei fiel ihm etwas auf.

„Richard, wieso stehen da zwei neue Namen?“

„Du weißt doch, dass ich gestern noch bei Iron gewesen bin?“

Hale nickte.

„Sie ist zwar noch immer intubiert, aber sie hat mir eine Liste von Menschen gegeben, die sie für verdächtig hält. Sie hatte mit unserer bisherigen Liste übereingestimmt, bis auf den Lehrer Philipp Bennett und die Mitschülerin Tiffany Murray. Ich habe die beiden heute Morgen verhört und sie hatten tatsächlich ein Motiv.“

„Und das wäre?“, fragte Hale ungeduldig.

„Die beiden haben was miteinander und Iron hat es am Tag des Mordversuchs rausgekriegt.“

Hale zog scharf die Luft ein.

„Sag bloß...“

„...dass Tiffany noch minderjährig ist? Worauf du einen lassen kannst. Der Lehrer sitzt schon in der Arrestzelle, ich hab bereits eine Anzeige wegen der Verführung einer Minderjährigen ausgestellt und wer weiß, vielleicht kommt ja auch noch versuchter Mord hinzu.“

 

Moore hatte langsam das Gefühl den Lageplan des Krankenhauses auswendig zu kennen, als er sich wieder einmal auf dem Weg zu Irons Krankenzimmer befand. Er hoffte nur, dass niemand vom Krankenhauspersonal sich im Zimmer aufhalten würde. Moore hasste es, wenn ihm andauernd jemand über die Schulter blickte. Als er die Tür öffnete, war dort weder ein Arzt, noch eine Schwester, aber auf einem Stuhl an Irons Bett saß ein junger Mann mit kurzgeschorenem blonden Haar in einer Navy Uniform und hielt die Hand des schlafenden Mädchens mit seinen beiden fest umschlossen. Als Moore die Tür wieder schloss, blickte der junge Mann auf, verharrte aber in seiner Position.

„Wer sind Sie?“, fragte er Moore mit ruhiger Stimme.

„Detective Moore“, meinte dieser und zog seine Marke hervor, „und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“

„Chief Petty Officer Dexter Gates, Sir.“

Die Antwort kam so zügig und sicher, wie Moore es von einem Soldaten erwartet hatte.

„Ich bin mit der Aufklärung des Übergriffs auf Iron betraut, also sagen Sie mir Chief, was tun Sie hier, so weit weg von ihrem Schiff?“

„Ich habe für eine Fortbildung Landgang erhalten, Sir.“

„Das erklärt noch nicht, was Sie in diesem Krankenhaus zu suchen haben.“

„Meine kleine Schwester ist hier Patientin, Sir. Über sie habe ich auch Iron kennengelernt.“

„Sie stehen sich sehr nahe?“, fragte Moore und deutete mit seinem Blick auf Dexters Hände.

Dexter sah ihn überrascht an.

„Natürlich Sir, schließlich ist Iron meine Verlobte.“

Moore fiel die Kinnlade nach unten.

„Ihre Verlobte?!“, wiederholte er fassungslos, nachdem er sich wieder einigermaßen gefangen hatte und Dexter nickte.

„Wie kommt es, dass mir gegenüber noch niemand ihre Verlobung erwähnt hat?“, fragte Moore kopfschüttelnd.

„Wir haben uns erst vor knapp zweieinhalb Wochen verlobt, während ich noch auf See war, Sir. Ich wollte dabei sein, wenn Iron es ihrem Vater sagt, alles andere hätte ich nicht als richtig empfunden.“

Kopfschüttelnd lehnte sich Moore gegen die Wand.

„Weiß irgendjemand außer ihnen beiden von der Verlobung?“

„Mein Vorgesetzter, Sir, da er mir ja den Anruf mit dem Satellitentelefon genehmigen musste.“

„Und wo ist Ihr Vorgesetzter jetzt?“

„Noch immer auf See, Sir. Ich wurde von einem Helikopter für meine Fortbildung an Land gebracht, als wir in Küstennähe waren.“

„Dann habe Sie vielleicht eine Ahnung, wer auf Ihre Verlobte eingestochen hat?“

Dexter strich Iron eine Strähne ihres Haares hinters Ohr.

„Es tut mir Leid Sir, ich werde Ihnen da wohl keine große Hilfe sein, da ich Irons Schulkameraden nie persönlich kennengelernt habe.“

Seufzend schüttelte Moore den Kopf. Ihn wunderte, dass ihn im Zusammenhang mit Iron noch irgendetwas überraschte, das Mädchen war Monster und Heilige in einer Person, das konnte einfach nicht gutgehen.

Ein Rascheln der Decke, das neben dem Geräusch der Beatmungsmaschine ertönte, ließ ihn aufsehen.

„Iron, du bist wach“, meinte Dexter erleichtert.

Iron zog fragend die Augenbrauen zusammen, sie hatte Detective Moore noch nicht bemerkt.

„Als ich erfahren hab, dass du verletzt worden bist, bin ich so schnell wie möglich hergekommen. Mach dir keine Sorge wegen der Fortbildung, meine Vorgesetzten haben mir angesichts der Situation gestattet hierher zu kommen und nach dir zu sehen.“

Iron schien beruhigt, griff ihrerseits nach Dexters Hand und schloss wieder die Augen.

„Iron“, begann Dexter wieder und sie öffnete erneut die Augen, „es ist noch ein gewisser Detective Moore für dich hier.“

Irons Blick schoss zur Tür, neben der Moore lehnte.

„Guten Tag Iron, ich hoffe es geht Ihnen heute schon etwas besser.“

Iron zeigte keinerlei Reaktion und durchbohrte ihn weiterhin nur mit ihrem Blick, weshalb Moore einfach fortfuhr, obwohl dieses Starren ihm eine Gänsehaut bescherte.

„Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich schon eine Person von Ihrer Liste streichen konnte: Claire Finney.“

Moore glaubte etwas wie Erleichterung auf Irons Zügen wahrzunehmen und er sah, wie Dexter lächelnd ihre Hand küsste.

„Was ist so erfreulich an dieser Nachricht?“, hakte Moore nach.

„Iron würde es zwar nie zugeben, Sir“, begann Dexter und ließ sich von Irons wütendem Blick nicht einschüchtern, „aber sie mag Claire wirklich gern und macht sich sorgen um sie, wegen ihrer Erkrankung.“

„Iron weiß von Claires Mysophobie?“, fragte Moore überrascht und Dexter nickte.

„Natürlich Sir, Iron entgeht nichts“, begann Dexter und wandte Iron seinen Blick zu, „und das gerade war kein Grund dafür zu versuchen mir meine Hand zu zerquetschen, Iron.“

Die funkelte ihren Verlobten noch immer zornig an, was dieser aber nicht weiter beachtete. Moore musste zugeben, dass sich die beiden wirklich ganz gut ergänzten. Er schien, im Gegensatz zu Moore – wenn dieser ganz ehrlich war – keine Angst vor Iron zu haben.

„Ich glaube, wir sollten sie jetzt besser wieder schlafen lassen, Sir.“

Moore verstand den Wink, verabschiedete sich und verließ den Raum. Als Eric Baldwin ihm jedoch im Gang entgegen kam, wartete er einen Moment und folgte diesem dann unauffällig wieder zurück bis zum Krankenzimmer.

Moore hörte, wie sich die beiden begrüßten; offensichtlich kannten sie sich nicht.

„Wie geht es ihr denn gerade?“, fragte Eric.

„Sie ist stabil, jedoch stört sie die Intubation gewaltig.“

Eric lachte und Moore fragte sich, ob Iron sich wohl schlafend stellte.

„Woher kennst du Iron eigentlich“, fragte Eric.

„Über meine Schwester, selbst?“

„Wir gehen beide auf die Private Lincoln-High-School.“

„Ah, der Footballer Eric?“

„Ja“, antwortete Eric und die Freude darüber, dass Iron ihn erwähnt hatte, war unüberhörbar.

„Was machen Sie denn da?“, fragte plötzlich eine Stimme neben Moore und er drehte sich angenervt zu Dr. Kendrick herum.

„Meine Arbeit, Sie?“

„Ich versuche dasselbe zu tun, aber Sie haben mich, ehrlich gesagt, abgelenkt. Wer ist denn so interessantes in Irons Krankenzimmer?“

Moore nutzte die Gelegenheit, da sie sich schon einmal bot, und bereitete sich darauf vor Dr. Kendricks Mienenspiel zu beobachten.

„Irons Schulfreund Eric und ihr Verlobter.“

Dem Arzt fielen beinahe die Augen heraus.

„Wer?!“, fragte er ungläubig.

„Ihr Schulfreund Eric.“

Nun wurde der Blick des Arztes wütend.

„Nicht er, der andere!“

„Ach so, Sie meinen Irons Verlobten, Dexter Gates?“

„Sie hat ihn mir gegenüber nie erwähnt“, meinte Dr. Kendrick plötzlich völlig abwesend.

Dann drehte er sich einfach um und ging. Nun wusste Moore aber, dass Dr. Kendrick diese Information zuvor nicht gehabt hatte. Leider hatte er damit aber auch seine Chance verpasst Erics und Dexters Gespräch weiter zu folgen, also machte sich Moore auf den Weg zurück ins Büro.

 

Als er sich Hale gegenüber in seinen Schreibtischstuhl fallen ließ, blickte ihn sein Partner fragend an.

„Was amüsiert sich denn so?“

„Iron.“

„Was hat sie denn jetzt schon wieder gemacht?“, fragte Hale, nun ebenfalls amüsiert und trank einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse.

„Nun, ich habe heute ihren Verlobten kennengelernt.“

Hale verschluckte sich an seinem Kaffee.

„Und warum hat niemand uns gegenüber den Verlobten erwähnt?“, fragte er, als sich der Hustenreiz gelegt hatte.

„Tja, anscheinend wollte der Chief Petty Officer der Navy dabei sein, wenn sie es ihrem Vater sagen und haben es deshalb bisher niemandem erzählt.“

Lachend schüttelte Hale den Kopf.

„Jedes Mal, wenn ich das Mädchen in eine Schublade stecke, finden wir etwas über sie heraus, das mich überrascht.“

„Ja, ich kann es auch noch immer nicht wirklich fassen, aber Iron war ja mit im Raum und sie hat auf nicht versucht es zu dementieren. Dieser Dr. Kendrick hat das nicht gewusst, ich habe vorher mit ihm gesprochen, aber glaubst du, dieser Eric hat vielleicht doch davon gewusst?“

„Ich weiß nicht, warum du dich so auf diesen Eric verbissen hast, Richard. Ich finde den Rest der Liste viel verdächtiger. Außerdem war er nicht in Irons Musik-Kurs.“

„Ah, die Musik-Kurs-Sache. Ich finde es noch immer wirklich komisch, dass alle verdächtigen Schüler denselben Musik-Kurs wie Iron besucht haben. Das kann einfach kein Zufall sein.“

Eine Weile schwiegen Moore und Hale nachdenklich.

„Oh, der Verlobte hat übrigens was Interessantes erwähnt.“

Hale horchte auf.

„Er meinte, dass Iron kein Problem mit Claire hätte, sie im Gegenteil sogar sehr mag.“

„Ich weiß ja nicht, wie sich befreundete High-School-Mädchen heutzutage untereinander benehmen, aber die andere in der Öffentlichkeit zu beschuldigen eine magersüchtige Hure zu sein, das scheint mir nicht der beste Weg zu sein positive Gefühle zueinander auszudrücken.“

„Ich weiß, wir haben Claire eigentlich schon von der Liste der Verdächtigen ausgeschlossen, aber ich würde doch gerne noch einmal mit ihrem Therapeuten und ihrem Arzt sprechen.“

 

Verhör Nr. 17: Claire Finney

„Ich würde wirklich gerne wissen, warum ich nochmal hierher kommen musste“, meinte Claire sichtlich unwohl, während sie sich ihre Hände zum wiederholten Male mit einem Desinfektionstuch abwischte.

„Ich würde gerne noch einmal mit Ihnen über Iron sprechen.“

„Ich dachte, ich hätte alles nötige gesagt.“

Der Detective zog ein Blatt Papier hervor und betrachtete es.

„Ihr Arzt meinte, dass Sie zu Beginn des zweiten High-School-Jahres ein kritisches Gewicht erreicht hatten und er kurz davor war, Sie in eine Klinik einweisen zu lassen.“

„Ich wüsste nicht, was das mit Iron zu tun hätte.“

„Nun Miss Finney, Ihr Therapeut erzählte uns, dass Sie vor dem Beginn des zweiten High-School-Jahres kein Wort mit Iron gewechselt hatte, obwohl Sie denselben Musik-Kurs besuchten.“

„Dann haben wir halt nicht miteinander geredet, ich verstehe nicht, auf was Sie hinaus wollen, das ist doch nichts weiter Ungewöhnliches.“

Detective Moore legte das Blatt zurück auf den Tisch und sah Claire direkt in die Augen.

„Claire, was denken Sie, woher kam Irons plötzliches Interesse an Ihnen, nachdem Sie sie zuvor ignoriert hatte.“

Claire dachte wirklich einen Moment nach.

„Ich würde nicht ignoriert sagen, wir haben einfach nicht miteinander gesprochen, weil wir uns nichts zu sagen hatten, das war alles.“

„Macht das nicht diesen Umschwung um ein vieles bizarrer?“

Claire nickte.

„Ich hab es damals wirklich nicht verstanden, warum sie anfing auf mich loszugehen und tue es auch heute noch nicht.“

Detective Moore lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

„Ihr Therapeut erzählte uns, dass die Kommentare Irons zu ihrem Gewicht Sie stark getroffen haben.“

Claire verdrehte die Augen.

„Ich hätte meinem Therapeuten sagen sollen, er dürfe Ihnen nur bezüglich meiner Mysophobie Auskunft geben.“

„Ihr Therapeut hat uns auch erzählt“, überging der Detective einfach Claires Worte, „dass Sie nach solchen Anschuldigungen sich bemühten wieder mehr zu essen und tatsächlich an Gewicht zunahmen.“

„Und?“, meinte Claire trotzig und zuckte mit den Schultern, „Es ist ja nicht so, als ob ich magersüchtig wäre, ich will nicht zu dünn sein, ich kann einfach nur nicht essen.“

„Und stimmt es nicht auch, dass Iron Sie nur selten von sich aus beleidigte?“, überging der Detective erneut Claires Bemerkung.

„Ja, aber jetzt sagen Sie schon endlich, worauf Sie hinaus wollen!“, meinte sie wütend.

„Haben Sie sich nie gefragt, warum Iron nicht einfach jeden Tag auf Sie losgegangen ist, wenn sie Sie doch nicht leiden konnte?“

„Nein, wieso auch?“, meinte Claire aufgebracht.

„Ich will es Ihnen sagen“, rückte der Detective endlich mit der Wahrheit heraus, „Iron hat Ihr Leben gerettet.“

„Wie bitte?“, fragte Claire vollkommen ernüchtert.

„Ihr erstes Jahr hatten Sie sich stillschweigen verstanden, wovon ich einfach mal ausgehe, dass das eher selten zwischen Mädchen vorkommt.“

Claire nickte.

„Das war ja auch der Grund, warum Sie so heftig auf Irons Anschuldigungen reagierten.“

Wieder nickte Claire, war jedoch immer noch verwirrt.

„Und Iron wusste genau, dass Sie nur auf sie so reagieren würden.“

Es dauerte einen Moment, dann weiteten sich Claires Augen vor Erkenntnis und ihr Griff um das Desinfektionstuch wurde unbewusst fester.

„Sie...“, begann Claire und blickte den Detective hilfesuchend an, „sie hat das alles nur gesagt, damit ich wieder esse?“

Der Detective nickte und beobachtete, wie Claire eine einzelne Träne die Wange hinunterrann.

Teil 4 - Was die Polizei nicht weiß

Als Claire nach dem Verhör zurück in die Schule fuhr, fiel es ihr schwer sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren. Was ihr dieser Detective über Iron erzählt hatte, war absurd...und trotzdem glaubte Claire ihm. Ein komisches Gefühl machte sich in ihr breit, als sie all die Zusammenstöße mit Iron Revue passieren ließ. Sie passten zeitlich immer perfekt mit den Tagen zusammen, wo sie selbst festgestellt hatte, dass sie sichtbar Gewicht verloren hatte. Claire konnte einfach nicht verstehen, wie sie das nicht hatte bemerken können. Iron hatte ihr wirklich ihr Leben gerettet, wozu keiner der Ärzte oder Therapeuten in der Lage gewesen war.

Als sie auf dem Schülerparkplatz parkte, hatte Claire bereits einen Entschluss gefasst und lief in Richtung Football-Feld. Ein Schauer überlief sie, als sie all die verschwitzten Jungen sah, die sich diesen keimverseuchten Ball zuwarfen und gegenseitig in den Dreck warfen. Nur mühsam konnte sie den Drang unterdrücken eines ihrer Desinfektionstücher hervorzuholen.

Nachdem sie eine Weile am Rand des Spielfelds gestanden hatte, kam der Coach auf sie zu.

„Was machst du denn hier Mädchen?“, fragte der ältere Herr mit einem freundlichen Lächeln.

Jeder mochte Coach Turner, er verlangte zwar viel, aber er war auch gerecht.

„Ich würde gerne kurz mit Eric sprechen, wenn das geht?“, fragte Claire schüchtern.

Der Coach musterte sie einen Moment, dann nickte er und rief nach dem Jungen. Nur einen weiteren Moment später kam er zu ihnen gerannt.

„Ja, Coach?“, fragte er angestrengt und Claire unterdrückte ein Schaudern, als sie sein verschwitztes Gesicht und die Grasflecken auf seinem Trikot sah.

„Das Mädchen hier würde dich gerne sprechen“, meinte er lächelnd und ging zurück zur Mannschaft.

„Was willst du Claire?“, fragte er abweisend, als der Coach außer Hörweite war.

„Ich will, dass du mir hilfst Irons Angreifer zu finden.“

Eric sah sie überrascht, beinahe entsetzt an.

„Aber du hasst Iron“, meinte er perplex.

„Das war einmal“, meinte Claire zögerlich, „jetzt will ich den, der das getan hat, hinter Gittern sehen.“

„Du Polizei kümmert sich doch bereits darum.“

„Die Polizei tritt auf der Stelle und sie werden den Fall auch nicht lösen können. Hier an der Schule schuldet fast jeder jedem einen großen Gefallen, wir wissen einfach zu viele Geheimnisse voneinander, da wird nie jemand gegenüber den Bullen auspacken.“

„Und du denkst uns gegenüber würden sie?“, fragte Eric skeptisch.

„Ja, das glaube ich, denn mir schulden an dieser Schule viele Leute Gefallen und dich mögen sie.“

Eric überlegte einen Moment, dann nickte er.

„Einen Versuch ist es wert.“

„Ich hab die Verdächtigenliste der Polizei abgeschrieben.“

„Und wer steht drauf?“

Claire reichte ihm den Zettel:

      1. Leo Piven (Knock-Out)
      2. Mr Staker (Zurechtweisung)
      3. Claire Finney (Flittchen) → Mysophobie
      4. Aaron Jones (Schwul)
      5. Johnny Cox (Transe)
      6. Eric Baldwin (unerwiderte Gefühle) → Freundschaft
      7. Mr Bennett (Affäre)
      8. Tiffany Murray (Affäre)

„Mysophobie?“, fragte Eric, nachdem er den Zettel gelesen hatte.

Dass sein eigener Name auf der Liste stand, schien ihn nicht zu interessieren. Er wollte Claire den Zettel zurückgeben, doch die lehnte mit einem schwachen Lächeln ab.

„Angst vor Schmutz und Keimen“, sagte sie schnell und blickte Eric dabei nicht in die Augen.

Doch es kam weder ein Lachen noch eine spitze Bemerkung von ihm.

„Wie kam es dazu?“, fragte er stattdessen.

„In der dritten Klasse haben wir eine Kläranlage besucht. Ein Junge aus meiner Klasse hat mich dann in eines der Becken mit dem schmutzigen Wasser gestoßen“, Claire schauderte, „seitdem kann ich das Gefühl nicht loswerden, dass alles schmutzig ist.“

„Dann ist mir jetzt gegenüberzustehen sicher nicht leicht für dich.“

Claire lächelte schwach.

„Du bist wirklich okay Eric.“

„Du bist auch nicht so übel Finney.“

Dann rief der Coach nach Eric und er lief zurück auf Spielfeld. Claire machte sich auf den Weg zurück zum Hauptgebäude. Wenn sie sich beeilte, konnte sie noch den Rest der Geographiestunde besuchen.

Nach der Stunde begleitete sie Brianna zum Musikzimmer.

„Was wollten die Polizisten denn eigentlich schon wieder von dir?“, fragte Brianna, während sie die Spitzen ihrer Haare betrachtete.

Claire zuckte mit den Schultern.

„Es ging wieder um den Angriff auf Iron, nichts Besonderes.“

„Also wenn du mich fragst“, begann Brianna abfällig, „hat dieses Miststück es nicht besser verdient.“

„Dich fragt aber niemand“, schnappte Claire zurück und Brianna hob beschwichtigend die Arme.

„Ist ja schon okay, aber gib mir das nächste Mal früher Bescheid, wenn du wieder deinen Mutter-Theresa-Tag hast.“

Als die Tür des Musikzimmers in Sicht kam, blieb Claire überrascht einen Moment stehen, bevor sie dann umso zügiger weiterging und Brianna hinter sich zurückließ.

„Hey Eric, was machst du denn hier?“, fragte sie, die Menschen um sie herum ignorierend.

Er war frisch geduscht und machte es Claire damit um einiges leichter in seiner Nähe zu sein.

„Wir hatten noch gar kein Treffen für unser Projekt vereinbart.“

„Oh, wie wäre es, wenn wir uns einfach nach dieser Stunde treffen, du hast dann ja auch Schluss, oder?“

Eric nickte.

„Dann bis nachher“, meinte er und verschwand den Gang entlang.

Als Claire das Unterrichtszimmer betrat, waren dreiundzwanzig neugierige Augenpaare auf sie gerichtet und Brianna rannte förmlich auf sie zu.

„Was wollte denn der süße Eric Baldwin von dir?“, fragte sie nach Tratsch lechzend.

„Ich gebe ihm nur Nachhilfe in Geschichte“, log Claire, ohne mit der Wimper zu zucken und Brianna zog eine Schnute.

„Das ist Heiße-Typen-Verschwendung!“, maulte sie.

Claire zuckte nur mit den Schultern und setzte sich mit einiger Anstrengung auf ihren Platz. Sie freute sich schon so sehr darauf nachhause zu kommen und endlich diese schmutzige Kleidung loszuwerden. Unauffällig reinigte sie wenigstens die Schreibfläche ihres Stuhls.

Nach der Stunde wartete Eric, wie versprochen, bereits vor dem Musikraum auf sie. Als sie zusammen weggingen, zogen sie einige neugierige Blicke auf sich, doch es war ihnen egal.

„Wo sollen wir eigentlich hingehen?“, fragte Eric, als sie vor der Schule standen.

Zum ersten Mal konnte Claire vollkommen offen sein.

„Könnten wir bitte zu mir gehen? Ich muss mich unbedingt umziehen und duschen.“

„Klar, kein Problem.“

„Fahr mir einfach hinterher“, meinte Claire mit einem Lächeln.

Eric sagte keinen Ton darüber, dass er bei Claire erst einmal warten musste, bis sie ihre Reinigungsprozedur beendet hatte und sie war ihm sehr dankbar dafür. Als sie sich nun zu ihm an den Tisch setzte, ergriff er das Wort.

„Ich würde vorschlagen, dass wir uns einfach die Verdächtigenliste von oben nach unten vornehmen.“

„Also würden wir morgen mit Leo anfangen“, schloss Claire und Eric nickte.

„Bloß wie wollen wir die ganze Sache eigentlich handhaben?“

„Ich dachte du hättest schon eine Idee, Claire, da du ja eigentlich die ganze Sache vorgeschlagen hast.“

„Nein, eigentlich nicht, das war eine mehr oder weniger spontane Aktion.“

„Was hat eigentlich deinen Stimmungswechsel gegenüber Iron bewirkt?“, fragte Eric neugierig.

„Sie hat mir das Leben gerettet“, meinte Claire schlicht und senkte den Blick.

„Und das wirst du nicht weiter ausführen.“

Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage.

„Du bist doch mit Leo im Football-Team, könntest du ihn da nicht bezüglich Iron ein wenig aushorchen.“

„Er wird mir wohl kaum den Ball zuwerfen und dabei sagen: Ach übrigens, ich hab auf Iron eingestochen“, meinte Eric spöttisch.

Claire warf ihm einen bösen Blick zu.

„Tut mir Leid, aber ich hab nun mal vorher noch nie Ermittlungen durchgeführt“, zischte sie, „aber ist es wirklich zu viel verlangt, dass du einfach mal mit ihm über den Zwischenfall redest? Vielleicht rutscht ihm ja was raus!“

Eric erhob sich und schüttelte lächelnd den Kopf.

„Du bist ein echtes Prinzesschen, das ist dir doch hoffentlich klar?“

„Wie bitte?“, fragte Claire fassungslos.

„Ich werde morgen beim Training mit ihm reden. Wir sehen uns dann nach Musik“, ignorierte er einfach ihre Frage und ließ Claire verdattert allein zurück.

 

Wenn es einen Ort auf der Welt gab, den Claire nie wieder hatte betreten wollen, dann war das ein Krankenhaus. Schon allein der Gedanke an die kranken Menschen darin bescherte ihr Übelkeit, aber sie musste einfach Iron sehen, sie wollte wissen: Warum?

„Entschuldigung, in welchem Zimmer liegt Iron?“, fragte sie die Dame an der Pforte.

„Dritter Stock, Raum 15.“

„Danke“, meinte Claire mit einem freundlichen Lächeln und machte sich auf den Weg, die Treppe hochzusteigen.

In einen der Aufzüge hätte sie sich nicht gewagt. Vor der Tür angekommen atmete sie einmal tief durch und stieß sie dann auf, doch auf das, was sie im Zimmer sah, war sie nicht vorbereitet. Überall hingen Gute-Besserungs-Luftballons, standen Teddybären und vor ihrem Bett sogar ein Muffinkorb für die Schwestern. Doch all das ließ Iron in dem großen Krankenhausbett noch kleiner und blasser aussehen. Ihre Haut hatte fast die Farbe von Elfenbein, ihr kurzes Haar schien frisch gewaschen, war jedoch stumpf, doch das Erschreckendste für Claire war der Schlauch des Beatmungsgeräts, der in Irons Mund steckte und der große Tropf, von dem Flüssigkeit durch einen Schlauch in ihren Arm geleitet würde.

„Oh mein Gott“, hauchte Claire und schlug sich die Hände vor den Mund.

Für sie war Iron immer jemand gewesen, der niemand etwas antun könnte; eine unkaputtbare Maschine, doch jetzt gerade wirkte sie nur allzu menschlich.

Von Claires Worten geweckt öffnete Iron ihre Augen, die sich vor Überraschung weiteten, als sie das Mädchen in der Tür erblickte.

„Was hat man bloß mit dir gemacht“, brachte Claire schließlich hervor und rannte beinahe an Irons Krankenbett.

Erstarrt blieb sie dort stehen und starrte Iron einfach an, bis sie in Tränen ausbrach. Claire war schon immer ein sentimentaler Mensch gewesen und in diesem Moment kamen für sie einfach zu viele Dinge zusammen: In diesem bakterienverseuchten Krankenhaus zu sein, was Iron für sie getan hatte und Irons kritischer Zustand.

Im nächsten Moment kam ein junger Arzt panisch ins Zimmer gestürzt.

„Iron!“, rief er aufgewühlt, bevor er mit seinen hektischen Augen die Situation überblickte und sich etwas beruhigte.

„Ist alles okay, Miss?“, wandte er sich nun an Claire, welche schwach nickte.

„Tut mir leid, ich war nur etwas überrascht, als ich Claire sah.“

„Da kann ich Sie beruhigen, Iron ist schon wieder auf dem Weg der Besserung. Ich bin übrigens Dr. Kendrick.“

„Claire Finney“, meinte sie schniefend, während sie ihm die Hand schüttelte, „eine Mitschülerin von Iron.“

Dr. Kendrick sah verwundert von Claire zu Iron und wieder zurück.

„Es freut mich, dass Iron so viel Anteilnahme erfährt, wenn Sie mich entschuldigen.“

Dr. Kendrick verließ sichtlich verwirrt den Raum und Claire trat wieder an Irons Bett.

„Ich...ich bring das jetzt schnell hinter mich, denn ich hasse es in jemandes Schuld zu stehen.“

Claire sah Iron direkt in die Augen.

„Danke, für alles, das du für mich getan hast, ich werde es dir wohl nie vergelten können, aber sicher auch nicht aufhören es zu versuchen und anfangen werde ich damit...“

Schon wieder wurde die Tür geöffnet und ein junger Mann in Uniform trat ein, den Blick auf eine CD, die er in der Hand hielt gerichtet.

„Du hättest mir ruhig einmal die Logik deines CD-Regals erklären können, Iron, da findet sich ja echt niemand zurecht“, meinte er und blieb verdutzt stehen, als er Claire erblickte.

Die war nicht minder überrascht, da der Soldat ja anscheinend gerade in Irons Zimmer gewesen war.

„Sind Sie etwa Irons Bruder?“, fragte Claire überrascht, auch wenn sie keine äußerlichen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden finden konnte.

„Nein“, meinte der Soldat lachend und hielt Claire die Hand hin, „ich bin Chief Petty Officer Dexter Gates, Irons Verlobter. Und Sie sind?“

Claire verblieb für einen Moment in Schockstarre. Von seiner Ausstrahlung her war Dexter das genaue Gegenteil von Iron: Er wirkte offen, nett und beherrscht, einfach sympathisch.

„Ver...Verlobter?“, fragte Claire etwas neben der Spur, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte.

„Genau“, meinte Dexter mit einem freundlichen Lächeln und wandte seinen Blick Iron zu, „langsam finde ich es verletzend, wie die Leute auf unsere Verlobung reagieren. Du hättest sie wenigstens ein bisschen darauf vorbereiten können.“

Iron erwiderte Dexters feixenden Blick mit einem angedeuteten Schnauben und er wandte sich wieder Claire zu.

„Da kommt eine Menge Ärger auf mich zu, wenn sie wieder sprechen darf, aber wie kann ich Ihnen eigentlich helfen, Miss Finney?“

„Ich wollte nur kurz nach Iron sehen...Und das hab ich ja jetzt auch getan...Tschüss“, meinte Claire aneinander gestottert und verließ verwirrt das Krankenhaus.

 

Als sie nach dem Training in Richtung Hauptgebäude zurück liefen, nahm sich Eric Leo zur Seite.

„Und, wie geht’s deinem Auge?“

„Ist nicht mehr geschwollen, ich kann wieder richtig sehen, was echt eine Erleichterung ist.“

Leo tastete vorsichtig mit seinen Fingern über sein blaues Auge.

„Wie geht es übriges Iron?“

„Sie ist stabil, aber immer noch intubiert.“

„Maulkorb“, lachte Leo und Eric warf ihm einen hasserfüllten Blick zu.

„Das ist nicht witzig Piven!“

„Ach komm schon Eric, wenn du drüber nachdenkst...“

Wieder begann Leo zu lachen.

„Iron wäre fast gestorben, Leo! Darüber macht man keine Witze.“

„Wie überlebt sie es wohl, wenn sie keine Galle spucken kann“, philosophierte Leo einfach weiter und machte Eric damit richtig wütend.

Er schnappte sich Leo am Kragen und drückte ihn mit dem Rücken gegen eine Spind. Einige Schüler auf dem Gang bekamen die Sache mit, doch keiner wollte sich in den Disput einmischen.

„Jetzt hör mir mal zu“, zischte Eric, „noch ein so beleidigendes Wort über Iron und ich schwöre dir, das blaue Auge wird dein kleinstes Problem sein.“

Leo sah Eric vollkommen entsetzt an, da der Quarterback bei seinem Teamkollegen noch nie auch nur einen annähernd aggressiven Gefühlsausbruch gesehen hatte, nickte aber dann schließlich, woraufhin Eric ihn losließ und den Gang hinunter verschwand.

 

Als Eric Claire erzählte, was sich zwischen ihm und Leo zugetragen hatte, war sie zwar anfangs etwas wütend auf ihn, doch das legte sich schnell.

„Ich habe sowieso nicht geglaubt, dass er es war“, meinte sie mit einem Schulterzucken und Eric sah sie fragend an.

„Warum das denn?“

„Er bewundert sie.“

Etwas an Erics Haltung verkrampfte sich und Claire lachte auf.

„Nicht auf diese Weise. Ich glaube, er wünscht sich ihr Selbstvertrauen, aber wer tut das nicht?“

Einen Moment überlegte Eric und schien dann Claires Erklärung zu akzeptieren.

„Ich muss dir noch was erzählen, aber nach deiner Reaktion gerade eben zu dem Kommentar über Leo glaube ich, muss ich mir vorher dein Versprechen abholen ruhig zu bleiben.“

„Wieso?“, fragte er skeptisch.

„Wenn du es mir versprichst, sag ich es dir.“

„Okay.“

„Ich war gestern bei Iron im Krankenhaus und hab ihren Verlobten kennengelernt.“

Claire wartete darauf, dass die Bombe explodierte, doch Eric bewegte keinen Muskel sondern starrte einfach nur geradeaus.

„Wer?“, fragte er nach einer gefühlten Ewigkeit.

„Ein Soldat namens Dexter Gates.“

Eric sah sie an.

„Den habe ich auch schon kennengelernt, aber er hat es mir gegenüber nicht erwähnt“, meinte Eric kopfschüttelnd.

„Nun, das ist auch nicht gerade etwas, womit man normalerweise ein Gespräch eröffnet.“

„Wieso hat er es dann dir gegenüber erwähnt?“

„Weil ich ihn für Irons Bruder gehalten hatte.“

„Iron hat keinen Bruder“, meinte Eric verwirrt.

„Das weiß ich jetzt auch“, erwiderte Claire und verdrehte die Augen, „auch egal, ich hab uns jedenfalls ein paar Informationen über ihn besorgt.“

Claire legte vor Eric eine Mappe auf den Tisch, die sich als Unterlagen von der Navy herausstellten. Er sog scharf die Luft ein.

„Woher hast du die, Claire?“

Die zuckte nur mit den Schultern.

„Man muss einfach die richtigen Leute kennen.“

„Denen ist es aber eigentlich verboten die rauszugeben, besonders nicht an Privatpersonen.“

„Und das ist auch der Grund, warum die Detectives diese Akte nicht haben, weil kein begründeter Verdacht gegen Dexter besteht.“

Eric blickte von den Unterlagen auf.

„Verdächtigst du ihn etwa?“, fragte er überrascht.

„Nein, aber ich gehe lieber auf Nummer sicher. Außerdem stehen da ein paar interessante Sachen drin.“

„Zum Beispiel?“

„Nun, seine beiden Eltern sind seit einem halben Jahr tot und er hat das alleinige Sorgerecht für seine siebenjährige Schwester, da es keine weiteren Verwandten gibt. Das hatte mein Interesse geweckt und ein paar Anrufe später hatte ich erfahren, dass ihm seit einer Weile das Jugendamt Ärger bereitete, weil Dexter ja die meiste Zeit auf hoher See war, während seine kleine Schwester mit Krebs im Krankenhaus liegt. Vor zweieinhalb Wochen wurde es dann plötzlich still von Seitens des Jugendamtes, als Dexter sie über seine Verlobung benachrichtigte und alles in die Wege leitete, damit das Sorgerecht für seine Schwester Molly auch auf Iron übertragen würde.“

„Also heiratet Iron diesen Dexter...“

„...damit er nicht das Sorgerecht für seine kleine Schwester verliert?“, schloss Claire, „ja, das glaube ich auch.“

Eric schüttelte den Kopf und lachte leise.

„Was?“, fragte Claire besorgt.

„Es ist nur, in unserer Schule halten alle Iron für einen Dämon, aber jeder außerhalb kennt sie als eine Heilige. Ich frage mich gerade, warum das so ist.“

Claire kam ein schrecklicher Gedanke.

„Was, wenn wir keinen Dämonentöter, sondern einen Heiligenschlächter suchen?“

 

Claire hatte bei ihrem Gespräch mit Eric gestern den Kürzeren gezogen und musste heute Mr Staker sprechen. Wie sie das anstellen sollte, wusste sie auch noch nicht, schließlich konnte sie nicht einfach in das Büro des Rektors reinspazieren und ihn fragen, ob er auf Iron eingestochen hätte.

„Brianna“, wandte sie sich in der Pause an eine ihrer Mitläuferinnen.

„Ja?“

„Du musst mir einen Gefallen tun.“

„Aber klar doch Claire, was soll ich machen?“, fragte sie eifrig.

Claire betrachtete die Menschen, die den Flur entlanggingen, bis sie auf einen Jungen aus dem Baseball-Team aufmerksam wurde und mit dem Finger auf ihn deutete.

„Siehst du den?“

Brianna nickte.

„Zieh im das Knie zwischen die Beine und wenn der Lehrer kommt, sag ihm ich wäre es gewesen.“

„Aber...“, begann Brianna verwirrt.

„Tu's einfach“, meinte Claire gelangweilt.

Ohne ein weiteres Wort ging Brianna folgsam auf den Jungen zu und Claire wunderte sich einmal wieder darüber, wie viel Macht sie an dieser Schule besaß.

Brianna zog dem Jungen, der sie nicht einmal richtig sah, das Knie sauber zwischen die Beine und tauschte dann den Platz mit Claire. Als der Baseballer sich stöhnend an die Spinds lehnte, kam sofort ein Lehrer herbeigeeilt.

„Was ist denn hier passiert?“, meinte er entsetzt.

Er konnte noch nicht lange an einer High-School unterrichten, wenn ihn so eine Szene dermaßen überraschte.

„Die Tussi hat mir einfach so das Knie zwischen die Beine gezogen“, meinte der Baseballer – Claire erkannte ihn nun endlich als Steve – aufgebracht, ohne auch nur in Claires Richtung gesehen zu haben.

„Was sollte das denn, Claire?“, fragte der Lehrer vollkommen überfordert mit der Situation.

Lächelnd konnte sie sehen, wie Steve einen Seitenblick riskierte und kalkweiß wurde. Ihm war klar, dass Claire Ärger zu bereiten sozialen Selbstmord bedeutete, wenn man nicht gerade Iron war.

Als Antwort auf die Frage des Lehrers zuckte sie nur mit den Schultern.

„Dann muss ich dich wohl zum Rektor bringen“, meinte dieser mit einem schweren Seufzer und Claire folgte ihm ohne Wiederworte, jedoch mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht.

Warum? Weil der Lehrerfrischling nicht wusste, dass der Rektor noch knapp eine Viertelstunde beim Essen war und die Sekretärin immer diese Gelegenheit nutzte, um eine Rauchen zu gehen. So war das Rektorat wie erwartet leer und der Frischling komplett überfordert. Oh ja, Claire hatte heute einen richtigen Lauf.

„Sie können gehen, ich werde hier auf Mr Staker warten.“

Er blickte Claire skeptisch an, doch die schenkte ihm ein engelsgleiches Lächeln, sodass er wie berauscht das Zimmer verließ. Claire verdrehte noch die Augen, bevor sie ohne zu zögern das Büro des Rektors betrat.

Sie trat an den großen Aktenschrank hinter dem Schreibtisch in dem sich, wie jeder wusste, die Akten auffälliger Schüler befanden, also mit Sicherheit auch Irons. Das besondere an diesen Akten war, dass sie alle von Mr Staker persönlich verfasst und von niemandem außer ihm eingesehen werden durften. Wenn das nicht danach schrie durchsucht zu werden, dann wusste Claire auch nicht.

Aus ihrer Handtasche zog Claire ein paar weißer Lederhandschuhe, die notfalls als zu ihrem Outfit gehörend gelten konnten, und ein Set Dietriche. Würde man die Taschen sämtlicher Schüler untersuchen, so würde man bei gut einem Drittel Werkzeug zum Öffnen eines Schlosses finden, da war sich Claire sicher. Sie selbst gehörte zwar eigentlich nicht zu diesen Menschen, aber nach zwei Videos auf YouTube und einigem Üben an einem gekauften Zylinderschloss war Claire mehr als bereit für diesen Aktenschrank. Tatsächlich brauchte sie keine Minute, um das Schloss zu knacken und ein breites Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, dann zog sie die oberste Schublade auf und hatte auch gleich Erfolg. Zu Claires Überraschung schien Irons Akte nicht dicker als die der anderen auffälligen Schüler. Ein schneller Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie noch gute zehn Minuten hatte, also riskierte sie einen Blick in die Akte.

Der Aufbau erinnerte sie mehr an eine Sträflingsakte. Auf dem ersten Blatt waren nur grundsätzliche Informationen und Irons letztes Jahrbuchfoto, aber ab der zweiten Seite wurde es interessant, denn dort begann die Auflistung einer jeden Auffälligkeit, die sich Iron in den letzten Jahren geleistet hatte und die waren nicht zu knapp. Auf der letzten Seite fand sich ein kurzer Kommentar: 'Die Schülerin weißt ausgeprägtes sozialunverträgliches Verhalten auf, welches vermutlich durch ein geringes Selbstbewusstsein begründet ist. Diese Verhaltensauffälligkeit macht auch keinen Halt vor Autorität.'

Claire war enttäuscht, sie hatte sich mehr von dieser Akte erwartet. Genervt steckte sie sie zurück und setzte sich auf den Stuhl gegenüber dem Schreibtisch, um auf Mr Staker zu warten.

Wenige Minuten später betrat er auch sein Büro und schien wenig überrascht, dass dort schon ein Schüler auf ihn wartete.

„Miss Finney, was verschafft mir die Ehre?“, meinte er seufzend, obwohl es sicher schon davon gehört hatte und ließ sich in seinen Sessel fallen.

„Einmaliger Zwischenfall, wird nicht wieder vorkommen.“

„Das will ich auch sehr hoffen, gewalttätige Übergriffe sind keine Lösung“, bestätigte er Claires Vermutung.

„Ja“, sinnierte sie, „das hätte auch mal jemand dem Typ sagen sollen, der auf Iron los ist.“

„Ich hätte Sie zu den Personen gezählt, die dieser Vorfall am wenigsten stört, Miss Finney.“

Claire zuckte mit den Schultern.

„Ich find's nur komisch, dass niemand was mitbekommen hat. Sie haben nicht zufällig was gehört?“

„Selbst wenn, dann würde ich mich damit an die Polizei wenden und nicht an Sie, Miss Finney.“

Claire konnte sich einen missbilligenden Blick kaum verkneifen und berührte dabei mit ihrem bloßen Ellenbogen den Stuhl. Dem heftigen Drang widerstehend sofort ein Desinfektionstuch aus der Tasche zu ziehen, richtete sie das Wort wieder an Mr Staker.

„Sie wissen doch genau, dass die Polizei diesen Fall nicht lösen wird, denn Sie wissen, wie die Dinge an dieser Schule laufen.“

Mr Staker lachte in sich hinein.

„Ja, das weiß ich sehr wohl, Miss Finney.“

Claire fielen fast die Augen aus dem Kopf, als sie ihren Rektor so sah. Egal wie ungebührlich Iron sich in der Vergangenheit ihm gegenüber verhalten hatte, diese Reaktion seinerseits war mehr als unangebracht. Dies schien er nun auch zu bemerken und setzte eine strenge Miene auf.

„Sie gehen jetzt besser, Miss Finney. Ich vergesse Ihren kleinen Zwischenfall heute, wenn Sie unser jetziges Gespräch vergessen.“

„Aber natürlich“, meinte Claire lächelnd und verließ das Büro.

Der Mann glaubte wohl auch noch, dass der Weihnachtsmann wirklich existierte.

 

Als die beiden am Nachmittag wieder gemeinsam bei Claire zuhause waren, diskutierten sie und Eric angeregt darüber, was Mr Stakers Verhalten zu bedeuten hatte.

„Er scheint mir wenig beherrscht zu sein und ich finde, das passt zur Tat“, meinte Claire, ohne von der Karotte, die sie gerade schälte, aufzusehen.

„Als du sagtest, ich könne bei dir essen, dachte ich nicht, dass du ein halbes Jahrhundert für die Zubereitung benötigen würdest!“, jammerte Eric und Claire wandte sich ihm seufzend zu.

„Ich möchte nun mal nichts essen, das dreckig ist.“

„Können wir nicht einfach eine Pizza bestellen?“, fragte Eric hoffnungsvoll.

Claire schüttelte energisch den Kopf.

„Ich kann doch nichts essen, was jemand vollkommen fremdes zubereitet hat! Wer weiß, ob er Handschuhe getragen hat!“

„Kann ich dir dann wenigstens mit etwas helfen?“

„Mir wäre es wirklich lieber, wenn du einfach sitzen bleibst und mit mir beredest, wie es jetzt weitergehen soll, denn ich glaube kaum, dass wir mit unserer bisherigen Taktik Erfolg haben werden.“

„Es sind einfach zu viele Verdächtige“, meinte Eric hoffnungslos.

„Du findest sechs zu viel?“, fragte Claire spöttisch.

„Nun, alle haben ein Motiv, da musst du schon zugeben, dass fünf reichen, damit es unübersichtlich wird.“

„Wenn man unordentlich ist vielleicht“, meinte Claire und gab die Karotten zusammen mit dem Lauch und den Pilzen in den Dampfgarer.

„Isst du kein Fleisch?“

Claire schüttelte den Kopf.

„Ich liebe den Geschmack von Fleisch, versteh mich nicht falsch, aber ich kann es einfach nicht essen.“

„Milchprodukte?“

Claire erschauderte und gab Eric damit seine Antwort.

„Also ernährst du dich vollkommen von Gemüse und Obst?“, fragte er ungläubig.

„Maßgeblich, ja. Ab und zu auch noch etwas Reis.“

„Hast du da nicht immer einen unglaublichen Hunger?“

„Schon, aber was soll ich machen?“

Claire zuckte ratlos mit den Schultern. Eine Weile herrschte Schweigen.

„Oh, ich hab ganz vergessen dir was zu erzählen!“, rief Eric aus und schlug sich mit der Hand vor die Stirn, „Mr Bennett ist gar nicht krank, er wurde festgenommen.“

„Und das fällt dir jetzt erst ein?“, fragte Claire ungläubig und fuhr sich genervt mit der Hand durchs Haar.

„Nun, ich weiß nicht, warum er festgenommen wurde.“

„Wäre aber schon wichtig, weil er auf der Liste steht!“

„Kannst du da nicht irgendjemanden anrufen?“, fragte Eric neugierig.

Claire verdrehte die Augen.

„Das sollte machbar sein.“

Claire nahm sich das Telefon und gab eine Nummer ein. Nach nur kurzem Klingeln wurde abgehoben.

„Colonel Ritter, Claire Finney hier. Wie geht es Ihnen?“

Erics Augen weiteten sich vor Erstaunen. Claire kannte die Nummer des Colonels auswendig! Warum hatte sie ihn nicht früher angerufen?

Claire lachte.

„Das ist schön zu hören, mir geht es auch ausgezeichnet, danke. Natürlich würden mein Vater und ich gerne kommenden Sonntag mit Ihnen Golf spielen, es ist schon viel zu lange her, dass wir einen richtigen Golfpartner hatten.“

Es herrschte kurz Stille.

„Sieben Uhr hört sich gut an, ich werde es meinem Vater ausrichten. Ach, ich habe gehört, dass ein Lehrer meiner Schule, Mr Bennett, inhaftiert wurde und wollte fragen, ob ich meinen Vater deswegen behelligen sollte.“

Wieder herrschte kurz Schweigen, dann nickte Claire.

„Natürlich warte ich einen Moment.“

Sie hielt die Hand über die Unterseite des Telefons.

„Er lässt sich von den zuständigen Detectives ins Bild setzen“, meinte Claire an Eric gewandt.

Es dauerte mehrere Minuten, bis Claire wieder etwas am anderen Ende der Leitung hörte.

„Ja?“, meinte sie schließlich.

Dann folgte ein längerer Monolog des Colonels.

„Ich verstehe, vielen Dank. Dann bis Sonntag Colonel und grüßen sie Ihre Frau von mir.“

Claire legte auf und Eric sah sie erwartungsvoll an.

„Und?“, fragte er ungeduldig.

„Mr Bennett wurde der Verführung einer minderjährigen Schülerin angeklagt. Er hat bereits gestanden eine Beziehung zu Tiffany Murray gehabt zu haben. Außerdem wird er deswegen verdächtigt auf Iron eingestochen zu haben.“

„Warum hast du den Polizeipräsidenten nicht früher angerufen?“

„Weil er jetzt auch in den Fall involviert ist und ich mir nicht sicher bin, ob das gut ist.“

„Du willst nicht, dass dein Vater davon erfährt“, begriff Eric.

„Anwälte hassen nichts mehr, als wenn ihre Klienten eigenmächtig versuchen sich Beweise zu verschaffen, weil die dann meistens vor Gericht nicht verwendet werden dürfen.“

„Warum hast du mir das ganze hier dann überhaupt vorgeschlagen?“, fragte Eric verwirrt.

„Das hab ich dir doch schon gesagt: Die Polizei wird diesen Fall nicht lösen können, weil an unserer Schule zu viele kleine, unbedeutende Geheimnisse gehütet werden. Als ob es die Polizisten interessierend würde wer von ihnen Schnapsflaschen und Gras zuhause im Schrank hat!“

„Aber das bringt uns doch alles nichts.“

Claire lächelte breit, was Eric einen Schauer über den Rücken jagte.

„Als Tochter eines Anwalts habe ich von klein auf gesehen, wie das Rechtssystem verbogen und verdreht wird, wie man es gerade braucht.“

„Was willst du damit sagen?“

„Dass im Gerichtssaal jeder mit gezinkten Karten spielt und wir da sicher keine Ausnahme machen werden.“

„Claire, manchmal bist du fast so gruselig wie Iron.“

„Danke.“

„Das war kein Kompliment.“

„Ich weiß.“

„Was machen wir jetzt also?“, kehrte Eric zum eigentlichen Thema zurück.

„Habe ich meinen kleinen Vortrag eben etwa umsonst gehalten?“, seufzte Claire.

„Ich dachte, du hättest dich damit auf die Verhandlung bezogen.“

„Auch, aber ich meinte damit ebenfalls, dass wir den Verdächtigen auch nicht die ganze Wahrheit sagen müssen, schließlich sind wir nur einfache Schüler.“

 

„Hey Aaron!“, rief Claire strahlend und winkte ihn über den Parkplatz zu sich.

Verwundert, aber erfreut kam er auf sie zu und wollte Claire umarmen, doch die wich geschickt aus.

„Du umarmst mich immer noch nicht?“, fragte Aaron und zog eine Schnute, woraufhin Claire lachte.

„Ich umarme niemanden Aaron, das weißt du doch.“

„Okay, was möchte denn die Königin unserer Schule von dem armen, unbedeutenden Captain der Baseball-Mannschaft?“

Claire lachte wieder und warf dabei ihr langes Haar über die Schulter. Aaron reagierte verzögert darauf, das war Claire zuvor nie aufgefallen.

„Ich wollte mit dir über das sprechen, was Iron letzte Woche beim Mittagessen erwähnt hatte.“

Aaron versteifte sich.

„Ich wüsste nicht, was es da zu besprechen gibt.“

Claire legte den Kopf schief und legte eine Hand ums Kinn.

„Hm.“

„Über was denkst du nach?“, fragte Aaron verwirrt.

„Darüber, dass Iron vielleicht Recht hat.“

Aaron wurde kalkweiß.

„Bitte Claire, wenn du auch noch damit anfängst, dann glauben die Leute es wirklich noch!“

„Ist es wegen deinem Dad?“

„Hör' auf mit der Scheiße!“

Langsam wurde Aaron richtig wütend.

„Oder würde deine Mummy einen Herzinfarkt bekommen?“

Aarons Hand schnellte vor, doch bevor er Claire schlagen konnte, riss ihm jemand am Kragen seines Hemdes zurück.

„Komm Aaron, lass uns zum Unterricht gehen“, meinte Eric und schleifte den deutlich schwächeren Aaron in Richtung Hauptgebäude.

Einen Moment war Claire noch wie erstarrt, dann gaben ihre Beine unter ihr nach und sie kniete sich auf den Asphalt des Parkplatzes. Zum ersten Mal seit Jahren berührte sie mit etwas anderem als ihren Schuhsohlen den Boden, doch im Moment zitterte Claire so am gesamten Körper, dass sie nicht wieder aufstehen konnte. Die erste Schulstunde war schon fast wieder vorbei, als Claire endlich die Kraft fand sich wieder aufzurichten. Dann zog sie ein Desinfektionstuch aus ihrer Tasche und reinigte ihre Knie, bis es zur zweiten Stunde klingelte und sie zurück zum Unterricht ging, als wäre nichts geschehen.

Als sie nach der Stunde das Englischzimmer verließ, wartete Eric schon davor. Sie warf einen schnellen Blick in die Runde, doch niemand schien sich gerade für sie zu interessieren, also trat Claire zu ihm hin.

„Wie geht es dir?“, fragte Eric und sah ihr besorgt in die Augen.

„Er hat mich überrascht, das ist alles“, meinte Claire mit einer wegwerfenden Handbewegung.

„Er hätte dich beinahe geschlagen Claire.“

„Betonung auf beinahe.“

Eric schüttelte den Kopf.

„Ich verstehe dich einfach nicht Claire, wieso liegt dir auf einmal so viel daran Iron zu helfen, dass dir sogar egal ist, dass einer der 'Coolen' nach dir schlägt, obwohl du ihre Königin bist? Was ist da passiert?“

Claire straffte sich und blickte Eric fest in die Augen.

„Ich bleibe niemals jemandem einen Gefallen schuldig.“

Teil 5 - Reden ist Silber... scheiß auf das Gold, ich habe Silber!

Wenn ich daran gedacht hatte mit jemandem oder etwas über eine Woche im Bett zu verbringen, dann war das eigentlich immer ein heißer Typ oder ein unerschöpflicher Eisbecher gewesen, nicht ein Schlauch, der in meinem Rachen steckte. Aber hey, ich hatte auch einen neuen besten Freund: die Infusionsnadel. Morphium war schon eine tolle Sache und ich würde es sicher vermissen, jetzt, da ich vollkommen auf drogenfreien Schmerzmitteln war. Das glaubte ich zumindest weil, als ich aufwachte, das High-Gefühl zum ersten Mal vollkommen verschwunden war. Leider spürte ich aber auch wieder einen stechenden Schmerz im Rücken, wenn ich mich bewegte. Als ich die Augen öffnete, sah ich, dass ich endlich einmal allein war. Das Feldbett, auf dem Dexter aus irgendeinem unerfindlichen Grund bestand zu schlafen, war leer. Wahrscheinlich vermisste er die unbequemen Betten der Kaserne.

Doch leider schien mir meine Ruhe nicht vergönnt, als ob ich das auch bräuchte, schließlich wurde ja bloß mit dem Messer auf mich eingestochen und ich wäre fast gestorben. Kein Grund Rücksicht auf mich zu nehmen.

Als ich Dylan hereinkommen und seinen komischen Gesichtsausdruck sah, war ich sofort alarmiert. Bisher hatte ich den nur einmal zuvor gesehen und da hatte ich dann diplomatisch sein müssen und hey, mit mir als Diplomat wäre jede Nation im Krieg.

„Hey Iron“, meinte er mit einem schiefen Lächeln und setzte sich an meine Bettkante, „ich hoffe dir geht es heute gut, obwohl wir die Schmerzmitteldosis drastisch reduziert haben.“

Aber klar, mir schien die Sonne aus dem Hintern. Was glaubte er denn?!

Mein Blick schien das auch deutlich zu machen und Dylan sprach schnell weiter.

„Warum ich eigentlich hier bin: Ich wollte dich fragen, ob dieser Dexter wirklich dein Verlobter ist.“

Das hatte mir gerade noch gefehlt, aber ich konnte auch nicht sagen, dass ich die Situation nicht hatte kommen sehen. Jetzt war ich wirklich froh um meine kleine Bettbeziehung zu dem Intubationsschlauch, also zog ich als Antwort nur spöttisch eine Augenbraue in die Höhe. Glaubte er wirklich ich hätte Dexter nicht schon auseinandergenommen, wenn er nicht mein Verlobter wäre? Dylan schien das endlich auch zu begreifen. Was für ein kluger Junge er doch war.

„Wieso hast du ihn nie erwähnt?“

Wieder ging meine Augenbraue in die Höhe, aber dieses Mal, weil die Antwort ohne Worte wirklich zu aufwändig gewesen wäre.

„Oh, natürlich“, meinte er verlegen und reichte mir die kleine 'magische Tafel', die sie mir aus der Kinderstation geholt hatten.

Verdammt.

In großen Lettern schrieb ich 'Wieso hätte ich es denn sagen sollen?' auf die Tafel und musste es mir echt verkneifen nicht einfach 'Das ist nicht deine Sache' zu schreiben. Gott war ich heute diplomatisch. Vielleicht schien mir ja wirklich die Sonne aus dem Hintern. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.

Dass Dylan trotzdem nichts darauf einfiel erleichterte mich ungemein, ich war wirklich nicht für solche Gespräche geschaffen worden. Gab's für so was nicht Therapeuten?

Als die Tür sich zu meiner Erlösung öffnete, kam ausgerechnet Dexter zurück. Er war anscheinend beim Duschen gewesen, denn seine Haare waren noch etwas feucht. Trotzdem trug er auch heute Uniform – er legte sie nicht gerne ab. Dexter war Soldat mit Leib und Seele, er liebte es mehr als alles andere. Wie allerdings jemand darauf stehen konnte im Dreck zu kriechen und von Vollhonks Befehle anzunehmen war mir schleierhaft. Ich würde nach dem ersten Tag fliegen.....wäre beinahe einen Versuch wert.

„Dr. Kendrick, guten Morgen“, begrüßte er Dylan und trat dann zu mir ans Bett.

Vorsichtig nahm er meine Hand in seine und drückte mir einen Kuss darauf.

„Und auch dir einen guten Morgen, Iron.“

Ich hasste es, wenn er das tat, diese offene Gefühlszurschaustellung. Okay, vielleicht hasste ich es nicht, aber das änderte nichts daran, dass ich kein Fan von öffentlichen Gefühlszurschaustellungen war, auch wenn Dexter die Person war, bei der es mich am wenigsten auf dieser Welt störte. Und solltet ihr das jemals irgendjemandem gegenüber erwähnen, dann bin ich diejenige, die euch ein Messer in den Rücken jagt.

„Was hab ihr denn geredet?“, fragte Dexter und las, was ich auf die Tafel geschrieben hatte.

Ich klärte den Bildschirm wieder und schrieb 'Dich' darauf. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Dylan rot wurde. Was hatte er erwartet, dass ich Dexter anlog? Bitte.

Doch Dexter lachte nur.

„Da hab ich wohl für einiges an Aufsehen hier gesorgt.“

Ich verdrehte die Augen, das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Dass er die Sache mit der Verlobung auch gleich hatte rausposaunen müssen. Mein Vater wäre beinahe aus den Latschen gekippt. Klar hatte ich Dexter ihm gegenüber schon erwähnt gehabt, auch, dass er sehr nett war (okay, da hätte es ihm eigentlich schon klar werden müssen), aber immer nur im Zusammenhang mit der kleinen Molly. Francis hingegen hatte nur mit den Schultern gezuckt und gefragt, ob ich in einer Kirche heiraten will. Ich konnte sie mit wirklich gar nichts mehr überraschen und sie war inzwischen auch vollkommen in die Planung der Feierlichkeiten vertieft. Dafür musste ich Dexter noch danken. Was die Navy wohl sagen würde, wenn seine Haare plötzlich neongrün wären?

„Übrigens waren dein Vater und Francis gestern noch einmal hier, als du schon geschlafen hast.“

Wie aufs Stichwort. Ich verdrehte die Augen.

„Fist hat sich mit der Idee anscheinend noch immer nicht ganz angefreundet, aber Francis hat die Maße für meinen Anzug genommen und hat meine Einwände ignoriert, dass ich in Uniform heiraten möchte.“

Sag ich doch: Militär-Freak.

Dylan wurde die Situation offensichtlich immer unangenehmer, doch Dexter merkte es nicht, wie immer, wenn er in eine Sache vertieft war.

„Und offensichtlich will sie auch die Trauung im kleinen Kreis nicht zulassen. Außerdem sind die Verhandlungen deiner Mutter beendet und sie hat sich für heute angekündigt.“

Wenn Dexter so weitermachte, würde er sicher bald eine ganz hervorragende Hausfrau abgeben. Es war wirklich lästig nicht in der Lage zu sein seine Meinung verbal zu äußern.

'Müssen wir das jetzt besprechen?' schrieb ich genervt auf meine Tafel.

„Wenn du nicht auf Francis' Traumhochzeit willst, dann sollten wir jetzt anfangen uns einzumischen.“

Okay, jetzt machte er mich wirklich Angst. Normalerweise war Francis eine Frau, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand, aber sobald das Thema auf Hochzeiten kam, wurde ihr Blick vollkommen verklärt und sie wurde zu einer säuselnden Tüll-Anbeterin. Und jetzt hatte sie eine Gelegenheit bekommen ihr krankes Hobby auszuleben.

Als Dexter meinen Gesichtsausdruck bemerkte, lachte er wieder und drückte mir einen weiteren Kuss auf die Hand. Was würde er wohl sagen, wenn ich ihm mit ebendieser Hand eine scheuern würde? Wahrscheinlich lachen, weil ich keine Kraft hatte wirklich zuzuschlagen. Man kotzte das an.

„Wir kriegen das schon hin und wenn nicht, können wir auch einfach durchbrennen.“

Zugegebenermaßen, das klang verlockend, allerdings zeigte das nicht gerade unseren Willen verantwortungsbewusst zu sein. Also schrieb ich einfach 'Molly' auf die Tafel.

„Stimmt, sie wird uns sicher keine Ruhe mehr lassen, wenn sie hört, dass sie die Chance hat ein Blumenmädchen zu sein.“

Nicht ganz das, was ich gemeint hatte, aber hey, nahe dran – gut, nicht wirklich, aber hey, sollte ich mir meinen zukünftigen Mann nicht ein wenig schönreden dürfen?

'Hast du es ihr schon gesagt?' schrieb ich.

„Ich dachte, wir sagen es ihr gemeinsam, wenn dir kein Schlauch mehr im Hals steckt“, meinte er neckend und ich hätte ihm die Zunge rausgestreckt, wenn es mir möglich gewesen wäre. Wobei?

Ich geb' es ja zu, manchmal treffe ich nicht gerade die klügsten Entscheidungen, aber ich hatte einfach den Punkt erreicht, wo ich es nicht mehr ertragen konnte immer Schweigen zu müssen. Ich würde auch gerne behaupten, dass es eine unbedachte Kurzschlussreaktion war, aber eigentlich hatte ich es schon eine ganze Weile vor. Gut, vielleicht war es Dexter und Dylan nicht ganz fair gegenüber, dass sie mir tatenlos zusehen mussten, aber ich kann nun mal nicht Rücksicht auf jeden nehmen, wo kämen wir dann denn bitteschön hin? Genau, an einen sehr sehr langweiligen Ort und wer will das schon?

Also packte ich mit meiner freien linken Hand den Intubationsschlauch und riss ihn mit einem einzigen Ruck aus meinem Hals. Während die beiden mich einfach fassungslos anstarrten atmete ich das erste Mal seit über einer Woche selbstständig ein. Ich musste zugeben, es ging nicht so leicht, wie ich es gewohnt war. Wahrscheinlich würde ich nicht einmal aus dem Bett aufstehen können, aber das musste ich ja allein auch nicht also war die ganze Sache mit meinem Gewissen abgeklärt.

Dylan löste sich als erster aus der Starre und drückte mich zurück in die Kissen.

„Was hast du dir nur dabei gedacht Iron!“, rief er panisch und begann mich hektisch zu untersuchen.

„Fickt...euch“, brachte ich schließlich mit rauer Stimme angestrengt hervor.

Man hörte ich mich fertig an. Und das mit dem Reden klappte auch noch nicht so, wie ich es mir vorstellte.

„Iron“, meldete sich nun auch Dexter zu Wort, „das ist eine der dümmsten Sachen, die du je getan hast.“

Überrascht blickte ich ihn an. Er sah auf einmal vollkommen fertig aus.

„Mach so was nie wieder, okay?“, meinte er und umfasste meine Hand fester.

Beklommen nickte ich. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Intubationsschlauch rausziehen böse – vermerkt.

„Dann hole ich mal besser Dr. Drescher“, seufzte Dylan und verschwand auf den Flur.

Meine bezaubernde Wortwahl hatten sie einfach ignoriert.

„Was war denn mit Dr. Kendrick los?“, fragte Dexter, während er geistesabwesend mit seinem Daumen über meinen Handrücken strich.

„Du....hast....ihn....verunsichert.“

Man kotzte das an, ich konnte keine zwei Worte hintereinander rausbringen.

„Wie das?“, fragte Dexter verwirrt und ich konnte mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen.

„Er....wollte mal“, yeah, ich hab's drauf, Strike, „mit....mir....ausgehen.“

Dexters Daumen stoppte auf meinem Handrücken. Jetzt würde ich endlich erfahren, wie er auf so etwas reagierte und zugegebenermaßen, es interessierte mich ziemlich.

Als Dexter anfing zu lachen, verstand ich die Welt nicht mehr. Was sollte das denn jetzt schon wieder bedeuten?!

„Was?“, fragte ich mit zusammengekniffenen Augen.

„Eigentlich heißt es ja, dass man mit Honig mehr Fliegen fängt, als mit Essig, aber in deinem Fall scheinen sie eine Ausnahme zu machen“, meinte er lachend.

„Noch....mehr....fängt....man....mit....Mist“, meinte ich augenverdrehend.

Lächelnd schüttelte Dexter den Kopf.

„Wie wäre es, wenn ich Molly hole? Sie vermisst dich wahnsinnig“, wechselte er das Thema.

„Gern“, ließ ich mich lächelnd darauf ein.

Dexter war einfach nicht der Typ Mensch, dem man lange böse sein konnte – manchmal hasste ich ihn dafür.

Als die kleine Molly in ihrem rosa Kleidchen und dem geblümten Kopftuch aufgeregt vor Dexter in mein Zimmer stürmte, breitete ich freudig meine Arme aus und sie hüpfte förmlich in meine Umarmung, sodass ich für einen Moment keine Luft bekam.

„Vorsichtig Molly!“, rief Dexter besorgt und die Kleine lockerte ihre dünnen Ärmchen augenblicklich.

„Tut mir Leid Iron“, meinte sie geknickt und ich lachte auf.

Was ich aber sofort wieder bereute, weil mir ein scharfer Schmerz in die Brust fuhr und ich keuchend nach Luft schnappte. Besorgt trat Dexter in den Gang und rief nach einer Schwester, die mit einer Sauerstoffflasche ins Zimmer kam und mir sogleich die Maske aufs Gesicht drückte. Endlich bekam ich wieder genügend Luft und mein Körper begann sich zu entspannen, während ich mir weiter die Maske aufs Gesicht drückte.

„Iron, was hast du dir nur dabei gedacht?“, meinte Becky aufgebracht.

„Dass...den....Mund....halten....nichts....für....mich....ist“, antwortete ich trotzig mit der Maske vor den Mund gepresst.

Becky verdrehte die Augen und murmelte vor sich hin, während sie den Sauerstoffanschluss an die Wand verlegte.

„Ach übrigens“, wandte sie sich wieder in voller Lautstärke an mich, „Dr. Dreschers Dienst beginnt in einer Stunde, mach dich schon mal auf seine Standpauke gefasst.“

Dann verschwand Becky auch schon wieder aus dem Krankenzimmer. Eingebildete Zicke – aber leider eine ausgezeichnete Krankenschwester.

„Iron“, begann Molly und machte es sich neben mir auf dem Bett bequem, „wann kannst du wieder zu uns vorlesen kommen? Die anderen vermissen dich auch schon ganz doll.“

„Ach....Süße“, meinte ich lächelnd.

Kinder wie Molly waren der Grund, warum ich gerne im Krankenhaus vorlas. Sie spannen noch keine Intrigen oder hatten andere ekelhafte Anwandlungen; zumindest im Durchschnitt weniger als bei den Erwachsenen. Außerdem waren sie wegen ihrer Krankheit geistig schon sehr weit, was bedeutete, dass sie auch keine von den grässlichen Kleinkindangewohnheiten mehr hatten. Ja, es war schwer es mir als Mensch recht zu machen, aber hey, wer keine Ansprüche hat, der bekommt auch genau das, was er erwartet: nämlich das Letzte vom letzten.

„Iron muss jetzt erst einmal wieder selbst gesund werden“, meinte Dexter und strich Molly liebevoll über den Kopf.

Mir kam ein Gedanke und ich warf ihm einen fragenden Blick zu. Dexter schüttelte den Kopf.

„Molly“, begann ich und die Kleine sah mich erwartungsvoll an, „wie....würde....es....dir gefallen....wenn du....auf....meiner....Hochzeit....Blumenmädchen....sein würdest?“

Mollys Augen wurden groß und ihre Kinnlade klappte nach unten. Dann begannen ihre Augen zu leuchten.

„Au ja“, quiekte sie aufgeregt und hüpfte beinahe auf dem Bett auf und ab.

„Darf ich ein rosa Kleid tragen?“, fragte Molly, als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.

„Aber....natürlich....meine Kleine“, meinte ich lächelnd.

„Wen heiratest du eigentlich?“

Jetzt war der Moment gekommen, mal schauen, wo sich Molly auf der Reaktionsskala einordnete. Sie brachte auf jeden Fall einen interessanten Aspekt in die Testgruppe *hust*. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich niemandem davon erzählt, bis es offiziell war, aber dann waren ja das Messer und Dexters große Klappe dazwischengekommen. Von wegen, wenn man einen Mann aus der Armee heiratete, dann war der nie da – der ließ einen gar nicht mehr in Ruhe.

Aber zurück zum Thema. Anstelle einer Antwort nicke ich einfach in die Richtung meines 24h-um-mich-Soldaten.

Es dauerte einen Moment, dann begann Molly wieder freudig zu quietschen.

„Iron und Dex, Iron und Dex, Iron und Dex“, begann sie in einer Tonlage vor sich hin zu quietschen, die an der Obergrenze des Hörbereiches lag und mir das Gefühl gab, als ob ich gleich meinen Gehörsinn verlieren würde.

„Molly“, ermahnte Dexter seine Schwester mit einem nachsichtigen Lächeln.

„Warum hast du es mir erst jetzt gesagt?“, jammerte Molly an ihn gewandt.

„Weil wir noch nicht verlobt waren, als ich das letzte Mal hier war Molly.“

Nachdenklich legte sie den Kopf schief.

„Aber was sagt denn Aubrey dazu?“

Auf einen Schlag wich Dexter das Lächeln aus dem Gesicht und er wurde kalkweiß.

„Aubrey?“, fragte ich ihn mit hochgezogener Augenbraue, doch es war Molly, die in ihrer kindlichen Unschuld meine Frage einfach beantwortete.

„Dexters erste Frau.“

Einen kurzen Moment war ich fassungslos, dann lachte ich kurz freudlos auf und entzog ihm meine Hand. Hatte mich das Karma mal wieder in den Allerwertesten gebissen. Von nun an würde ich mein Schließfach nicht mehr mit dem Baseballschläger öffnen, wenn ich meine Kombination für das Schloss vergessen hatte, sondern einfach den Hausmeister rufen, wie jeder andere auch. Obwohl es echt Spaß gemacht hatte, na ja, man musste nun mal Opfer für das eigene Glück bringen. Aber für den Moment war jede gute Tat leider schon zu spät.

Einen Moment überlegte ich, ob ich wütend werden sollte, aber die arme Molly hatte schon Krebs, sie sollte nicht auch noch einen Herzinfarkt erleiden.

„Süße....geh....doch....mit den....anderen....spielen.“

Mit der kurzen Aufmerksamkeitsspanne eines Kindes hatte sie ihren vorigen Kommentar schon wieder vergessen und hüpfte – und das meine ich wortwörtlich, das musste an der Chemo liegen, anders konnte ich es mir nicht erklären – lachend aus dem Zimmer. Woher Molly dazu die Kraft nahm war mir ein Rätsel, schließlich konnte ich nicht mal aufstehen. Komische Welt, wo ich auf ein krebskrankes Kind eifersüchtig war, aber zurück zum eigentlichen Thema. Jetzt, da keine Minderjährigen mehr im Raum waren konnte ich mein wahres Naturell wieder voll zur Schau stellen und ausleben.

„Polygamie....ist....in....Amerika....verboten“, giftete ich, kaum dass die Tür geschlossen war.

„Aubrey und ich sind schon lange nicht mehr verheiratet“, meinte Dexter mit gesenktem Kopf.

Das ich nicht lache.

„Du....bist....einund....zwanzig....da ist....nichts....lange....her!“

Der glaubte doch wohl nicht ernsthaft, dass er mich hier auf den Arm nehmen konnte?! Die Hochzeit war zwar eigentlich nur Molly zuliebe, aber ich hatte Dexter von Anfang an klar gemacht, dass ich völlige Ehrlichkeit erwartete – mit Lügnern konnte ich nichts anfangen, nicht einmal in einer Scheinehe.

„Warum....hast du....gelogen?“, fragte ich ruhiger.

„Ich hatte Angst, dass du Molly und mir nicht mehr helfen würdest, wenn du die Wahrheit wüsstest“, meinte er mit hohler Stimme und blickte mir endlich in die Augen.

„Du....lässt....nichts....aus“, forderte ich Dexter auf mir alles zu erzählen.

„Aubrey war meine High-School-Freundin. Wir waren beide siebzehn, als sie schwanger wurde. Wir entschlossen uns das Kind zu behalten und ich setzte alles daran die Schule so schnell wie möglich zu beenden, damit ich für unsere kleine Familie sorgen konnte. Wir mussten unsere Eltern ziemlich bearbeiten, doch schließlich erlaubten sie uns trotz unseres jungen Alters zu heiraten. Mit ihrer Unterstützung zogen wir auch zusammen, als Aubrey im fünften Monat war. Doch kurz darauf machte ich vorzeitig meinen Abschluss und ging zur Navy. Zwei Monate später durfte ich dann das erste Mal übers Wochenende nach Hause. Ich hatte kaum Gelegenheit gehabt mich bei Aubrey zu melden, deshalb hatte ich mich schon so sehr darauf gefreut sie wiederzusehen. Nur leider war Aubrey mit der Zeit alleine nicht so gut klargekommen. Schon als ich unsere kleine Wohnung betrat, wusste ich, dass etwas nicht stimmte, denn es war extrem unordentlich und schmutzig überall und das war eigentlich gar nicht ihre Art. Ängstlich hab ich mich auf die Suche nach ihr gemacht und sie schließlich auf dem Badezimmerfußboden gefunden, aus der Einstichwunde der Spritze am Arm floss noch etwas Blut, Aubrey selbst war vollkommen weggetreten. Ich verständigte einen Krankenwagen und im Krankenhaus wurde sie erst einmal entgiftet. Die Ärzte meinten zu mir, dass sie den Einstichen nach zu schließen schon kurz nachdem ich fort war mit dem Heroin angefangen haben musste. Angesichts der Umstände wurde beschlossen, dass das Baby, ein kleines Mädchen, sofort geholt werden sollte. Aubrey war so auf turkey, dass ihr alles Recht war, um unter Medikamentenfluss zu kommen und wenn es auch ein Kaiserschnitt war. Da mein Zerstörer auslief konnte ich nicht bei der Geburt dabei sein, aber Aubreys Eltern meinten, sie würden bei ihr bleiben und ihr mit dem Entzug helfen. Ein halbes Jahr später kam ich endlich zurück. Ich hatte keine Briefe bekommen und wusste deshalb nicht, was mich erwartete. Aubrey war wieder clean geworden und mit unserer wegen ihres Drogenkonsums schwerkranken Tochter einfach abgehauen. Ich habe versucht sie zu finden, aber es war erfolglos. Letztes Jahr habe ich unsere Ehe dann von der Kirche annullieren lassen, um mit der Sache endgültig abzuschließen.“

Der Kerl war doch einfach nicht zu fassen.

„Wie....konntest....du nur..“

„Ich weiß, dass ich es dir hätte sagen müssen....“

Schön zu erfahren, dass ich einen vollkommenen Trottel heiratete.

„Nicht....das....“, unterbrach ich ihn, „wie....konntest....du....nur....die Suche....nach....deiner....Tochter....aufgeben!“

„Du bist nicht sauer?“, fragte Dexter perplex.

„Klar....bin ich....das....aber....das....später.“

Ich hatte schließlich noch viel Zeit mich deswegen aufzuregen und das sparte ich mir doch lieber für eine Zeit auf, bei der ich ihn auch wirklich dafür anbrüllen konnte.

„Wie....heißt....deine....Tochter?“

„Als ich das letzte Mal mit Aubrey sprach, wollten wir sie noch Nadjeschda nach Aubreys Mutter nennen, aber ob sie es wirklich getan hat weiß ich nicht.“

„Russin?“, fragte ich mit hochgezogener Augenbraue.

„Ihre Mutter. Ihr Vater kommt hier aus der Gegend.“

Dafür, dass den Russen so viel Disziplin nachgesagt wurde, war Aubrey aber ziemlich schnell eingeknickt. Tja, Amerika bekam sie halt alle klein. Das ist hundertprozentige Chancengleichheit.

Dass sie einfach mit Dexters Kind abgehauen war, fand ich allerdings auch ziemlich verantwortungslos von ihr. Doch Dank – auch wenn man sich eigentlich nicht darüber freuen sollte aber hey, wenn es mir nutzte – ihrer Drogensucht würde sie wahrscheinlich die Vereinigten Staaten nicht verlassen haben, schließlich kam man hier so schön leicht an den gewünschten Stoff.

Aber jetzt wollte ich mich erst mal wieder auf die momentan doch etwas wichtigere Tatsache, dass ich mich vielleicht langsam auf die Suche nach meinem Attentäter begeben sollte, widmen. Schließlich hatte ich da noch eine Rechnung zu begleichen. Wie heißt es doch so schön? Auge um Auge, Zahn um Zahn.

„Iron, was denkst du?“, fragte Dexter vorsichtig.

„Dass....du....ein....verlogener....Arsch bist....mit....dem....ich....den Rest....meines....Lebens....verbringen muss.“

Er lächelte schwach, kannte mich aber gut genug um nicht zu antworten.

„Haben....die Idioten....von....der....Polizei....noch immer....keine....Ahnung....wer....es....war?“

„Nicht die geringste, sie tappen völlig im Dunkeln, wie ich das mitbekomme.“

„Unfähig“, schnaubte ich entnervt.

Konnte unser Freund und Helfer denn wirklich gar nichts außer brav ihre Marken zeigen wie einigermaßen gut dressierte Hunde? Apropos, wo war denn mein nerviger Kläffer? Wahrscheinlich sich die Wunden lecken, weil sein armes Ego so schwer darunter litt, dass er meinen Angreifer noch nicht gefunden hatte. War aber auch wirklich peinlich.

Erinnerte ich mich eigentlich noch an etwas Bestimmtes? Nun, die Person hatte es geschafft mich auf den Boden zu werfen, also wären da Claire und Tiffany eigentlich schon raus, denn mal ehrlich, mit ihren Klappergestellen von Körpern konnten sie bei mir nicht viel mehr auslösen als ein feiner Luftzug. Wahrscheinlich hätte ich da nur das Piksen ihrer spitzen Ellenbogen gespürt.

Da ich ja vorbildlich zu Boden geworfen wurde, war Leo als Footballer mein persönlicher Favorit. Wobei? Hatte Mr Bitterman nicht einmal erzählt, das Mr Bennett und er zusammen auf dem College Football gespielt hatten? Also waren da schon zwei, die diese Technik perfekt beherrschten. Und der Rest meiner Verdächtigen? Nun, sie hatten zumindest alle mehr Körpermasse als ich und jeder, wirklich jede männliche Person auf der Liste, war entweder aktiver oder ehemaliger Sportler, denn jeder wusste, dass wenn Mr Staker nicht das Lacrosse-Team aus persönlicher Vorliebe bevorzugt mit Schulgeldern fördern würde, es gar nicht mehr existieren würde. Hier in der Gegend war es einfach ein zu unbeliebter Sport.

Ich persönlich favorisiere ja Rugby – Football ist für mich die Mädchenversion davon. Aber leider hatte ich auf den Genuss selbst zu spielen zugunsten eines lückenlosen Lächelns verzichtet. Und zugegebenermaßen, ich stand auch nicht so auf Knochenbrüche und gerissene Bänder – zumindest bei mir selbst. Hey, ich bin die Tochter eines Profiboxers.

Die Tür öffnete sich und ein Mann trat ein, der den Türrahmen vollkommen ausfüllte. Er hatte einen 'Get-Well'-Teddybär in der Hand, was völlig grotesk aussah, und meine Augen weiteten sich vor Überraschung, als ich ihn erkannte.

„Dragon!“, rief ich fröhlich aus und der schon etwas in die Jahre gekommene Material-Arts-Kämpfer kam lächelnd auf mich zu und schloss mich vorsichtig in die Arme.

„Kleine Iron, du siehst ja furchtbar aus!“, meinte Dragon, als er mich von Oben bis Unten musterte.

„Alles....halb so....wild.“

„Himmel, du hörst dich an, als hättest du 40 Jahre Kette geraucht!“

„Was....denkst....du....wo dein....Vorrat....hin....ist.“

Dragon lachte.

„Ja, ich erinnere mich noch sehr genau, als du ganze zwei Stangen die Toilette hinunter gespült hast, als dein Vater und du mich zu diesem Kampf in Japan begleitet habt. Man war ich da sauer, schließlich war das mein ganzer Vorrat und du weißt, wie ich japanische Zigaretten gehasst hab.“

Ja, daran erinnerte ich mich nur noch zu gut. Ich war stolze vier Jahre alt gewesen und als Dragon nicht auf mich gehört hatte, als ich sagte er müsse aufhören, hatte ich einfach auf meine Worte Taten folgen lassen.

„Seit....dem....hast du....keine....einzige....mehr....angerührt.“

„Ja, und entgegen aller Quoten habe ich das Turnier auch noch gewonnen.“

„Nur....weil du....auf....Nikotinentzug....warst.“

Dragon lachte und wandte sich nun endlich Dexter zu.

„So, und wer bist du eigentlich, Junge?“

„Chief Petty Officer Dexter Gates, Sir.“

Dragon zog eine Augenbraue in die Höhe und lachte.

„Was ist das denn für einer?“, wandte er sich wieder an mich.

„Mein....Verlobter.“

Nun folgte Dragons zweite Augenbraue der ersten und er musterte Dexter mit scharfem Blick.

„Du bist also bei der Navy, Kleiner?“

Dexter nickte.

„Ja, Sir.“

„Na, wenigstens ist er kein vollkommener Schwächling“, meinte Dragon schulterzuckend wieder an mich gewandt.

„Danke“, meinte ich trocken und lächelte.

Was wohl gewesen wäre, wenn ich einen bleichen Informatiker mit Brille angeschleppt hätte? Wahrscheinlich wäre er bei dem ersten Blick von Dragon oder meinem Vater aus den Latschen gekippt und hätte geheult. Oder starr vor Angst, das gestehe ich meinem fiktiven Informatiker gerade noch zu.

„Und wieso erfahre ich das denn erst jetzt? War ich etwa kein guter Patenonkel?“

„Daddy....wusste....es....bis...vor kurzem....auch....noch....nicht.“

Dragon lachte.

„Dass ich das noch erleben darf, dass dein Vater etwas von dir nicht sofort gehört hat. Junge, du tust mir jetzt schon Leid, das ist nicht gerade der beste erste Eindruck.“

Dex hatte mir zwar nichts von seinem ersten Aufeinandertreffen mit meinem Vater erzählt, aber so wie ich meinen Daddy kannte, hatte er ihn die meiste Zeit kalt angestarrt und darauf gewartet, dass Dex sich bei ihm entschuldigte.

Oh Mann, wieso war ich da nicht dabei gewesen?! Mist.

Die Tür öffnete sich und ein wütender Dr. Drescher stürmte ins Krankenzimmer.

„Was sollte denn das schon wieder Iron! Hast du etwa den Verstand verloren?!“

Wenn ich jedes Mal einen Dollar bekommen würde, wenn das jemand zu mir sagte.

„Meine....Sache.“

Dr. Drescher verdrehte entnervt die Augen.

„Was erlauben Sie sich eigentlich“, schaltete sich Dragon in die Unterhaltung ein und richtete sich in seiner vollen Größe vor dem Arzt auf.

„Und wer sind Sie schon wieder?“, meinte Dr. Drescher unbeeindruckt.

„Dragon“, meinte der mit starrem Blick, „und wer sind Sie, dass sie so mit meiner Nichte sprechen?“

Dr. Drescher zog eine Augenbraue in die Höhe.

„Ihr behandelnder Arzt und Sie sicher nicht ihr Onkel.“

„Weil ich Afroamerikaner bin?!“, fragte Dragon mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme.

Wie bei den meisten Schwarzen seiner Generation reagierte Dragon extrem empfindlich auf das Thema Hautfarbe und er hatte es auch ehrlich schwer gehabt. Die Beginne seiner Karriere hatten hauptsächlich in Japan stattgefunden und die Wunden über seine anfängliche Ablehnung in Amerika saßen noch tief. Wenn Dr. Drescher nicht aufpasste, könnte sich mein lieber Patenonkel vergessen. Zwar war ich im Moment ziemlich angekotzt von dem Doc, aber Dragon deswegen auf ihn loszulassen wäre sogar für mich zu heftig; keine Minute würde er gegen meinen Patenonkel bestehen.

„Nein“, erwiderte Dr. Drescher überraschend ruhig, „weil weder Irons Vater, noch Mutter einen Bruder haben.“

Dragon starrte noch immer böse.

Am liebsten würde ich ja Bitch-Fight reinrufen, aber ich denke mal, das würde in dieser Situation nicht so gut für mich enden.

Und als wäre die Runde nicht schon kuschelig genug betrat eine mir nur allzu bekannte hochgewachsene Frau in einem grauen Kostüm und mit zu einem strengen Dutt zusammengefassten Haaren das Zimmer.

Mit nur einem einzigen Blick hatte meine Mutter die Szene in dem Raum analysiert und entschärfte sie in gewohnter Routine.

„Dragon mein Lieber, wie geht es denn Patricia?“

„Sie hält mich auf Trab“, meinte Dragon mit einem schiefen Lächeln und das Gespräch mit dem Doc schon wieder vergessen.

Zur kurzen Erklärung: Patricia war ewiglich neunundzwanzig, kannte niemanden besser als ihren Schönheitschirurgen und ihre Kreditkarte und liebte auch sonst jeglichen Luxus. Trotzdem vergötterte Dragon seine große High-School-Liebe noch genauso wie am ersten Tag. Man musste aber auch sagen, dass Patricia trotz ihrer vielen furchtbaren Angewohnheiten kein von Grund auf schlechter Mensch war – obwohl es ins Klischee passen würde. Warum? Nun, wenn ich mit dem Silberlöffel im Mund geboren worden war, dann war sie es mit dem Platinlöffel. Und jetzt müsse auch der dümmste Mensch erkannt haben, worin ihre gute Seite besteht. Wie, immer noch nicht?! Dann muss ich es wohl vorkauen: Weiße Lady aus gutem Hause und Schwarzer, der sich für seinen Lebensunterhalt verkloppen ließ. Jetzt kapiert? Gut.

Nach den Erzählungen von meinen Eltern – Patricia und Dragon sprachen nicht darüber – hatte der Vater von Patricia sie förmlich aus dem Haus gejagt, als sie verkündete, dass sie Dragon heiraten würde. Später bot er ihr alles Geld, das er hatte, damit sie zurückkam, doch Patricia hat nie auch nur darüber nachgedacht. Zum Thema Rückgrat war sie mein großes Vorbild.

„Iron, Schatz“, wandte sich meine Mutter nun warm lächelnd an mich, „dich kann man wirklich nicht alleine lassen.“

Ich verdrehte die Augen, doch wirklich genervt war ich nicht. Hey, ich sah meine Mutter nur alle paar Monate, das würde ich mir ganz sicher nicht mit schlechter Laune verderben.

Noch immer lächelnd setzte sich meine Mutter auf die Bettkante und wandte den Blick Dexter zu, der auf der anderen Seite des Bettes saß.

„Dann müssen Sie wohl mein zukünftiger Schwiegersohn sein.“

„Chief Petty Officer Dexter Gates, Ma'am.“

Mom war eine immer sympathische Frau – das hatte ich nicht von ihr geerbt. Mom war eine immer diplomatische Frau – hatte ich auch nicht aus dem Genpool abbekommen. Mom war eine immer beherrschte Frau – das wäre wirklich ein nützlicher Aspekt für meine Persönlichkeit gewesen, tja, Pech gehabt. Mom war eine immer gerissene Frau – das schreibe ich mir jetzt einfach mal zu sonst müsste ich zugeben, dass ich im Endeffekt keine der guten Eigenschaften meiner Mutter abbekommen hatte. Autsch, jetzt hatte ich mich selbst ziemlich erwischt.

„Typische Soldatenantwort. Du bist doch nicht schwanger Schätzchen?“

Oh, und ich sollte wohl noch erwähnen, dass sie keine zehn Sekunden brauchte, um den wunden Punkt eines Menschen zu finden. Dexter verzog zwar keine Miene, doch wurde etwas blass um die Nase.

„Mom!“, beschwerte ich mich mit rauer Stimme.

Die zuckte nicht einmal mit den Schultern.

„Ich finde, das ist eine berechtigte Frage, angesichts dieser deinem Vater und mir gegenüber so plötzlichen Eröffnung eurer Verlobung. Also?“

„Nein!“, meinte ich entsetzt.

Meine Mutter musterte mich immer noch.

Dr. Drescher räusperte sich im Hintergrund und endlich entkam ich ihrem Starren. Gott konnte das gruselig sein.

„Ja?“, fragte sie gelangweilt.

„Dr. Drescher mein Name, ich bin Irons behandelnder Arzt und kann Ihnen daher bestätigen, dass bei ihrer Einlieferung keine Schwangerschaft festgestellt wurde.“

„Siehst....du!“

„Na, dann müssen wir wenigstens bei der Wahl deines Hochzeitskleides nicht darauf achten, dass es sich am Bauch umnähen lässt.“

Super, jetzt beschäftigte sich auch noch meine Mom mit der Hochzeit! Interessierte sich denn niemand mehr für den Mordversuch?! Immer musste man alles selber machen.

„Das größere Problem wird allerdings die Gästeliste, denn so sehr du auch die Freunde und ehemaligen 'Arbeitskollegen' deines Vaters schätzt, ich will keinen von ihnen in Jeans und T-Shirt mit abgerissenen Ärmeln sehen. Das wird eine niveauvolle Hochzeit.“

Ich traute meinen Ohren nicht.

„Das....ist....dein....größtes....Problem?!“

„Sein wir doch mal ehrlich Schatz, bei deinem Verhalten war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand dir gegenüber die Contenance verliert und bei der Fülle von Verdächtigen würde es an ein Wunder grenzen, wenn wir den Verdächtigen fassen. Ich würde mich lieber auf die erfreulichen Dinge konzentrieren, wie deine Hochzeit zum Beispiel.“

Die Verbissenheit war noch so eine Sache, die ich eindeutig nicht von ihr geerbt hatte. Fassungslos starrte ich die Frau an, die sich meine Mutter schimpfte.

„Raus“, meinte ich mit gefährlich ruhiger Stimme, während der Rest der anwesenden meine Mutter noch immer überrascht ansah.

Unbeeindruckt wie immer erhob sie sich und verließ ohne ein weiteres Wort das Krankenzimmer. Inzwischen bebten meine Nasenflügel vor Wut. Gleich würde ich explodieren.

„Alle....raus.“

Einen Moment sah es so aus, als wolle Dexter sich weigern, doch dann erhob auch er sich und die drei Männer verließen das Zimmer.

Die plötzliche Stille, die mich umfing konnte meine innere Angespanntheit nicht lösen. Ich musste mich abreagieren – auf welche Art und Weise auch immer.

Kennt ihr auch solche Tage, an denen wirklich alles schief geht? Seit neuestem hatte ich nur noch solche Tage. Selbst provoziert? Niemals.

Als es an die Tür klopfte und Claire vorsichtig hereinkam, wusste ich, dass das kein gutes Ende nehmen würde.

„Hey Iron, wie geht es dir heute?“

„Gut“, meinte ich sarkastisch und Claire zuckte leicht zusammen, straffte sich aber sofort wieder.

„Das war wirklich eine dumme Frage.“

Gott, heute sah Claire noch mehr als sonst wie eine magersüchtige Barbiepuppe aus. Sie trug ein pinkes Wickelkleid, das lange blonde Haar war zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden und dazu bedeckten weiße Lederhandschuhe ihre Arme bis zur Mitte des Oberarms – Domina in Barbie-Style.

„Nicht....für....dich.“

Claires Kinnpartie verspannte sich. Sie gab sich wirklich Mühe nicht auf das arme schwerverletzte Mädchen loszugehen. Buhu, heul' doch.

„Ich bin eigentlich nur hier, um unser Gespräch von letztem Mal zu beenden.“

In ihrer Perfektion war Claire meiner Mutter ähnlicher als ich.

„Was....hast du....mir....denn....schon...zu sagen.“

Gezwungen lächelte Claire.

„Nun, anfangs habe ich mir mit Eric zusammen die Verdächtigen angesehen, inzwischen bin ich aber wieder allein....“

Ich lachte hustend auf.

„Was?“, zischte Claire beinahe.

„Nicht...einmal...der....Mensch....will...mit dir....arbeiten.“

„Das lag nicht an mir“, meinte Claire und musste sich sichtlich beherrschen.

„Klar.“

„Was soll das Iron?“

„Die....bessere....Frage....ist....was....dein....Verhalten....soll.“

„Wie bitte?!“, fragte Claire spitz.

„Du....bist so....scheinheilig“, ich musste heftig husten und es fühlte sich an, als stünde mein Hals in Flammen, „hör'....endlich....mit....dem....Theater auf....und....hau ab.“

„Du undankbares Miststück!“, rief Claire aufgebracht.

Ich schnaubte spöttisch. Das war ein großer Fehler, wie sich nur wenige Sekunden später herausstellen sollte. Ich sah genau den Moment, in dem bei Claire die Sicherungen durchbrannten. Unter anderen Umständen wäre sie kein Gegner für mich gewesen, aber Fakt war nun mal, das eine schwere Verletzung erst kurz hinter mir lag und ich nichts tun konnte, als Claires behandschuhte Hände meine Kehle umfassten und begannen zuzudrücken.

Ich schlug nach ihr, versuchte ihre Hände von meinem Hals zu bekommen, doch es war sinnlos. Während mir das Atmen immer schwerer fiel, dachte ich über die Absurdität dieser Situation nach. Anscheinend war ich besser als jeder Therapeut, denn ich hatte es wenigstens geschafft, dass Claire wieder Menschen anfasste. Ich begann röchelnd zu lachen, was Claire nur noch mehr in Rage brachte, doch ich konnte einfach nicht aufhören, bis bei mir endgültig die Lichter ausgingen.

Teil 6 - Man stirbt nur zweimal... oder eben dreimal

Sich mit einem der Krankenpfleger gutzustellen hatte sich als mehr als vorteilhaft erwiesen. Kaum hatte sich Iron den Schlauch aus dem Hals gezogen, hatte er Moore schon informiert. So schritt er keine Stunde später erneut die Flure des Krankenhauses entlang. Als er an der Cafeteria vorbeikam, sah er dort Gates, wie dieser mit einer streng wirkenden älteren Frau im Kostüm sprach. Trotz der feinen Fältchen um ihre Augen- und Mundwinkel herum waren ihre Züge wunderschön und selbst der kalte Ausdruck ihrer braunen Augen konnte dies nicht mindern.

Als ob sie seinen Blick gespürt hätte, hob sie den Kopf und sah Moore direkt in die Augen. Der eisige Schauer, den ihm dieser Blick über den Rücken jagte, machte für ihn klar, um wen es sich bei dieser Person handelte: Irons Mutter. Das Blut der Frauen dieser Familie war so kalt wie Eis.

Zum Glück blickte sie zurück zu ihrem Gesprächspartner und Moore war in der Lage seinen Weg fortzusetzen. Innerlich schalt er sich, dass er sich wie ein kleiner ängstlicher Junge verhalten hatte. Er war ein erwachsener Mann, ein Cop, und so sollte er sich gefälligst auch verhalten.

Etwas verwirrte es Moore auch, dass Gates nicht an Irons Seite war, die er doch sonst so ungern verließ. Ohne dass Moore wusste warum, beschleunigten sich seine Schritte. Eine innere Ahnung nagte an ihm, trieb ihn an, bis er schließlich durch die Flure rannte. Er kam sich bei der ganzen Aktion einfach dämlich vor, aber sein Verhalten verhindern konnte er auch nicht.

Als er die Tür zu Irons Krankenzimmer aufstieß, erstarrte Moore für einen Moment vor Schreck. Claire stand am Krankenbett und hatte sich über Iron gelehnt. Ihre in weiße Lederhandschuhe gehüllte Hände waren fest um Irons Hals geschlungen, der Ausdruck in ihren Augen in weite Ferne gerichtet. Irons linke Hand lag schlaff auf der Decke, das Mundstück der Sauerstoffflasche, das sie wahrscheinlich zuvor in der Hand gehalten hatte, war auf den Boden gefallen. Als Claire begann sie zu schütteln, klappte Irons Kopf widerstandslos vor und zurück, ihre Lider flackerten nicht einmal.

Mit zwei Sätzen war Moore bei ihr und riss Claire ohne Rücksicht an ihrem langen Haarzopf mit aller Kraft zurück. Sie schrie schmerzerfüllt auf und ihre Hände lösten sich von Irons Hals. Moore zog den Arm nach hinten durch und schleuderte Claire damit gegen die Wand. Einen kurzen Moment überraschte es ihn selbst, dann war er bei Iron und versuchte ihren Puls zu finden – erfolglos. Fluchend drückte er den Notfallknopf neben dem Kopfende und ein lauter Signalton ertönte. Im nächsten Augenblick kam auch schon das Notfallteam ins Zimmer und Moore wandte seine Aufmerksamkeit wieder Claire zu. Die war inzwischen aufgestanden und hielt sich benommen den Hinterkopf. Grob riss Moore ihr die Hände in den Rücken und legte ihr Handschellen an.

„Ich hätte mehr von Ihnen erwartet, Miss Finney“, meinte Moore distanziert.

Während er Claire ihre Rechte vortrug, hörte er im Hintergrund das Geräusch des Defibrillator. Doch Moore wollte nicht hören, wie es ausging, also schleifte er Claire hinter sich aus dem Raum. Auf dem Gang begegneten sie Gates. Nur ein kurzer Blick auf die beiden genügte, damit blanke Panik sich in Gates Züge fraß und nun er es war, der zu Irons Krankenzimmer stürmte.

Als Moore Claire auf den Rücksitz seines Dienstwagens stieß, sah er, dass dem Mädchen Tränen über die Wangen rannen, aber er konnte sich einfach nicht dazu aufraffen Mitleid für sie zu empfinden.

 

Verhör Nr. 18: Claire Finney

„Miss Finney, ich denke Sie müssen da einiges erklären.“

Doch Claire reagierte nicht auf die Worte des Detectives. Sie starrte durch ihn hindurch und wiegte sich ruckartig vor und zurück.

„Miss Finney“, wiederholte Detective Moore mit Nachdruck.

Claire schreckte aus ihren Gedanken auf und kam nun auch endlich psychisch im Verhörraum an.

„Ich....ich hab Sie gewürgt“, stotterte sie noch immer benommen.

„Warum haben Sie das getan, Miss Finney?“

„Und....und dann hat Sie aufgehört sich zu bewegen. Und ich hab einfach weiter zugedrückt“, stammelte Claire vor sich hin, schlang die Arme um ihren Körper und begann wieder sich zu wiegen.

Detective Moore musste wohl auf andere Verhörmethoden zurückgreifen. Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, sodass diese laut knallte und Claire erschrocken zusammenzuckte, ihm jedoch auch jetzt wirkliche Aufmerksamkeit schenkte.

„Warum?“, fragte Detective Moore erneut, dieses Mal aber mit einem bedrohlichen Unterton.

„Sie hat so böse Sachen gesagt. Ich wollte einfach, dass Sie aufhört.“

„Und Ihnen fiel da nichts Besseres ein, als Sie zu würgen?“, fragte er beinahe sarkastisch.

Dieser Satz schien Claire wieder vollkommen zurück in die Gegenwart zu bringen.

„Sie haben ja keine Ahnung, sie kennen Iron ja überhaupt nicht. Sie frisst sich mit ihren Worten in sie hinein, trifft immer den Punkt, der am meisten schmerzt und das beim ersten Anlauf. Es ist, als würde sie einen Fluch über einen aussprechen.“

„Und der kann nur mit dem Tod der Hexe beendet werden“, schloss der Detective den Gedankengang.

Einen Moment herrschte vollkommene Stille, die schwer in der Luft hing. Auch wenn Claire nichts sagte, so schrie ihr Schweigen die Bestätigung dieser Worte heraus. Ja, in dem Moment, in dem sie Iron gewürgt hatte, war genau das die Idee gewesen, die ihre Gedanken bestimmt hatte.

 

„Das hat mich wirklich überrascht“, meinte Hale erschöpft und lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück, „Das Mädchen ist einfach verrückt.“

„Ich würde dir nur zu gerne einfach zustimmen, aber bevor wir dafür sorgen, dass die Kleine in die Klapse wandert, sollten wir uns vielleicht mal über ihre Familiensituation informieren.“

Moore setzte sich direkt an seinen Computer, woraufhin Hale zu grinsen begann.

„Was?“, fragte Moore schließlich.

„Manchmal könnte man echt meinen, dass du hinter dem Mond lebst. Kennst du etwa nicht die Anwaltskanzlei Finney & Partner?“

„Du meinst die, die für den Freispruch des Mörders, den wir geschnappt hatten, gesorgt haben?“

„Ja, genau die. Die schlimmste Sorte von Anwälten. Leute, die für Geld alles tun.“

„Und da wundert sich noch jemand, dass so einer eine Tochter mit schweren psychischen Störungen bekommt.“

Hale sog scharf die Luft ein, lachte aber gleich darauf wieder.

„Es gibt wirklich nicht viele Dinge, die dich unfreundlich werden lassen, aber aus dieser Familie haben es sogar zwei geschafft. Das sollte ihnen zu denken geben.“

„Vielleicht werde auch ich einfach ungeduldiger.“

„Vielleicht“, meinte Hale schulterzuckend, „aber Mr Finney wird seine Tochter umgehend hier raus haben, da wird das leider nichts mit der Nervenheilanstalt.“

„Weißt du eigentlich auch etwas über ihre Mutter?“

„Nicht wirklich, aber was ich gehört habe, deutet darauf hin, dass sie eine Country-Club Mutti ist.“

„Dann müsste uns deine Frau doch genaueres darüber sagen können.“

„Ich kann sie fragen, ob sie sich morgen bei der Arbeit mal umhört.“

„Das wäre eine große Hilfe.“

Einen Moment herrschte Schweigen zwischen den beiden Männern.

„Glaubst du, dass Claire auch den ersten Mordversuch an Iron verübt hat?“, durchbrach Hale schließlich die Stille.

„Ich weiß überhaupt nichts mehr. Eigentlich hatten wir sie ja schon aus dem Kreis der Verdächtigen ausgeschlossen und spätestens nachdem wir ihr erzählt hatten, dass Iron ihr immer nur geholfen hat, dachte ich, dass sie ihr dankbar sein würde. Stattdessen springt sie ihr an die Kehle. Jetzt sehe ich keinen Grund mehr, warum sie es auch nicht beim ersten Mal gewesen sein sollte.“

Moore seufzte schwer.

„Wenn der Tatort doch nur keine High-School Toilette gewesen wäre, dann hätten wir wenigstens irgendwelche Spuren finden können.“

„Dass Iron frei von Spuren war spricht übrigens auch für Claire“, meinte Moore.

„Dass Iron die Bluse ausgezogen wurde gegen sie“, warf Hale ein, „das spricht meiner Meinung nach für einen männlichen Übergreifer.“

Es klopfte an der Tür. Verwundert blickten sich Hale und Moore an, sie erwarteten eigentlich niemanden. Da steckte Kimberly den Kopf zur Türe herein.

„Hey, was gibt’s denn Kimberly?“, fragte Moore erstaunt.

„Draußen sitzt ein ziemlich schnuckeliger Soldat für euch, Richi.“

Moore verdrehte über seinen Spitznamen die Augen.

„Du solltest die Uniformen eigentlich so weit kennen, um sagen zu können, dass er ein Marine ist, Kimberly.“

„Dann eben ein schnuckliger Marine“, meinte sie mit einem frechen Grinsen.

„Und vergeben“, warf Hale lachend ein, woraufhin Kimberly eine Schnute zog.

„Schick ihn bitte zu uns rein“, meinte Moore professionell.

Kimberly verdrehte lächelnd die Augen und verschwand aus dem Zimmer, kurz darauf trat Gates ein. Seine Haltung war perfekt, trotzdem wirkte er seltsam gebeugt, sein Gesicht durchzogen schwere Sorgenfalten, die ihn mindestens zehn Jahre älter aussehen ließen. Alles in allem schien ihn nur der steife Stoff seiner Uniform aufrecht zu halten.

„Chief Gates, was führt Sie zu uns?“, meinte Hale freundlich und bot dem jungen Mann einen Stuhl an.

Erschöpft ließ sich dieser darauf fallen und fuhr sich erst einmal mit der Hand übers Gesicht.

„Irons Gehirn war fast zehn Minuten sauerstoffunterversorgt, Sirs. Die Ärzte haben es zwar geschafft, dass ihr Herz wieder zu schlagen beginnt, doch Iron ist wieder ins Koma gefallen. Dieses Mal halten die Ärzte es wegen den Umständen für unwahrscheinlich, dass Iron wieder aufwacht und sollte sie es doch, so wären die geistigen Schäden immens.“

„Das tut uns sehr Leid“, brachte Hale schließlich hervor.

„Sie können doch nichts dafür, Sirs“, meinte Gates schwach lächelnd, „keiner hat das kommen sehen, bis auf Iron vielleicht. Aber sie war schon immer zu stolz, um bei solchen Gelegenheiten um Hilfe zu bitten.“

Gates kämpfte sichtlich mit den Tränen und brachte somit die beiden Detectives in eine Situation, mit der sie vollkommen überfordert waren. Weinende Soldaten waren nichts, was man jeden Tag erlebte.

„Und was machen Sie jetzt?“, fragte Moore schließlich um die drückende Stille endlich zu durchbrechen.

Wieder lächelte Gates schwach.

„Meine Vorgesetzten können mich nicht länger von meinem Dienst freisprechen Sirs, ich muss auf den Stützpunkt zurückkehren.“

Moore und Hale blickten sich überrascht an.

„Wann werden Sie aufbrechen?“

„Wenn ich ihr Büro verlasse, Sirs.“

Es bildete sich ein Ausdruck auf den Gesichtern der Detectives, der Gates freudlos auflachen ließ.

„Ich will sie jetzt nicht beleidigen Sirs, aber gerade stellen sie eine typische Zivilisteneinstellung zur Schau.“

Moore zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.

„Wie darf ich das jetzt verstehen?“

„Semper fi“, meinte Gates schlicht, erhob sich und verließ das Büro.

„Semper fi?“, fragte Hale schließlich.

„Das ist der Wahlspruch des Marine Corps: Semper fideles – für immer treu. Und so wie er das sagt meint er das nicht nur dem Marine Corps gegenüber.“

Hale schnaubte verächtlich.

„Der Junge ist einundzwanzig und redet von ewiger Treue.“

„Er ist verliebt“, meinte Moore schulterzuckend.

„Ich verstehe immer noch nicht, warum die beiden sich jetzt schon verlobt haben oder wie ihre Beziehung überhaupt funktioniert.“

„Du meinst, weil sie sich praktisch nie sehen?“

„Genau. Es ist ja nicht so, dass sie vorher lange zusammen waren und er erst dann weg musste, nein, die beiden kennen sich praktisch gar nicht!“

Moore lachte.

„Lass sie doch. Und überhaupt, die beiden scheinen sehr wohlüberlegte Menschen zu sein, ungeachtet ihres Alters.“

Plötzlich setzte sich Hale ruckartig auf.

„Was ist?“, fragte Moore verwirrt.

„Du hast Recht. Wohlüberlegende Menschen würden so etwas nicht machen, es sei denn sie hätten einen triftigen Grund für ihr Verhalten.“

„Wie zum Beispiel, dass sie sich lieben?“, meinte Moore spöttisch.

„Nein“, meinte Hale mit einer wegwerfenden Handbewegung, „ich meine ein richtiger Grund!“

„Wenn man Hufgetrappel hört denkt man an Pferde, nicht an Zebras. Deine Fantasie geht mal wieder mit dir durch Andrew.“

„Und du glaubst wirklich nicht, dass mehr dahinter steckt?“, fragte Hale geschlagen.

„Da bin ich mir ganz sicher.“

Hale lehnte sich in seinem Stuhl zurück und atmete geräuschvoll aus.

„Und was machen wir jetzt?“

„Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Wir könnten unsere Hauptverdächtigen noch einmal verhören, aber ich wüsste nicht, was das bringen soll.“

„Wir sind festgefahren, oder?“

Moore nickte.

„Dass wir nicht einmal diesen kleinen High-School-Fall aufklären können macht mich echt fertig.“

„Wem sagst du das“, meinte Hale verächtlich schnaubend, „der Gedanke, dass uns ein paar Teenager hinters Licht führen können ist einfach unglaublich.“

„Vielleicht sollten wir einfach noch einmal alles zusammenfassen, was wir herausgefunden haben.“

„Hört sich nach einem Plan an.“

„Okay“, meine Moore und atmete tief durch, „das Opfer ist die achtzehn-jährige Iron, Tochter der Boxlegende Iron Fist.“

„Der Überfall auf sie fand vor neun Tagen in der Private Lincoln-High-School auf der Männertoilette im zweiten Zwischengeschoss statt.“

„Verletzt wurde sie linksseitig im Rücken durch eine tiefe Stichwunde zwischen der vier und der fünften Rippe. Das Herz wurde nur knapp verfehlt, jedoch der linke Lungenflügel beschädigt, woraufhin die Lunge kollabierte.“

„Der Blutverlust führte außerdem zuerst zu Bewusstlosigkeit und anschließend kam es dann zu einem Herzstillstand. Die zur Szene gerufenen Sanitäter waren in der Lage sie zurückzuholen und zu stabilisieren. Im Krankenhaus wurde sie dann erfolgreich notoperiert.“

„Als erstes wurde Leo Piven, ein Football-Spieler, verdächtigt, den Iron durch einen Knock-Out gedemütigt hatte.“

„Als zweites der Rektor Peter Staker, dem gegenüber sie gesagt hat, dass sie in der echten Welt sein Boss ist.“

„Als drittes unsere liebe Claire Finney, die eigentlich ja schon aus dem Schneider war, sich aber unbedingt wieder in die Reihe der Verdächtigen zurückbegeben wollte.“

„Als viertes unser vermutlich schwuler Baseball-Spieler Aaron Jones mit dem Militär-Vater.“

„Als fünftes der als Tunte verschrienen Lacrosse-Spieler Johnny Cox – ist dir schon aufgefallen, dass sie fast jede Sportart an der Schule mit den Verdächtigen durch hat?“

Hale lachte auf.

„Stimmt, Iron diskriminiert wirklich niemanden mit ihren Sprüchen.“

„Und nicht zu vergessen sechs und sieben, unser unheilvolles Liebespärchen Philipp Bennett und Tiffany Murray.“

Einen Moment herrschte Schweigen.

„Wer ist bei dir oben auf der Liste?“, fragte Hale nachdenklich.

„Der Militärsohn und der Rektor.“

„Nicht Claire?“, fragte Hale überrascht.

Moore schüttelte den Kopf.

„Nein, ich denke nicht, dass sie so explodiert wäre, wenn sie ihren Ärger gegenüber Iron schon ein paar Tage früher rauslassen hätte können.“

„Klingt logisch.“

„Und wer ist es bei dir?“

„Der Lehrer und der Militärsohn.“

„Ja, der Militärsohn scheint mir auch der einzige unter den Jugendlichen zu sein, der so etwas für sich behalten könnte ohne aufzufliegen.“

Hale seufzte.

„Richard“, begann er schwer, „ohne weitere Anhaltspunkte müssen wir den Fall wohl oder übel zu den Akten legen.“

„Ich weiß Andrew“, meinte Moore zerknirscht, „ich weiß.“

Teil 7 - Nichts bleibt ewig verborgen

Als Eric den hochgewachsenen Soldaten am Spielfeldrand erblickte, wusste er, dass etwas nicht stimmte. Obwohl er sich nicht entscheiden konnte, ob er Dexter mochte oder nicht, so war ihm doch auch klar, dass er Irons Seite nicht ohne triftigen Grund verlassen hätte.

Mit einem Handzeichen gab Eric dem Coach zu verstehen, dass er sich entfernte, und ging zu Dexter. Er begrüßte ihn mit einem Nicken.

„Dexter, was führt dich zu mir?“

„Es gab einen erneuten Zwischenfall mit Iron.“

Eric versteifte sich. Davor hatte er sich schon gefürchtet.

„Was ist passiert?“

„Claire hat ihre Contenance verloren und Iron so lange stranguliert, bis sie ins Koma gefallen ist. Falls sie wieder aufwacht, wird sie definitiv bleibende Schäden davontragen.“

Eric schloss die Augen und atmete tief durch. Schon beim letzten Übergriff war Iron wie durch ein Wunder nichts geschehen. Ein zweites Mal würde sie nicht so viel Glück haben.

„Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich überrascht bin, dass ich das nicht habe kommen sehen...“

Dexter lächelte schwach.

„Jeder wusste, dass es eines Tages darauf herauskommen würde. Ich hatte nur gehofft, dass dieser Tag erst sehr viel später kommt.“

Dann sah Dexter Eric direkt in die Augen.

„Ich muss heute auf den Stützpunkt zurückkehren.“

„Du lässt sie also allein?“, fragte Eric mit hochgezogener Augenbraue.

„Ich habe auch noch andere Verantwortungen, die ich tragen muss“, meinte er schlicht, nickte Eric zu und ging einfach, was Eric nur noch wütender machte.

Er kochte immer noch, als er mittags in die Kantine ging und sich zu seinen Freunden setzte.

„Hey Eric, was ist denn los?“, fragte Ben, ein Mannschaftskamerad von Eric ihn.

„Iron geht es wieder schlechter“, meinte er erschöpft und ließ das Gesicht in seine Hände fallen.

Ben zog die Luft zwischen den Zähnen ein.

„Das tut mir Leid Mann. Ich dachte sie wäre über den Berg.“

„War sie auch“, meinte Eric mit einem freudlosen Lächeln, „bis jemand versucht hat sie wieder umzubringen.“

Ben wurde ganz blass und legte Eric tröstend eine Hand auf die Schulter.

„Das ist ja echt megaheftig. Ich weiß, wie viel dir Iron bedeutet.“

Eric sah ihn überrascht an und Ben lachte.

„Mann, selbst ein Blinder konnte sehen, wie verknallt du in sie warst und das von Anfang an. Ich versteh's zwar nicht, aber mich faucht sie ja auch immer nur an.“

„Du siehst das ganz falsch“, meinte Eric abweisend und Ben hob spöttisch eine Augenbraue.

„Iron ist verlobt“, ließ Eric die Bombe platzen und plötzlich wandten alle am Tisch ihm ihre überraschten bis entsetzten Gesichter zu.

„Nicht dein Ernst“, brachte Ben schließlich fassungslos hervor.

„Doch. Erinnert ihr euch noch an den Marine heute Morgen am Footballfeld?“

„Aber der sah doch vollkommen normal aus“, meinte Ben perplex und Eric verdrehte die Augen.

„Ich hätte euch das nicht erzählen sollen.“

„Sorry Mann, aber du bist von uns der Einzige, zu dem sie je nett war. Da fällt es einem einfach schwer sich so was wie einen Verlobten vorzustellen. Besonders, wenn man immer dachte, dass aus euch beiden Mal was wird. Die Sache mit Aaron damals hat ja überhaupt nicht geklappt.“

Eric fiel vor Schreck die Gabel aus der Hand. Ruckartig hob er den Blick von seinem Essen.

„Was?!“, fragte er entsetzt.

„Ich dachte du wüsstest es. Das war vor deiner Zeit, in der Middle School, als Iron noch normal war, waren Aaron und sie ne ganze Weile zusammen.“

„Warum hab ich noch nie was davon gehört?“, meinte Eric perplex.

Ben zuckte mit den Schultern.

„Ist von keinem der beiden gerade das Lieblingsthema und mal ehrlich Mann, wer will denn schon beiden auf den Zeiger gehen. Ich ganz bestimmt nicht.“

„Warum haben die beiden sich denn getrennt?“

„Das wüssten wir alle gerne. Den einen Tag haben die beiden noch aneinander geklebt und am nächsten haben sie plötzlich kein Wort mehr gesprochen. Aber jetzt nach dem was Iron so über Aaron ausgeplaudert hat, haben wir wohl die Antwort.“

„Hör auf Märchen zu erzählen, Ben“, meinte plötzlich eine kalte Stimme in Erics Rücken, „kommst du mal einen Moment mit Eric?“

Eric stand auf und die beiden liefen in den Flur, der zur Essenszeit immer beinahe leer war.

„Was ist?“, fragte Eric beklommen, als sich Aaron ihm wieder zugewandt hatte.

„Ich wollte dich darum bitten diese kleine Geschichte für dich zu behalten.“

„Warum?“

„Weil ich jetzt schon zu den Hauptverdächtigen zähle und diese Geschichte nun wirklich schon lange der Vergangenheit angehört. Nicht jeder alte Staub sollte aufgewirbelt werden.“

„Dann möchte ich nur noch eine Sache von dir wissen.“

„Du kannst fragen, aber ich kann dir keine Antwort versprechen.“

Eric überlegte einen Moment und nickte dann.

„Warum habt ihr euch so überstürzt getrennt?“

Aaron huschte ein kurzes, freudloses Lächeln über die Mundwinkel.

„Das hab ich für sie getan.“

Ich verstehe nicht....“, meinte Eric verwirrt.

„Was hast du denn vorher am Tisch über Iron erzählt?“, wechselte Aaron das Thema.

„Ich hab den anderen nur von ihrer Verlobung erzählt. Schon komisch, oder?“

Aarons Augen weiteten sich vor Überraschung.

„Damit hatte ich tatsächlich nicht gerechnet.“

Eric konnte seine Neugier nun doch nicht mehr unterdrücken.

„Hatte das etwas damit zu tun, dass du....du weißt schon“, druckste er herum.

„Ich bin nicht schwul“, meinte Aaron trocken.

„Aber....Iron lügt nie, das weiß jeder.“

„Das heißt aber nicht, dass sie sich nicht irren kann“, meinte Aaron, drehte sich auf dem Absatz um und ging.

Eric lehnte sich nachdenklich an einen Spind. Seiner Meinung nach hatte es Aaron viel zu sehr mitgenommen, dass Iron verlobt war und jetzt, da Eric wusste, dass die beiden mal ein Paar gewesen waren, hinterfragte er die Gerüchte um Aarons Sexualität noch einmal ernsthaft. Wenn er schwul gewesen wäre, wäre das definitiv ein Grund für eine plötzliche Trennung gewesen, aber irgendwie glaubte Eric Aaron, dass das nicht der Fall gewesen war. Dafür hatte ihn selbst nur die Erwähnung dieser alten Geschichte viel zu sehr entrückt. Nein, es musste mehr dahinter stecken. Wie er allerdings dahinter kommen sollte, wusste Eric selbst nicht.

Dieses Geheimnis um die Trennung der beiden ließ Eric den ganzen Tag nicht los, er musste es einfach wissen. In den letzten Tagen waren einfach viel zu viele Kerle aufgetaucht, die Iron so viel besser kannten als er und sie genau dafür liebten. Eric war sich so sicher gewesen, dass er der einzige war, der sie richtig verstand – so viel dazu. Und so endete der Tag damit, dass er vor Aarons Wohnungstür stand und darauf wartete, dass ihm jemand öffnete. Zu seiner Überraschung war es Aaron selbst.

„Was machst du denn hier, Eric?“

„Ich würde mich gerne für vorher entschuldigen. Und auch einfach ein bisschen reden.“

Einen Moment zögerte Aaron, bevor er zur Seite trat und Eric hereinbat. Sie setzten sich im Wohnzimmer auf ein Sofa und fast sofort erblickte Eric ein Foto von Aaron zusammen mit Iron. Es musste aus Middle School Zeiten stammen. Irons Haar war noch lang und zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengefasst. Aarons Haar war kurz geschoren. Er hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt, sie einen um seine Taille und die beiden lächelten strahlend in die Kamera. Aaron bemerkte seinen Blick und lächelte schwach.

„Meine Eltern waren wahrscheinlich am meisten enttäuscht von allen, als wir uns trennten. Sie mochten Iron gern und es vergeht kein Tag, an dem sie mich nicht nach ihr fragen.“

„Wie lange wart ihr denn zusammen?“

„Fast zwei Jahre.“

Eric stieß einen überraschten Pfiff aus.

„Das war aber ziemlich lange. Wie kann es nur sein, dass ich davon noch nie was gehört habe?“

„Wir hatten nicht gerade friedlich Schluss gemacht. Und niemand wollte zwischen die Fronten zwischen Iron und mir geraten. Wir wollten beide nicht an diese Beziehung erinnert werden.“

„Du hast gesagt du hättest für sie Schluss gemacht. Was soll das heißen?“

„Dass es das Beste war.“

Eric sah Aaron direkt in die Augen.

„Aaron, was war der Grund?“, fragte er nachdrücklich.

Kurz schien es, als blickte Aaron in weite Ferne und ein schmerzvoller Ausdruck zeigte sich auf seinem Gesicht, bevor er sich daran erinnerte, dass Eric ihm gegenüber saß.

„Wir waren Kinder. Liebe kommt, Liebe geht, so ist es nun einmal.“

Eric glaubte ihm nicht. Es musste einfach mehr dahinter stecken und irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass es auch etwas mit dem Übergriff auf Iron zu tun hatte.

Die Tür öffnete sich und eine Frau Ende vierzig in einem grünen Kleid und mit graumeliertem roten Haar betrat den Raum. Aaron sprang sofort auf und nahm sie lächelnd in den Arm.

„Mum, ich dachte du kommst erst heute Abend von Tante Liss zurück.“

Mrs Jones lachte herzlich und löste sich aus der Umarmung.

„Ach, ich war jetzt zwei Wochen bei ihr und ich hab dich vermisst. Wer ist unser Gast?“

„Eric Baldwin“, meinte Eric, nachdem er aufgesprungen war, und reichte Mrs Jones die Hand.

„Ein Schulfreund von dir, AJ?“, fragte sie an Aaron gewandt.

„Mum!“, meinte dieser peinlich berührt von dem Spitznamen.

Mrs Jones machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Stell dich nicht so an. Aber wenn wir schon von Schule reden, wie geht es eigentlich Iron? Hat sich in den letzten beiden Wochen etwas getan? Redet ihr endlich wieder miteinander? Ich würde sie ja gerne zum Essen zu uns einladen, aber dann müsst ihr endlich diesen lächerlichen Streit von damals klären. Worum ging es eigentlich dabei?“

Als Mrs Jones in die Gesichter der beiden Jungen sah, wusste sie, dass etwas nicht stimmte.

„Was?“, fragte sie mit atemloser Stimme.

„Reg' dich jetzt nicht auf, Mum“, meinte Aaron beruhigend.

„Was?“, fragte sie jetzt deutlich schärfer.

„Iron liegt im Krankenhaus.“

Mrs Jones ließ sich überrascht aufs Sofa fallen.

„Oh mein Gott, was ist denn passiert?“

„Jemand ist mit einem Messer auf Iron losgegangen.“

Mrs Jones schlug die Hände vor dem Mund zusammen.

„Wie geht es ihr?“

„Darüber weiß Eric wahrscheinlich besser Bescheid.“

„Du warst noch nicht bei ihr?!“, fragte Mrs Jones entsetzt.

„Mum, Iron und ich haben nichts mehr miteinander zu tun.“

„Und wessen Schuld ist das?!“, meinte Aarons Mutter aufgebracht, „Den einen Tag habt ihr euch noch blendend verstanden und von nächsten an habe ich sie nicht wiedergesehen. Ihr wart perfekt zusammen und ich bin mir sicher, dass es deine Schuld ist, dass meine zukünftige Schwiegertochter plötzlich nicht mehr vorbeikam!“

„Mum, wir waren noch Kinder, wie konntest du da schon an eine Hochzeit denken?“, meinte Aaron perplex.

„Ich bin eine Mutter, natürlich habe ich daran gedacht! Und ihr wart schließlich fast zwei Jahre zusammen und die ganze Zeit über verliebt wie am ersten Tag. Jeder Mutter Gedanken wären diesen Weg gegangen.“

„Jetzt ist es sowieso zu spät“, versuchte Aaron das Thema zu beenden, doch seine Mutter horchte dadurch auf.

„Was soll das denn heißen?“, fragte sie gefährlich ruhig.

„Iron ist verlobt“, ließ Aaron die Bombe platzen und einen Moment wirkte Mrs Jones, als würde sie einen Herzinfarkt bekommen.

„Mit wem?“, fragte sie atemlos, den Blick in weite Ferne gerichtet.

Aaron sah Eric an.

„Ein Soldat namens Dexter Gates“, antwortete er Aarons Mutter.

„Wir fahren ins Krankenhaus“, meinte Mrs Jones plötzlich und sprang auf.

„Mum, ich glaube nicht, dass das der richtige Zeitpunkt dafür ist.“

„Wenn es nach dir ginge, wäre nie der richtige Zeitpunkt dafür. Ich aber finde er ist so gut wie jeder andere, also keine Widerrede. Du kannst uns gerne begleiten, Eric.“

Und so trabten die beiden Jungen ergeben hinter Mrs Jones her und fuhren zum Krankenhaus. Dort angekommen führte Eric sie zum Krankenzimmer, welches Mrs Jones ohne zu zögern betrat. Auf dem Stuhl an Irons Bett, auf dem zuvor immer Dexter gesessen hatte, saß nun ihre Mutter.

„Isobel!“, rief Mrs Jones aus und schloss Irons Mutter in die Arme, „Es tut mir so leid, was passiert ist. Ich wäre früher gekommen, aber ich war Liss besuchen und mein Holzkopf von einem Sohn hat es nicht für nötig befunden mir etwas zu sagen.“

Mrs Carter erwiderte die Umarmung.

„Das macht doch nichts, Hauptsache du bist jetzt hier, Mary.“

Die beiden Frauen lösten sich voneinander.

„Wie geht es deiner Kleinen?“, fragte Mrs Jones, während sie Irons bleiche Gestalt auf dem Krankenbett betrachtete.

„Sie ist eine Kämpfernatur“, meinte Mrs Carter mit einem schwachen Lächeln, „aber es sieht nicht sonderlich gut aus. Der Arzt meint, sie wird bleibende Schäden haben und vielleicht nicht mehr die Person sein, die wir kennen, wenn sie aufwacht.“

Sie war den Tränen nahe und Mrs Jones schloss sie wieder in die Arme.

„Wenn es einer schafft, dann Iron“, versuchte sie Mrs Carter zu trösten, „Komm, wir holen dir einen Kaffee. Die Jungs bleiben solange bei ihr.“

Mrs Carter nickte schwach und die beiden Frauen verließen gemeinsam das Krankenzimmer. Eric warf einen Seitenblick auf Aaron. Dieser stand wie versteinert mitten im Raum und starrte einfach in Irons bleiches, ausgezehrtes Gesicht. Dann ging er plötzlich eilig auf Irons Bett zu, fiel direkt davor ergeben auf die Knie und zu Erics großer Überraschung ließ er sein Gesicht neben Irons Hand in die Laken fallen, in welches er seine eigenen Hände so fest krallte, dass seine Knöchel weiß hervortraten.

„Das ist falsch“, begann Aaron vor sich hinzumurmeln, „das ist falsch, das ist falsch, das ist falsch...“

„Was ist falsch?“, fragte Eric vorsichtig.

Aaron zögerte, jedoch genügte ein weiterer Blick auf Iron um seinen Widerstand brechen zu lassen.

„Ich glaube ich bin Schuld, dass Iron jetzt hier liegt“, flüsterte er kaum hörbar und Eric sog scharf die Luft ein.

„Wie kommst du denn darauf?“

Aaron nahm vorsichtig Irons Hand und hielt sie an seine Stirn, als könne sie ihm so Kraft geben, für das, was er gleich Eric sagen würde.

„Es gab einen Grund dafür, dass Iron und ich zusammengekommen sind und der hatte wenig mit pubertären Gefühlen zu tun“, meinte Aaron und tiefer, wahrscheinlich jahrelang verdrängter Schmerz lag in seiner Stimme, „Iron und ich waren das zweite und das dritte Middle School Jahr zusammen. Wir hatten davor eigentlich nichts miteinander zu tun. Damals, Mitte des ersten Middle School Jahres half Iron bei den Sportclubs aus, wo gerade Hilfe benötigt wurde. Eines Tages sollte sie einen Korb Bälle vom Feld räumen, schaffte es aber nicht allein und ging deshalb in die Umkleide, um jemanden zu suchen, der ihr dabei helfen könnte. Sie fand mich, wie ich zusammengekauert auf dem Boden der Dusche saß und einfach Wasser auf mich herunterlaufen ließ. Ich hatte sie nicht einmal wahrgenommen, bis sie sich einfach neben mich gesetzt und in den Arm genommen hatte. Wir saßen so da, bis es dunkel wurde und sie mir aufhalf. Ab diesem Tag kam sie jeden Nachmittag in die Umkleide und kümmerte sich um mich, wenn ich mich in diesem Zustand befand ohne jemals auch nur eine einzige Frage zu stellen. Ich bewunderte sie dafür, wie sie mir einfach so half und mit der Zeit wurde aus dieser Bewunderung Liebe.“

„Und was hat das mit dem Angriff auf Iron zu tun?“, fragte Eric, als Aaron nicht weitersprach.

„Ich denke sie hat herausgefunden, was damals passiert ist. Vor vier Jahren war sie schon einmal kurz davor, weshalb ich mit ihr Schluss machte. Ich hatte Angst vor dem, was Iron provozieren würde, wenn sie es herausfinden würde. Jetzt sind meine schlimmsten Befürchtungen wahr geworden.“

„Aaron“, fragte Eric mit zittriger Stimme, „was ist damals vorgefallen?“

Aaron lächelte schwach.

„Ist es nicht komisch, dass nur weil ich mich zu sehr geschämt habe es irgendjemandem zu erzählen Iron beinahe gestorben ist? Dabei weiß ich, dass es nicht meine Schuld war, dass es passiert ist.....und trotzdem.“

„Aaron?“, fragte Eric und endlich wandte Aaron ihm sein Gesicht zu.

Eric erschrak sich über den schmerzerfüllten Ausdruck darin.

„Coach Hunt und Mr Bitterman haben mich missbraucht.“

Es dauerte einen Moment, bis Eric die volle Tragweite dieser Information verstand.

„Mr Bitterman, unser Musiklehrer?“, fragte Eric überrascht und Aaron nickte.

„Er unterrichtet erst seit diesem Jahr hier. Vorher war er an meiner ehemaligen Middle School Musiklehrer.“

„Warum hast du nie jemandem davon erzählt?“, fragte Eric noch immer fassungslos.

Wieder lächelte Aaron schwach.

„Ich schäme mich einfach so deswegen und wenn ich es erzähle, werde ich immer der missbrauchte Junge sein. Ich würde keine Chance haben diesen Teil meines Lebens je hinter mir zu lassen. Man würde mich nicht vergessen lassen und glaub' mir, nichts wünsche ich mir sehnlicher. Außerdem würden meine Eltern daran zerbrechen. Auf lange Sicht würde die Wahrheit nur meine Familie zerstören und das möchte ich nicht. Ich möchte meinen Rückzugsort nicht verlieren.“

„Und die beiden sollen ungeschoren davonkommen?!“

Eric war fassungslos und Aarons Miene verhärtete sich an.

„Ich habe es dir doch gerade erklärt, ich kann einfach nicht.“

„Und die anderen Jungen, die die beiden noch in Zukunft missbrauchen werden? Willst du wirklich, dass noch mehr Kinder dasselbe durchmachen müssen wie du? Kannst du das mit dir vereinbaren?!“, schrie Eric beinahe.

Nun versteinerte Aarons Gesicht vollkommen und er ließ Irons Hand los.

„Wage es nicht über mich zu urteilen! Du hast keine Ahnung!“

Aaron verließ aufgebracht das Zimmer und ließ Eric allein zurück. Nachdenklich setzte er sich an Irons Bettrand. Eric hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte. Aaron würde nicht gegen die Lehrer aussagen und ohne Beweise brachte ihm diese Theorie nichts. Er könnte höchstens versuchen andere Opfer zu finden, aber er bezweifelte, dass sie kooperativer als Aaron waren, sonst hätte schon längst einer von ihnen etwas gesagt. Vielleicht sollte er doch die Hilfe der Polizei suchen.

Teil 8 - Der Lauscher an der Wand

Ich mochte es nicht, dieses komische Gefühl. Ich hörte alles um mich herum, aber ich war nicht dazu in der Lage auch nur einen Finger zu krümmen, ganz zu schweigen davon die Augen zu öffnen. Nicht einmal zu dieser einfachsten der einfachen Tätigkeiten in der Lage zu sein machte mich, gelinde gesagt, etwas wütend. Es war einfach so unglaublich frustrierend. Ach, was redete – dachte, wie auch immer – ich um den heißen Brei herum: Es war einfach nur beschissen. Ich meine, könntet ihr euch vorstellen nicht auf die Toilette gehen zu können? Das war momentan komischerweise mein einziger Wunsch.

Die Tür öffnete sich und rasche, zielstrebige Schritte betraten den Raum. Dann senkte sich das Bett zu meiner Rechten etwas ab und jemand ergriff vorsichtig meine Hand. Ich musste Dylan nicht sehen, um ihn zu erkennen. Es hatte auch seine Vorteile im Koma zu liegen, wenigstens konnte ich nicht mit ihm sprechen.

„Hey Iron“, meinte er und ich konnte das traurige Lächeln in seiner Stimme hören.

Das bedeutete einen langwierigen Vortrag und ich hatte keine Chance der Sache auszuweichen. Etwas oder jemand auf diesem Planeten musste mich auf unaussprechliche Weise hassen.

„In meiner Ausbildung meinte man zu uns, wir sollen den Angehörigen sagen mit den Komapatienten zu sprechen. Nicht weil sie es hören, sondern um mit deren Tod abschließen zu können. Ist das nicht verrückt?“

Kopfschuss. Jetzt. Sofort.

„Ich habe eigentlich nie besonders viel davon gehalten, aber jetzt… „

Dann lass es doch.

„Es gibt so viele Dinge, über die ich noch mit dir sprechen wollte.“

Und jetzt lieg ich im Koma, also lass mich in Ruhe.

„Ich meine, wir hatten uns doch gut verstanden, wir haben so viel Zeit miteinander verbracht und trotzdem hast du mir kaum etwas über dich verraten. Warum? Was sollte das? Hast du mir etwa nicht vertraut? Dachtest du ich würde die Zurückweisung nicht vertragen?“

Und wir haben einen Gewinner! Wo waren denn ruchlose Massenmörder, wenn man sie brauchte? Im Moment war es mir egal, wen von uns beiden er tötete. Ich wollte einfach nur meine Ruhe.

„Du hättest mir doch einfach sagen können, dass du verlobt bist. Du arbeitest hier ja nicht wirklich, es war also auch nichts Unethisches.“

Nein, wirklich?! Danke, dass du mir die nagenden Schuldgefühle wegen etwas genommen hast, von dem mir bereits von Anfang an klar gewesen war, dass es nicht falsch war.

„Ich habe ihn getroffen, aber das weißt du ja bereits, und ich muss leider zugeben, dass er ein netter Kerl zu sein scheint. Und es scheint auch, dass du ihm viel mehr erzählt hast. Trotzdem… ich bin immer noch der Meinung, dass wir besser zusammen gewesen wären. Ich weiß auch nicht, irgendwie habe ich immer geglaubt, dass es ewig so weiter gehen würde. Ich hier als Arzt, du als freiwillige Helferin auf der Kinderstation. Keinen einzigen Gedanken hab ich an dein Weggehen verschwendet, bis ich dich nach einem Date gefragt hatte und du meintest, dass es unsinnig wäre, weil du zum Studium fortgehst. Das… meine Welt ist für einen Moment in sich zusammengebrochen. So ungern ich das auch zugebe.“

Oh shit, jetzt bekam ich auch noch ein schlechtes Gewissen. Ich hätte ihn schon viel früher zurückweisen müssen, aber wer hätte auch ahnen können, dass es den Idioten gleich so sehr erwischt. Ich hatte nie auch nur eine Andeutung in diese Richtung unternommen.

„Ich hatte immer geglaubt du wärst am Glücklichsten hier, bei uns im Krankenhaus. Alle hier haben geglaubt wir wären gut zusammen, deshalb finde ich es gerade so unfassbar, dass du ihn hier kennengelernt hast, ausgerechnet hier. Hätte mir das nicht auffallen müssen?“

Oh Gott im Himmel, konnte ihn mal endlich jemand zum Schweigen bringen?! Das Gesülze konnte ja keiner ertragen, das brachte die Ohren zum Bluten!

„Aber es war ja auch Dr. Dreschers Station und nicht meine. Trotzdem, ich hätte es merken müssen.“

Er atmete tief durch. Was kam jetzt denn?

„Und jetzt, jetzt gehst du wahrscheinlich für immer, deine Werte sehen schlecht aus…“

Moment mal, was?!

„Und ich bin so selbstsüchtig, alles worüber ich traurig bin, ist die Tatsache, dass du nicht mehr bei mir sein wirst.“

Schön für ihn, aber ich würde doch gerne noch einmal auf die Tatsache zurückkommen, dass meine Werte so schlecht aussahen, denn bis auf die Bewegen-Tatsache fühlte ich mich eigentlich ziemlich gut. Sterben hatte für mich eigentlich noch nicht im Bild gestanden, also würde ich das verdammt noch einmal nicht tun!

„Dass ich nie wieder deine Stimme oder dein Lachen hören, dein Gesicht sehen kann. Ich habe nur das Gefühl, als würde man dich mir wegnehmen. Die Ironie an der ganzen Sache ist, dass mir das alles nicht einmal klar gewesen war, bis man versucht hat dich zu ermorden. Klar, ich wusste, dass ich dich sehr mag, aber jetzt…“

Sag es nicht, sag es nicht, sag es nicht.

„Jetzt bin ich mir sicher, dass ich dich liebe.“

Er hatte es doch gesagt. Und ich hatte es gehört. Jetzt konnte ich es nicht mehr verleugnen, wenn ich aufwachte, oder etwa doch? Die meisten Leute erinnerten sich ja an nichts mehr aus der Zeit, während sie im Koma gelegen hatten. Aber verdammt, ich war einfach nicht diese Art von Mensch. Scheiße. Warum hatte er es auch sagen müssen.

Ich spürte den sanften Druck seiner Lippen, als er mich auf die Stirn küsste.

„Bitte komm zu mir zurück. Bitte“, meinte er mit solch einem Nachdruck, solch einer Verzweiflung in der Stimme, dass er mir wieder leidtat.

Dann stand er auf und verließ das Zimmer wieder. Arschloch. Mir so einen Stress zu machen, als ob ich nicht schon genug Probleme hatte, ernsthaft! Ich hätte ja gerne gegrummelt, aber leider war auch das nicht möglich. Was sollte ich also den ganzen Tag bitteschön tun? Nicht einmal aus dem Fenster starren konnte ich! Dieses blöde Miststück Claire. Nicht einmal mich umzubringen hatte sie richtig hingekriegt.

Den Rest des Tages – zumindest glaubte ich, dass es der Rest des Tages war, aber ich hatte ja keine Möglichkeit mir sicher zu sein, wie denn auch – hatte ich meine Ruhe. Es kam nur zweimal eine Schwester, die Irgendetwas an einem der vielen Beutel tat, die an mir befestigt waren. Ich wollte gar nicht so genau wissen worum es sich dabei handelte. Irgendwann schlief ich dann glücklicherweise ein.

Mein Rhythmus musste total im Eimer sein, denn als ich aufwachte, war es verdammt still. Es war wahrscheinlich noch mitten in der Nacht. Dann hörte ich, wie sich jemand zu meiner Rechten zurechtsetzte. Einen Augenblick lang war ich verängstigt, bis mir klar wurde, dass jemand auf dem Stuhl neben meinem Bett saß. Die Person hörte sich groß und schwer, die Atemzüge tief an. Es war definitiv ein Mann und da es Nacht sein musste, schätzte ich, es war mein Vater. Das hatte er jetzt davon nur ein einziges Kind bekommen zu haben. Er saß im Krankenhaus und musste hoffen. Hoffen und warten. In keinem von beidem war Daddy besonders gut. Er war eher der Typ Mensch, der aufsprang und aktiv war. Und er war der einzige Mensch, der mich wirklich sentimental machen konnte. Ich wollte die Augen öffnen, ihm zeigen, dass es mir gut ging. Töricht, aber es war nun einmal so. Im Herzen war ich einfach Daddys kleines Mädchen und würde es wahrscheinlich auch immer sein. Aber ich hasste es traurig zu sein, das passte einfach nicht zu mir. Also verwendete ich all meine Kraft darauf wieder einzuschlafen.

Als ich wieder aufwachte, war die Atmosphäre im Zimmer schon ganz anders. Ich spürte warme Sonnenstrahlen auf meiner Haut und ich hörte, wie jemand im Zimmer auf und ab ging. Katzenartige Schritte, kaum hörbar. Und ich kannte nur zwei Kerle, die so liefen: Dex und Eric. Dex konnte es aber nicht sein, also blieb nur noch Eric. Noch so ein Besuch, auf den ich gerade im Moment wirklich keine Lust hatte. Die Schritte stoppten abrupt. Ich konnte beinahe spüren, wie er mich ansah. Dann sagte er nur ein einziges Wort:

„Warum?“, und klang dabei so anklagend, wie es nur möglich war, „Warum musstest du sie provozieren? Was kann sie dir denn in diesem Moment so schreckliches getan haben?“

Nett zu hören, dass er so überzeugt von meiner Schuld war. Dafür waren Freunde ja schließlich da, oder? Und dabei war egal, dass er im Recht war. Hier ging es ums Prinzip.

„Claire war auf deiner Seite. Warum hast du nicht einmal in deinem Leben einfach nur deine große Klappe halten können? Wenn schon nicht für dich, dann für deine Eltern!“

Okay, er war angepisst. Verständlich. Aber ich war doch etwas von Eric überrascht. Mir gefiel diese Seite an ihm. Es zeigte, dass sich mein guter – schlechter, was auch immer, das war Definitionssache – Einfluss auf ihn auch wirklich ausgezahlt hatte. Um ehrlich zu sein war ich stolz auf ihn, dass er endlich mal jemanden anschrie, wenn auch ein Mädchen im Koma nicht gerade eine große Herausforderung war, schließlich konnte ich keine Widerworte geben. Tja, ein kleiner Feigling würde er wohl immer bleiben.

„Ich habe dich immer verteidigt Iron, weil ich geglaubt hatte wir wären Freunde, aber da hab ich mich wohl geirrt. Die anderen hatten recht, du bist ein eingebildetes, selbstsüchtiges Miststück!“

Wow, das saß. Dafür hätte ich ihm eine geklebt, wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre. Damit war er eindeutig übers Ziel hinausgeschossen.

„Tut mir leid“, meinte er plötzlich ziemlich erschöpft klingend.

Wenigstens hatte er sein Unrecht eingesehen.

„So war das nicht gemeint. Ich bin einfach nur müde. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Du hattest einfach mit zu vielen Menschen Probleme Iron. Ich weiß nicht, was du damit erreichen wolltest, ehrlich nicht. Aber vielleicht bilde ich mir auch nur ein, dass bei dir hinter allem ein größerer Plan steckte. Vielleicht habe ich dich einfach überschätzt, auf einen Podest gestellt und von dir Perfektion erwartet, die du einfach nicht erreichen konntest.“

Um ehrlich zu sein hätte ich, wenn ich wach gewesen wäre, nicht gewusst, was dazu zu sagen gewesen wäre und ich war nicht oft sprachlos. Wobei ich es jetzt auch nicht wirklich war. Ich war eher… verlegen. Was eigentlich noch viel schlimmer war. Podeste waren keine gute Sache, man fiel viel zu leicht herunter.

„Du solltest die Leute in der Schule hören“, meinte er schwer seufzend.

Jetzt wurde es interessant.

„‘Karma ´s a bitch‘, das ist der wohl am häufigsten benutzte Satz.“

Was für sympathische reiche Schnösel doch meine Schule besuchten.

„Und das ist auch noch einer der nettesten Sprüche. Es tut weh das zu hören, aber du kennst mich ja, ich bin auch nicht wirklich in der Lage die ganze Sache einzudämmen. Claire war eine große Hilfe, aber jetzt, nachdem du sie so provozieren musstest, ist auch sie weg vom Fenster.“

Ja ja, schon kapiert, Claire war eine Heilige und ich der große böse Wolf. Es freute mich für ihn, dass er jemand Neues zum Anhimmeln gefunden hatte, aber deshalb musste er mich nicht gleich so grob in die Tonne treten. Schließlich war ich eine zarte, empfindsame Blume… nope, nicht einmal ich nahm mir diesen Scheiß selbst ab.

„Natürlich wäre es am Einfachsten, wenn du aufwachen und selbst die Sache mit den Leuten klären würdest. Wenn du wieder an die Schule kommen würdest, dann würde sich keiner von denen trauen auch nur an diese Sachen zu denken.“

Am liebsten hätte ich sarkastisch empört den Kopf geschüttelt und einen Kommentar darüber abgegeben, wie wenig angesehen die Position als Schulschreck war und ich war mir sicher, dass meine letztendliche Todesursache etwas damit zu tun haben würde, dass ich zu nichts einen Kommentar abgeben konnte.

Eric seufzte schwer, als wäre er derjenige, der im Koma lag.

„Was laber ich hier eigentlich rum, du hörst mich ja sowieso nicht.“

Wenn ich beginnen würde mich darüber aufzuregen… kein Kommentar.

„Na ja, Fazit: Wach bitte schnell wieder auf Iron, ich brauch dich.“

Und dann war auch er weg und ich genoss einige weitere Stunden der herzerwärmenden Schwärze, in der ich absolut nichts tun konnte – die Suche nach dem Weg zur Erleuchtung hatte ich nach knapp einer Stunde aufgegeben, war einfach nicht mein Ding. Und als ich so nichtsahnend in meinem Bettchen lag und kein Wässerchen mich trüben konnte, öffnete sich die Tür und ich hörte Pfennigabsätze in großen, weiten Schritten energisch auf den Zimmerboden schlagen – meine Mutter war hier.

„Legen Sie die Akten dort drüben auf den Tisch“, meinte sie beinahe gelangweilt.

Die schleichenden, eingeschüchterten Schritte ihres Assistenten hatte ich gar nicht gehört,  sie waren wie seine Persönlichkeit gegenüber meiner Mutter untergegangen. Ich wartete auf den Tag, dass er offen vor meiner Mutter heulend zusammenbrach – leider würde ich dann wahrscheinlich nicht zur Stelle sein es zu sehen, ein Jammer.

„Brauchen Sie sonst noch etwas, Mrs Carter?“, fragte er mit seinem Hauch von einer Stimme.

„Nein, das wäre alles, Sie können für heute gehen. Richten Sie sich im Hotel ein.“

Die Tür ging leise auf und zu und dann war der Assistent weg und mir fiel auf, dass ich keine Ahnung hatte, wie der Knabe hieß. Leider wurde es durch die Anwesenheit meiner Mutter kein Stückchen interessanter, denn alles was sie tat, war mein Krankenzimmer in ihr Arbeitszimmer umzuwandeln und ruhig und konzentriert zu arbeiten und das Rascheln von Blättern war nicht gerade ein Highlight der Unterhaltung.

Es musste bereits später Abend sein, als die schweren Schritte meines Vaters durch die Tür kamen.

„Isobel, du bist wieder hergekommen?“, fragte er fast beleidigend überrascht und ich hätte so gerne darüber lauthals gelacht.

„Irgendjemand muss ja dafür sorgen, dass sie niemanden mehr verärgert“, meinte meine Mutter spitz.

Ich konnte beinahe sehen, wie mein Vater die Augen verdrehte.

„Sie liegt im Koma, Isobel, da kann selbst unsere Kleine nichts anstellen.“

„Ich würde es sicherheitshalber lieber nicht ausschließen, Fist.“

Daddy ließ sich auf einen Stuhl fallen.

„Wie lang hast du vor hierzubleiben?“

„Solange es nötig ist.“

„Isobel, du hast sicher auch mit dem Arzt gesprochen, er hält es für äußerst unwahrscheinlich, dass Iron aufwacht.“

Oh, was für erfreuliche Neuigkeiten für mich, wie schön, dass das noch niemand mir mitgeteilt hatte. Ich lag vielleicht im Koma, aber ich war schließlich volljährig, also könnte man es mir ja wenigstens höflichkeitshalber mitteilen. Manieren waren das hier.

„Ärzte halten immer alles für äußerst unwahrscheinlich, hab etwas mehr Vertrauen in unsere Tochter.“

Genau, gib es ihm Mum!

„Ich will nur nicht, dass du enttäuscht wirst.“

„Schäm dich Fist!“, meinte meine Mutter plötzlich bitter, „Schäm dich, dass du bereit bist unsere Tochter aufzugeben! Noch ist sie am Leben und bei Gott, solange sie noch atmet werde ich darum kämpfen, dass sie zu uns zurückkommt.“

Manchmal unterschätzte ich meine Mutter, die nach außen hin so kalt war, manchmal vergaß ich, dass sie mich liebte. Dieser Fehler würde mir so schnell nicht mehr unterlaufen.

Daddy schwieg und die beiden wechselten kein Wort mehr miteinander, bis ich einschlief.

Am nächsten Morgen erwachte ich davon, dass mich jemand wusch. Ich war extrem froh, dass ich nicht dazu in der Lage war meine Augen zu öffnen, sonst wäre mir diese Situation eventuell peinlich gewesen. Ich meine, ich kannte nicht einmal seinen Namen und ich war doch eine Lady – urteilt nicht über mich, jeder geht mit so einer Situation anders um, manche eben mehr und manche weniger angemessen. Warum hatten sie mir auch die wahrscheinlich einzige männliche Krankenschwester zu dieser Sache schicken müssen? Oder die Dame hatte eine extrem tiefe und männliche Stimme und hieß Ronald.

Später kam dann auch meine Mutter wieder und dann bekam ich Besuch. Überraschenden Besuch. Es war Eric – was natürlich nicht der überraschende Teil war – zusammen mit Aaron und seiner Mutter und ich hörte endlich die Bestätigung, auf die ich so viele Jahre gewartet hatte und ich wurde wütend. Wütend darüber, wie feige und selbstzentriert Aaron doch war. Wütend darüber, dass er mich nicht hatte ihm helfen lassen. Wütend darüber, dass ich bis heute keinen Beweis gefunden gehabt hatte. Und dann geschah etwas, als die beiden viel zu sehr mit sich beschäftigt waren: Ich ballte meine rechte Hand zur Faust. Ich war erwacht aus meiner Starre, aber etwas hielt mich davon zurück mich zu bewegen, während die beiden im Raum waren. Erst als sie fort waren, öffnete ich die Augen.

„Mum?“, fragte ich in den Raum hinein und meine Mutter sprang wie von der Tarantel gestochen vom Stuhl auf und eilte an meine Seite.

„Schätzchen, oh Gott sei Dank!“, meinte sie mit Tränen in den Augen.

„Mum, wie kommt man mit Mord durch?“

 

Teil 9 - Die Wahrheit, das wurde aber auch Zeit

Es war jetzt einen Monat her, dass Eric zusammen mit Aaron im Krankenhaus gewesen war. Seitdem hatten sie auch kein Wort mehr miteinander gewechselt und Eric hatte es aufgegeben jemanden zu finden, der das gleiche Schicksal erlitten hatte wie Aaron. Heute war auch Claire zum ersten Mal nach ihrer Suspendierung wieder in der Schule – ihr Vater und seine Beziehungen hatten es geschafft, dass die Klage gegen sie in Rekordzeit fallen gelassen worden war.

Als Eric sie auf dem Schulflur sah, erkannte er sie im ersten Moment nicht wieder. Claire hatte zugenommen und schien zum ersten Mal seit Eric sie kannte ein gesundes Gewicht zu haben. Auch ihr Outfit unterschied sich von ihrem zuvor üblichen Selbst: Sie trug einfache Jeans-Shorts, ein locker sitzendes weißes Top und flache(!) Turnschuhe – was Eric vielleicht am meisten überraschte. Außerdem war sie ungeschminkt und ihr Haar zu einem einfachen Pferdeschwanz zurückgebunden. Von der Königin der Prinzesschen war nichts mehr zu erkennen. Als sie ihn sah, lächelte Claire schwach und kam auf ihn zu.

„Schön dich zusehen Eric, wie geht’s dir?“

„Gut Claire, danke der Nachfrage. Dir?“

„Mir ging es schon lange nicht mehr so gut“, meinte sie mit einem ehrlichen Lächeln.

„Woher kommt das?“, fragte Eric neugierig und Claire lachte.

„Es hört sich komisch an und ist wahrscheinlich auch total unangebracht, aber als ich Iron gewürgt habe, hat sich irgendein Knoten in mir gelöst. Meine Mysophobie ist zwar nicht verschwunden, hat aber kein krankhaftes Ausmaß mehr. Eric, ich habe Essen gegessen, das andere Menschen zubereitet haben“, meinte sie enthusiastisch.

Plötzlich fiel Eric auf, dass es doch eine Person gab, die ihm wahrscheinlich helfen könnte.

„Claire, warst du zufällig mit Aaron in der Middle School?“

„Nein“, meinte Claire überrascht über den Themenwechsel und Eric ließ enttäuscht den Kopf hängen, „aber vielleicht kann dir Brianna weiterhelfen. Ich weiß, dass sie sogar einige Kurse mit ihm hatte.“

„Und du denkst sie würde mir helfen?“, frage Eric aufgeregt.

„Bei dir würde sie sich nicht zweimal bitten lassen“, antwortete Claire lachend.

Als er sie fragend anblickte lachte Claire erneut auf.

„Dir ist es vielleicht nicht aufgefallen, weil du von Anfang an nur Augen für Iron hattest, aber du bist in unserer Schule ziemlich angesagt.“

„Also wird sie mir helfen?“, überging Aaron einfach Claires Aussage.

„Klar, aber was willst du eigentlich wissen?“

„Damals ist etwas vorgefallen und ich muss herausfinden, was es war.“

„Und ich darf es nicht erfahren?“, meinte Claire schmunzelnd.

„Wenn ich Recht habe, dann ist es das, was Iron beinahe das Leben gekostet hätte.“

Claires Lächeln verblasste.

„Eric, hast du die Sache noch immer nicht ruhen lassen?“

„Aber ich bin der Lösung doch schon so nahe.“

„Das dachten wir damals auch“, schnitt Claire ihm das Wort ab, „Die Polizei hat aufgegeben und das solltest du auch tun!“

„Aber waren es nicht deine Worte, dass ein Polizist nie in der Lage wäre die Schüler zum Reden zu bewegen?“

„Also gut. Sag' mir was du hast und ich werde dir helfen.“

„Versprich, dass du es für dich behalten wirst.“

Claire verdrehte die Augen.

„Ich verspreche es“, meinte sie und hob zum Schwur die Hand, „also schieß' los.“

„Du weißt, dass Aaron und Iron in der Middle School zusammen waren?“

Sie nickte.

„Anscheinend wurde Aaron von Lehrern sexuell missbraucht und Iron hat versucht herauszubekommen, wer ihm das angetan hat.“

Einen Augenblick starrte Claire Eric einfach nur an.

„Und du bist dir da sicher?“, brachte sie schließlich hervor und er nickte.

„Aaron selbst hat es mir gesagt.“

Einen Moment herrschte Schweigen, dann lachte Claire überrascht auf.

„Aber wie die meisten Opfer will er nicht aussagen, was bedeutet, dass wir wiederum keine Begründung für unseren Verdacht gegen diese Lehrer vorbringen können. Wer waren die denn überhaupt?“

„Ein gewisser Coach Hunt von der Middle School und Mr Bitterman.“

„Unser Musiklehrer?!“, fragte Claire entsetzt.

„Er hat vorher an der Middle School unterrichtet.“

Claire schüttelte den Kopf.

„Ich kann es nicht fassen. Das klingt einfach... unglaublich - im negativen Sinne.“

„Das dachte ich auch, aber warum sollte Aaron mich deswegen anlügen? Das ergäbe keinen Sinn.“

„Aber warum gerade jetzt?“

Eric sah Claire fragend an.

„Warum rückt er gerade jetzt mit dieser Geschichte raus?“

„Er hat es mir erzählt, als er Iron das erste Mal im Krankenhaus gesehen hat. Ich glaube es waren Schuldgefühle, die ihn dazu gebracht haben es mir zu sagen.“

„Nehmen wir mal an, dass das der Grund war und dass alle deine anderen Annahmen auch stimmen und es einer dieser Lehrer war, weil Iron etwas herausgefunden hat – wie können wir es ihnen beweisen?“

„Deshalb möchte ich mit Brianna sprechen. Vielleicht können wir durch sie herausfinden, ob es noch andere Opfer als Eric gab.“

„Ich möchte dir ja nicht den Wind aus den Segeln nehmen, aber Brianna ist nicht gerade die aufmerksamste Person.“

„Und an wen soll ich mich denn dann wenden?“, fragte Eric genervt.

„Geh' zum Baseball-Team und frag' da nach. Ich bin mir sicher einige waren schon mit Eric in der Middle School und bei ihnen ist dann wahrscheinlich auch jemand dabei, der dasselbe durchleben musste wie Aaron. Ich muss jetzt aber los zum Unterricht. Halte mich auf dem Laufenden, ja?“, meinte sie lächelnd im Weggehen und ließ Eric allein zurück.

Seufzend fuhr er sich der mit der Hand durchs Haar. Eigentlich hatte Claire Recht. Der Staub, den die Angriffe auf Iron aufgewirbelt hatten, legte sich gerade und endlich ging alles wieder seine gewohnten Bahnen. Eric schüttelte den Kopf. Es würde ihn bis an sein Lebensende verfolgen, wenn er die Wahrheit hinter dem ersten Übergriff auf Iron nie herausfinden würde, das war er ihr schuldig.

So ging Eric nach dem Training zum Baseballfeld. Aaron war glücklicherweise schon weg und es waren nur noch ein paar der Jungs aus dem Team – die meisten jüngere Jahrgänge – auf dem Feld. Nur einer schien alt genug, um in derselben Stufe wie Aaron und Eric zu sein. Bei genauerem Hinsehen erkannte ihn Eric als Toben aus seinem Mathekurs.

„Hey Toben“, begrüßte Eric ihn.

„Hey Eric“, erwiderte Toben und nickte ihm zu, um anschließend weiter aufzuräumen „wie kann ich dir helfen?“

„Ich hätte da eine Frage an dich.“

„Mathe?“

Erich schüttelte den Kopf.

„Eigentlich wollte ich wissen, ob du zufällig mit Aaron in der Middle-School warst?“

Für einen Moment versteifte sich Toben, bevor er seine Arbeit fortsetzte.

„Ja“, meinte er kurz angebunden.

„Und wart ihr da auch schon gemeinsam im Baseball-Team?“

Nun unterbrach Toben seine Arbeit doch, richtete sich auf und sah Eric scharf in die Augen.

„Warum interessiert dich das?“, fragte er misstrauisch.

„Ich hab da ein paar Sachen gehört und...“

„Nein“, schnitt Toben ihm das Wort ab und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.

Trotzdem war er noch ein gutes Stückchen kleiner als Eric. Für Eric bedeutete diese Geste aber die Bestätigung, die er brauchte.

„Warum habt ihr das nie bei jemandem gemeldet?“

Einen Moment lang glaubte Eric Toben würde alles abstreiten und er müsste wieder von vorne anfangen.

„Es war schlimm genug es zu erleben und was, wenn die Leute uns nicht geglaubt hätten?“, meinte er kurz angebunden.

„Jetzt werden sie euch glauben.“

„Was interessiert dich dieses Thema eigentlich gerade jetzt so sehr?“, fragte Toben unwirsch.

„Der Übergriff auf Iron.“

„Aber das war doch Claire“, meinte Toben verwirrt und Eric schüttelte den Kopf.

„Der erste Übergriff auf Iron. Ich glaube, dass Iron etwas darüber herausgefunden hat und deshalb von der Bildfläche verschwinden sollte.“

Toben horchte auf und blickte Eric plötzlich eindringlich an.

„Du meinst, sie hat mit den Nachforschungen nicht aufgehört nachdem Aaron sich von ihr getrennt hat? Dieses dumme Mädchen.“

„Iron ist stur. Das müsste dir noch klarer sein als mir, da du sie ja schon viel länger kennst.“

Toben schüttelte mit einem freudlosen Lächeln den Kopf.

„Iron war früh ganz anders. Sie war....normal. Als Aaron sich von ihr trennte änderte sie sich radikal. Erst da wurde sie zu dem, was sie heute ist.“

„Ihr wart mal befreundet?“, fragte Eric überrascht und Toben zuckte mit den Schultern.

„Aaron war mein Freund, er und Iron waren fast zwei Jahre zusammen. Natürlich hatte ich viel mir ihr zu tun.“

Eric stellte dieses eigentlich unwichtige Thema erst einmal zurück.

„Ist ja eigentlich auch egal. Was ich eigentlich wissen wollte: Hilfst du mir jetzt?“

„Eigentlich verbringe ich jeden Tag meines Lebens damit endlich zu vergessen, was damals passiert ist“, meinte Toben schwer.

„Und du glaubst nicht die Verantwortlichen endlich zur Rechenschaft zu ziehen, würde dir damit helfen abzuschließen?“

„Ich hab die verschiedensten Szenarien schon unendlich oft in meinem Kopf durchgespielt und komme immer wieder zu demselben Ergebnis: Es gibt nicht genügend Beweise. Ich würde mit einer Anklage nur meine eigene Reputation in den Dreck ziehen.“

Einen Augenblick herrschte Stille.

„Du hast anscheinend schon sehr gründlich darüber nachgedacht.“

„Natürlich“, meinte Toben schnaubend, „und ich habe mich damit abgefunden, dass die Welt nun einmal nicht immer gerecht ist. Aber ich werde es überleben.“

„Iron wahrscheinlich nicht“, erwiderte Eric trocken und Toben schluckte.

„Das tut mir Leid.“

„Das bringt Iron leider wenig.“

„Wird sie wirklich sterben?“

„Momentan liegt sie im Koma, allerdings schon seit über einem Monat. Es ist unwahrscheinlich, dass sie je wieder aufwachen wird. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ihre Eltern die lebenserhaltenden Maßnahmen einstellen werden.“

„Die Wahrheit wird sie auch nicht wieder zurückbringen Eric. Schlafende Hunde sollte man nicht wecken.“

„Ich kann dich also nicht dazu bringen zur Polizei zu gehen“, stellte Eric nach kurzem Schweigen fest und Toben schüttelte entschuldigend den Kopf.

„Es ist Zeit die Sache hinter uns zu lassen. Wir haben Glück, dass die Schule ein Ort ist, der schnell vergisst.“

„Macht dir nicht das gerade Angst? Dass sich deshalb die ganze Geschichte leicht wiederholen könnte?“

Toben schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Als er sie wieder öffnete war sein Blick verschlossen.

„Manchmal muss man auch einfach an sich selbst denken.“

Dann drehte er sich um und verschwand ohne ein weiteres Wort. Eric seufzte schwer, setzte sich erschöpft auf die Tribüne am Feldrand und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Iron würde sterben, sein Leben würde weitergehen. Wo war das bitteschön fair? Wenn er wenigstens mit Sicherheit sagen könnte, dass das hier der Grund war, warum Iron angegriffen worden war, aber selbst das war nur eine Vermutung. Wenn Eric ehrlich war, war Iron ihm fremd gewesen. Auch wenn sie sich jeden Tag gesehen und miteinander gesprochen hatten, so hatte er doch nichts von ihr gewusst. Erst nach dem Übergriff hatte er angefangen etwas über die Person zu lernen, von der er geglaubt hatte, dass er sie am besten auf der Welt kenne. Wie falsch Eric doch gelegen hatte. Und trotzdem schien er der Einzige zu sein, den die Frage wegen Irons Angreifer nicht losgelassen hatte. Nicht einmal ihre Eltern interessierten sich noch dafür. Obwohl sie jeden Tag bei ihr im Krankenhaus waren schienen sie nicht an eine Lösung des Falles zu glauben. Niemand tat das. Vielleicht sollte auch Eric endlich aufgeben.

Er schreckte hoch, als sich jemand neben ihn auf die Bank fallen ließ. Es war Claire und Eric schenkte ihr ein schwaches Lächeln.

„Dein Gespräch mit den Baseballern lief also nicht so gut?“, schloss sie mitleidig aus Erics Gesichtsausdruck.

„Der will auch keine Aussage machen. Was ist nur los mit den Leuten?“

„Wir sind leider in keinem Film, bei dem die Menschen am Ende immer das Richtige tun“, meinte Claire schulterzuckend und tätschelte Eric die Schulter, „das ist die ungeschminkte Realität und du musst sie leider nehmen wie du sie serviert bekommst.“

„Also aufgeben?“

Claire legte den Kopf schief und überlegte einen Moment.

„Vermutlich wäre es das Sinnvollste, so wie die Lage ist. Ich meine, hätte Iron nicht die beiden auf die Verdächtigenliste geschrieben, wenn sie bei ihren Nachforschungen auf etwas gestoßen wäre? Wobei, wir reden hier schließlich von Iron, da wäre tatsächlich alles möglich.“

Claire hielt einen Moment inne.

„Aber“, begann sie zögerlich und richtete ihren Blick aufs Spielfeld, „Selbstjustiz wäre natürlich auch noch eine Lösung.“

Eric konnte nicht anders als Claire fassungslos anzustarren.

„Das ist nicht dein Ernst.“

Claire starrte weiterhin aufs Feld, doch Eric konnte sehen, wie sich ihre ineinander verschränkten Hände verkrampften.

„Es ist mein bitterer Ernst. Selbst wenn diese Männer nichts mit dem Vorfall auf Iron zu tun hatten, so sind sie doch Monster, die es nicht wert sind zu leben.“

„Bitte bitte sag mir, dass das ein schlechter Scherz war Claire.“

Nun wandte sie sich ihm doch zu und ihre Augen strahlten Trotz und Kälte zugleich aus.

„Wenn mich mein Vater eines gelehrt hat, dann dass das Recht nicht dasselbe wie Gerechtigkeit ist.“

„Nicht jeder hat einen Daddy, der einen von der Mordanklagebank ohne Strafe wieder runterkriegen kann“, meinte Eric trocken.

„Sag mir einfach bis morgen, ob du dabei bist oder nicht. Ich werde die Sache regeln, mit oder ohne dich.“

Anscheinend war Eric nicht der einzige, den Schuldgefühle plagten, auch wenn er aus Claires Intentionen noch immer nicht ganz schlau wurde.

Teil 10 - Mein Tod

Als sie ihn angerufen hatten war er zuerst erstaunt gewesen, doch sofort in den nächsten Flieger zurück gestiegen. Noch immer hallten ihm die Worte des Arztes im Kopf nach:

„Es ist an der Zeit Mr Gates. Wir sollten sie gehen lassen.“

Dexter konnte noch immer nicht fassen, dass alles enden sollte, bevor es wirklich begonnen hatte. Aber leider hatte er in dieser Beziehung noch nie viel Glück gehabt.

Als er nun wieder das Krankenzimmer betrat wartete Fist an Irons Seite und warf ihm nur einen kurzen Blick zu. Fist war nicht sonderlich begeistert von Dexter, weil er der Grund war, dass seine Tochter ihm etwas verheimlicht hatte.

„Guten Tag Sir“, meinte Dexter angespannt.

„Dexter, du bist gekommen“, meinte Fist nur müde und lehnte sich in seinem Stuhl an Irons Seite zurück.

„Natürlich, auch wenn ich es anfangs nicht glauben konnte.“

„Es wird Zeit, die Wahrscheinlichkeit dass sie wieder aufwacht geht gegen null. Wir lassen sie nur unnötig leiden, wenn wir so weitermachen.“

Dexter seufzte schwer.

„Sie haben Recht, aber das macht es nicht gerade leichter.“

„Ich weiß mein Junge. Ich weiß.“

„Wann?“, brachte Dexter schließlich hervor.

„Noch heute. Die ermittelnden Detectives werden noch kommen. Sie hatten darum gebeten dabei sein zu dürfen, wenn wir sie gehen lassen. Sie fühlen sich verantwortlich. Ich konnte es ihnen einfach nicht abschlagen.“

„Es muss sie wirklich belasten den Fall nicht gelöst zu haben.“

„Es belastet uns alle Junge. Ich kann mir noch immer nicht vorstellen wer es gewesen sein soll.“

„Das werden wir wahrscheinlich niemals erfahren.“

Plötzlich wurde Fists Stimme eiskalt.

„Und wenn ich den letzten Cent meines Geldes darauf verwende, ich werde herausfinden, wer das meinem kleinen Mädchen angetan hat.“

Zum Glück betrat in diesem Moment Mrs Carter den Raum. Wie immer trug sie ein Kostüm und hatte die Haare zu einem perfekten strengen Knoten zurückgebunden.

„Ah, Dexter. Wie nett, dass du die Zeit gefunden hast. Wir wissen alle, dass du eigentlich schon wieder auf deinem Flugzeugträger sein solltest.“

„Er läuft erst morgen aus.“

„Wenn wir uns etwas ranhalten, dann könntest du es sogar noch schaffen.“

Für einen Moment blieb Dexter die Luft weg. Das war sogar nach MadEye/Carter-Frauen-Maßstäben kalt gewesen.

„Und du könntest es noch rechtzeitig zum Verhandlungsbeginn wieder zurück sein.“

„Wie können Sie nur beide…“, begann Dexter und brach dann fassungslos ab.

Ihm fehlten die Worte um zu beschreiben, wie er sich fühlte, was er von Irons Eltern in diesem Moment dachte.

„Dexter, für uns ist Iron schon seit Wochen tot. Seit sie zum zweiten Mal ins Koma gefallen ist. Als sie nach dem ersten Mal wieder aufgewacht ist, war das schon mehr Glück als ein Mensch im ganzen Leben eigentlich haben sollte. Zu erwarten, dass sie noch einmal erwachen würde ist einfach zu viel verlangt“, erläuterte Mrs Carter nüchtern.

Auch wenn das alles wahr war, so hieß es noch lange nicht, dass Dexter mit dieser Sichtweise einverstanden war und er straffte seine ohnehin schon perfekte Haltung.

„Und was wäre so schlimm daran, wenn wir sie einfach noch eine Weile länger im Koma belassen?“

„Wir würden Iron damit quälen. Niemand weiß, wie es in einem Menschen während des Komas aussieht, wieviel er noch mitbekommt. Wir werden dieses Risiko nicht nur aus Selbstsucht eingehen. Das verstehst du doch Dexter?“

Da sich Fist und Mrs Carter in dieser Sache einig zu sein schienen konnte er es sich sparen sich einzumischen. Sie würden nicht auf ihn hören. Vielleicht aber auf die Meinung eines Arztes. Und er wusste da von einem, der ihm definitiv helfen würde, auch wenn es eigentlich nicht seine Art war etwas hinterrücks zu tun.

„Wenn Sie mich für einen Moment entschuldigen würden“, meinte Dexter respektvoll und verschwand aus dem Krankenzimmer, um sich sogleich auf die Suche nach Dylan zu machen.

Er fand ihn schließlich in einem Bereitschaftszimmer, zu dem ihn eine der Krankenschwestern geführt hatte. Dort saß Dylan im Schneidersitz auf einem der Betten und starrte an die Decke. Als er Dexter bemerkte, sprang er auf.

„Mr Gates, ich wusste nicht, dass Sie zurück sind.“

„Ich wollte dabei sein, wenn Iron… stirbt.“

Bei dem Wort zuckte Dylan zusammen und Dexter sah es in diesem Moment. Dieser Mann, den er um Hilfe bitten wollte, schwärmte nicht nur ein wenig für seine Verlobte, er liebte sie. Natürlich hatte Iron ihm erzählt, dass die beiden viel Zeit miteinander verbrachten und Dylan mit ihr hatte ausgehen wollen, aber dieses kleine Detail hatte sie verschwiegen und Dexters Hände ballten sich zu Fäusten ohne dass er etwas dagegen tun konnte.

„Wollen Sie es etwa nicht ihren Eltern ausreden? Schon allein wegen ihres… hippokratischen Eides.“

Für einen Moment blitzte Wut in den Augen des Arztes auf.

„Denken Sie etwa, das hätte ich nicht bereits versucht, Mr Gates? Denken Sie ich würde hier sitzen, wenn ich nicht schon stundenlang ohne Erfolg auf die Beiden eingeredet hätte? In diesem Fall bin ich machtlos, sie wollen einfach nicht hören. Sie sind fest davon überzeugt, dass Iron jeder weitere Moment quält. Ich kann sie nicht dazu zwingen noch länger zu warten und ehrlich gesagt sind die Chancen auch minimal…“

„Minimal ist besser als tot, Dr. Kendrick.“

Dexter wusste, dass er den armen Mann quälte, aber er konnte einfach nicht anders. Er durfte Iron nicht verlieren. Nicht jetzt schon. Nicht, bevor ihr gemeinsames Leben noch nicht einmal begonnen hatte.

„Ich glaube nicht, dass Iron das gewollt hätte.“

Nun wurde Dexter wütend und nur die jahrelange Disziplin hielt ihn davon ab die Contenance zu verlieren. Er atmete tief durch und dachte an Iron. Dann wandte er sich an Dylan.

„Bitte, ich flehe Sie an Dr. Kendrick, ein letztes Mal. Versuchen Sie Irons Eltern ein letztes Mal davon zu überzeugen die Geräte nicht abzustellen. Mehr verlange ich nicht.“

Dylan blickte Dexter traurig an, seufzte schließlich aber ergeben.

„Ein letztes Mal, Mr Gates. Dann müssen auch Sie die Tatsache akzeptieren.“

Schwerfällig stand Dylan auf und Dexter folgte ihm über die Flure zurück zu Irons Zimmer. Auf dem Weg dahin verfolgten sie viele traurige und mitleidige Blicke, die Dexter das Gefühl gaben, als wäre Iron längst tot.

Doch im Zimmer waren nicht mehr nur Irons Eltern. Inzwischen hatten sich auch die Detectives dort eingefunden. Der größere der Beiden, Detective Moore, hatte dunkle Ringe unter den Augen und seine gebeugte Haltung ließ ihn furchtbar alt aussehen, obwohl er kaum zehn Jahre älter als Dexter selbst sein konnte. Detective Hale hingegen wirkte ruhig und gefasst. Er hatte offensichtlich mehr emotionalen Abstand zu der ganzen Sache bewahrt.

„Ah, da bist du ja wieder Dexter. Und wie ich sehe hast du Dr. Kendrick mitgebracht“, meinte Mrs Carter mit einem schmalen Lächeln.

Sie schien zu wissen, was jetzt kommen würde.

„Mr Gates, es freut uns Sie wiederzusehen, wenn auch unter diesen traurigen Umständen“, mischte sich Detective Moore in die Unterhaltung ein.

„Bei ihrem Beruf ist es wohl unvermeidlich sich zu einem weniger freudigen Anlass zu treffen, Sirs.“

Moore schüttelte mit einem traurigen Lächeln den Kopf.

„Wie Recht Sie doch haben.“

„Dr. Kendrick. Jetzt wo wir alle da sind, wären Sie dann so freundlich?“, fragte Mrs Carter ungeduldig.

„Es tut mir Leid Mrs Carter, aber ich bin nicht der behandelnde Arzt, aber…“

„Was machen sie dann hier?“, fiel sie Dylan ins Wort.

„Mrs Carter“, begann er, „würden sie vielleicht…“

„Nein“, fiel sie ihm erneut ins Wort, „Dr. Kendrick hören sie endlich damit auf.“

Zu aller Überraschung traten Mrs Carter Tränen in die Augen.

„Bitte. Uns hat es selbst unendliche Überwindung gekostet diese Entscheidung zu treffen also hören Sie damit auf unsrem schlechten Gewissen weitere Nahrung zu geben. Wir haben gewartet. Wir haben einen Monat gewartet, dass es irgendeine Regung unserer Tochter gibt, unseres einzigen Kindes. Irgendwann müssen wir unser Leben weiterleben, wir können nicht für immer an ihrem Bett sitzen und darauf hoffen dass sie aufwacht. Mein Exmann und ich, wir haben beide keine Kraft mehr dafür. Wir sind müde, wir wollen endlich abschließen und richtig um unsere Tochter trauern können also bitte, erlauben Sie es uns endlich und holen Sie Dr. Drescher.“

Für einen Moment herrschte Stille im ganzen Raum, dann drehte sich Dr. Kendrick um und ging. Es wurde kein Wort gesprochen, bis Dr. Drescher den Raum betrat – ohne Dr. Kendrick. Der Soldat stand steif neben Irons Bett und starrte in ihre geschlossenen Augen, als könnte er sie mit eigener Willenskraft dazu zwingen sie zu öffnen. Und jeder im Raum wünschte es sich für ihn.

„Ich werde ihr jetzt ein Medikament spritzen, das ihr die Schmerzen nimmt, dann werde ich die lebenserhaltenden Maßnahmen abstellen. Mrs Carter, Mr MadEye, ihre Meinung ist immer noch dieselbe?“

Die Beiden nickten, brachten jedoch keinen Ton über die Lippen. Dr. Drescher erwiderte das Nicken und spritze Iron ohne weitere Umschweife das Medikament. Dann trat er an einen der vielen Apparate neben dem Bett und legte einen einzigen Schalter um. So schnell war die Sache geschehen.

„Es kann noch eine Weile dauern, bis ihr selbst das Atmen zu schwer wird. Zwischen einer halben und zwei Stunden würde ich sagen. Es kann sein, dass sich ihre Augen noch einmal öffnen, aber das liegt an den Medikamenten. Ich lasse sie nun allein.“

Keiner rührte sich vom Platz, nachdem Dr. Drescher das Zimmer verlassen hatte. Eine halbe Stunde verging und dann noch eine weitere, ohne dass sich etwas an Irons Zustand veränderte. Dann schlug sie plötzlich die Augen auf und Moore konnte sehen, wie ein Ruck durch den Körper des Soldaten ging, der sich nur mit Mühe daran hindern konnte vorzustürzen, doch den Funken Hoffnung in seinen Augen konnte nicht einmal die Vernunft verhindern. Wie zur Strafe für dieses törichte Hoffen hörten sie, wie im nächsten Augenblick Irons Atmung aussetzte.

Moore konnte sehen, wie sich etwas in Dexters Gesicht veränderte, als der lange, durchgehende Ton ertönte, der verkündete, dass Irons Herz aufgehört hatte zu schlagen. Auch wenn sein Blick Irons Augen nicht losließen, so zeigte der trübe Ausdruck in ihren, dass sie nicht mehr in dieser Welt weilte. Moore sah, wie der Junge sich weigerte das Offensichtliche zu akzeptieren, als würde sie zu ihm zurückkehren, wenn er weiter ihren Blick gefangen hielt. Die Zeit verging, doch Dexter löste seine Augen keinen Moment von Irons. Er schien außer ihnen nichts mehr auf dieser Welt wahrzunehmen, auch wenn sich langsam Verzweiflung in seinem Ausdruck zeigte.

Bis zu diesem Moment war Moore nicht klar gewesen, wie sehr dieser Junge Iron tatsächlich geliebt hatte. Es schien, als würde Dexter in ein tiefes schwarzes Loch fallen, wenn endlich zu ihm durchdringen würde, dass Iron nie zu ihm zurückkehren würde. Moore brachte es nicht übers Herz den jungen Soldaten aus dem Zimmer zu bringen. Wahrscheinlich würde er auch gar nicht reagieren, wenn man ihn ansprach; er war gerade in einer anderen Welt. In einer Welt, in der Iron noch lebte, da war Moore sich sicher. Er würde Dexter solange wie möglich an diesem Ort verweilen lassen, er hatte noch den Rest seines Lebens ohne Iron vor sich. Auch wenn Moore bis zu diesem Zeitpunkt der Meinung gewesen war, dass so etwas nicht existierte, so war er sich doch sicher, dass Iron für Dexter die Liebe seines Lebens gewesen war. Hoffentlich würde der Junge nicht daran zerbrechen.

Moore wusste nicht, wie lange Dexter einfach nur so dastand, Irons Blick in seinem verschränkt haltend, bis er plötzlich herumfuhr und ohne ein weiteres Wort den Raum verließ. Moore eilte ihm nach.

„Mr Gates!“, rief er, doch der Junge reagierte nicht und lief einfach weiter.

Erst als Moore ihn an der Schulter packte und zu sich herum drehte, schien Dexter ihn zu bemerken. Doch der Anblick des Gesichtes des Jungen war ein Schock für Moore, denn er konnte an dem von Verzweiflung zerfurchten Zügen sehen, dass für Dexter gerade die Welt untergegangen war; als ob die Sonne aufgehört hätte zu scheinen, als ob aller Sauerstoff aus seinen Lungen gewichen wäre, als ob es sein Herz gewesen wäre, das aufgehört hatte zu schlagen.

Geschockt ließ Moore die Schulter wieder los und Dexter drehte sich einfach wieder um und lief davon. Als er sich nun endlich im Krankenhaus umsah, begegneten ihm überall weinende Menschen. Sie alle trauerten um Iron; Moore konnte ihnen nicht entgehen. Die Situation war irgendwie... unwirklich. Als er nach seiner Runde wieder bei Irons Zimmer ankam, standen ihre Eltern einigermaßen gefasst vor dem Bett und Fist hatte tröstend einen Arm um seine Exfrau gelegt. Iron war schon fortgebracht worden und diese Szene wirkte einfach falsch. So hatte er sich das Ende dieser Geschichte nicht vorgestellt, so nicht.

Teil 11 - Jeder trauert auf seine Weise

Jeder trauert auf seine Weise. Ich persönlich bin früher immer ganz still geworden – wie so ein Wasserspeier, diese gruseligen Dinger, die auf so alten Gemäuern sitzen. Aber ich fand es schon immer viel interessanter andere zu beobachten, besonders wenn sie trauerten; verriet einem viel über die Persönlichkeit. Und was wäre dazu eine bessere Gelegenheit als die eigene Beerdigung.

Als meine Mutter ans Rednerpult trat war sie perfekt gekleidet wie immer, in einem schwarzen Kostüm aus festem Stoff, dass vom Schnitt her an die 50er erinnerte. Die Haare zurück zu dem unvermeidlichen strengen Knoten. Ihre Züge waren ausdruckslos wie immer und nur wer sie wirklich kannte, konnte einen Anflug von Trauer darin erkennen.

„Meine Tochter war noch ein Kind, als sich mein Exmann und ich entschieden getrennte Wege zu gehen – vier um genau zu sein. Aber im Geiste war sie schon damals eine Erwachsene. Sie war es selbst, die das Aufteilungsarrangement für sich entwickelte mit dem ihr Vater und ich überraschenderweise beide glücklich waren. Iron hat uns ihr ganzes Leben immer wieder überrascht in dem sie sich für ihr Alter außergewöhnlich empfänglich für soziale Schwingungen und die Atmosphäre in einem Raum zeigte. Leider legte sie in diesem Gebiet eine rückschrittliche Entwicklung hin, wobei das so vielleicht nicht ganz richtig formuliert ist: Mit der Zeit wurde es Iron einfach egal, was ihr schließlich auch zum Verhängnis wurde, obwohl sie ein guter Mensch war. Hätte ich gewusst, dass mir mein einziges Kind so früh genommen werden würde hätte ich mehr Zeit mit ihr verbracht, wäre öfters nach Hause gekommen. Jetzt ist es zu spät. Zu spät für mich und zu spät für Iron sich für ihr Fehlverhalten vielen von euch gegenüber zu entschuldigen. Meine Tochter war sehr temperamentvoll und direkt, aber sie hatte auch ein gutes Herz und sich für ihre Überzeugungen eingesetzt. Darin sollte sie uns allen ein Vorbild sein.

Kein Elternteil sollte vor seinen Kindern sterben, denn so wird kein Tag vergehen, an dem nicht ein kleiner Teil von mir sterben wird, weil sie nicht mehr bei mir ist. Ich kann nur hoffen dass mein kleines Mädchen in Frieden ruht und wir denjenigen finden, der ihr das angetan hat, damit man ihn seiner gerechten Strafe zuführen kann. Zum Glück verjährt Mord nicht.“

Meine Mutter war Anwältin, sie konnte einfach keine anrührende Trauerrede halten, ohne sie mit einem lauten ‚Kawumm‘ enden zu lassen.

Als nächstes war Dragon an der Reihe. Mein Vater würde nicht sprechen, da er sich dazu einfach nicht in der Lage sah, was mich sehr traurig stimmte. Ich hatte nie gewollt, dass er wegen mir leiden musste.

„Ich kenne Irons Vater schon sein über 25 Jahren und kannte die kleine Iron vom Tage ihrer Geburt an.“

Ein trauriges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht und Tränen in seinen Augen aus.

„Schon als ich sie das erste Mal in den Armen hielt – da war sie noch keine 24 Stunden alt – hatte sie mir sofort ihre Dominanz bewiesen: Sie war von Anfang an der Boss – nicht ich oder sonst irgendjemand. Als ihr Vater sie mit zwei Jahren das erste Mal zu einem der Kämpfe ins Ausland mitnahm war ich äußerst skeptisch. So viel Gewalt, so viel Rohheit in der Umgebung eines so kleinen Mädchens? Ich konnte es einfach nicht fassen, sie war doch noch so klein! Ich erinnere mich noch daran, als wäre es gestern gewesen, als ich zu Fist ging, eine Moralpredigt vorbereitet, was es mit einem kleinen Mädchen anrichten könnte, wenn er sie dahin mitnahm. Und dann betrat Iron den Raum und hielt mir eine Moralpredigt darüber, dass man nicht über anderer Leute Kopf hinweg entscheidet, weil das unhöflich sei und sie ihren Daddy Iron Fist wirklich gerne begleiten würde. Also nahmen wir sie mit und natürlich war unsere Besorgnis unnötig, schließlich handelte es sich hier um Iron. Innerhalb einer halben Stunde hatte sie die ganze Wettkampfscrew – nur am Rande, es war ein Tunierwettkampf – verzaubert und sie alle lagen ihr zu Füßen. Es waren große Kämpfer da an diesem Abend, aber Iron hatte nur Augen für ihren Vater. Und über die Jahre hat sie weder diese Bewunderung noch ihr gutes Verhältnis zu ihrem Vater verloren gehabt. Iron war ein wundervoller Mensch, von ihrem ersten Atemzug bis zu ihrem Letzten und sie ist viel zu früh von uns gegangen. Was mich angeht, so wird es wahrscheinlich noch eine ganze Weile dauern, bis ich mich mit der Tatsache abgefunden habe, dass ich die kleine Iron nie wiedersehen werde, auch wenn ich mich wahrscheinlich nie daran gewöhnen werde. Ich bin mir auch sicher, dass jeder einzelne in diesem Raum sie jeden Tag seines restlichen Lebens vermissen wird und wir können uns nur auf unsere gegenseitige Stärke verlassen, um darüber hinwegzukommen.“

Patricia legte ihrem Mann tröstend eine behandschuhte Hand auf den Arm und führte ihn von Rednerpult zurück zu ihrer Bank. Sie trug ein für sie schlichtes schwarzes Kleid, was jedoch durch den teuren Diamantschmuck den sie trug wieder aufgewertet wurde – die Klunker waren sicher mehr wert als die meisten in ihrem ganzen Leben verdienten, und zwar zusammen. Außerdem trug sie einen pompösen schwarzen Hut, bei dem ganz im Stil vergangener Zeiten ein schwarzes Netz an der Vorderseite herunterhing, das ihr Gesicht vor den anderen verdecken sollte. Wie immer sah Patrica perfekt und unfassbar schön aus, trotz ihres schon fortgeschrittenen Alters. Es gab wahrscheinlich nichts auf der Welt das passieren konnte, was Patricia dank ihrer strengen Erziehung aus der Fassung bringen konnte.

Der nächste Redner überraschte mich tatsächlich ein wenig. Nicht dass er sprach, sondern dass er schon als dritter Sprechen durfte. Vielleicht hatte Dexter sich aber auch einfach umentschieden und würde doch nicht sprechen. Keiner Würde es ihm verdenken.

„Ich habe Iron in meiner ersten Woche an der High-School kennengelernt und sie schien schon bei unserer ersten Begegnung beschlossen zu haben, dass wir Freunde werden sollen.“

Eric lächelte kurz traurig in der Erinnerung schwelgend.

„Zumindest erinnere ich mich nicht daran ein Stimmrecht in dieser Sache gehabt zu haben und viel zu schnell bekam sie ein Teil meines Lebens, denn ich nicht mehr missen wollte. Jetzt, wo sie nicht mehr da ist fühlt sich der Alltag falsch an, es fehlt etwas, es ist ein Loch entstanden, das man nicht in der Lage ist zu stopfen. Man kann keinen Ersatz für einen Menschen finden, der eine wichtige Rolle im eigenen Leben gespielt hat, egal wie sehr man es versucht. Mir selbst wird es fehlen, dass sie jeden Tag zum Spielfeld kam, uns beim Training zusah und dann noch kurz mit uns sprach, mit uns lachte. Auch wenn viele aus dem Team es nicht zugeben würden, aber sie warten noch immer darauf, dass Iron am Spielfeldrand auftaucht, einen kessen Spruch auf den Lippen, und das alles hier sich als ein großes Missverständnis herausstellt. Iron würde es sicher gefallen zu sehen, dass jedes Mal, wenn jemand während des Trainings hinter den Tribünen an ihrem alten Platz hervortritt der Blick des ganzen Teams dorthin zuckt. Sie hatte die Jungs immer damit aufgezogen, dass sie sie alle doch eigentlich gerne beim Training hatten und sie auf die fünf Minuten Unterbrechung, die ihr Besuch mit sich brachte, eigentlich schon warteten. Das ist den Jungs dann auch klar geworden und der Grund, warum wir heute alle gemeinsam hier sind, um von Iron abschied zu nehmen, um sie ein letztes Mal unser Training unterbrechen zu lassen, wie sie es immer so gern getan hat.“

Um ehrlich zu sein hatte es mich tatsächlich überrascht, dass die gesamte Footballmannschaft erschienen war, da ich ja in der Schule nie meine beste Seite an den Tag gelegt hatte. Allerdings war es auch ein Mythos, dass nur Mädchen auf Badboys standen. Die meisten Jungs hatten ebenso ein Faible für böse Mädchen. Gott segne die High-School und ihre verdrehte Jugend.

Als ich den nächsten Redner aufstehen sah, hätte ich am liebsten laut aufgestöhnt. Denn, dass jetzt konnte nur schief gehen. Dylan sah aus, als hätte er weder geschlafen, noch sich rasiert, seit ich gestorben war. Sein gesamtes Erscheinungsbild war… mir fiel einfach kein höfliches Wort ein, also ließ ich es jetzt lieber. Als er ans Rednerpult trat, konnte ich mich nicht des Gefühls entwehren, dass er etwas schwankte.

„Wahrscheinlich bin ich hier unter den Trauergästen einer der Menschen, die Iron am kürzesten kannten, wobei wir in dem Jahr, dass ich sie kannte, viel Zeit mit ihr verbracht haben. Iron war ein außergewöhnlicher Mensch und ich war fasziniert davon, wie viel von ihrer Zeit sie für andere opferte. Bevor ich sie kennengelernt habe hielt ich es nicht für möglich, dass ein High-School-Schüler zwei bis drei Tage die Woche seiner Zeit darauf verwenden würde für kranke Kinder da zu sein. Aber sie hat nicht nur den Kindern eine schöne Zeit, sondern auch den Eltern mit ihrem Verhalten Hoffnung geschenkt. Sie können sich garn nicht vorstellen, wie traurig die Kinder waren, als sie hörten, dass Iron nie wieder zu ihnen kommen würde.“

Für einen Moment schien Dylan in weite Ferne zu blicken und ich war mir nun sicher, dass er betrunken war. Na das konnte ja noch heiter werden.

„Wir alle hatten gehofft, dass sie einfach aufwacht, wie beim ersten Mal, und sich trotz ihrer Verletzungen verhalten würde wie immer, als sei alles, was passiert war, nur ein böser Traum gewesen. Iron war schon immer für eine Überraschung gut gewesen. Zuerst der Übergriff auf sie und dann tauchte plötzlich ein Verlobter auf.“

Ah, jetzt wurde es interessant. Ich sah, wie Dexter sich auf seinem Platz verspannte, bereit aufzuspringen und einzuschreiten.

„Da fragt man sich, was sie einem noch alles verheimlicht hat.“

Plötzlich stand Eric an Dylans Seite, redete beruhigend auf ihn ein und versuchte ihn vom Rednerpult wegzuführen, doch Dylan riss sich los.

„Du solltest doch eigentlich noch viel wütender sein als ich! Du wusstest ja nicht einmal von mir! Wer weiß wen sie noch alles an der Nase herumgeführt hat!“

Erics Blick wurde traurig und er sagte etwas zu Dylan, jedoch zu leise um es verstehen zu können. Daraufhin sackte Dylan in sich zusammen und Eric konnte ihn zu einer der Bänke zurückführen. Man konnte deutlich sehen, wie Dylan die Tränen übers Gesicht liefen. Es war – um ehrlich zu sein – etwas gruselig. Aber was wäre schon eine Beerdigung ohne dass jemand austicken würde.

Als nächstes trat endlich Dexter vor und ich konnte nur den Kopf darüber schütteln, dass er Uniform trug. Nicht einmal für meine Beerdigung hatte er sie ablegen können.

„Für alle, die mich nicht kennen: ich bin Dexter, Irons Verlobter – zumindest war ich das. Ich lernte Iron im Krankenhaus kennen. Meine kleine Schwester Molly ist seit gut zwei Jahren fast nur noch dort. Seit der Krebs bei ihr diagnostiziert wurde. Die Ärzte gaben ihr noch ein Jahr, jetzt sind es schon zwei und ihr Zustand hat sich sogar gebessert. Und als dann vor einem halben Jahr meine Eltern starben war Iron für Molly und mich da, stand uns zur Seite, half uns nicht zusammenzubrechen. Sie war wundervoll und ich konnte gar nicht anders als mich in sie zu verlieben. Ich dachte ich würde mein Leben mit ihr verbringen, ich hatte es nicht auf dem Plan, dass ihr etwas passieren könnte, schließlich war ich ja der Soldat. Hätte ich auch nur geahnt, dass so etwas passieren könnte hätte ich unsere gemeinsame Zeit viel besser genutzt. Und ich konnte es meiner kleinen Schwester noch immer nicht beibringen, dass Iron tot ist. Schon allein Molly hätte endlich einmal wieder etwas so gutes wie Iron in ihrem Leben verdient gehabt. Und ich hatte geglaubt ich auch. Aber so sollte es wohl einfach nicht sein. Wir müssen einfach daran glauben, dass Gott einen größeren Plan mit uns verfolgt und alles eines Tages einen Sinn ergibt. Auch wenn ich im Moment einfach noch nicht erkennen kann was es bringen sollte mir so früh die Liebe meines Lebens zu nehmen.“

Sein letzter Satz versetzte mir einen Stich im Herzen. Es war das erste Mal, dass ich hörte, wie Dexter sagte, dass er mich liebte und für einen Moment überwältigte mich dieser Schmerz. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Dexter sich erst fühlen musste.

Nun kamen einige der Eltern von Kindern aus dem Krankenhaus und ich hörte nur mit halbem Ohr zu, bis schließlich als Letzte Claire vortrat. Ihr langes blondes Haar in einem hohen Pferdeschwanz, ihre endlich gesunde Figur in einem hübschen schwarzen Hosenanzug. Im Gegensatz zu den restlichen Trauergästen hatte sie einen entschlossenen Ausdruck auf dem Gesicht.

„Iron und ich waren die meiste Zeit nicht die besten Freunde… und selbst das ist eigentlich übertrieben. Ich hatte sie gehasst. Gehasst, weil sie mich nicht kannte und doch so viel besser verstand als jeder andere. Erst nach dem Unfall wurde mir Stück für Stück klar, dass sie nie mein Feind gewesen war sondern dass sie eigentlich nur immer auf mich aufgepasst hatte. Ohne sie würde ich heute nicht hier stehen sondern wäre wahrscheinlich schon vor Jahren gestorben. Ich schulde Iron mein Leben und jetzt werde ich nie die Gelegenheit haben ihr entsprechend dafür zu danken. Sie hat es nicht verdient diejenige zu sein, die wir heute betrauern, aber leider ist das Leben nun einmal nicht fair. Trotzdem, danke Iron, für alles. Ich werde dich nie vergessen.“

Mit einem schiefen Lächeln ging sie zurück zu ihrer Bank und der Priester trat wieder vor, aber für mich war der entscheidende Teil vorbei.

Teil 12 - Nicht wirklich überraschend

Claire blieb noch sitzen, während die restlichen Trauergäste den Raum verließen, einer nach dem anderen. Schließlich waren nur noch sie und der Priester übrig und sie trat an ihn heran.

„Was kann ich für dich tun, mein Kind?“

„Ich wollte fragen, ob es für mich möglich wäre Iron noch einmal zu sehen?“, fragte sie und nickte in Richtung des Sarges, „Ich dachte ich hätte heute die Möglichkeit dazu…“

„Es tut mir leid mein Kind, aber Irons Leiche wurde verbrannt.“

„Aber…“, begann Claire und brach dann wieder ab.

„Der Sarg ist für die Trauergäste hier, so haben es sich die Eltern gewünscht.“

„Trotzdem vielen Dank“, meinte Claire mit einem Lächeln und verließ nun ebenfalls das Gebäude.

Draußen standen die Trauergäste noch in kleinen Grüppchen zusammen und sprachen miteinander. Claire ging zielstrebig auf Eric zu und nahm ihn zur Seite.

„Was ist?“, fragte er skeptisch.

„Wenn dich jemand fragt: Du hast mich nachhause gebracht.“

„Claire…“, begann er, doch sie unterbrach ihn.

„Kannst du das für mich tun?“, fragte sie ihn mit ernster Miene.

Für einen Moment betrachtete er sie eingehend, bevor er schließlich seufzend nachgab. Claire schenkte ihm ein breites Lächeln.

„Danke“, meinte sie schlicht und war dann auch schon wieder verschwunden.

Als Claire an dem Haus ankam, wusste sie, was passiert war. Sie musste nicht erst nachsehen, einfach wie das Haus einen Hauch zu idyllisch und ruhig dalag verriet ihr alles  und für einen Augenblick konnte sie sich nicht entscheiden, ob sie vor Glück jauchzen oder vor Entsetzen erstarren sollte.

Claire entschied sich für die dritte Option: weiterzusuchen. Schon trat sie wieder aufs Gaspedal und raste in Richtung Flughafen. Während der Fahrt musste sie sich mindestens ein dutzend Mal selbst davon überzeugen, dass sie nicht verrückt geworden war – zumindest noch nicht vollkommen. Sie musste es nur einfach wissen, ob diese nagende Ahnung vielleicht doch die Wirklichkeit war. Die letzten Tage hatte sie diese eine Vermutung, dieser eine Verdacht einfach keine ruhige Minute mehr verbringen lassen und war mehr und mehr zur Obsession geworden. Ohne sich um ein Parkticket zu scheren stellte Claire ihren Wagen direkt vor den Terminals ab und eilte hinein. Sie sah sich hektisch um, während sie weiterrannte, bemüht sich das Gesicht einer jeden Person genau anzusehen.

Eine junge Frau schien von der Statur her zu passen, aber es war schwer es genau zu beurteilen, denn sie trug einen knöchellangen Mantel und einen breitkrempigen Hut. Sie stand gerade an der Sicherheitsschläuse und Claire bahnte sich einen Weg in ihre Richtung, als sie auf Anweisung des Sicherheitsmannes zuerst den Mantel und dann den Hut abnahm, welcher einen großen Schwall blonder Haare befreite, die ihr bis zur Taille hinunterflossen. Claire blieb abrupt stehen, sie hatte sich geirrt. Dieses weiße Kleid mit den Flügelärmeln hätte Iron nicht einmal tot angezogen, das wäre eher etwas für Claire. Sie konnte es nicht verhindern, dass ihr ein wütender Schrei über ihre eigene Dummheit entfuhr. Die blonde Frau, die inzwischen durch die Sicherheitsschläuse hindurch getreten war, wandte ihren Kopf zu Claire herum und lächelte breit und Claire verschlug es die Sprache. Dann lächelte sie zurück.

 

Die Beerdigung war für Moore und Hale ein Muss gewesen. Es war das Mindeste nachdem sie Irons Angreifer nicht hatten finden können. Die Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt gewesen und die beiden Detectives hatten nur mit Mühe und Not noch einen Platz im Seitenschiff gefunden.

„Fist, Ms Carter, unser herzliches Beileid“, wandte Moore sich an die Eltern, die um Jahrzehnte gealtert aussahen.

Ms Carter lächelte schwach.

„Es ist schön, dass sie gekommen sind.“

„Aber das ist doch selbstverständlich.“

„Iron hätte sich sicher sehr darüber gefreut.“

„Da bin ich mir sicher“, stimmte Moore mit einem schwachen Lächeln zu und er und Hale verabschiedeten sich, um zurück aufs Revier zu fahren.

Auf dem Weg zum Auto stolperten sie fast über Aaron, der auf der Bordsteinkannte saß und benommen in die Ferne starrte.

„Mr Jones, alles okay?“, fragte Hale besorgt und der Junge wandte ihnen den Kopf zu, doch sein Blick war noch immer auf schaurige Weise in die Ferne gerichtet.

„Ich dachte sie würde mich immer lieben“, murmelte Aaron vor sich hin, „Ich war mir sicher, dass sie immer für mich da sein würde wenn ich die Sache erst einmal verarbeitet hätte…“

„Wovon sprechen sie Mr Jones?“, fragte Hale nun ernsthaft alarmiert.

„Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Ich dachte sie würde mich immer lieben“, brabbelte Aaron einfach weiter vor sich hin ohne auf Hales Frage einzugehen.

„Aaron?!“, rief eine besorgte Stimme und schon im nächsten Moment trat Claire um die Ecke, sichtlich erleichtert Aaron gefunden zu haben.

Mit schnellen Schritten war sie sofort bei ihnen und schaffte es Aaron auf die Beine zu ziehen, während sie beruhigend auf ihn einredete.

„Ms Finney, vielleicht können sie für uns Licht in diese Situation bringen?“, fragte Moore skeptisch.

„Oh, tut mir leid Detectives. Irons Tod hat ihn nur so furchtbar mitgenommen. Man könnte schon fast eine Selbsthilfegruppe für die Leute aufmachen, die Iron geliebt haben.“

„Mr Jones auch?“, fragte Moore überrascht und Claire schnitt eine Grimasse.

„Ja, lange Geschichte. Ich selbst hab es auch erst vor kurzem erfahren. Wenn sie mich nun entschuldigen würden, ich sollte Aaron wohl besser nach Hause bringen.“

Die beiden Detectives nickten verständnisvoll und Claire verabschiedete sich mit einem Lächeln, den Arm vorsichtig um Aarons Taille gelegt.

„Und selbst jetzt noch überrascht uns Iron“, meinte Hale kopfschüttelnd.

„Ich glaub‘ nicht, dass uns der Fall jemals ganz loslassen wird.“

„Tut das nicht keiner der ungelösten Fälle?“

„Ja, aber nicht jeder hindert einen daran nachts einzuschlafen.“

„Ist es nicht komisch, dass wir mit brutalen Meuchelmorden besser nachts einschlafen können als mit Iron?“

„Vielleicht, weil wir noch nie so ohne den Ansatz einer jeglichen Spur dastanden.“

„Diese reichen Kids haben einfach viel bessere Anwälte als unsere üblichen Verdächtigen.“

„Ja. Ich werde einfach nicht das Gefühl los, dass einige dieser Leute ganz genau wissen, was passiert ist.“

„Wer weiß, vielleicht bekommt einer von ihnen in 20, 30 Jahren ein schlechtes Gewissen und erzählt dann, was wirklich passiert ist.“

„Vielleicht.“

Hales Handy klingelte und er nahm rasch ab.

„Ja?“, fragte er die Person am anderen Ende der Leitung.

„Okay, wir kommen sofort.“

Nach dem Auflegen wandte er sich wieder an Moore.

„Es gab wieder einen Mord. Dave meinte, wir sollten uns das mal anschauen.“

„Das Leben geht weiter“, seufzte Moore und fuhr zu der Adresse, die Hale ihm nannte.

Das Haus war etwas abseits, jedoch noch in einer schönen Wohngegend und gut in Schuss gehalten, wenn auch schon etwas älter. Dave wartete an der Türschwelle auf sie.

„Hey Richard, hey Andrew. Schön dass ihr gekommen seid.“

„Hey Dave, was ist es nun, dass du uns so unbedingt zeigen wolltest?“, fragte Hale neugierig.

„Nun, ihr hattet doch diesen High-Schoolfall, oder?“

„Ja, wieso?“

Dave ging ihnen voran ins Wohnzimmer. Es war altmodisch eingerichtet und neben der Spurensicherung in ihren weißen Anzügen befand sich noch ein Mann im Raum, der vor dem noch immer laufenden Fernseher in einem großen Sessel sah. Die Augen vor Schreck und Unglauben geweitet und direkt zwischen den Augen ein Einschussloch. Als Moore und Hale sein Gesicht erkannten, blieben sie erst einmal vor Schreck abrupt stehen.

„Das wirklich Interessante an diesem Fall war die Kugel.“

„Inwiefern“, fragte Moore mit belegter Stimme.

„Nun, das Vollmantelgeschoss hat keinen Bleikern. Er ist aus Eisen.“

Hale und Moore warfen sich einen schnellen Blick zu.

„Das ist wahrscheinlich eine Botschaft gewesen“, meinte Moore schließlich und Dave nickte.

„Das hab‘ ich mir auch schon gedacht.“

„Aber“, warf Hale ein, „alle Menschen, denen Iron etwas bedeutet hat, waren zum Zeitpunkt der Ermordung auf der Beerdigung.“

Moore öffnete den Mund zur Erwiderung, schloss ihn aber dann wieder. Hale hatte Recht. Jede Person, die diese Nachricht hätte senden wollen können, war zu diesem Zeitpunkt in der Kirche gewesen.

„Solche Kugeln werden nicht hergestellt, das sind Spezialanfertigungen“, erwiderte Dave.

„Was uns nichts bringt, wenn alle Verdächtigen ein hieb- und stichfestes Alibi haben. Und ich verstehe sowieso nicht, wieso sie den Musiklehrer hätten töten sollen, er hatte doch mit dem Fall um Iron überhaupt nichts zu tun.“

„Vielleicht sehen wir auch einfach nur Gespenster“, warf Hale plötzlich ein und die beiden anderen Männer sahen ihn fragend an.

„Was ich damit meine, ist, dass das alles hier vielleicht auch gar nichts mit Iron zu tun hat. Vielleicht hatte die Person einfach kein Blei da, als sie die Kugel gefertigt hat und hat deshalb Eisen genommen. Du hast es selbst gesagt Moore, wir haben einen jeden einzelnen der in Frage kam auf der Beerdigung mit unseren eigenen Augen gesehen.“

Moore musste seinem Partner rechtgeben, doch dann fiel ihm die Situation von zuvor ein.

„Da war doch diese Sache mit Aaron Jones heute.“

„Ja, das war merkwürdig“, stimmte Hale zu, „aber er war trotzdem in der Kirche.“

„Der Verlobte war aber nicht da.“

„Ja, weil er irgendwo auf hoher See unterwegs ist. Lass es gut sein Richard. Das ist nicht unser erster ungelöster Fall und es wird auch ganz sicher nicht unser Letzter sein.“

Moore seufzte ergeben.

Impressum

Texte: Yarra Mekian
Bildmaterialien: http://browse.deviantart.com/?q=backstab#/art/Backstab-10199046?_sid=7a3da2f5
Lektorat: ich selbst, also Rechtschreibung und Zeichensetzung ohne Gewähr
Tag der Veröffentlichung: 14.03.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meinem Bruder und schärfstem Kritiker

Nächste Seite
Seite 1 /