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Die Träne der Sirenennixe

Zum ersten Mal in ihrem Leben erfüllte sie der Anblick des Festlandes nicht mit Neugier auf die fremdartigen Wesen, die es bewohnten. Eine silberne Träne fand den Weg ihre Wange hinunter und sie wischte sie hastig fort. Er sollte es nicht sehen, nicht heute. Der Tag war schon schwer genug für ihn.

Mit geschmeidigen Bewegungen schwammen sie auf die kleine Insel vor dem Festland zu. Sie blieb im Wasser während er sich vorsichtig an Land zog. Dann wandte er ihr zum ersten Mal an diesem Tag seinen Blick zu. Seine Augen schimmerten silbern vor Tränen.

„Du musst dir das jetzt nicht ansehen, du solltest gehen.“

Energisch schüttelte sie den Kopf.

„Ich werde dich nicht alleine lassen.“

Mit diesen Worten ergriff sie seine Hand und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Zögerlich erwiderte er es. Dann setzten die Schmerzen ein und er schrie.

 

Die Brandung schlug leicht gegen den Bug des Schiffes und salziges Wasser spritzte auf das Deck. Sie waren jetzt schon seit zwei Wochen auf hoher See und auch wenn er es ungern zugab, vermisste er das Gefühl von festem Boden unter den Füßen.

Mit einem tiefen Seufzer schloss er die Augen. Er musste das hier hinter sich bringen und dann konnte er endlich nach Hause zurückkehren und Asta heiraten. Doch das Brautgeschenk, das ihr Vater forderte, war ein schwer zu bekommendes Gut und sich seinem Wunsch widersetzen konnte Borias nicht, denn Astas Vater war der König und er sein erster Heerführer. Der König war nicht begeistert davon gewesen, als Borias ihn um die Hand seiner Tochter bat, doch es gab etwas in seinem Leben, dass er sogar noch mehr liebte, als seine einzige Tochter: seinen Zoo. Der König sammelte alle Tiere bis hin zu den übernatürlichen Geschöpfen. So hatte er bereits verschiedene Waldgeister, Feuerteufel, Sonnenlichter und sogar Nymphen in seinem Besitz. Doch es gab etwas, was er noch nicht hatte und sich mehr wünschte als alles andere. Er wollte eine Sirenennixe besitzen. Aber diese lebten nur auf den kleinen Inseln mitten im Meer und sie waren sehr gefährlich, gefährlicher sogar als normale Sirenen, denn vor diesen konnte man sich schützen, indem man sich seine Ohren mit Wachs verschloss. Sirenennixen konnten einen aber auch schon alleine mit ihrem Aussehen so becircen, dass ein Seemann sich in die Fluten stürzte. Außerdem war ihr Blut giftig und es hieß sie könnten auch zaubern.

Ein kalter Schauer lief über Borias' Rücken. Er durfte sich nicht von seiner Angst leiten lassen und lies ein Bild von Asta vor seinem inneren Auge erscheinen. Seine schöne Asta mit ihrem wallenden schwarzen Haar, ihren sturmgrauen Augen und dem stets etwas spöttischen Lächeln auf den Lippen. Für sie lohnte sich die Gefahr, daran musste er einfach glauben.

Ein lautes Knarren verriet, dass einer der Matrosen zu ihm an Deck ins Mondlicht getreten war. Ein schneller Blick über die Schulter verriet Borias, dass es sich nicht um einen normalen Matrosen, sondern den Kapitän der 'Seestecher' handelte. Mit gemächlichen Schritten kam der große drahtige Mann mit dem schon ergrauten Haar und der Augenklappe über dem linken Auge, über das schwankende Deck auf ihn zu, ohne auch nur ein einziges Mal um sein Gleichgewicht bangen zu müssen. Er war eindeutig viel mehr auf dem Wasser zu hause als Borias. Mit einem knappen Nicken begrüßte er den Kapitän.

„Was macht ihr noch so spät hier draußen, Heerführer? Glaubt ihr etwa meine Männer hätten das Schiff nicht im Griff?“

Borias schüttelte leicht amüsiert den Kopf. Der Kapitän war stets davon überzeugt, dass niemand seine Arbeit und die seiner Männer zu würdigen wusste. Das machte ihn zwar zu einem etwas schwierigen Weggefährten, aber er verstand sich auf einmalige Weise darauf ein Schiff zu segeln.

„Ich segle nun schon seit vier Wochen mit ihnen, zwei davon auf hoher See und in dieser Zeit haben sie und ihre Mannschaft mir schon oft genug bewiesen, dass ich mir um mein Leben und das meiner Männer auf diesem Schiff keine Gedanken machen muss.“

Das Gesicht des Kapitäns errötete vor Freude. Borias hatte anscheinend genau das Richtige gesagt und erleichtert lockerte er seine angespannten Schultern.

„Der König sagte, er habe auf ihr Schiff bestanden, weil sie schon einmal Sirenennixen begegnet wären?“

Urplötzlich wich alle Freude aus dem Gesicht des Kapitäns und er wurde kalkweiß. Mit seinem einen Auge von ungewöhnlichem Blau, das dem der See so glich, sah er Borias fest an.

„Ja, ich traf einst auf die Sirenennixen, oder im Volksmund auch Seehexen genannt, wobei meiner Meinung nach der zweite Begriff sie weitaus besser beschreibt. Die Sirenen wissen nicht, dass die Männer, die sie nach unten ziehen, sterben werden. Für sie ist es natürlich über und unter Wasser atmen zu können, sie sind nicht von Grund auf böse, wie die Seehexen. Die verführen einen guten Seemann aus reiner Böswilligkeit. Es macht ihnen Spaß Menschen beim Ertrinken zuzusehen.“

„Versuchen sie mir etwa Angst zu machen, Kapitän?“

„Ja“, meinte dieser ohne den geringsten Anflug von Reue, „Ich will dass sie umkehren und wieder nach Hause fahren. Lassen sie die Seehexen Seehexen sein und setzten sie unser aller Leben nicht so leichtfertig aufs Spiel.“

Borias' Gesichtszüge verhärteten sich.

„Jedem der Männer auf diesem Schiff wurde angeboten in der Stadt zu bleiben.“

Der Kapitän lachte verächtlich.

„Sie hätten nirgends mehr anheuern können, wenn sie sich geweigert hätten den zukünftigen König zu begleiten.“

Das verschlug Borias die Sprache. Damit hatte er nicht gerechnet. Ohne ein weiteres Wort verschwand Borias unter Deck.

Der Kapitän machte einen weiteren Schritt nach vorne an die Reling und umklammerte sie fest mit beiden Händen. Sein Blick schweifte ruhelos über die Weiten des Meeres vor ihm.

„Es tut mir so Leid, Venia, so Leid“, flüsterte er mit brüchiger Stimme dem Meer zu.

Eine Träne ran aus dem einen Auge des Kapitäns und glitzerte wie flüssiges Silber im Schein des Mondes, als sie sich ihren Weg seine Wange hinunter suchte.

 

„Die Inseln in Sicht!“

In froher Erwartung rannte Borias zum Bug des Schiffes und lehnte sich über die Reling, um besser sehen zu können. Nach einer Weile gelang es ihm die zerklüfteten Felsen, die aus dem Wasser aufragten, auszumachen, die Schicksalsfelsen. Brachte man den Sirenennixen Geschenke mit, die ihnen gefielen, so ließen sie einen passieren. Gefielen sie ihnen nicht, musste man sterben.

„Holt die Seelichter und bringt sie zum Bug des Schiffes!“, brüllte der Kapitän.

Eilig rannten ein paar Matrosen unter Deck, um diese kleinen Tiere zu holen. Sie waren genauso selten, wie ihre Gegenstücke, die Sonnenlichter. Seelichter waren kleine Fische, die bei Nacht in einem sanften Blau leuchteten und bei Tag in allen Farben des Regenbogens schimmerten. Der König hatte ihnen großzügigerweise einige seiner seltenen Fische überlassen, um in die Nähe der Sirenennixen kommen zu können.

Kurze Zeit später kehrten die Matrosen vorsichtig mit den fünf Wassertanks an Deck zurück. Jeder der Tanks enthielt fünf Seelichter und ihre Schuppen glänzten in der Sonne, wie ein Regenbogen. Nun kam der Kapitän auf ihn zu.

„Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir die Schicksalsfelsen erreichen. Nun ist die letzte Gelegenheit umzukehren, Heerführer.“

„Nein, ich habe meine Entscheidung getroffen.“

Der Kapitän nickte. Dann wandte er sich seiner Mannschaft zu.

„Hauptsegel einholen, wir kommen dann vor der Insel zum stehen. Werft keinen Anker aus und vergesst nicht, schaut den Seehexen nicht in die Augen!“

Die Inseln kamen immer näher und Borias sah, dass sie verlassen dalagen. Etwas verwirrt wandte er sich an den Kapitän.

„Ich sehe keine Sirenennixen, sind wir auch wirklich an den richtigen Inseln?“

„Bloß weil ihr sie nicht sehen könnt heißt das nicht, sie wären nicht hier. Sie müssen nur nach den richtigen Zeichen suchen, wie dort.“

Er zeigte mit einem seiner schlanken Finger auf eine leichte Welle, die dort nicht hinzugehören schien.

„Sie sind hier und beobachten uns schon, das können sie mir glauben.“

„Und wie können wir sie hervorlocken?“

„Wenn ihnen unser Geschenk gefällt, werden sie sich zeigen. Wenn nicht, werden sie unser Schiff in die Tiefe reisen.“

Borias schluckte schwer.

„Das heißt wohl, wir müssen warten.“

Der Kapitän nickte.

Die Zeit schien nicht vergehen zu wollen und Borias trat nervös von einem Bein aufs andere. Ein kurzer blick zum Himmel hatte ihm gezeigt, dass sie vielleicht schon eine Stunde gewartet hatten. Langsam bekam er es mit der Angst zu tun.

„Da, seht! Sie kommen!“

Borias sah dem ausgestreckten Arm der Kapitäns nach und da waren sie wirklich. Drei Frauen, eine schöner als die andere, schwammen auf sie zu. Sie alle hatten langes blondes Haar, dass sich wie ein Umhang um sie legte. Sie schwammen auf die Insel zu, neben dem die 'Seestecher' gehalten hatte. Schneller als Borias gedacht hatte, erreichten sie die zerklüfteten Felsen und zogen sich mit einer übernatürlichen Geschicklichkeit an ihnen hinauf, bis sie auf Höhe des Decks waren. Ihre Flossen hatten sie dabei nicht in geringster Weise behindert. Nervös legte Borias seine Hand um den Griff seines Schwertes. Die Sirenennixen musterten sie mit interessiertem Blick und es herrschte Totenstille, bis die Mittlere zu sprechen begann. Ihre Stimme klang wie die zarteste Sinfonie, wie ein wunderschönes Glockenspiel im Wind.

„Was willst du hier?“

Trotz all des Wohlklangs in der Stimme war eine gewisse Schärfe wahrzunehmen. Die Sirenennixe schien wütend zu sein. Borias wollte schon antworten, als der Kapitän neben ihm auf die Knie viel.

„Verzeit mir, Potentia, aber ich musste mich den Befehlen meines Königs beugen“, sprach der Kapitän mit gesenktem Kopf.

Borias schaute verwirrt von dem Kapitän zu der Sirenennixe, Potentia. Er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen.

„Nicht, wenn du dadurch dein Volk verrätst.“

Entsetzt sog Borias die Luft ein und anscheinenden war der Rest der Mannschaft nicht weniger überrascht.

„Das würde ich niemals tun. Ich bin keiner der Euren mehr.“

Das Gesicht Potentias verzog sich zu einer wütenden Fratze, die bei jedem Menschen einfach abscheulich ausgesehen hätte. Sie jedoch wirkte unverändert schön, wenn auch wütend.

„Wie kannst du es wagen...“

„Abdi?“, fragte eine zarte Sopranstimme zögerlich und verwundert, „Bist du es wirklich?“

Mit einem Satz war der Kapitän aufgesprungen und zur gegenüberliegenden Seite des Decks gerannt.

„Venia?“

„Abdi!“

Borias rannte dem Kapitän hinterher und spähte über die Reling. In dem Wasser vor dem Schiff schwamm eine Sirenennixe, noch schöner als die drei anderen zusammen. Sie hatte langes blondes Haar, wie die anderen, und auch deren silberne Augen, die gerade voll Freude den Kapitän anblickten.

„Du bist zu mir zurückgekehrt!“

„Ich habe es dir doch versprochen.“

Nun schien auch die Sirenennixe Venia endlich die Matrosen auf dem Schiff wahrzunehmen.

„Warum hast du all diese Menschen zu uns gebracht?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

„Ich habe ihrem König die Treue geschworen.“

Erschrocken blickte Venia mit ihren großen Augen zu dem Kapitän auf.

„Aber Abdi...!“, flüsterte sie entsetzt und schüttelte den Kopf, als wolle sie das ganze nicht wahrhaben.

„Ich musste das tun, um in ihrer Welt zurechtzukommen! Ich dachte, wenn ich auf dem Meer bin, wäre ich meinem alten Selbst etwas näher, aber der König hat herausgefunden, dass ich den Standort der Schicksalsfelsen kenne. Ich habe ihm uneingeschränkte Treue gelobt und konnte mich seinem Befehl nicht widersetzen. Es tut mir so leid, Venia.“

Verzweifelt klammerte er sich an die Reling und blickte Venia in die Augen. Diese schüttelte noch immer den Kopf und entfernte sich langsam rückwärts vom Schiff. Da ging plötzlich ein Zischen durch die Luft und ein Pfeil bohrte sich in Venias Schulter. Erschrocken schrie sie auf und auch hinter sich vernahm Borias erschrockene Schreie und wütendes Fauchen. Neben ihm sprangen schon Männer des Königs über Bord und schwammen auf Venia zu.

Als Borias sich erschrocken zu den anderen Schreien umdrehte, sah er, dass man auch die anderen drei Sirenennixen angeschossen hatte. Wütend fauchend und die Zähne blecken versuchten die zwei äußeren Potentia vor den Männern, die mit gezückten Schwertern und gespannten Bögen auf sie zukamen, zu schützen.

Neben Borias war der Kapitän entsetzt zu Boden gesunken und umklammerte noch immer entsetzt die Reling.

„Nicht sie!“, brüllte er entsetzt und starrte auf Venia, „Nicht sie! Lasst sie sofort wieder los!“

Der Kapitän war kurz davor selbst ins Wasser zu springen, doch Borias hielt ihn zurück.

„Seien sie still, so können sie ihr auch nicht helfen“, zischte er ihm ins Ohr.

Ergeben sackte der Kapitän in seinen Armen zusammen und Borias führte ihn unter Deck in die Kapitänskajüte. Dort setzte er ihn auf einen Stuhl, als er hörte wie Befehle gerufen und das Schiff gewendet wurde.

Mit einem Satz war Borias wieder aus der Kajüte und stürmte zurück an Deck. Vor ihm versuchten gerade die Matrosen die letzte Sirenennixe, eine derer, die bei Potentia gewesen waren, vollständig in den Wassertank zu bekommen. Diese wehrte sich heftig um sich schlagend und beißend. Um die Wassertanks herum lagen schon mehrere Matrosen zuckend auf dem Boden. Schließlich gelang es ihnen den Wassertank über der Sirenennixe zu schließen und mit einem großen Schloss endgültig zu verriegeln. Die Matrosen atmeten alle erleichtert auf.

Wutentbrannt stürzte Borias auf den Hauptmann des Königs, der sie mir seinen Männern begleitet hatte, zu.

„Was denken sie, haben sie da getan?“, fuhr er ihn an.

Der Hauptmann musterte ihn mit ausdrucksloser Miene.

„Die Befehle des Königs durchgeführt. Ihr habt doch nicht ernsthaft geglaubt, eine Sirenennixe wäre freiwillig mit uns gekommen?“

„Das ist mir auch klar, aber warum vier?“

„Fünf“, berichtigte ihn der Hauptmann, „Eine kam noch und hat versucht den anderen zu helfen.“

Borias schüttelte den Kopf und beruhigte sich mit ein paar tiefen Atemzügen.

„Warum wollte der Kapitän nicht, dass wir diese dort“, er zeigte auf Venia, „mitnehmen und warum haben sie ihn gekannt?“

„Kapitän Abdi ist selbst eine Sirenennixe, verlor aber wie jede männliche im Alter von 23 Jahren seine Fähigkeit unter Wasser zu atmen und seine Flosse verwandelte sich in Beine. Und er wollte nicht, dass wir die Kleine mitnehmen, weil das seine Schwester ist.“

Entsetzt, und von diesen Erkenntnissen überrumpelt starrte Borias Venia in die Augen. Diese silbernen Augen blickten in die seinen voller Verzweiflung und eine silberne Träne löste sich aus ihnen.

Impressum

Texte: Yarra Mekian
Tag der Veröffentlichung: 11.06.2011

Alle Rechte vorbehalten

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