Inhalt

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Prolog

Die langen Schatten und das Zwielicht, das sie schufen, boten die perfekte Deckung, auch wenn sie keine benötigt hätten. Die feiernde Menge am Strand bemerkte sie nicht. Eine Gruppe von sechs Personen entfernte sich lachend von dem lärmenden Strand und lief auf die Dünen zu, hinter denen sich drei Männer verbargen. Als die Gruppe diese gerade passieren wollten, traten die Männer aus den Schatten. Einer an der Spitze, die zwei anderen zu seinen Seiten. Ihr Anführer legte den Kopf schräg und musterte die Gruppe, die sie aufgehalten hatten. Es waren vier Mädchen und zwei Jungen, alle Anfang zwanzig. Sie wirkten stark angetrunken, bis auf eines der Mädchen, das den größeren der beiden Jungen stützte, der sich kaum noch selbst auf den Beinen halten konnte.

Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Anführers aus. Er trat einen Schritt auf eines der Mädchen zu. Sie hatte langes kastanienbraunes Haar, meerblaue Augen und eine ansprechende Figur, die sehr zur Geltung kam, da sie nur ein Bikinioberteil und Shorts trug.

„Ich nehme mir diese und die andere Brünette“, bemerkte der Anführer mir breiter werdendem Lächeln.

„Dann nehm' ich mir die zwei hinten links“, reservierte sich der zur Linken des Anführers stehende Mann fast gelangweilt ein kleines schwarzhaariges, etwas molliges Mädchen und den etwas kleineren Jungen.

„Und für mich bleiben dann wohl nur die zwei hinten rechts“, folgerte der Mann, der an der rechten Seite des Anführers stand, gelangweilt.

Während der betrunkene junge Mann sich nur lallend auf das kleine blonde Mädchen stützte, bemerkte sie sehr wohl, dass etwas mit der Situation nicht stimmte. Sie warf ihren Begleitern unsichere Blicke zu, doch diese waren vom Alkohol zu sehr vernebelt, als dass sie sie bemerken würden.

„Kommt, lasst uns nicht weiter mit unserem Essen spielen, ich hab noch besseres vor.“

Das blonde Mädchen zuckte bei den Worten des Anführers zusammen, doch blieb ihr keine Zeit zu fliehen. Die Männer stürzen sich bereits auf sie und bohrten den ersten ihre Zähne in den Hals.

Die Schreie des Mädchens verloren sich in der Musik, die vom Strand her bis zu den Dünen dröhnte.

Amerika

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Kapitel 1 - Mein Leben

Die Straßen hinter dem Club waren leer und nur die dröhnenden Bässe der Musik, die dem Club entwichen, waren noch zu hören. Ich hatte meine Schuhe bereits abgestreift und in einer Seitenstraße zurückgelassen, wo ich sie später finden würde, denn für das, was ich jetzt vorhatte, waren die hohen Pumps nur ein Hindernis.

Als ich vorsichtig um die nächste Ecke bog kam er wieder in mein Blickfeld. Er war ca. 1,80m groß, trug das kurze braune Haar modisch wirr und hatte bei seiner Kleidungswahl offensichtlich keine Kosten gescheut. Sie war ohne frage teuer gewesen und es würde eine Schande sein sie mit Blut zu beflecken.

Ich überlegte einen Moment, ob ich mich von hinten an ihn heranschleichen sollte, entschied mich dann aber doch für eine andere Taktik.

Mit Absicht geriet ich so laut wie möglich an eine Mülltonne und diese fiel mit einem lauten Scheppern zu Boden. Der Mann fuhr erschrocken herum, entspannte sich aber merklich, als er mich entdeckte. Ich hatte meinen betrunkensten Blick aufgesetzt, schwankte künstlich ein wenig und sprach sehr schwerfällig.

„'Tschuldigung, weißt du, wie ich zur Hauptstraße komme?“

Jetzt lächelte der Mann und kam auf mich zu.

„Klar, ich bring dich hin, aber am besten rufen wir dir noch ein Taxi. Ich glaube nämlich nicht, dass du allein nach hause findest.“

Ich lächelte ihn dankbar an. Jetzt war er nur noch wenige Schritte entfernt. Ich ging ihm schwanken entgegen und lies dabei meine linke Hand in meine Handtasche gleiten. Er streckte die rechte Hand aus, um mich, falls nötig, aufzufangen und in seinen Augen sah ich, dass er vor hatte mich zu seinem Snack zu machen. Ich stand jetzt direkt vor ihm und er benutzte seine rechte Hand um mir das Haar von den Schulten zu streichen, sodass mein Hals frei lag.

Ich war mir nicht sicher, ob er die zwei kleinen Narben dort bemerkte, aber das spielte auch keine Rolle. Bevor er auch nur seine Zähne in die Nähe meines Halses bringen konnte hatte ich meine linke Hand aus der Tasche gezogen und ihm einen Pflock durchs Herz gerammt. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, sein Mund formte sich zu einem lautlosen Schrei, doch das vorherrschendste Gefühl in seinem Gesicht war Verwunderung. Er konnte es nicht fassen, dass ich ihn getötet hatte und ein verschlagenes Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. Ich stieß noch einmal mit dem Pflock nach, bevor ich ihn endgültig aus dem Vampir herauszog. Der Körper glitt geräuschlos zu Boden und ich förderte automatisch ein Tuch zutage, an dem ich die wertvolle Waffe aus Titan abwischte. Anschließend warf ich es auf die Leiche, holte ein Fläschchen Ethanol hervor, übergoss den toten Vampir damit und zündete ihn an.

Nun musste ich mich beeilen und schnell in den Club zurückkehren. Ich sammelte meine Schuhe in der Seitenstraße ein und schlüpfte durch die Hintertür zurück in den Club. Während ich versuchte mir in dem Gedränge das herrschte die Schuhe anzuziehen, betrachtete ich alle Personen im Raum kurz und suchte nach Vampiren. Für das ungeübte Auge war es fast unmöglich sie zu finden, doch ich hatte in den letzten zwei Jahren nichts anderes getan, als auf ihre besonderen Merkmale zu achten: ihre kaum merkliche Blässe, ihre übernatürliche Eleganz, ihr gieriger Blick, wenn sie nach Blut dürsteten.

Ich hasste sie, vom tiefsten Grund meiner Seele. Sie waren wider der Natur, es sollte sie nicht geben. Der Hass wallte in meiner Brust auf und ich hatte Mühe mich nicht auf den Vampir zu stürzen, den ich gerade entdeckte.

Es war ein Mann, wahrscheinlich Mitte zwanzig als er verwandelt wurde, um die 1,90m groß, muskulös, mit kinnlangem, dunkelbraunem Haar, das im schummerigen Licht des Clubs schwarz wirkte. Er stand mit dem Rücken zu mir, doch allein daran, wie er dastand konnte ich erkennen, was er war.

Ich war nie besonders religiös gewesen, doch hielt ich diese Wesen trotzdem für Ausgeburten der Hölle, für die Kinder des Teufels, gesandt auf diese Welt um unschuldige Seelen zu entführen. Auch wenn das ziemlich melodramatisch klang, so konnte ich es nicht anders beschreiben. Um etwas, das nicht von dieser Welt stammt, egal ob positiv oder negativ, zu beschreiben, passte eine blumige Sprache am Besten.

Der Vampir unterhielt sich mit einem Menschenmädchen. Sie war etwas größer wie ich, ca. 1,70m, hatte schokoladenbraunes Haar, große braune Kulleraugen und trug einen extrem kurzen Rock sowie ein mindestens zwei Nummern zu kleines, pinkes Top. Ich schnaubte verächtlich über den Typ Mensch, den sich der Vampir ausgesucht hatte. Die Kleidung des Mädchens schrie förmlich Sex. Zu solchen Gelegenheiten fiel es mir manchmal schwer mich daran zu erinnern, warum ich eigentlich die Menschen vor den Vampiren schützen wollte. Doch dann brachen die Erinnerungen immer mit so einer Wucht über mich herein, dass ich es kaum ertragen konnte. So war es auch diesmal. Ich schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief durch. Ich musste diesem Mädchen helfen. Also stand ich auf, strich mir mein schwarzes Etuikleid glatt und ging auf den Vampir zu. Ich lief einen kleinen Bogen, sodass ich nicht von hinten an ihn herantreten musste, sondern in sein Blickfeld geriet. Als ich nur noch ein paar Schritte hinter dem Mädchen war sah er mich und ich setzte mein männermordendes Lächeln auf. Es wirkte. Er entschuldigte sich bei dem Mädchen und kam auf mich zu und ich musste zugeben, dass er wirklich gut aussah. Das kinnlange, dunkelbraune Haar umrahmte seine perfekten Gesichtszüge und betonte seinen muskulösen Hals. Doch das bemerkenswerteste an seinem Gesicht waren seine ungewöhnlichen Augen. Sie waren grau, grau wie Gewitterwolken, und unglaublich tief. Ich war schon dabei mich in ihnen zu verlieren, als mir wieder einfiel was er war und was er gerade versucht hatte zu tun. Nur mir Mühe konnte ich mir einen angewiderten Gesichtsausdruck verkneifen. Alle Vampire konnten Menschen beeinflussen, sie dazu bringen das zu tun, was sie wollten, doch ich hatte noch nie einen Vampir erlebt, der so geschickt darin war. Bei ihm hatte ich es zu Anfang gar nicht bemerkt.

Ich glaubte für einen Moment Verwunderung in seinen Augen aufblitzen zu sehen, als ich mich gegen seine Beeinflussung zur Wehr setzte, doch dieser Moment war so schnell vorbei, dass ich mir nicht sicher seien konnte. Nach zwei weiteren Schritten stand er vor mir und hielt mir seine Hand hin.

„Mikhail.“

„Delilah.“

Überrascht hob er eine Augenbraue.

„Das ist aber ein ungewöhnlicher Name.“

Ich konnte mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen.

„Das ist Mikhail auch.“

Jetzt war es an ihm zu Lächeln.

„Hier in Amerika vielleicht, aber nicht in Russland. Und ich dachte, dass er allein wegen den Zusammenhängen....“

Er sah mich etwas unsicher an und wieder lächelte ich.

„Du meinst weil Delilah in der Bibel eine Verräterin ist, die Simson, den Mann der sie liebt, für ein paar hundert Silberstücke an die Philister verrät? Doch, genau nach der bin ich benannt.“

Es war nicht mein echter Name, doch hatte ich mir angewöhnt ihn in der Nähe von Vampiren zu benutzen. Falls mir einmal einer entkommen sollte wollte ich nicht, dass er wüsste nach wem er suchen muss. Und außerdem machte ich das, was Delilah getan hatte eigentlich jetzt mit den Vampiren: Ich erschlich mir ihr Vertrauen und fiel ihnen dann eiskalt in den Rücken. Mir gefiel diese Assoziation.

Mikhails wachsende Verwunderung spiegelte sich für einige kurze Momente auf seinem Gesicht wider. Dann begann er zu grinsen.

„Und heißt du nur so, oder BIST du auch so?“

Er hatte den Satz so anzüglich betont, dass ich ihm am liebsten den Pflock ins Herz gerammt hätte. Genau hier, im Club vor allen Leuten. Doch ich wusste, dass ich dann eine Menge Ärger am Hals haben würde und zum ersten Mal an diesem Abend musste ich mich wirklich dazu zwingen zu lächeln und meine Antwort fiel etwas schärfer aus als beabsichtigt.

„Ich an deiner Stelle würde nicht versuchen es herauszufinden.“

Doch statt sich wegen meiner vor Verachtung triefender Stimme zu entschuldigen, grinste er nur frech und lehnte sich mit übermenschlicher Geschwindigkeit vor, sodass seine Lippen fast direkt an meinem Ohr lagen. Er hatte sich so schnell bewegt, dass ich keine Chance hatte auszuweichen und Adrenalin schoss durch meinen Körper. Als er zu sprechen begann konnte ich es nicht verhindern, dass ich eine Gänsehaut bekam.

„Es war nett dich kennenzulernen. Ich hoffe wir treffen uns bald wieder, wenn du nicht so geladen bist. Ich freue mich schon. Bis bald, Delilah, Verräterin derer, die ihr am meisten vertrauen.“

Dann spürte ich nur noch einen Luftzug und fort war er. Ich begann am ganzen Leib zu zittern und schob mich so schnell ich konnte auf einen der wenigen Tische im Randbereich des Clubs zu. Dort lies ich mich auf eine der gepolsterten Lederbänke fallen, schlang mir die Arme um den Körper und atmete tief durch. Nach einer Weile legte sich das Zittern, doch der Schock saß noch tief. Er war so unglaublich schnell gewesen. Ich hatte schon gegen viele Vampire gekämpft, doch keiner konnte es auch nur im entferntesten mit Mikhail aufnehmen. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie unglaublich alt er seien musste. In Amerika hielten sich in der Regel keine der älteren Vampire auf, sie pflegten es in der Nähe ihres Heimatlandes zu bleiben, was dazu führte, dass alle alten Vampire in Europa lebten. Meist traf man hier nur auf Vampire die maximal nicht viel älter als hundert Jahre alt waren, was für unsterbliche Wesen einem beginnenden Teenager entspricht – Impulsiv, niemals beherrscht, leicht abzulenken, unkoordiniert, völliges Vertrauen in ihre vampirischen Fähigkeiten und ihre Überlegenheit gegenüber Menschen. Da war Mikhail definitiv eine Nummer zu groß für mich.

Ich atmete noch ein paar Mal tief durch, dann stand ich mit einem Seufzer auf und bahnte mir einen Weg durch die tanzende Menge zum Ausgang. Die stickige Luft des Clubs wich einer frischen Kühle, als ich die Tür hinter mir schloss. Ich sagte mir, dass ein Vampir schon eine gute Beute war, was auch stimmte. Manchmal traf ich mehrere Wochen lang auf keinen einzigen Vampir.

Mit zügigen Schritten lief ich durch die dunklen Seitengassen. Auf die meisten hätte diese Dunkelheit bedrohlich gewirkt und sie hätten es vorgezogen auf den hell erleuchteten, belebten Hauptstraßen zu gehen, doch ich schätzte diese Finsternis. Auch wenn ich in ihr so blind war wie jeder andere Mensch, so erkannte ich doch ihre Vorzüge. Sie beschützte und versteckte mich, lies mich ohne jegliche menschliche Aufmerksamkeit die Vampire töten, die sich in ihr versteckten.

Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach zwei Uhr morgens. Heute Nacht würde ich wenigstens noch einige Stunden Schlaf finden. Vor meiner Haustür angekommen, holte ich meine Hausschlüssel hervor, vier an der Zahl. Seit ich von der Existenz von Vampiren wusste war ich extrem vorsichtig geworden. Auch wenn vier Schlösser einen Vampir genauso wenig aufhalten könnten wie nur ein einziges, so hoffte ich, dass es doch eine abschreckende Wirkung haben würde. Kein Vampir würde es wagen die einzige Regel ihrer Welt zu brechen.

In der Wohnung war es nur eine Spur wärmer wie draußen, doch der beginnende Frühling würde dies schnell ändern. Ich ging durch den kurzen Flur, schaltete das Licht an und stand meiner einfallslosen Wohnzimmereinrichtung gegenüber. An einer Wand des großzügig geschnittenen Raumes stand ein braunes Ledersofa, davor, in circa drei Metern Abstand, ein großer Plasmabildschirm. An der schräg gegenüberliegenden Wand unter dem Fenster befand sich mein Schreibtisch, dessen Holz genauso dunkel war wie das Leder des Sofa. Einige lose Blätter und ein Computer befanden sich darauf. Ansonsten war der Raum leer. Ich schüttelte leicht den Kopf und ging in mein Schlafzimmer. Es war das größte Zimmer in meiner Wohnung und eine Wand wurde vollkommen von einem überdimensionalen Kleiderschrank beherrscht, eine andere von zwei Bücherregalen. Ich zog mich rasch aus und lies meine Kleidung achtlos auf den Teppich fallen. Ich kroch müde und erschöpft unter die Decke meines Bettes und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Kapitel 2 - Das Ende meiner Familie

Am nächsten Tag erwachte ich um kurz vor elf, als mein Handy klingelte. Verschlafen und mit noch geschlossenen Augen tastete ich mit meiner Hand suchend das Nachtkästchen ab. Schließlich gefunden hob ich verschlafen ab.

„Ja?“

„Samantha Ariane, wo zum Teufel steckst du?“

„Huh?“

„Wir waren zum frühstücken verabredet!“

„Oh, Mist!“

Mit einem weiteren Fluch auf dem Lippen sprang ich aus dem Bett und rannte zu meinem Kleiderschrank.

„In zehn Minuten bist du da.“

Hastig zog ich etwas aus dem Kleiderschrank und versuchte im gehen in eine Jeans zu kommen, mit wenig Erfolg. Also blieb ich erst einmal stehen, schlüpfte in die Jeans und ein schlichtes weißes T-Shirt und machte mir auf dem Weg in den Flur hastig einen Zopf. Aus dem Schuhregal zu meiner Rechten nahm ich ein Paar schlichte schwarze Halbschuhe und eine dazu passende schwarze Lederjacke aus dem Schrank zu meiner Linken. Dann schnappte ich mir noch schnell meine Handtasche, auch aus schwarzem Leder, und rannte förmlich aus meiner Wohnung.

Während ich die Straßen zu meinem Lieblingscafé entlang eilte, dachte ich an meine beste Freundin, die bestimmt stinksauer auf einer der dunkelroten Lederbänke saß und höchstwahrscheinlich wieder mal eine arme Serviette quälte. Das Café war nur einige Straßen entfernt, doch dauerte es trotz meines schnellen Tempos fast sieben Minuten bis ich da war. Durch das Fenster konnte ich eine junge Frau mit wildem Lockenschopf ausmachen, die gerade eine Serviette in kleine Stückchen zerriss.

Der Ton einer kleinen Glocke ertönte, als ich den Laden betrat und die junge Frau sah von ihrer Serviette auf. Mit einem entschuldigenden Lächeln ging ich auf sie zu.

„Es tut mir leid Nala. Ich hab verschlafen.“

Zerknirscht setzte ich mich auf die Bank ihr gegenüber, während sie mich mit scharfen Blicken musterte. Das Schweigen war drückend und ich wand mich unter ihrem Blick. Meine Gedanken schweiften ab und ich merkte nicht, wie ich mich verspannte. Als Nala endlich sprach, klang sie erschöpft.

„Sam, du musst es vergessen.“

Überrascht sah ich ihr in die Augen. Natürlich wusste sie genau, was ich dachte. Ich schloss die Augen um zu verhindern, dass die Bilder wieder in meinen Geist drangen.

„Sam?“, fragte Nala mit vorsichtiger Stimme.

Ich öffnete die Augen und sah, dass sie auf meine Hände starrte. Ohne es zu bemerken hatte ich die Tischplatte mit beiden Händen so fest umklammert, dass sich meine Knöchel weiß unter meiner Haut abzeichneten. Langsam und mit einiger Mühe löste ich meine Hände und faltete sie in meinem Schoß. Während der ganzen Prozedur hielt ich meinen Blick geflissentlich auf meine Hände gerichtet.

„Ich hätte nicht überleben sollen. Ich hätte wie die anderen auch tot sein müssen, aber ich hatte ja Kopfschmerzen und musste sie unbedingt allein da drin lassen. Ich...“

„Sam, denkst du etwa deine Familie würde wollen, dass du so leidest? Denkst du etwa deine Eltern oder deine Brüder hätten dich lieber mit sich sterben sehen, als zu wissen, dass wenigstens einer überlebt?“

„Andreas war näher an der Tür, aber er hat mich hinaus gestoßen.“

Tränen füllten meine Augen und ich versuchte hastig sie wegzublinzeln. Ich konnte mich noch gut an den Ausdruck seiner Augen erinnern. Es war alles sehr schnell gegangen, doch daran erinnerte ich mich noch genau. Sie waren erfüllt von Angst gewesen, doch nicht um sich. Angst, dass seiner kleinen Schwester, die er schon sein Leben lang beschützte, etwas geschehen könnte. Angst, dass er sie diesmal nicht beschützen könnte. An sein eigenes Leben hatte er in diesem Moment keinen einzigen Gedanken verschwendet. Er war so sehr damit beschäftigt gewesen mein Leben zu retten, dass er seines ganz vergessen hatte. Das würde ich mir niemals verzeihen.

„Sam, du hattest keine Schuld an der Gasexplosion. Es war ein technischer Defekt, das hat die Polizei gesagt.“

„Mom liebte Kerzen“, ich lächelte schwach, wie in Trance, „sie hat immer welche zum Essen angezündet, doch an diesem Abend hat sie es gelassen, weil ich sie darum gebeten habe. Hätten die Kerzen gebrannt, hätte sich das Gas nicht so weit ausbreiten können, die Explosion wäre kleiner gewesen und alle wären noch am Leben.“

„Sam, weder deine Mom, noch dein Dad, noch Tom und ganz sicher nicht Andreas würden dir irgendeine Schuld an dem Zwischenfall geben.“

Ich lächelte Nala erschöpft an.

„Bitte lass uns über etwas anderes, als den Tod meiner Familie reden, ja?“

Nala erwiderte mein Lächeln, auch wenn der besorgte Ausdruck noch immer nicht aus ihren Augen gewichen war.

„Ok,....hm....oh, ich hab einen Typen kennengelernt.“

Ich schnaubte entnervt und verdrehte die Augen. Nala kicherte.

„Oh, glaub mir, bei dem Kerl lohnt es sich. Er sieht einfach unglaublich aus, ist gebildet, ist kein Amerikaner und hab ich schon erwähnt, wie unglaublich er aussieht?“

Ich verdrehte wieder die Augen, konnte mir aber ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Nala und die Männer waren so eine Sache. Sie verliebte sich wahnsinnig schnell und betete die Kerle an, was diese genossen, aber genauso schnell wie sie ihnen verfiel, langweilten sie die Typen auch schon wieder. Für die meisten bedeutete das ein hartes Aufkommen in der Realität, da dieser Prozess bei Nala so schnell verlief, dass die Kerle ihn gar nicht mitbekamen. Ich, für meinen Teil, genoss es an diesem Spektakel teilhaben zu dürfen.

„Er ist Russe und hat einen echt hammermäßigen Akzent. Ich glaube dieses Mal stelle ich ihn dir sogar vor.“

Ich konnte es nicht verhindern, dass ich sofort an Mikhail und seinesgleichen dachte und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Was, wenn der Kerl, mit dem sich Nala traf, ein Vampir war? Ich hatte mir diese Frage schon so oft gestellt, bei jedem ihrer neuen Freunde gezittert. Bisher hatte ich Glück gehabt. Die Frage war nur, wie lange es noch anhalten würde. Abwesend bestellte ich einen grünen Tee. Von Kaffee hielt ich nicht viel, der Gedanke an Magengeschwüre behagte mir nicht und ich konnte auch anders an meine tägliche Koffeindosis kommen.

„Was denn, kein Kommentar?“, neckte Nala mich.

Ich grinste sie an.

„Nee, im Moment bin ich vollauf zufrieden damit dich mit meinem Schweigen zu verunsichern.“

Nala schlug spielerisch nach mir und bedachte mich mit einem nachsichtigen Gesichtsausdruck.

„Ich geh mit ihm morgen Abend in den Club, kommst du mit?“

Erstaunt sah ich sie an. Der letzte Kerl, den sie mir vorgestellt hatte, war eine Ewigkeit her und das auch nur, weil ich ich sowieso schon kannte. Dies war das erste Mal, dass sie mir einen ihrer Kerle wirklich vorstellen wollte.

„Äh, ok, wieso nicht. Treffen wir uns morgen um 22:00 Uhr in der Bar neben unserem Club?“

Nala strahlte mich an.

„Das wäre super, ich freue mich!“

Dann sah sie auf ihre Uhr und erschrak.

„Oh Mist, meine Vorlesung beginnt in keiner halben Stunde, tut mir leid Sam, aber ich muss los.“

Nala umarmte mich rasch, legte etwas Geld auf den Tisch und stürmte aus dem Laden. Lächelnd trank ich einen Schluck von meinem Tee. Das würde morgen sicher interessant werden, aber erst einmal musste ich noch zu Yo.

Yos Laden lag in einer Seitenstraße weit entfernt vom Trubel der Hauptstraßen mit den vielen Geschäftigen und Touristen. Eine kleine Glocke bimmelte, als ich die Tür öffnete. Eine gelangweilt aussehende, über und über tätowierte junge Frau stand hinter einem steril wirkenden Tresen.

„Hey Sparks, neues Tattoo auf deinem rechten Arm?“

„Sind asiatische Schutzsymbole. Yo ist hinten, wenn du ihn suchst.“

Ich nickte ihr zu und ging durch einen Vorhang in den hinteren Teil des Ladens. Dort saß Yo auf einem Stuhl, mit einem Zeichenblock auf dem Schoß. Darauf war ein komplexes Muster aus den verschiedensten geometrischen Formen zu sehen, die bei genauerer Betrachtung fast wie eine Blumenwiese aussahen. Schließlich blickte Yo von seiner Zeichenarbeit auf und entdeckte mich endlich. Er lächelte kurz.

„Hey Sam, na, wieder ein Punkt fällig oder darf ich mich endlich mal an dir verkünsteln?“

„Nur der Punkt, wie immer Yo.“

Er schnalzte missbilligend mit der Zunge, lies jedoch mit nichts weiterem seine Unmut bemerken.

„Dann zieh mal dein T-Shirt aus.“

Ich zog mir das Shirt über den Kopf und das Tattoo auf meiner rechten Seite wurde sichtbar. Drei japanische Schriftzeichen, untereinander geschrieben mit gepunkteten Kreisen darum herum, die aussahen wie sich ausbreitende Wellen. Der äußerste Kreis bestand momentan nur aus einem fünftel dessen, was er einmal mit allen Punkten seien würde.

Ich legte mich auf meine linke Seite und Yo betrachtete verträumt sein Werk.

„Warum lässt du mich nicht den Kreis fertig tätowieren, das würde hammer aussehen...“

„Nur einer, wie meistens“, unterbrach ich Yo.

„Ich versteh dich echt nicht, Kleines“, meine Yo, während er mit einem Desinfektionstuch die Stelle abwischte, auf der er tätowieren würde.

„Hatte echt große Hoffnungen in dich, als du hier zum ersten Mal reingeschneit bist. Hattest sofort ne Vorlage in der Hand, hast genau gewusst, was du willst.“

Ich spürte wie sich die Nadel in meine Haut bohrte.

„Hat mich anfangs schon ein bisschen verwundert. Ich meine, wer lässt sich schon die Zeichen für Untoter, Tod und Schicksal eintätowieren? War schon ein bisschen gruselig, aber bist ja eigentlich ein echt nettes Mädchen.“

Er schien fertig, denn der kleine stechende Schmerz verschwand von meiner Haut.

„Aber dann das mit den Punkten. Zählst du etwa die Kerle mit denen du geschlafen hast, oder was?“

Ich konnte mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen, während ich mir mein T-Shirt wieder überstreifte.

„So was in der Art.“

„Hui, aber das war ja jetzt schon der........35. Punkt oder so. Respekt Kleines, wenn man dich so sieht, denkt man das gar nicht.“

Er lächelt mich schief an und ich sah den Witz in seinen Augen.

„Tja, so bin ich halt.“

Ich drehte mich um um aus meiner Tasche etwas Geld zu holen. Dabei merkte ich, wie Yo meinen linken Arm anstarrte und ich zog ihn schnell hinter meinen Rücken.

„Du solltest ihn nicht immer verstecken, Kleines. Narben sind keine Schande. Sie machen dich zu etwas besonderem und auf deine ganz eigene Art und Weise schön. Du musst sie nur zeigen und dazu stehen.“

Ich drückte ihm das Geld in die Hand, verabschiedete mich kurz ohne auf seinen Kommentar einzugehen und verließ das Tatoostudio. Während ich zur Uni lief rieb ich mir abwesend über meine linken Arm bevor ich mir meine Lederjacke wieder anzog. Wie hatte ich sie nur vergessen können? Die Narben an meinem Arm waren der einzige Schaden, den ich bei der Gasexplosion davongetragen hatte. Die Glastüre war durch die von der Gasexplosion ausgelöste Druckwelle zersprungen und aberhunderte Glassplitter hatten sich in meine linke Seite gebohrt. Meinen Arm hatte es am schlimmsten getroffen, da er den Splittern ungeschützt ausgesetzt gewesen war, während der Rest meiner linken Seite gut von der kurzärmligen Lederjacke geschützt gewesen war. Nun erinnerten mich diese Narben jeden Tag an das, was vorgefallen war und ich trug fast nur speziell für mich angefertigte Oberteile, deren linker Ärmel lang war. Das T-Shirt, dass ich heute trug war eines der wenigen Überbleibsel von vor dem Unfall. Ich hatte keine Ahnung, warum ich es heute angezogen hatte, aber es war zu spät, um vor der Vorlesung noch einmal nach Hause zu gehen. Mit einem verwirrten Kopfschütteln betrat ich das Universitätsgelände.

Kapitel 3 - Darius

ADS, Aufmerksamkeitsdefizitstörung. Das war es, was die Ärzte meinen Eltern mitgeteilt hatten, als ich gerade mal sieben Jahre alt gewesen war. Was für ein Unfug. Ich wurde in eine spezielle Schule geschickt, die sich auf Kinder mit ADS und anderen Lernstörungen spezialisiert hatten. Dort wurde es aber nur noch schlimmer. Als ich dann neun wurde stellten die Ärzte fest, dass es doch nicht ADS war. Stattdessen wurde bei mir ein IQ-Test gemacht mit einem Ergebnis von 180. Wieder wurde ich auf eine spezielle Schule geschickt, dieses Mal ein Hochbegabteninternat. Doch auch dort war ich negativ aufgefallen. Ich hatte einfach nicht zugehört oder war erst gar nicht zum Unterricht erschienen. Schließlich schickten mich meine Eltern auf eine 'normale' Schule. Mein Verhalten wurde zwar nicht viel besser, doch dort interessierte es keinen, solange ich die Schule nicht gerade anzündete. Meine Noten waren gut und ich ging von der Schule ohne Probleme nach der letzten Klasse ab. Ich trug mich ins Jurastudium ein. Warum, weiß ich bis heute nicht. Es war nicht so, dass ich es furchtbar fand oder so, aber die Erfüllung meines Lebens war es auch nicht gerade. Ich wusste nie, was ich machen wollte, bis ich angefangen hatte Vampire zu jagen. Ich war nicht so dumm immer in meiner Heimatstadt zu jagen. Ich reiste viel herum, immer in die großen Städte. Es war eine gute Wochenendbeschäftigung, denn das Studium wollte ich nicht abbrechen, meinen Eltern zuliebe.

„Miss Anderson, wenn sie kein Interesse haben dieser Vorlesung zu lauschen können sie gerne gehen. Niemand zwingt sie hier zu bleiben.“

Mr Pajula war ein anstrengender Professor. Er fühlte sich immer sehr schnell persönlich angegriffen, wenn man nicht seine ganze Aufmerksamkeit auf ihn allein richtete. Ich für meinen Teil wünschte mir, dass seine Familie schön in Finnland geblieben wäre, damit ich ihn jetzt nicht ertragen müsste.

„Tut mir leid, Mr Pajula. Kommt nicht wieder vor. Ich schenke ihnen nun meine ungeteilte Aufmerksamkeit.“

Er musterte mich kurz mit hochgezogener Augenbraue und fuhr dann mit seinem Monolog fort. Ein rascher Blick durch den Hörsaal zeigte mir, dass ich nicht die einzige unaufmerksame Studentin war, weshalb ich den Rest der Vorlesung in einem Dämmerzustand verbrachte.

Als die Uhr endlich 2 zeigte, kehrte mein Bewusstsein langsam zurück. Am Rande bekam ich mit, wie Mr Pajula die Vorlesung beendete und verließ den Hörsaal. Ich wollte noch unbedingt bei Darius vorbeischauen.

Wenn man Darius beschreiben sollte würden einem wahrscheinlich zuerst die Worte groß, gutaussehend und eine Menge Muskeln in den Sinn kommen. Mir war jedoch viel wichtiger, dass er mich gerettet hatte und dass er dieselben Tätowierungen trug wie ich: 'Untoter, Tot, Schicksal'. Die Zeichen, die uns als Vampirjäger auswiesen und einer kleinen Schar zeigten, was wir waren. Auch er studierte nebenbei weiter und war der Grund, dass ich hierher gekommen war. Darius hatte mich alles über die Vampire gelehrt, nachdem ich mich bereiterklärt hatte sie zu jagen. Im Gegensatz zu mir zog er es jedoch vor im Studentenwohnheim zu wohnen. Ganz nach dem Prinzip des 'in der Menge Verschwindens'. Ich war eher für 'sich weit weg vom Geschehen aufhalten', aber da dachte jeder Vampirjäger sowieso anders.

Sein Wohnheim war das größte auf dem Campus und von meinem Hörsaal nur gute fünf Minuten zu Fuß entfernt. Sein Mitbewohner Ben war vollkommen unwissend, so wie ich es noch vor etwa zweieinhalb Jahren gewesen war. Vampire waren für ihn nur Fiktion.

Als ich an die Tür klopfte, öffnete mir Ben. Trotz Unwissenheit hatten sich Ben und Darius über ein gemeinsames Hobby kennengelernt: Fitness und Sport. Und das sah man ihm auch deutlich an.

„Hey, ist Darius da?“

„Er ist kurz weg, aber komm doch rein.“

Ich ging an ihm vorbei in das Wohnzimmer und setzte mich dort auf die beige Couch. Ben ließ sich auf den Sessel mir gegenüber fallen.

„Du brauchst nicht mit mir auf Darius zu warten, ehrlich. Ich komm gut allein zurecht.“

„Ich möchte es aber gern.“

Dann schenkte er mir ein schelmisches Lächeln, das mich vollkommen aus der Fassung brachte.

„Ahhhja.....ok.“

Ben lachte kurz und fing sich dafür von mir einen frostigen Blick ein. Abwehrend hob er die Hände.

„Schon gut Sam. Ich verspreche, dass ich mich benehmen werde. Ein Korb reicht mir.“

Ich sah ihn noch einmal skeptisch an. Schließlich seufzte ich entnervt.

„Du kannst echt anstrengend sein, weißt du das Ben?“

Wieder schenkte er mir ein breites Lächeln.

„Nicht halb so sehr wie du Sam.“

„So machst du dir keine Freunde, das ist dir doch hoffentlich klar?“

Der scherzhafte Unterton in meiner Stimme war deutlich hörbar.

„Ich hab genügen Freunde, auch wenn ich momentan keine Freundin habe....“

Der Flirt war nur zu deutlich, doch ich hatte nicht vor darauf einzugehen.

„Ehrlich Ben, muss das sein?“

Mit einer überdramatischen Geste warf er sich vor mir auf die Knie und nahm meine Hände in seine. Ich war zu entsetzt um mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Gegen Vampire zu kämpfen war eine Sache, aber das hier war definitiv zu viel für mich, auch wenn es, hoffentlich, nur ein Scherz war.

„Immer und immer wieder lehnst du mich ab. Oh Sam, was hab ich dir getan, dass du mich so verschmähst? Gehört dein Herz einem anderen, so sag es mir jetzt und ich werde mein Werben um dich einstellen und mit gebrochenem Herzen von dannen ziehen. Doch wenn nicht, wenn du meine Liebe erwiderst, dann.....“

Mit großen Augen sah ich Ben an und wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Ich meine, wer versteht schon Leute, die Schauspiel studieren? Anscheinend hatte mich irgendwas in diesem Universum erhört, denn in diesem Moment betrat Darius das Zimmer. Ben verstummte sofort, doch schien auch Darius mit dieser Situation überfordert zu sein. Nach einigen Augenblicken hatte er seine Sprache wiedergefunden.

„Was zur Hölle machst du da?!“

Ben ließ meine Hände los und sprang auf.

„Nichts.“ Dann verschwand er in seinem Zimmer und ließ Darius und mich verdattert allein zurück.

Darius schüttelte verwirrt den Kopf und setzte sich zu mir auf die Couch.

„Hi“, begrüßte er mich noch immer völlig von der Situation überfordert.

„Hi“, antwortete ich ebenso neben der Spur.

„War es für dich genauso schräg wie für mich?“

„Oh ja.“

Einige Momente herrschte Schweigen. Schließlich fing sich Darius wieder und sah mich an.

„Ich dachte echt er wäre über dich hinweg.“

Wieder verwirrt blickte ich ihn an.

„Hab ich da was nicht mitgekriegt?“

Darius sah mich entschuldigend an.

„Ich wollte es dir ja schon früher sagen, aber ich hatte einfach gehofft, dass es sich wieder von alleine legt.“

Meine Verwirrung verwandelte sich in Entsetzen.

„Wenn du findest, dass ich in sein Freundinnenschema passe bin ich aber schwer beleidigt. Weder hab ich den IQ einer Grapefruit noch Stroh im Hirn und außerdem bin ich vollkommen silikonfrei!“

„Ich glaub du warst das erste Mädchen, dass ihn einen eingebildeten Arsch genannt hat.“

Nun war ich zum zweiten Mal an diesem Tag absolut fassungslos.

„Nicht dein Ernst, oder? Bitte sag mir, dass das ein Scherz ist.“

Darius zuckte mit den Schultern.

„Ich bin mir nicht sicher, wie genau er zu dir steht.“

Ich machte schon den Mund auf um etwas zu erwidern, doch er hinderte mich daran.

„Lass mich erst mal ausreden, Sam. Eigentlich reden Ben und ich über alle seine, sagen wir mal weibliche Bekanntschaften. Aber über das, was zwischen euch Mal auf der Party war, oder auch nicht, darüber hat er auch nie nur ein Wort verloren.“

Nachdenklich schwieg ich kurz.

„Und daraus schließt du, dass er auf mich steht?“

„Nun ja, ich vermute es.“

Verächtlich winkte ich ab.

„Ich bin eigentlich nicht gekommen um mit dir über Ben zu quatschen.“

Darius nickte.

„Das hab ich mir schon gedacht. Du warst ja gestern unterwegs. Ich bin im Übrigen immer noch nicht einverstanden, dass du alleine losziehst. Das ist gefährlich.“

„Du bist doch auch meistens allein unterwegs.“

„Aber Sam, sieh mich doch an. Bei mir ist es etwas ganz anderes.“

Ich verdrehte übertrieben die Augen.

„Das haben wir schon oft genug diskutiert. Ich bleibe dabei: Ich gehe allein.“

„Ok ok, schon klar. Also, über was wolltest du mit mir reden?“

Unauffällig zeigte ich mit meinem Kopf in Richtung Bens Zimmer.

„Keine Sorge, der ist durchs Fenster raus.“

Verwirrt sah ich ihn an. Darius zuckte nur mit den Schultern.

„Ich hab ihm gesagt, er soll dich in Ruhe lassen. Wahrscheinlich geht er mir jetzt erst mal eine Weile aus dem Weg. Also erzähl.“

Ich gab auf die Beiden verstehen zu wollen.

„Ich denke, ein 'Alter' ist in der Stadt.“

Darius zog überrascht die Luft ein.

„Hast du ihn gestern gesehen? Bist du dir ganz sicher?“

Ich nickte.

„Verdammt. Was schätzt du, wie alt?“

„Er konnte sich so schnell bewegen, dass ich es nicht mehr wahrnehmen konnte, also schätze ich mal sehr alt.“

„Verdammt. Wenn er wirklich so stark ist müssen wir uns mit den anderen in Verbindung setzten.“

„Ach, und wir haben einen weniger.“

Darius horchte aus seinen Überlegungen auf.

„Schon wieder? Verdammt Sam, dein wievielter war das jetzt?“

„Der 43.“

„Wow, Respekt. Ich kenne niemanden, der so versessen auf die Vampirjagd ist wie du, und dabei sehen wir es alle als unser Schicksal.“

Er überlegte kurz.

„Wann warst du das letzte Mal auf einer Party?“

„Ich weiß es nicht.“

Darius legte seine Hand auf meinen Arm.

„Sam, das ist nicht normal. Wenn du so weiter machst wirst du ziemlich schnell draufgehen. Lebe wenigstens ein bisschen.“

Verwundert sah ich ihn an.

„Aber das ist für mich leben.“

„Sam, du kompensierst zu viel mit der Jagd.“

Er fuhr eine meiner Narben nach, dann blickte er mich wieder an.

„Viel zu viel.“

„Du verstehst das nicht“, fuhr ich ihn an.

„Doch Sam, ich verstehe es, verstehe wie es ist, wenn man mit niemandem über das Reden kann was wirklich geschehen ist, wenn man nie die Wut über diese Wesen laut aussprechen darf, wenn man immer unwissend tun muss.“

Er nahm mich fest in seine Arme und flüsterte mir ins Ohr:

„Glaub mir Sam, ich verstehe dich nur zu gut. Auch mir haben die Vampire so viel genommen, aber du darfst dich nicht davon verzehren lassen. Du musst einen klaren Kopf bewahren, damit du sie in einem gesunden Maß bekämpfen und eines Tages vielleicht jemanden retten kannst, so wie ich dich gerettet habe.“

Steif nickte ich an seiner Schulter. Ich wusste, dass er Recht hatte, doch einen guten Rat zu erkennen und ihn zu befolgen waren zwei vollkommen unterschiedliche Dinge und außerdem war mir diese Umarmung ziemlich unangenehm.

Er ließ mich wieder los und sah mir fest in die Augen.

„Heute Abend ziehen wir gemeinsam los und schauen nach dem Vampir von dem du mir erzählt hast, ok?“

Ich nickte.

„Ok.“

„Gleiche Zeit wie immer bei dir?“

„Wie immer.“

Dann erhob ich mich und verließ das Zimmer.

Kapitel 4 - Rasches Wiedersehen

Das Kleid, das ich mir ausgesucht hatte war eine der Spezialanfertigungen, die meinen kompletten linken Arm bedeckten. Es war aus schlichter dunkelgrüner Seide, ohne jeden Prunk oder Verzierungen. Darius klingelte pünktlich um elf Uhr an meiner Tür. Ich schnappte mir meine schwarze Lederhandtasche und öffnete die Tür. Darius ließ seinen Blick prüfend über mich gleiten.

„Du siehst toll aus, Sam. Komm, gehen wir.“

Ich nickte und schloss die Tür. Dann machten wir uns gemeinsam auf den Weg zum Club.

Die Tanzfläche war jetzt schon überfüllt und die Luft stank nach Schweiß und Alkohol. Die flackernden Lichter machten es fast unmöglich ein Gesicht zu erkennen, falls man es überhaupt schaffte sich durch die Menge zu schieben und sie zu betrachten. Darius und ich hatten uns aufgeteilt, um ihn hoffentlich schneller zu finden, falls er heute überhaupt da war. Seufzend beschloss ich schließlich eine kleine Suchpause zu machen und begab mich auf ein kleines Separee zu, das gerade frei wurde. Dort ließ ich mich dann auf die weich gepolsterte Bank fallen, lehnte mich zurück und schloss für einen Moment die Augen.

„Schön dich so schnell wiederzusehen, Delilah.“

Erschrocken fuhr ich hoch. Vor mir stand Mikhail.

„Man schleicht sich nicht an Leute an.“

Er lächelte.

„Entschuldige, das war nicht meine Absicht.“

Elegant ließ es sich neben mir auf der Bank nieder.

„Und, wie ist deine Laune heute Delilah? Immer noch so angespannt und geladen?“

„Ich bin vollkommen ruhig, wie immer Mikhail.“

„Ah, sie kennt noch meinen Namen.“

Der monoton ruhige Singsang seiner Stimme umgab mich wie eine weiche weiße Wolke, die langsam alles in weite Ferne treten ließ, bis auf Mikhail selbst und seine Stimme.

„Ich fühle mich geehrt. Wie kann ich mich nur dafür revanchieren.“

Ich hing an seinen Lippen, saugte jedes Wort das er sagte förmlich auf. Am liebsten würde ich mich ihm sofort an den Hals werfen......Moment. Dies waren nicht meine Gedanken. Verdammt, er hatte es geschafft mich zu beeinflussen. Mühsam kämpfte ich mich aus dem weichen, weißen Nebel frei, der so verlockend war.

Auf einmal stürzte der gesamte Lärm des Clubs auf mich ein und ich zuckte zusammen. Wieder glaubte ich für einen kurzen Moment einen erstaunen Ausdruck auf Mikhails Gesicht zu sehen, doch er war so schnell vorüber, dass ich mir nicht sicher war.

„Etwas zu trinken?“

„Ein Wasser.“

„Wasser?“, fragte Mikhail verächtlich.

Ich sah ihm fest in die Augen.

„Ich habe nun mal gerne einen klaren Kopf.“

Verwundert hob er eine Augenbraue. Schließlich nickte er.

„Also ein Wasser.“

Ich nutze die Zeit, die Mikhail fort war um mich zu beruhigen. Es fiel ihm so leicht mich zu manipulieren, dabei hatte ich immer geglaubt einen guten Schutzwall aufgebaut zu haben. Wieder wurde mir bewusst, wie schwach doch die amerikanischen Vampire waren und was für ein Glück es für mich war, dass ich eigentlich nur mit ihnen fertig werden musste.

Auch um mein Wasser zu holen brauchte Mikhail erstaunlich wenig Zeit. Ich nahm es dankend entgegen und musterte es schnell. Auf den ersten Blick wirkte es nicht als ob er etwas hineingemischt hätte, aber zur Sicherheit würde ich es nicht anrühren. Als ich von dem Glas aufblickte merkte ich, dass er mich musterte.

„Was?“

„Ich hab das Gefühl, dass ich dich irgendwo schon einmal gesehen habe.“

„Kann gut sein. Ich bin oft hier in den Clubs unterwegs.“

Er lächelte schwach.

„Unwahrscheinlich. Ich wohne hier erst seit ein paar Tagen.“

„Dann musst du mich verwechseln. Ich wohne hier schon mein Leben lang.“

Er schien mir nicht zu glauben und mir war bewusst, dass diese Lüge allzu offensichtlich war. Deshalb versuchte ich ihn abzulenken.

„Das letzte Mal hast du erwähnt, dass du aus Russland kommst. Warum bist du nach Amerika gekommen?“

Mikhail überlegte einen Moment bevor er antwortete.

„Ich wollte mal ein neues Land sehen, so weit wie möglich von meiner überfürsorglichen Mutter wegkommen, die nicht begreifen will, dass ich erwachsen bin.....das übliche halt.“

Ein kleines Kichern konnte ich mir nicht verkneifen und seine Augen glitzerten schalkhaft.

„Lachst du mich etwa aus?“

Ich konnte einfach nicht aufhören zu kichern.

„Wie kommst du denn darauf?“

„Nur so ein Gedanke“, sagte er mit einer leisen Stimme, die gefährlich geklungen hätte, wenn da nicht der Ausdruck in seinen Augen gewesen wäre.

„Und, schon jemand interessanten in dieser Stadt kennengelernt?“

Mikhail legte den Kopf schräg.

„Bin mir noch nicht so ganz sicher.“

Ich lehnte mich zu ihm vor und entblößte damit einen großen Teil meines Halses.

„Dann musst du die Leute hier wohl besser kennenlernen.“

Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus.

„Heißt das, ich darf dich auch mal so treffen?“

„Wenn du denn Mut aufbringst mich einzuladen...“

„Ok, wie wär's mit morgen. Mittagessen bei dem Italiener gleich runter die Straße. Sagen wir 1 Uhr?“

„Mach ein Abendessen draus. 8 Uhr bei dem Italiener und ich bin dabei.“

„Warum nicht, aber darf ich den Grund erfahren?“

Ich stand auf, ging ein paar Schritte weg und sah in dann über meine Schulter hinweg an.

„Das kannst du mich dann morgen Abend fragen.“

Mit diesen Worten verschwand ich in der Menschenmenge. Na also, hatte doch super geklappt. Nach morgen Abend würde dieses Ungeheuer nicht mehr die Sonne aufgehen sehen, das stand fest.

Während ich mich immer weiter auf den Ausgang zuschob schickte ich Darius eine SMS, dass wir uns bei mir treffen würden und dass er den äußeren Weg nehmen sollte. Nur zur Sicherheit.

Zuhause angekommen setzte ich mich auf das Sofa in meinem Schlafzimmer. Ich musste nicht lange warten. Darius klingelte keine fünf Minuten später an meiner Wohnungstür. Ich ließ ihn herein und setzte mich mit ihm zusammen wieder auf das Sofa. Er blickte sich kurz in meinem Zimmer um. Sein Blick blieb an den hoffnungslos überladenen Bücherregalen hängen.

„Dir ist schon klar, dass es da eine tolle Erfindung namens Bibliothek gibt. Da kann man die Bücher, die man lesen will ausleihen und später wieder zurückbringen, damit einem so etwas nicht droht jeden Moment runterzubrechen.“

Er deutete auf meine Bücherregale und ich lächelte besänftigend.

„Ich schlage dir einen kleine Handel vor: Du hörst auf dich über meine Bücherregale zu beschweren und ich erzähle dir was heute los war.“

Darius überlegte einen Moment, schließlich gab er nach.

„Na gut. Ich lass meine Kommentare, also erzähl schon.“

„Ich hab mit unserem Vampir gesprochen.“

Zuerst wurden Darius' Augen immer größer. Dann klappte sein Kinn herunter.

„Du meinst doch nicht 'gesprochen' im Sinne von 'mit ihm geredet'?“

„Doch“, sagte ich übertrieben langsam, „zuerst hat er etwas gesagt, dann ich und immer so weiter; ein Gespräch. Du weißt doch was das ist, oder?“

Er schüttelte die Überraschung ab, von meinem ihn verhöhnenden Kommentar getrieben.

„Und was hatte der Vampir so zu erzählen?“

„Das übliche Vamprigequatsche halt: Wie cool er es doch findet ein Vampir zu sein und diese komplett irren Fähigkeiten zu haben und ob ich nicht Lust hätte für ihn zu bluten.“

Darius sah mich schräg von der Seite an.

„Jetzt im Ernst Sam. Was hat er gesagt?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Nur ein bisschen Smalltalk und Geflirte. Dann hab ich ihn dazu gebracht mich morgen zum Abendessen einzuladen.“

Darius schnappte entsetzt nach Luft.

„Sag mal, bist du irre, Sam? Du hast doch selbst gesagt, dass er eine Nummer zu groß für dich ist!!“

„Für mich allein, ja, aber wenn wir ein paar Leute anrufen ist das kein Problem mehr.“

„Aber morgen Abend ist zu früh Sam! Das klappt organisatorisch nicht, dazu brachen wir mindestens eine Woche!“

Ich war entsetzt.

„Eine Woche?! Aber ich bin morgen Abend mit ihm verabredet und wenn ich da nicht hingehe, bekomme ich vielleicht nie wieder eine Chance!“

„Dann musst du da wohl hingehen.“

„Wie bitte?!“

„Geh da hin und sorge dafür, dass er sich wieder mit dir treffen will.“

Das war so gar nicht das, was ich geplant hatte und ich musste mich beherrschen nicht wie ein kleines Kind zu schmollen. Darius tätschelte mir die Schulter.

„Einfach etwas besser vorher nachdenken, Sam. Dann passiert dir so etwas auch nicht.“

Darius sah auf seine Uhr.

„Ich sollte dann jetzt auch gehen, wenn ich morgen ausgeschlafen sein will.“

Er gab mir einen Kuss auf die Wange.

„Du packst das schon, keine Sorge.“

Dann verließ er die Wohnung und ließ mich und meine Gedanken allein zurück.

Kapitel 5 - Der Morgen danach

Diese Nacht hatte ich nicht gut geschlafen. Der Gedanke an das – ich wagte kaum es auszusprechen – Date mit dem Vampir war mir die ganze Nacht im Kopf herumgespukt. Wie hatte ich nur so voreilig und blöd handeln können? Am liebsten hätte ich mich selbst geohrfeigt. Doch es war leider zu spät. Ich würde um das Date nicht herumkommen, jetzt da Darius es wusste. Und es stimmte ja auch, dass wir uns einen Alten nicht durch die Lappen gehen lassen durften. Trotzdem wäre es mir lieber jemand anderes würde sich zum Geplänkel mit ihm treffen und ich könnte ihm nur den Pflock ins Herzen rammen. Stattdessen würde ich an einem Tisch in einem Restaurant sitzen, dumm grinsen und versuchen müssen ihm zu gefallen – einfach wi-der-lich.

Erneut zog ich mir das Kissen über den Kopf und versuchte auszublenden, dass die Sonne schon hoch am Himmel stand. Mir war bewusst, dass ich mich wie ein kleines bockiges Kind verhielt, aber ich hatte nicht vor aufzustehen, bevor mich jemand dazu zwang.

Ich glaube wirklich, dass erst dann etwas passiert wenn man es nicht mehr erwartet oder auf keinen Fall möchte, denn keine fünf Minuten später klingelte es an meiner Tür. Ich öffnete nicht, doch das brauchte ich auch gar nicht. Nachdem ich eine Weile nicht geöffnete hatte, verschaffte sich Darius, wie gewohnt, selbst Zugang zu meiner Wohnung. Einige Augenblicke später zog mir jemand meine Decke weg und das Kissen vom Kopf. Obwohl ich eigentlich damit gerechnet hatte schrie ich doch erschrocken auf.

„Raus aus den Federn, Prinzesschen.“

Mitleidslos warf er mein Bettzeug aufs Sofa und ging an meinen Kleiderschrank.

„Irgendwelche Farb- oder Stilwünsche?“

„Für den reicht auch meine Jogginghose“, murmelte ich in die Matratze.

Darius überging meine Bemerkung einfach.

„Auf jeden Fall grün. Das Meergrüne wäre sehr schön. Es bedeckt deinen linken Arm – wir wollen ihm schließlich keine Schwachpunkte verraten – und es liegt an wie eine zweite Haut. Da wird er deinen angewiderten Gesichtsausdruck gar nicht bemerken.“

Ich sah nicht auf, doch war mir klar, dass er mich in diesem Moment skeptisch musterte und versuchte abzuschätzen, ob ich das hinkriegen würde, ohne dass mir meine Gefühle in den Weg kamen. Ich wusste es selbst nicht.

Um diesen Überlegungen zu entkommen raffte ich mich endlich auf und stieg aus dem Bett. Ich betrachtete das Kleid, das Darius für mich ausgesucht hatte. Es war eines meiner liebsten. Gedankenverloren strich ich über den seidigen Stoff.

„Das hab ich das letzte Mal auf Andreas' Geburtstag getragen.“

„Oh, tut mir Leid. Warte, ich such dir ein anderes raus.“

Ich hielt Darius' Arm in der Bewegung auf. Als er mich fragend anblickte schüttelte ich nur den Kopf.

„Lass nur. Es ist an der Zeit, dass ich es wieder trage.“

Ich lächelte kläglich.

„Schließlich will ich den linken Ärmel nicht umsonst angenäht haben.“

Darius musterte mich noch einen kurzen Moment, dann nickte er.

„Ok, wie geht es übrigens Nala“, wechselte er das Thema.

„Oh, Mist!“

Ich schlug mir mit der Hand gegen die Stirn. Wie hatte ich das nur vergessen können! Darius musterte mich besorgt.

„Was ist los Sam?“

„Ich hab Nala versprochen, dass ich mir heute Abend ihren neuen Typen ansehe.“

Er hob überrascht eine Augenbraue.

„Sie will dir wirklich einen ihrer Typen vorstellen?“

Ich machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Das ist jetzt nicht der Punkt! Wie soll ich mich gleichzeitig mit dem Alten und Nala treffen?“

„Du triffst dich mit dem Alten doch um 20 Uhr, oder?“

„Ja“, antwortete ich misstrauisch.

„Beeil' dich ein bisschen beim Essen und schlag vor dann noch in einen Club zu gehen.“

„Du schlägst doch nicht etwa vor Nala absichtlich in die Nähe eines solchen Ungetümes zu bringen?!“, fuhr ich ihn an.

Darius hob abwehrend die Hände.

„Hast du etwa einen besseren Vorschlag?“

Ich überlegte kurz, doch zu meinem Leidwesen fiel mir nichts anderes ein. Ich konnte nicht schon nach eineinhalb Stunden von der Verabredung mit dem Alten weg und dabei noch behaupten, ich wolle ihn nochmal treffen. Und Nala würde ewig mit mir beleidigt sein, wenn ich mir ihren Freund nicht ansah, wenn sie ihn mir schon Mal zeigen wollte. Darius hatte Recht. Es war die beste Idee die wir hatten.

Mürrisch ging ich ins Bad und ließ Darius allein in meinem Zimmer zurück. Dort drehte ich erst Mal die Dusche auf und das warme Wasser entspannte mich. Ich hätte noch ewig so unter der Dusche stehen und mir von dem Wasser meine Sorgen davon spülen lassen können, doch dann hätte Darius wieder gemeckert und dafür hatte ich nun wirklich keine Nerven.

Früher als mir lieb war drehte ich also das Wasser ab, wickelte mich in ein großes Handtuch ein und ging zurück in mein Zimmer. Darius saß auf dem Sofa und las ein Buch von dem er aufblickte, als ich den Raum betrat. Seine Augen weiteten sich leicht vor Erstaunen als er meinen Aufzug bemerkte, aber es war mir.......wirklich egal.

Ich ging an den linken Teil des Kleiderschrankes und holte BH und Slip daraus hervor. Dann schnappte ich mir noch ein Top und eine Jeans und verschwand im Bad. Ich zog mir die Sachen an und betrat dann anschließend wieder mein Zimmer, die nassen Haare fielen mir offen um die Schulter.

Darius schien sichtlich erleichtert mich wieder voll bekleidet vor sich zu haben, was ich unheimlich amüsant fand. Mal ehrlich: Der große, muskelbepackte und auch noch gutaussehende Typ fühle sich unwohl, wenn ein Mädchen halbnackt vor ihm herumlief.

Ich musste mich ernsthaft bemühen mir ein Lächeln zu verkneifen, während ich mich zu ihm aufs Sofa setzte. Darius betrachtete mein Outfit skeptisch.

„Was ist aus dem grünen Kleid geworden?“

„Schau doch mal auf die Uhr. Wir haben erst 2 Uhr. Ich würde vorschlagen wir gehen vorher noch etwas essen.“

Ohne seine Antwort abzuwarten sprang ich vom Sofa auf und ging durch das Bad und das Wohnzimmer in den kurzen Flur, zog mir dort ein Paar Ballerinas an und nahm meine schwarze Lederhandtasche von ihrem gewohnten Platz. Einige kurze Augenblicke später hatte es Darius, wenn auch immer noch ziemlich verdattert, in den Flur geschafft.

„Komm schon“, sagte ich mit einem breiten Grinsen und manövrierte ihn mit mir aus der Tür.

Als sie ins Schloss fiel schien das Darius aufzuwecken.

„Äh,....ok...wo sollen wir denn hingehen?“

„Wie wär's mit Indisch?“

„Hört sich super an.“

Gemütlich schlendernd machten wir uns auf den Weg. Wie alles in dieser Stadt war auch der nächste Inder nur ein paar Straßen entfernt. Die Fassade des doch recht großen Restaurants erinnerte mit seinen Zwiebeldächern und kleinen Türmchen an das Tadsch Mahal und hieß – welche Überraschung – auch so. Es gab noch einen weiteren Inder in der Nähe, das 'Rote Ford', doch war das essen dort nicht halb so gut wie im 'Tadsch Mahal'.

Eine kleine Inderin in einem türkisenen Sari führte uns zu unserem Lieblingstisch. Ganz hinten, wo man den gesamten Laden und die Eingangstür im Blick hatte. Manche Dinge gewöhnte man sich eben an, wenn man Vampirjäger war.

Darius und ich bestellten ohne auch nur einen Blick in die Speisekarte zu werfen. Wir kannten sie auswendig, denn wenn man seine Zeit, so wie wir, mit studieren und Vampire jagen verbrachte, blieb nicht mehr viel Zeit um zu kochen.

Als die Bedienung wieder weg war ergriff Darius das Wort.

„Ich hab übrigens gestern Abend nochmal mit Ben geredet.“

Ich stöhnte. War das jetzt wirklich sein Ernst? War das Date mit dem Vampir denn nicht schon Strafe genug?

„Sam. Ich weiß, dass du ein Mensch bist, der gerne Konfrontationen vermeidet, aber in dieser schönen unseren Welt geht das nun einmal nicht. Finde dich damit ab.“

Das dumpfe Gefühl, dass er Recht hatte machte sich in mir breit und ich fühlte mich unwohl. Mir war klar, dass ich mich schlimmer aufführte als jede Diva, aber das war nun mal ich. Jetzt hörte ich mich schon wieder an wie eine Diva. Ich atmete tief durch. Langsam musste ich anfangen erwachsen zu werden.

„Ok, schieß los.“

Darius hatte höchstwahrscheinlich mit weiteren Wiederworten gerechnet, doch davon ließ er sich nichts anmerken und sprach sofort weiter, bevor ich es mir anderes überlegen konnte.

„Also, ich hab ihn gestern nochmal zur Seite genommen um ihn zu seiner komischen Nummer von davor zu befragen.....“

„Und?“

„Er gab die Standardantwort von wegen sein schauspielerisches Temperament sei mit ihm durchgegangen.“

Ich wartete, doch Darius sprach schon wieder nicht weiter.

„Und was willst du mir jetzt mitteilen?“

Er nahm einen Schluck von seiner Cola, die gerade gekommen war.

„Darius, du weißt doch dass ich schnell ungeduldig werde.“

Um das zu unterstreichen trommelte ich mit den Fingerspitzen meiner linken Hand auf dem Tisch. Er setzte das Glas ab und betrachtete mich mit einer Unschuldsmiene bei der mir Angst und Bang wurde.

„Genau das, was ich dir gesagt habe.“

„Hä?“

„Ich wollte dir genau das mitteilen, was ich dir gesagt habe.“

Langsam machte es klick und ich verstand. Dieser Idiot hatte mich reingelegt! Ben hatte gar nichts gesagt und Darius wollte mir nur eins auswischen.

Als er den erkennenden Ausdruck auf meinem Gesicht bemerkte begann er zu Lächeln.

„Du....du.....“, stammelte ich hilflos vor mich hin.

Sein Lächeln wurde breiter.

„Das ist nicht witzig“, schnappte ich.

„Ein bisschen schon.“

Ich verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust.

„Und warum hat es dich eigentlich so interessiert?“

Darius schien Gefallen an dieser Unterhaltung zu finden, ganz zu meinem Leidwesen. Ich wusste, dass ich nur falsch antworten konnte.

„Ach, halt doch die Klappe.“

„Sei doch nicht immer gleich beleidigt.“

Am liebsten würde ich ihm sein Grinsen mit einem gezielten Schlag aus dem Gesicht vertreiben. Blöder Idiot.

„Du nimmst das doch nicht zu ernst, Sam?“

Ich strafte ihm mit Schweigen. Die Bedienung kam mit dem Essen und ich begann, weiterhin schweigend.

„Saaaaaaaaaammyyyyyyy“, bettelte Darius.

Ich seufzte ergeben. Obwohl er mich erst seit zweieinhalb Jahren kannte, wusste er doch genau, wie er mich anpacken musste.

„Du bist ein blöder Idiot“, sagte ich in einem versöhnlichen Tonfall und gestattete mir ein kleines Lächeln, das Darius sofort erwiderte.

„Ist dir eigentlich aufgefallen, dass wir uns in letzter Zeit bei jedem Gespräch streiten?“

Er dachte kurz nach.

„Du hast recht“, stellte Darius erstaunt fest, „als ob wir ausgewechselt worden wären.“

„Können.....“

Ich konnte nicht weitersprechen. Der Gedanke war einfach zu furchteinflößend. Schließlich riss ich mich zusammen.

„Können Vampire einen so beeinflussen?“

Darius wich meinem Blick aus. Das genügte mir schon als Antwort.

 

Kapitel 6 – Neues Wissen

Ich sog scharf die Luft ein.

„Warum weiß ich davon nichts?!“

Meine Stimme klang ungewöhnlich schrill in meinen Ohren.

„Es.......es gibt so einige Dinge die du nicht weißt.“

„Wieso...“

„...lass mich erst mal ausreden.“

Darius hob beschwichtigend eine Hand.

„Du weißt erst seit zweieinhalb Jahren, dass es Vampire überhaupt gibt, da kannst du nicht wirklich erwarten alle Geheimnisse zu kennen. Wir müssen erst einmal einschätzen, ob du gefährdet bist.“

„Gefährdet?“

„Eine von ihnen werden zu wollen. Unsterblichkeit, Schönheit, Stärke und dann noch diese Fähigkeiten wie unser Verhalten zu beeinflussen. Ich weiß seit ich vier bin, dass es Vampire gibt und wurde bis heute nicht in alle Geheimnisse eingeweiht. Selbst nach fast zwanzig Jahren gelte ich noch nicht als vollkommen gefahrlos. Der Rat ist immer noch der Meinung, ich könnte freiwillig zum Vampir werden. Als glaub mir, das hat nichts mit dir persönlich zu tun.“

Seit zweieinhalb Jahren bestimmten die Vampire mein Dasein und jetzt erfuhr ich, dass ich auch über sie nichts wusste.

„Wie weit geht es?“

„Was?“

„Ihre Kräfte.“

Darius rang sichtlich mit sich.

„Eigentlich darf ich dir das nicht erzählen.“

„Dann werde ich heute also einem Wesen gegenüber sitzen, das zu Dingen in der Lage ist, von denen ich keine Ahnung habe. Ich denke in diesem Fall würde sogar der Rat eine Ausnahme machen.“

Er schien zwar nicht überzeugt, gab mir aber dann doch die Informationen, die ich wollte.

„Wie du schon weißt werden Vampire stärker, je älter sie werden. Da sich hier in Amerika eigentlich nur junge Vampire aufhalten werden so wenige Menschen wie nur irgend möglich in das eingeweiht, was ich dir jetzt erzähle.“

Darius sah mich fest an und ich nickte. Ich verstand dass das, was er jetzt sagte, unter uns bleiben musste.

„Nicht nur ihre körperlichen Fähigkeiten werden mit dem Alter besser, auch ihre mentalen. Da wären zu einen die, die jeder Vampir von Anfang an besitzt: Das Beeinflussen eines jeden Wesens durch Augenkontakt und das Verschleiern von Erinnerungen bis hin zu deren Auslöschung.

Ab einem Alter von 700 oder 800 Jahren, je nach Begabung des Vampirs, stellen sich langsam die Fähigkeiten einer erweiterten Wahrnehmung ein. Dies beginnt damit, dass sie die Gefühle der Lebewesen um sie herum spüren können, nicht nur aus ihren Gesichtern ablesen wie vorher, und endet mit der Übernahmefähigkeit eines jeden lebendigen Wesens. Diese gesamte erweiterte Wahrnehmung nennen wir auch einfach Insania – Wahnsinn.

Für uns ist diese Fähigkeit der Vampire Segen und Fluch zugleich. Warum es ein Fluch ist, ist nicht weiter schwer zu erkennen: Sie können uns, ohne dass wir es wissen beeinflussen, auch wenn ein Vampir sehr alt und sehr begabt sein muss um einen Menschen beeinflussen zu können. Aber soweit kommen nur extrem wenige Vampire, denn der Segen dieser Fähigkeit ist es, dass die meisten Vampire an ihr zerbrechen. Insania ist keine Fähigkeit, die sich die Vampire antrainieren können. Sie ist eines Tages einfach da und alle Bewusstsein, sogar von der kleinsten Ameise, stürmen auf sie ein. Sie können zwar lernen es zu beherrschen, aber viele Vampire sind nicht in der Lage diese Stufe zu meistern. Sie werden in den Wahnsinn getrieben und begehen entweder Selbstmord oder werden von der Vampirgemeinschaft getötet. Deshalb gibt es auch nur so wenige Vampire, die älter sind als 1200 Jahre.“

Ich war verwirrt. Als Darius das sah lachte er ein freudloses Lachen.

„Ich dachte anfangs auch, dass sie schneller verrückt werden müssten, aber die Gabe entwickelt sich nicht so schnell. Die ersten 100 Jahre nehmen sie nur immer wieder unkontrolliert das eine oder andere Bewusstsein wahr. Nach 300 bis 400 Jahren mit dieser Gabe nehmen sie beständig Bewusstsein um sich herum wahr, sie sind nicht in der Lage es zu meistern und das ist ihr Tod.“

„Und was für Fähigkeiten kommen danach?“

„Keine Ahnung. Darin wurde auch ich noch nicht eingeweiht.“

Ich nickte. Jetzt verstand ich auch Darius' Angst, als er von dem Alten erfahren hatte. Trotzdem war seine Macht furchteinflößend. Mikhail musste wirklich sehr alt sein, wenn er mein Verhalten auch noch jetzt kontrollieren konnte und auf einmal hatte ich fürchterliche Angst zu dem Date zu gehen. Geistesabwesend strich ich mir über meinen linken Arm.

„Du bedeckst auch nicht mehr deine Narben.“

„Das verstehe ich auch nicht, aber plötzlich schien es mir nicht mehr so wichtig...“

Ich stockte und starrte Darius entsetzt an. Sein Gesichtsausdruck war dem meinen ähnlich.

„Ich habe immer nur von diesen Fähigkeiten gehört, aber jetzt wirklich zu sehen, wie sie die Menschen beeinflussen. Sam, ich glaube wir sollten von diesem Kerl die Finger lassen. Egal ob wir ihn nie wieder finden, es ist einfach zu gefährlich. Ich kann einfach nicht einschätzen wie stark er ist.“

Meine Gedanken schweiften ab, zu den Gelegenheiten bei denen ich mit Mikhail gesprochen hatte. Ich hatte gespürt wie er versucht hatte mich durch den Blickkontakt zu beeinflussen. Plötzlich fiel mir auf, dass das vielleicht nur Tarnung gewesen war, um sein eigentliches Tun zu verschleiern. Eigentlich hatte ich, wenn ich Vampiren gegenüberstand, immer das Gefühl entweder wegrennen oder ihnen einen Pflock ins Herz stoßen zu müssen. Ich hatte mich zwar ihm gegenüber nicht gerade wohlgefühlt, aber meine Schutzinstinkte waren größtenteils wie verschwunden gewesen.

Auch wenn ich wusste, wie Recht Darius hatte, wollte ich jetzt doch unbedingt zu diesem Treffen. Ich wollte wissen, ob ich es spüren konnte, wenn er Besitz von mir ergriff.

Darius sah den Wunsch in meine Augen, bevor ich ihn verbergen konnte.

„Sam, bitte, tu das nicht.“

„Wie wollen wir je mehr über sie herausfinden, wenn wir uns ihnen nicht stellen.“

„Sam, er hätte dich sofort dazu bringen können, dass du ihn von dir trinken lässt. Wunderst du dich nicht auch, dass er es noch nicht getan hat?“

„Daran hatte ich bisher noch gar nicht gedacht“, gab ich überrascht zu.

„Dafür hat sicher auch er gesorgt.“

„Ich werde vorsichtig sein, versprochen.“

Darius wirkte nicht überzeugt, doch er wusste, dass er mich nicht umstimmen konnte.

„Trag' den Pflock immer griffbereit und nimm noch zwei Titanmesser mit, für alle Fälle.“

„Weniger trage ich nie bei mir, das weißt du doch.“

Ich lächelte ihn beruhigend an. Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass es Zeit war.

„Es ist schon 17:30 Uhr. Ich sollte langsam nach Hause und mich fertig machen.“

„Oh, klar. Warte ich zahl' nur noch schnell.“

„Mach dir doch wegen mir keinen Stress. Ich krieg' den Rest schon alleine hin. Geh ins Wohnheim. Wenn ich mich nicht irre schreibst du doch morgen eine Prüfung.“

Er lächelte schwach. Dann rief er eine Bedienung. Ich verabschiedete mich und ging, bevor die Kellnerin am Tisch erschien.

Raschen Schrittes ging ich zurück zu meiner Wohnung. Das routinierte Öffnen meiner Schlösser beruhigte mich. Ich ging hinein und holte das grüne Kleid hervor, das Darius passend zu meinen Augen ausgesucht hatte. Es war wirklich sehr schön und der schlichte seidene Stoff schimmerte im Licht, das durch das Fenster fiel. Ich schlüpfte in das Kleid und stellte mich vor den mannshohen Spiegel. Der dünne Stoff schmiegte sich eng an meinen Körper und betonte meine schlanke, muskulöse Gestalt. Mein Haar fiel offen und leicht zerzaust über meine Schultern. Alles in allem sah es gut aus, das musste ich zugeben.

Ich befestigte eines der Titanmesser an der Innenseite meines rechten Schenkels und packte das zweite, nach kurzem Überlegen, mit dem Pflock in meine Handtasche. Wo anders würde es zu sehr auffallen. Dann ging ich ins Bad und richtete mein Make-Up – dezent. Ich traf mich vielleicht mit einem Vampir, aber da musste ich ja auch nicht gleich aussehen wie ein Grufti.

Bei den Schuhen war ich mir unsicher. Notfalls wollte ich noch in der Lage sein zu kämpfen. Allerdings wären Ballerinas vielleicht etwas zu auffällig. Schließlich entschied ich mich für ein Paar schwarze Pumps mit Riemchen, die stabiler waren als sie aussahen. Doch wieder nervös strich ich mein Kleid glatt. Noch eine Viertelstunde. Ich atmete tief durch und verließ meine Wohnung in Richtung Restaurant.

 

Kapitel 7 – Das 'Date' mit dem Vampir

Das Restaurant war recht klein und ansprechend eingerichtet. Die Wände hatten die Farbe von hellem Sand und überall hingen Bilder von Toscanalandschaften. Die Stühle und Tische waren aus einem dunklen Holz gefertigt und schlicht gehalten.

Ein rascher Blick durch den Raum zweigte mir, dass der Vampir, – ich sollte wohl lieber nicht mehr als Vampir von ihm denken, sonst verplapperte ich mich womöglich – Mikhail, noch nicht da war. Irgendwie verletzte das meinen Stolz. Ob Vampir oder nicht, zu einem Date mit mir kam man einfach nicht zu spät.

Ich setzte mich an einen Tisch.

„Ein Wasser bitte.“

„Für eine bella donna wie dich doch alles.“

„Ahhhja....“

Doch diese abweisende Antwort schien dem Kellner nichts weiter auszumachen, denn als er mir mein Wasser vorsetze sprach er einfach weiter.

„Und was macht eine so schöne Frau wie du alleine in einem Restaurant?“

Ich wollte gerade etwas erwidern, als eine Stimme hinter mir für mich antwortete.

„Wer sagt, dass sie allein ist?“

Erschrocken fuhr ich auf meinem Stuhl herum und blickte in Mikhails Gesicht. Er nickte dem Kellner zu, dem der drohende Unterton in seiner Stimme nicht entgangen war, und sich jetzt daran machte schnellstmöglich zu verschwinden.

Mikhail ließ sich mit einer eleganten Bewegung auf seinen Stuhl sinken und zog sein Sportjackett aus. Ich musste zugeben, dass ihm das dunkelblaue Hemd, das er trug, gut stand.

„Tut mir leid, dass du warten musstest. Ich.....wurde aufgehalten.“

Das Zögern war kaum merklich gewesen, doch wunderte es mich, dass ich es überhaupt wahrgenommen hatte.

„Schon ok, ich bin mir sicher, es war wichtig.“

Ich schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, das er erleichtert erwiderte. Er war wirklich ein guter Schauspieler, das musste man ihm lassen.

Ein anderer Kellner kam an unserem Tisch vorbei und Mikhail bestellte sich etwas zu trinken. Dann wandte er sich wieder mir zu.

„Also Delilah, woher kommst du?“

Warum redete er überhaupt mit mir? Was wollte er von mir?

„Ach, ich komme hier aus der Gegend und hab auch noch nie wo anders gelebt. Kalifornien ist meine Heimat.“

Was für eine große Lüge das doch war, doch Mikhail ließ sich nicht anmerken, ob er es bemerkte.

„Erzähl mir lieber etwas über Russland und Europa. Ich habe Kalifornien noch nie verlassen.“

Ich beugte mich etwas über den Tisch und stützte mein Kinn auf meine Hände. Mikhail lachte leise.

„Was willst du denn wissen?“

„Wo genau aus Russland kommst du her?“

„Geboren wurde ich in Weliki Nowgorod. Das ist die älteste Stadt Russlands und meine Familiengeschichte lässt sich bis zur Gründung der Stadt im Jahre 859 zurückführen.“

„Ah, das ist sehr...interessant.“

Innerlich verfluchte ich mich für mein offen gezeigtes Misstrauen. Mikhail hob verwundert eine Augenbraue und wirkte etwas angespannt.

„Hast du etwas gegen Nowgorod?“

Jetzt musste ich improvisieren.

„Ich hatte schon einmal einen Freund aus Nowgorod und sagen wir es mal so: Er war ein verlogener Betrüger.“

Mikhails Gesichtszüge entspannten sich und er lächelte mich wieder an.

„Dann verstehe ich natürlich, dass der Name dieser Stadt keine allzu guten Erinnerungen in dir wachruft.“

Das war noch einmal gutgegangen, doch ich merkte, dass ich dieses Spielchen keinen ganzen Abend durchhalten würde.

„Also, du warst noch nie außerhalb von Kalifornien?“

„Doch, ich war ein paar Mal in New York, aber das war es dann auch schon.“

„Wow, ich dachte ihr Amerikaner reist viel herum.“

„Wie alt bist du eigentlich, Mikhail?“

Ich hatte es nicht verhindern können. Die Frage war mir einfach so herausgerutscht. Er schien zwar verwundert über den Themenwechsel, ließ sich sonst aber nichts anmerken.

„26, wieso?“

„Ach, es hat mich einfach interessiert wie lange es gedauert hat, bis du Russland überdrüssig geworden bist.“

„Oh, ich bin Russland nicht überdrüssig geworden. Ich bin nur geschäftlich hier.“

„Als was arbeitest du denn?“

„Ich bin Einkäufer für GazProm.“

„GazProm ist doch der größte Erdgasproduzent der Welt?“

„Genau, ich führe momentan Verhandlungen zum Verkauf unseres Erdgases nach Amerika.“

„Also ist GazProm noch nicht in Amerika vertreten?“

„Nein, momentan nur in Europa und Zentralasien.“

„Und wie lange bist du noch hier?“

„Bis ich zurückbeordert werde.“

„Egal wie die Verhandlungen stehen?“

„Wenn ich das erreicht habe, was ich erreichen sollte, werde ich zurückbeordert.“

Er sprach in Rätseln und das störte mich ungemein.

„Hast du eigentlich auch einen Nachnamen?“

„Romanow.“

„Ja klar. Und wie heißt du wirklich?“

„Das ist kein Witz. Ich heiße Mikhail Iwan Alexei Romanow. Meine Familie war allerdings nur entfernte Verwandtschaft des Zaren.“

Ich war noch nicht so ganz zufrieden mit seiner Antwort, ließ es aber auf sich beruhen.

„Und wo wir schon dabei sind, wie heißt du eigentlich mit Nachnamen?“

„Delilah Wolff.“

„Das ist ein jüdischer Nachname, oder?“

„Ja, aber meine Familie ist nicht mehr jüdisch.“

„Sondern?“

Das war meine Chance ihn unterschwellig ein bisschen spüren zu lassen, dass ich wusste was er war.

„Meine Geschwister und ich wurden nach dem katholischen Glauben erzogen. Meine Mutter vertrat die Ansicht, dass widernatürliche Kreaturen des Teufels auf dieser Welt wandeln und es die Aufgabe der Wissenden ist, diese zu vernichten.“

Bei den letzten Worten sah ich ihm direkt in die Augen, doch zu meiner Überraschung erblickte ich dort kein Erstaunen, sondern Bestätigung.

Ich lachte nervös auf.

„Aber in dieser Hinsicht hat sie schon immer ein Rad ab gehabt.“

„Ja, Menschen neigen dazu etwas zu fanatisch an Dinge heranzugehen und vergessen dabei an die Konsequenzen zu denken, die ihr Handeln nach sich zieht.“

Auch er sah mir bei diesen Worten direkt in die Augen und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Er weiß es! Er weiß was ich bin! Panik machte sich in mir breit. Jetzt wusste ich sicher, dass ich nicht eine einfache Mahlzeit für ihn war mit der er einfach vorher noch etwas spielen wollte. Mikhail würde das mit ihr tun, was Vampire und ihre Jäger nun einmal taten, wenn sie aufeinander trafen: Er würde versuchen mich zu töten und wenn er die Größe meiner Tätowierung sah, würde er mir einen besonders qualvollen Tod bereiten.

Ich musste hier raus. Am besten auf der Stelle das Land verlassen. Mein Pass lag noch zuhause und ich schalt mich für meine Nachlässigkeit. Auf so ein Treffen hätte ich ihn mitnehmen müssen. Aber das Wichtigste war erst einmal, dass ich hier rauskam.

Mit gespielter Lässigkeit nahm ich mein Handy aus der Tasche und tat so, als ob ich meine Nachrichten überprüfen würde. Dann riss ich in falschem Erstaunen die Augen auf.

„Ist alles ok?“

Als ich Mikhail ansah, wusste ich, dass er meinen Plan durchschaut hatte. Ich musste mich beeilen.

„Meine Freundin wurde von ihrem Freund verlassen. Es tut mir sehr leid, aber ich muss jetzt zu ihr.“

Mit einem entschuldigenden Lächeln stand ich auf und verließ raschen Schrittes das Restaurant. Wenn ich richtig geschätzt hatte würde es vier Minuten dauern bis er gezahlt hatte und mir folgen konnte. Bis dahin sollte ich schon wieder von meiner Wohnung in Richtung Flughafen unterwegs sein.

Ich nahm meine Beine in die Hand und rannte los. Als ich um die zweite Straßenecke schlitterte fiel mir plötzlich Nala ein. Im Rennen zog ich mein Handy aus der Tasche und wählte ihre Nummer. Es klingelte, doch niemand nahm ab.

„Mist Nala, geh doch endlich ran!“

Fluchen schob ich mein Handy in die Tasche. Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich nur noch zwei Minuten hatte. Ich steigerte mein Tempo noch und war froh mich für die Schuhe mit den stabilen Riemchen entschieden zu haben.

Noch eine Minute und dreißig Sekunden. Ich knallte mit meinem Schwung fast auf die Wohnungstür. In diesem Moment verfluchte ich meine vielen Schlösser.

Noch eine Minute. Ich rannte durch die Wohnung zu meinem Nachtkästchen und holte aus der untersten Schublade meinen Reisepass heraus.

Noch dreißig Sekunden. Ich rannte wieder hinaus. Eine Straße weiter hielt gerade ein Taxi und ich rannte wie von Sinnen darauf zu.

Meine Zeit war abgelaufen, doch der Taxifahrer blieb stehen und ich schwang mich auf den Beifahrersitz.

„Zum Flughafen. Drücken sie auf die Tube und ich bin bereit ihnen 200 Dollar für die Fahrt zu zahlen.“

Der Taxifahrer war überrascht.

„Aber Miss, sie haben noch nicht einmal Gepäck...“

„LOS“, brüllte ich den Fahrer an.

Erschrocken trat dieser aufs Gas und fuhr los. Erleichtert atmete ich durch. Ich konnte es schaffen. Erneut zog ich das Handy aus der Tasche und wählte Darius' Nummer. Nach dem zweiten Klingen hob er ab. Im Hintergrund hörte ich den Fernseher.

„Was ist los Sam.“

„Meine Mom hatte einen Unfall. Ich fliege zu ihr.“

Darius erkannte den Code sofort und sog entsetzt die Luft ein. Ich hörte wie er aufstand und eine Tür hinter sich schloss. Dann war es bei ihm ruhig.

„Ist der dir auf den Fersen?“

„Mein Dad ist noch nicht bei ihr, aber er versucht so schnell wie möglich zu ihr zu fahren.“

„Ok, nimm den nächsten Flug raus aus Kalifornien. Melde dich die nächsten drei Monate nicht und leg dir eine neue Identität zu. Ich kümmere mich um deine Angelegenheiten hier.“

„Ich konnte meine Schwester nicht erreichen. Richtest du es ihr bitte aus?“

„Ich geh morgen bei ihr vorbei.“

Er herrschte kurz Schweigen.

„Es tut mir Leid Sam.“

Dann legte er auf.

Ich schloss die Augen und legte mich im Sitz zurück. Die Fahrt zum Flughafen würde sicher noch zehn Minuten dauern.

„Es.....es tut mir Leid, mit ihrer Mutter.“

Überrascht öffnete ich die Augen und sah den Fahrer an.

„Mir tut es Leid, dass ich sie vorher so angebrüllt habe. Ich muss mich benommen haben wie eine Verrückte.“

Der Fahrer zuckte nur mit den Schultern.

„Sie lieben ihre Mutter und machen sich Sorgen um sie. Das ist nichts für das man sich entschuldigen muss.“

„Danke.“

Der Rest der Fahrt verlief schweigend und ich erreichte ohne Schwierigkeiten den Flughafen. Dort bezahlte ich den Fahrer, betrat eilig die Halle und rannte auf den erstbesten Schalter zu.

„Ja bitte, Miss?“

„Den ersten Flug aus den Staaten, bitte.“

Die Frau am Schalter wirkte verwirrt und betrachtete nun mein schickes Kleid. Eilig dachte ich mir eine Lüge aus.

„Ich hab meine Mann mit meiner besten Freundin im Bett erwischt und dass an unserem zweiten Hochzeitstag!“

Die Frau wirkte entsetzt. Gut.

„Den Ring hab ich sofort in den nächsten Abfluss geworfen und jetzt stehe ich hier vor ihnen, mit einer auf sein Konto laufenden Kreditkarte und möchte so weit und teuer wie möglich weg fliegen.“

Ich hatte anscheinend den richtigen Tonfall getroffen, denn jetzt grinste mich die Frau verschwörerisch an.

„Ich hätte da einen Flug für sie. Einstieg ist jetzt schon. First Class über Singapur nach Moskau.“

Lag etwa auf mir ein Fluch? Warum ausgerechnet Russland? Aber ich konnte ja auch schon in Singapur aussteigen, also nickte ich.

„Ich nehme den Flug.“

„Kreditkarte und Reisepass bitte. Als First Class Flieger können sie auch direkt bei mir einchecken.“

Ich gab ihr die gewünschten Dinge.

„Wunderbar.“

Die Frau tippte kurz an ihrem Computer, dann druckte sie mein Flugticket aus und reichte es mir.

„So, bitte. Und lassen sie den Kerl, falls sie ihn überhaupt gedenken zurückzunehmen, erst einmal richtig lange zappeln.“

Im gehen lächelte ich ihr noch einmal über die Schulter zu.

„Das werde ich.“

 

 

Singapur

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Kapitel 8 – Wiedersehen

Die First Class war fast leer. Nur wenige Sitze waren besetzt und ich genoss die Ruhe. Entspannt ließ ich mich in meinem Sitz zurück sinken. Das weiche helle Leder schmiegte sich an meinen Rücken und die Anspannung der letzten Stunden fiel langsam von mir ab. Ich war jetzt seit zwei Stunden in der Luft und langsam entkrampften sich meine Muskeln.

„Miss?“, die leise Stimme der Stewardess zwang mich dazu meine Augen wieder zu öffnen. Erstaunt stellte ich fest, dass ich geschlafen hatte.

„Ja bitte?“

„Wir werden in Kürze in Singapur landen.“

Ich bedankte mich kurz und die Stewardess entfernte sich wieder. In weniger als einer halben Stunde würde ich in Singapur sein. Weit weg von Mikhail und meinen Sorgen. Dort würde ich mir mit Sicherheit eine neue Identität kaufen können. Alles würde gut werden.

Das Flugzeug landete ohne Probleme und ich verließ erleichtert die Maschine. Ich hatte es tatsächlich geschafft. Beschwingt lief ich durch die Terminals und zu den Sicherheitskontrollen. In Kalifornien war es nicht schwer gewesen meine Waffen durchzuschmuggeln, aber hier kannte ich die Sicherheitsleute nicht.

Meine Schritte wurden langsamer und ich ging vorsichtig auf die Metalldetektoren zu. Nur an einem einzigen stand ein Wachmann, der mir den Rücken zuwandte. Ich war erleichtert, mit einem Mann konnte ich fertig werden. Ich schüttelte meine Haare auf, strich mein Kleid glatt und ging mit meinem männermordenden Lächeln auf den Wachmann zu.

„Hi, ich bin zum ersten Mal in Singapur und hab mich gefragt, ob sie mir vielleicht ein bisschen helfen können?“

Der Wachmann drehte sich zu mir um und ich blickte in die kalten Gesichtszüge eines Vampirs. Erschrocken blieb ich mitten in der Bewegung stehen. Ich konnte nichts anderes tun als den Vampirwachmann anzustarren. Ein Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus.

„Ah, Miss Anderson. Wir haben sie schon erwartet.“

Ich zwang mich, mich aus meiner Starre zu lösen, doch als ich sprach, kamen meine Worte nur als ein Flüstern über meine Lippen.

„Was wollen sie vom mir?“

Das Lächeln des Vampirs wurde breiter, doch er ging nicht auf meine Frage ein.

„Folgen sie mir, Miss Anderson.“

Er deutete mit einer kleinen Verbeugung nach rechts auf eine Tür. Ich überdachte kurz meine Fluchtchancen, doch sie beliefen sich gleich null. Ergeben ging ich dem Vampir voran durch die Tür und gelangte in einen langen Gang. Eine Weile liefen der Vampir und ich schweigend nebeneinander her. Schließlich deutete er auf eine Tür zu meiner Linken.

„Wenn ich bitten darf, Miss Anderson.“

Er öffnete die Tür zu einem kleinen dunklen Raum in dessen Mitte sich ein großer Tisch befand. Ihr gegenüber, auf einem Stuhl hinter dem Tisch saß Mikhail.

Der Vampirwachmann schlug hinter mir die Türe ins Schloss und Mikhail sah endlich auf.

„Ah, Delilah. Schön dich wiederzusehen. Oder soll ich dich doch lieber Sam nennen?“

Meine Hände verkrampften sich zu Fäusten.

„Setz' dich doch, Sam.“

Trotzig blieb ich stehen. Mikhail seufzte entnervt.

„Dann bleib stehen.“

„Was wollt ihr von mir?“, flüsterte ich.

„Nicht wir. Constantin will dich sprechen.“

Ich war verwirrt.

„Wer ist Constantin?“

„Das wirst du erfahren, wenn er es wünscht.“

„Ich will keine von euch werden.“

Mikhail sah mir mit einem kalten Blick tief in die Augen.

„Ich habe nie gesagt, dass das der Fall sein wird.“

Ein weiterer Schauer lief mir über den Rücken. Ich musste mich wehren, irgendwie.

„Wenn ich schreie, werden Menschen kommen.“

Mikhail schüttelte amüsiert den Kopf.

„Sam, Sam, Sam. Zu schade, dass Constantin dich in einem Stück und unversehrt haben will.“

Leise Hoffnung machte sich in mir breit. Ich wusste zwar nicht, auf was ich da hoffte, aber auf jeden Fall würden sie mich nicht physisch quälen.

„Ein Glück, dass du so angreifbar bist.“

Die zarte Hoffnung, die gerade begonnen hatte aufzublühen, wurde mit einem Mal zertreten. Verwirrt und furchtvoll sah ich Mikhail an. Auf was wollte er hinaus?

Als er sah, dass ich nicht begriff, lachte er.

„Die meisten Vampirjäger brechen jeglichen Kontakt zu normalen Menschen ab, weil sie sie nicht in Gefahr bringen wollen. Du aber verheimlichst es nicht einmal, dass dir ein Mensch so nahe steht und machst ihn auch noch so leicht zugänglich für uns.“

Ich begriff und ohne nachzudenken stürzte ich mich auf Mikhail. Doch ich schaffte es nicht einmal bis zu ihm. Vorher wurde ich von zwei Vampiren gepackt und zurück gezerrt. Mikhail hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt.

„Nicht so grob, oder wollt ihr Ärger mit Constantin?“

Die Vampire lockerten ihren Griff und ich versuchte wieder, mich auf Mikhail zu stürzen. Ich wusste, dass es sinnlos war. Trotzdem musste ich es versuchen und durfte mich nicht einfach so geschlagen geben.

Als der Griff um meine Arme wieder fester wurde, wurden auch meine Gedanken wieder klarer.

„Wo ist Nala?“, fragte ich mit bedrohlichem Unterton.

„Keine Sorge“, beschwichtigte mich Mikhail, „wir werden ihr nichts tun; solange du machst, was wir dir sagen. Also sein ein braves Mädchen und hör auf zu versuchen mich anzugreifen. Das nervt.“

Ein Gefühl der Hilflosigkeit machte sich in mir breit. Ich durfte nicht zulassen, dass ihr etwas geschah. Sie war das, was einer Familie am nächsten kam. Ich hatte schon meine Eltern und Brüder verloren, ich konnte nicht auch noch sie verlieren.

Mein Widerstand gegen den Griff der Vampire erschlaffte. Sie merkten es sofort und geleiteten mich zu dem Stuhl, der Mikhail gegenüber stand.

„Ein gebrochener Vampirjäger, ist das nicht jedes Mal aufs Neue ein herrlicher Anblick?“

Die Vampire lachten über Mikhails Kommentar und ich wäre am liebsten wieder auf ihn losgegangen, doch dann erschien ein Bild der lachenden Nala vor meinen Augen und ich sank im Stuhl zurück. Sie war alles, was ich noch hatte.

„Dann stell ich dir Mal deine Begleiter für den Rest des Weges vor.“

Langsam hob ich den Kopf und blickte Mikhail an.

„Die zwei netten Herren, die dich festgehalten haben sind Eliot...“

Er deutete auf einen großen Vampir mit steichholzkurzem schwarzem Haar, grünen Augen und einer langen Narbe auf der linken Seite des Halses. Er war, wie alle Vampire im Raum, gänzlich in schwarz gekleidet.

„...und Raoul.“

Raoul war gebaut, wie ein Schrank: nicht besonders groß und muskelbepackt. Er trug sein dunkelblondes Haar ebenso kurz wie Eliot und seine Augen hatten die Farbe von nassem Sand. Trotz seinem bulligen Körperbau war er nicht unattraktiv, wie jeder Vampir.

„Der Vampir, der dich hierher gebracht hat, war Immanuel; und mich kennst du ja schon.“

Mikhail lächelte, als hätte er gerade einen guten Witz gemacht.

„Was wollt ihr von mir?“, fragte ich mit zitternder Stimme.

Sein Gesichtsausdruck wurde leicht tadelnd, als spräche er mit einem kleinen Kind.

„Aber Sam, das habe ich dir doch schon gesagt. Constantin wünscht, dich zu sprechen.“

„Ich will ihn aber nicht sprechen“, sagte ich, in dem Versuch nicht vollkommen geschlagen zu wirken.

Mikhail ignorierte, was ich gesagt hatte, und konzentrierte sich stattdessen auf Immanuel, der gerade durch die Tür hereinkam.

„Das Flugzeug steht bereit, Sir.“

Mikhail nickte ihm zu.

„Dann gehen wir mal lieber.“

Er stand mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung auf und war schon halb aus der Tür, als Immanuel sich verlegen räusperte.

„Was?“

Immanuel deutete mit seinem Kopf in meine Richtung.

„Keine Sorge. Sie wird sich benehmen, schließlich möchte sie ja nicht, dass ihrer kleinen, unwissenden Freundin etwas zustößt.“

Obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste ich, dass er grinste und ich verabscheute ihn dafür. Er war der Grund, warum ich Vampire hasste und tötete. Er gehörte zur schlimmsten Sorte, denn er genoss es anderen Qualen zu bereiten und ihnen dabei zuzusehen, wie sie sich wandten.

Galle stieg in mir hoch und ich musste mich beherrschen nicht auf die Vampire zu erbrechen.

Mikhail war inzwischen weitergelaufen, doch die anderen sahen mich noch immer skeptisch an, bereit, jeden Moment zu kämpfen. Ich atmete einmal tief durch und folgte dann Mikhail auf den langen Flur. Wir verließen ihn wieder durch dieselbe Tür und gingen dann weiter bis zu einem Privatterminal. Als ich mich dort umsah, bemerkte ich, dass die Angestellten zwar keine Vampire waren, jedoch zu wissen schienen, dass sie für welche arbeiteten. Sie arbeiteten für die Vampire in der Hoffnung eines Tages von ihnen selbst zu einem Vampir gemacht zu werden. Mir wurde wieder schlecht.

Eine hübsche menschliche Stewardess kam auf uns zu und führte uns in den Privatjet. Dieser war recht klein und in ihm befanden sich nur 12 Sessel aus teurem, blutrotem Leder. Die Wände waren mit dunklem, fast schwarzem Holz verkleidet und der Boden bestand aus einem dicken, purpurfarbenen Teppich. Wenn hier jemand getötet würde, musste man sich keine Sorgen wegen Blutflecken machen.

Die Sessel waren in zwei Vierer- und zwei Zweiergruppen aufgeteilt. Mikhail bedeutete mir, mich in eine der Zweiergruppen zu setzen und ließ sich mir gegenüber nieder. Immanuel gab dem Piloten noch kurze Instruktionen und verließ dann, nachdem er sich kurz bei Mikhail verabschiedet hatte, den Privatjet. Raoul und Eliot saßen in dem Vierer schräg hinter mir und ich fühlte mich unwohl, sie nicht sehen zu können.

Der Privatjet rollte langsam an und erhob sich in die Lüfte. Lange Zeit herrschte Schweigen und ich blickte aus dem Fenster, ohne etwas zu sehen.

Ich wusste nicht, ob nur ein paar Minuten oder Stunden vergangen waren, als ich Mikhail, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden fragte:

„Wohin fliegen wir eigentlich?“

„Nach Russland.“

 

 

Russland

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Kapitel 9 – Neues Heim

Als der Flieger auf dem Landefeld aufsetzte, spürte ich es kaum. Alles an mir war wie betäubt und mein Gedanken kreisten um eine einzige Frage: Warum war ich hier? Ich kannte keinen Constantin und konnte mir auch nicht vorstellen, was er von mir wollen könnte. Außer natürlich mein Blut.

Eine Hand auf meinem Arm holte mich aus meiner Trance. Erschrocken blickte ich die Hand hinauf zu dem Gesicht seines Besitzers: Mikhail.

„Steh auf, wir sind da.“

Ich nickte benommen und folgte ihm aus dem Privatjet. Die kühle Luft, auf die ich traf, brachte mich zurück in die Realität. Wir waren auf einer kleinen Landebahn, vermutlich auch privat, und wo ich auch hinblickte nichts als schneebedeckte Wiesen und Wälder – bis auf den kleinen Flugzeughangar. Wären die Umstände andere gewesen hätte ich den Anblick genossen. Jetzt aber war ich mir der Anwesenheit der drei Vampire um mich herum nur allzu sehr bewusst.

Am Rande der Landebahn erschien eine große schwarze Limousine mit getönten Scheiben. Sie hielt nicht weit entfernt und Mikhail und die anderen Vampire gingen zielstrebig darauf zu, während das menschliche Personal sich daran machte den Privatjet sicher in den Hangar zu manövrieren. Ich folgte den Vampiren, ohne dass sie mich dazu auffordern mussten. Ich wusste, wann ich Befehlen folge leisten musste.

Das Innere der Limousine war ganz in Schwarz und Purpur gehalten. Anscheinend schienen die Vampire eine Vorliebe für diese Farben zu haben.

Während der gesamten Fahrt sprachen die Vampire kein einziges Wort mit mir. Sie alle schienen nervös und angespannt, was für Vampire höchst ungewöhnlich war. Ich konnte es nicht verhindern, dass ich selbst nervös wurde. Was einem Vampir Angst einjagte sollte ich auch nicht unterschätzen.

Der Fahrt dauerte noch ungefähr eine Viertelstunde bevor der Wagen langsamer wurde. Ich versuchte durch die getönte Scheibe etwas zu erkennen, doch es wurde schon dunkel und ich konnte nur die wagen Umrisse eines riesigen Gebäudes erkennen. Es musste mindestens fünf Stockwerke hoch sein, soviel stand fest.

Der Wagen fuhr über Kies und blieb schließlich endgültig stehen. Erwartungsvoll sah ich erst Eliot und Raoul und schließlich Mikhail an. Keiner von ihnen hatte sich auch nur einen Millimeter von seinem Platz gerührt und sie schienen auf etwas zu warten. Ich wünschte ich hätte meinen Pflock, doch Mikhail hatte mir die Tasche, bevor wir das Flugzeug bestiegen hatten, abgenommen ebenso wie das Messer an der Innenseite meines Schenkels, was eine äußerst unangenehme Situation gewesen war. Nervös nestelte ich am Saum meines Kleides herum. Warten zu müssen war ganz sicher kein gutes Zeichen.

Plötzlich wurde die Tür der Limousine geöffnet und in ihr stand ein kräftig gebauter, gut aussehender Vampir, der vor seiner Verwandlung Südländer gewesen sein musste. Auch er trug seine schwarzen Locken streichholzkurz. Geübt ließ er seinen Blick durch die Limousine schweifen und blieb für einen Moment an mir hängen. Dann wandte er sich Mikhail zu.

„Du kennst die Regeln, Romanow.“

Mikhails blickte dem anderen Vampir fest in die Augen und als er sprach war die Drohung in seiner Stimme deutlich zu hören.

„Constantin hat nach ihr schicken lassen, Martinez.“

Der südländische Vampir, Martinez, warf mir einen schnellen Blick zu. Schließlich nickte er und trat aus der Tür. Eliot, Raoul und Mikhail stiegen nun endlich aus. Hastig folgte ich ihnen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich in ihrer Nähe noch am sichersten war.

Nun hatte ich endlich die Gelegenheit das Haus im Licht der untergehenden Sonne kurz zu studieren. Es war eine Mischung aus einem – so glaubte ich zumindest – typisch russischen Bauwerk, das mich an das einzige russische Gebäude das ich kannte erinnerte, den Kreml, und einer typischen Neubaute, die das Gebäude nach hinten verlängerte. Im ersten Moment wirkte das ganze Gebilde grotesk, doch wenn man es sich eine Weile ansah erkannte man seine Schönheit. Wer auch immer der Architekt gewesen war, er hatte ein unglaubliches Gespür dafür gehabt, wie man Altes mit Neuem verband.

Inzwischen waren die Vampire schon ein paar Schritte weitergegangen und ich beeilte mich zu ihnen aufzuschließen, damit ich mit ihnen das Gebäude betreten konnte.

Innen war das Haus genauso atemberaubend, wie von außen. Auch hier waren alte Elemente mit neuen vermischt worden, doch es ließ das Ganze nur umso stilvoller erscheinen.

Wir schritten durch die riesige Eingangshalle direkt auf eine überdimensionale Treppe zu, die mit einem purpurfarbenen Teppich bedeckt war, natürlich, welche Farbe denn sonst.

Martinez führte und die Treppe hinauf und dann rechts. Schnell erkannte ich, dass es sich um einen Gästetrakt handelte. Wenigstens würde man mich nicht in einer Zelle dahinvegetieren lassen.

Martinez blieb schließlich vor einer Tür stehen, die durch eine Chipkarte und einen Zahlencode gesichert war, stehen.

„Dies ist das Zimmer, das Constantin für sie vorgesehen hat“, sagte er an Mikhail gewandt.

Mikhail verstand den Wink und er gab Eliot und Raoul ein Zeichen sich umzudrehen bevor er sich mit dem Rücken zu Martinez vor mich stellte und mir so den Blick auf das Zahlenfeld versperrte. Nach wenigen Sekunden hörte ich, wie Martinez die Tür öffnete und Mikhail gab mir den Blick wieder frei. Ich ging an den Vampiren vorbei in, nun ja, mein Zimmer.

Anders wie der Rest des Hauses war dieses Zimmer komplett modern eingerichtet. Mir gegenüber hatte der Raum zwei riesige, übermannshohe Fenster, die beide jeweils ungefähr zwei Meter der 8 Meter langen Wand einnahmen. In die Tiefe durfte das Zimmer ungefähr 5 Meter sein und die Decke befand sich in ca. 3 Metern Höhe. Vor einem der Fenster stand ein kleines schwarzes Ledersofa, das einem den Blick auf den riesigen Garten ermöglichte, welchen ich in der Dunkelheit nur noch erahnen konnte. Links von mir stand ein riesiges Himmelbett, dessen mit Ornamenten verzierter Rahmen aus pechschwarzem Holz gefertigt war. Die Decke und das Kissen waren von blutroter Farbe. In der linken Zimmerecke stand ein wuchtiger Schrank, der aus dem gleichen Holz gemacht zu seien schien, wie das Bett. An der gegenüberliegenden Wand zogen sich mehrere, gut gefüllte Bücherregale entlang. Darunter stand ein weiteres, wenn auch größeres, schwarzes Ledersofa. Auf der anderen Seite des Bettes befand sich eine weitere Tür.

Trotz der gewöhnungsbedürftigen Farbauswahl gefiel mir das Zimmer. Hier würde ich durchaus eine Weile leben können.

„Das Zimmer wurde speziell auf ihre Bedürfnisse hin eingerichtet“, sagte Martinez in einem geübten, wenn auch ein wenig aufgekratzten Tonfall, zu mir und gab mir eine kleine Fernbedienung. Fragend sah ich ihn an.

„Die Tasten oben sind für die Fensterverdunkelungen, die unten um den Fernseher auszufahren.“

Um es mir zu demonstrieren drückte er auf den Knopf und der Boden, etwa einen Meter von dem größeren Ledersofa unter den Bücherregalen entfernt, öffnete sich mit einem leisen Surren. Dann fuhr ein riesiger Plasmabildschirm aus der Versenkung heraus.

„Der Fernseher verfügt außerdem über eine große Auswahl von eingespeicherten Filmen.“

Ein weiterer Klick auf den Knopf ließ den Fernseher wieder in der Versenkung verschwinden.

„Den Knopf in der Mitte drücken sie, wenn sie etwas anderes benötigen. Dann wird jemand kommen, der sich darum kümmert.“

Ich nickte zum Zeichen, dass ich verstand.

„Das Badezimmer befindet sich hinter der Tür links neben dem Bett.“

Wieder nickte ich.

„Danke.“

Martinez verneigte sich kurz.

„Es war mir ein Vergnügen.“

Dann verließ er das Zimmer und die Tür fiel mit einem endgültigen Klicken ins Schloss. Ich sah mich noch einmal um. Das sollte als mein Gefängnis für die nächste Zeit sein.

Mit einem tiefen Seufzer ließ ich mich auf das Sofa unter dem Bücherregal fallen und schloss erst einmal die Augen. Vielleicht, ganz vielleicht, war das ja alles nur ein böser Albtraum. Nur leider war dieser real.

Ein leises Schluchzen stieg meine Kehle empor. Erschrocken gebot ich mir damit aufzuhören. Ich musste Stärke zeigen, koste es was es wolle. Dies war mein persönlicher Kampf, den ich da auszutragen hatte. Und ich würde ganz sicher nicht verlieren.

Entschlossen stand ich wieder auf, drehte mich um und betrachtete das Bücherregal. Darauf befand sich eine Auswahl von meinen liebsten Fantasybüchern, eine Auswahl an Klassikern, die ich auch sehr mochte und einige Lexika und Wissensbücher. Alles in allem war es meinem Bücherregal zuhause recht ähnlich. Diese Tatsache beunruhigte mich. Wer zur Hölle waren die?

Mit einem Schaudern wandte ich mich ab und ging auf die Badezimmertür zu. Sie schien das einzige zu sein, das noch aus dem alten Raum erhalten zu sein schien. Die Eingangstüre war eine Hightech-Sicherheitstüre und mindestens einen halben Meter dick. Diese hingegen war aus einem dunklen Holz gefertigt und aufwändig mit Blumenmustern verziert. Die alte Klinke schimmerte golden. Mir gefiel diese Tür sehr gut und als ich sie öffnete, versuchte ich die Tür besonders pfleglich zu behandeln.

Vor mir breitete sich nun ein Traum von schwarzem Marmor aus. Zu meiner Linken befand sich die Dusche und selbst ihre Armaturen waren schwarz lackiert. Daneben lagen, in einem in der Wand versenkten Regal, blutrote Handtücher. Mich schauderte, trotzdem ließ ich meinen Blick weiter schweifen. Mir direkt gegenüber befand sich die halb in den Boden eingelassene Badewanne, wie alles in dem Raum aus schwarzem Marmor. Selbst die Innenwände waren mit kleinen Fließen aus dem schwarzen Marmor verkleidet. Zu meiner Rechten befand sich das Waschbecken mit einem überdimensionalen Spiegel, der glänzte wie poliertes Silber. Das Waschbecken selbst, genauso wie der Wasserhahn, war wieder aus dem unvermeidlichen schwarzen Gestein. Auch hier hing ein blutrotes Handtuch.

Schaudernd verließ ich das Bad. Auf seine Art war es zwar einfach umwerfend, doch es erinnerte mich zu sehr daran, wo ich war. Trotzdem sehnte ich mich nach einer heißen Dusche. Ich ging auf den Schrank zu, in der Hoffnung darin frische Kleidung zu finden und ich hatte Glück. Darin befand sich eine große Auswahl in meiner Größe. Ich nahm mir schlichte weiße Unterwäsche, ein langärmliges grünes T-Shirt und eine beige Leinenhose heraus. Mit meiner Ausbeute machte ich mich dann auf den Weg zurück ins Bad und duschte erst einmal ausgiebig. Nachdem ich eine Weile im Bad gewesen war, erschien es mir überhaupt nicht mehr furchteinflößend und ich begann den Raum zu mögen. Zu meiner Freude fand ich in dem Kästchen unter dem Waschbecken einen Föhn und eine Bürste.

Vielleicht konnte ich das hier als eine Art Urlaub ansehen. Schnell verwarf ich die Idee wieder. So etwas konnte meine Wachsamkeit stark beeinträchtigen und außerdem war es nur dumm. Diese Wesen hier waren meine Feinde und mein Ziel war es, sie zu vernichten.

Rasch trocknete ich meine Haare. Dann kehrte in das Zimmer zurück und wartete.

 

Kapitel 10 – Der Mann aus meinen Alpträumen

Die Stunden vergingen und langsam wurde ich nervös. Die Sonne war schon vor langer Zeit vom Mond abgelöst worden und ich starrte hinaus in die wolkenverhangene Nacht. Zu viel Zeit zum Nachdenken hatte mir noch nie gut getan. Ich hatte mir während der letzten Stunden all die schrecklichen Dinge ausgemalt, die sie wahrscheinlich mit mir anstellen würden, wenn sie die Größe meiner Tätowierung sahen. Vielleicht aber wussten sie es auch schon.

Verzweifelt ließ ich meinen Kopf auf die angezogenen Knie sinken. Warum konnten sie nicht einfach hereinkommen und tun, was sie ihrer Meinung nach mit ihr anstellen mussten. Dann wäre es wenigstens endlich vorbei.

Als hätten sie meine Gedanken gehört, klopfte es plötzlich an der Tür. Dann wurde sie auch schon geöffnet. Hastig sprang ich vom Sofa auf und drehte mich in Richtung Tür. Dort stand Martinez und lächelte mich freundlich an.

„Miss Anderson, wenn sie so weit wären?“

Ich hätte gerne gefragt wofür, doch irgendwoher wusste ich, dass ich darauf keine Antwort bekommen würde. Ich nickte und schlüpfte in ein Paar Turnschuhe, die ich noch in dem Kleiderschrank gefunden hatte. Dann folgte ich Martinez auf den Gang.

Schweigend gingen wir eine Weile nebeneinander her. Nur von Zeit zu Zeit sagte mir Martinez welchen Weg ich nehmen musste. Und ich war wirklich dankbar für seine Führung, denn erst jetzt wurde mir bewusst, wie riesig das Haus wirklich war. Allein hätte ich mich hier sofort verlaufen. Im vorderen Teil des Gebäudes waren die Wände mit hellem, freundlichen Holz und sanft Gelben Tapeten bedeckt gewesen. Hier im Hinteren jedoch dominierten wieder die Farben Schwarz, Purpur und Blutrot. Nirgendwo stand mehr etwas zur Zierde, wie ein Bild oder ein Tischlein. Alles war schlicht und karg, wenn auch nicht hässlich.

Nach weiteren geschätzten fünf Minuten durch diese Gänge kamen wir wieder in einen alten Teil des Hauses. Dort ging Martinez mit mir auf eine große, mit Blattgold verzierte Tür zu. Mit der Hand an der Türklinke blieb er noch einmal stehen und blickte über die Schulter zu mir.

„Bereit“, fragte er mit einem breiten Lächeln auf den Lippen.

„Für was?“

Meine Stimme klang leicht verzweifelt. Doch anstelle einer Antwort öffnete Martinez die Tür und gab mir den Blick auf ein großes, kreisrundes, zur Hälfte verglastes Zimmer frei. Ich musste mich in einem der Türme befinden.

In dem Raum befand sich nur ein einziger großer Mahagonischreitisch, der sich genau im Zentrum befand. Hinter ihm saß ein hochgewachsener Vampir mit kurzen schwarzen Haaren, die jedoch etwas länger als die Martinez' und der anderen waren. Diese trug er modisch wirr und als er den Kopf hob, blickte ich in tiefe azurblaue Augen. Sofort versteifte ich mich. Einen Moment lang konnte ich mich nicht entscheiden ob ich lachen oder weinen sollte. Heute wurde ich schon zum zweiten Mal zu einem Vampir in den Raum geführt, den ich kannte. Und dieser hier spielte seit zweieinhalb Jahren die Hauptrolle in meinen Albträumen.

Ich entschied mich für lachen und kam in den Genuss Martinez aus dem Augenwinkel zusammenzucken zu sehen. Wer konnte es ihm verdenken, nicht einmal ich selbst hatte wirklich damit gerechnet. Der Vampir hinter dem Mahagonischreibtisch allerdings hatte sich keinen Millimeter bewegt.

„Hinaus, Martinez“, sagte er, ohne den Blick von mir abzuwenden.

Das gleich darauf erfolgende Klicken der Tür zeigte mir, dass Martinez dem Befehl dieses Vampirs umgehend nachgekommen war.

„Setzen sie sich doch.“

Er deutete auf dem Stuhl vor dem Mahagonischreibtisch und ich bewegte mich langsam darauf zu.

Die Umstände eines weiteren Zusammentreffens mit diesem Vampir hatte ich mir anders vorgestellt, sehr anders. In meinen Fantasien hatte ich ihm immer einen Pflock durchs Herz gejagt. Ich hatte gesehen, wie ihm klar wurde, dass ich ihn getötet hatte und es hatte sich so gut angefühlt.

Jetzt saß ich vor ihm, auf einem Stuhl mit harter Lehne – wobei ich keine Ahnung hatte, warum mir das besonders auffiel – und sah dem Mann in die Augen vor dem ich auf dieser Welt die meiste Angst hatte.

„Du hast dich sehr verändert.“

Damit überraschte er mich wirklich. Er stellte es so dar, als ob wir alte Freunde wären, die sich seit einer Weile nicht mehr gesehen hatten. Und das waren wir definitiv nicht. Trotzdem beschloss ich sein Spielchen mitzuspielen. Ich wollte wissen, worauf er hinaus wollte.

„Du siehst noch genauso aus wie vor zweieinhalb Jahren.“

Auf dem Gesicht des Vampirs spielten sich keinerlei Gefühlsregungen ab. Heute wusste ich, dass das auf ein sehr hohes Alter schließen ließ. Vampire verloren mit der Zeit ihre Menschlichkeit, weil die Zeit sie der Gesellschaft entfremdete.

„Du hast anscheinend viel trainiert, aber die Angst hat es aus deinen Augen nicht genommen.“

Ein winziger kalter Schauer lief meinen Rücken hinunter und ich war mir sicher, dass er es gesehen hatte.

„Vielleicht hat es mir nicht die Angst genommen, dafür aber das Zögern.“

Wieder blieb sein Gesicht ausdruckslos, auch wenn ich mir einbildete, einen amüsierten Zug um seine Augen wahrzunehmen.

„Ja, dass du nicht zögerlich bist, wenn es darum geht meinesgleichen zu töten, kam mir schon zu Ohren.“

Trotz meiner aufkommenden Nervosität versuchte ich ruhig auf dem Stuhl sitzen zu bleiben.

„Würdest du mir deine Tätowierung zeigen?“

Erstaunt sah ich ihn an. Mit einer Bitte, wenn es auch nur eine reine Höflichkeitsformulierung war, hatte ich nicht gerechnet. Wie in Trance stand ich von dem Stuhl auf, stellte mich seitlich hin und hob das T-Shirt an meiner rechten Seite an, während ich gleichzeitig meine Hose ein wenig nach unten schob.

Der Vampir betrachtete meine Tätowierung aufmerksam und ich konnte es nicht verhindern, dass ich stolz auf sie war. Um das Zentrum, das aus den drei japanischen Schriftzeichen für Untoter, Tod und Schicksal bestand, befanden sich die 43 Punkte. Doch das waren nicht nur einfache Punkte. Wenn man sie genauer betrachtete sah man, dass sie aus übereinandergelagerten geometrischen Figuren bestanden. Ich war sehr stolz auf die filigranen Kunstwerke, die meine Haut zierten. Sie machten meine Vampirjägertätowierung zu etwas besonderem.

Auch dem Vampir schien die Besonderheit meiner Tätowierung aufgefallen zu sein, denn er musterte sie mit äußerster Konzentration. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, wandte er seinen Blick wieder meinem Gesicht zu und nickte. Daraufhin ließ ich mein T-Shirt los und setzte mich erneut auf den harten Holzstuhl.

„Ich wusste zwar, dass einige Vampire durch deine Hand gestorben sind, aber so viele....du hattest anscheinend eine gute Motivation.“

Ich konnte die Frage, die dahinter steckte nur allzu deutlich wahrnehmen.

„Ja. Dich. Ich wollte stark genug werden und genügend Geschick entwickeln um dich und deine Kumpanen eines Tages töten zu können.“

Da lachte mich der Vampir doch tatsächlich aus.

„Glaub mir, meine Liebe, um mich töten zu können müsstest du selbst ein Vampir sein.“

„Das haben sie alle geglaubt, bis ich ihnen meinen Pflock zwischen die Rippen gebohrt und sie angezündet hab“, meinte ich trotzig mit einem Achselzucken.

Der Vampir schien sich prächtig mit mir zu amüsieren, zumindest glaubte ich das.

„Ja, ja“, sinnierte er, „man brauch ein gesundes Selbstbewusstsein um Vampirjäger zu werden. Trotzdem, oder vielleicht auch gerade deswegen, ist die Lebenserwartung von euch auch so gering. Sobald deine Reflexe nachlassen, und wenn es auch nur ein kleines bisschen ist, bedeutet das deinen Tod.“

Er lächelte in sich hinein. Was war für ihn nur so amüsant an dieser Situation?

„Hast du eigentlich jemals Skrupel gehabt?“

„Beim töten? Nein. Hast du etwa Skrupel, wenn du im Schnellrestaurant einen Hamburger isst?“

„Das ist nicht dasselbe!“

„Doch“, erwiderte er vollkommen ernst, „das ist es. Vampire sind keine Menschen und somit betreiben wir auch keinen Kannibalismus.“

Ich sah in etwas verunsichert an. Das war genau das, was ich dachte.

„Vielleicht hast du es nicht laut gesagt, aber deine Gestik und Mimik verraten einiges über dich. Außerdem töten wir ja auch nicht jedes Mal, wenn wir trinken. Du übertreibst vollkommen.“

Darauf wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Irgendwie hatte er ja recht....stopp!! Ich sah im gerade direkt in die Augen und er beeinflusste mich. Wütend funkelte ich ihn an.

„Lass das!“

„Du hast es bemerkt, erstaunlich.“

Seine Miene wirkte aber ganz und gar nicht erstaunt, eher gelangweilt.

„Starke mentale Resistenz ist dünn gesät. Die Vampirjäger können sich glücklich schätzen dich eine der ihren nennen zu dürfen.“

„Aber hier bin ich, trotz meiner mentalen Resistenz“, antwortete ich verächtlich.

„Unterschätze diese Fähigkeit nicht“, ermahnte mich der Vampir, „Ohne sie wärst du sicher schon vor Jahren gestorben.“

„Du meinst damals, oder?“

„Ja. Du hast ja gesehen, wie deine Freunde lächelnd auf uns zugeeilt sind. Der Alkohol hat es uns natürlich etwas leichter gemacht, aber nicht gerade besonders erwähnenswert.“

Er machte eine kurze Pause.

„Auch dass Pedro gerne ein bisschen mit seinem Snack spielt, bevor er ihn tötet, hat dich gerettet. Sonst hätten die anderen Vampirjäger keine Chance gehabt, dich noch lebend zu bekommen.“

„Du lässt das alles so klingen, als wären die Vampirjäger nie eine wirkliche Gefahr für euch gewesen.“

Der Vampir lächelte wieder sein dünnes Lächeln, das so unmenschlich aussah.

„Oh, das waren sie auch nicht. Ich denke Pedro hat dich einfach aus Überraschung liegen lassen, weil du dich auch gewehrt hast. Er hatte keine Zeit mehr um dich anständig zu becircen, da hat er dich lieber gleich liegen lassen.“

Er zuckte mit den Schultern.

„Warum bin ich hier? Will Pedro mich jetzt endgültig aussaugen?“

Mit leicht hochgezogenen Augenbrauen musterte mich der Vampir.

„Hat dir denn niemand gesagt, dass du hier bist, weil ich mit dir sprechen wollte?“

Wie hatte ich das nur nicht bemerken können.

„Dann bist du....“

„Ja, ich bin Constantin.“

 

Kapitel 11 – Antworten im Nebel

„Was willst du von mir?“

„Mit dir sprechen.“

Ich seufzte entnervt. Hatten die alle einen Hänger in der Platte?

„Warum willst du mit mir sprechen?“

„Ich will wissen wo Pedro ist.“

Verwirrt starrte ich den Vampir, Constantin, an.

„Ich hatte dir doch gerade von ihm erzählt, du kennst ihn“, half er mir ungeduldig auf die Sprünge.

„Ahh“, antwortete ich und strich mir über die Bissnarbe an meinem Hals, „Ich habe ihn seit diesem Abend nie wieder gesehen und falls ich ihn doch getroffen hätte, wäre er jetzt tot.“

Constantin nickte.

„Jetzt wo ich dir gegenüber sitze, sehe ich, dass du die Wahrheit sagst.“

„Also darf ich wieder gehen?“, fragte ich hoffnungsvoll.

„Aber nein, natürlich nicht. Schon allein wegen der Größe deiner Tätowierung. Ich verstehe sowieso nicht, warum ihr eure Errungenschaften auf eurem Körper verewigt. Das ist einfach nur leichtsinnig und dumm.“

„Wir haben unseren Stolz und ihr würdet uns so oder so als Vampirjäger erkennen.“

„Da hast du natürlich auch wieder Recht.“

Eine Weile herrschte Schweigen.

„Also, was hast du mit mir vor, Constantin?“

„Das weiß ich noch nicht“, gab er zu.

„Und solange wirst du mich in diesem Zimmer einsperren?“

„Ja.“

„Die anderen Vampirjäger werden nach mir suchen.“

Constantin lachte auf.

„Sam, Sam.“

Er schüttelte amüsiert den Kopf.

„Wir wissen von deinem Telefongespräch mit dem Vampirjäger Darius. Die nächsten drei Monate erwartet er keine Nachricht von dir und wird dich auch ganz sicher nicht suchen.“

Verzweiflung machte sich in mir breit und ich versuchte sie Constantin nicht sehen zu lassen.

„Und wie lange dauert es, bis du weißt, was mit mir geschieht?“

„Ich kann es in Minuten schon wissen, oder eben auch erst in Wochen. Wann ich Zeit habe mich mit dir zu beschäftigen.“

„Wochen?“

Ich konnte das entsetzen in meiner Stimme nicht mehr verbergen.

„Wenn du mich umbringen willst, dann bring es doch einfach hinter dich!“

Ich war von meinem Stuhl aufgesprungen und umklammerte die Tischplatte so stark, dass meine Knöchel weiß hervortraten. Meine weit aufgerissenen Augen starrten Constantin an. Der lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück und erwiderte meinen panischen Blick amüsiert.

„Du bist genauso impulsiv wie dein Vater.“

Nun war ich verwirrt, sehr sogar.

„Was?“

Doch Constantin antwortete mir nicht, sondern wandte sich den Papieren vor sich auf dem Schreibtisch zu.

„Was?“, brüllte ich fast und mein Griff um den Schreibtisch wurde so stark, dass ich das Gefühl hatte meine Finger würden gleich brechen.

Constantin hob nicht einmal den Blick.

„Martinez!“, rief er und schon stand der Südländer in der Tür.

„Ja?“

„Bring sie doch bitte wieder auf ihr Zimmer.“

Schon stand Martinez hinter mir.

„Wenn sie bitte mitkommen würdest, Miss Anderson.“

Doch ich ignorierte ihn einfach und starrte weiter Constantin an.

„Was?“, brüllte ich so laut, dass ich fühlte wie mein ganzer Körper vibrierte.

„Martinez“, sagte Constantin bloß.

Da spürte ich, wie sich Arme um mich legten und begannen mich aus dem Raum zu ziehen.

„NEIN!“

Wie eine Wahnsinnige wandte ich mich in Martinez' Griff ohne den Blick von Constantin abzuwenden. Doch Martinez war so viel stärker als ich und schleifte das kreischende und um sich schlagende Wesen, das ich war, durch die langen verzweigten Flure zurück in das Zimmer. Dort packte er mich an den Schultern und schüttelte mich solange, bis ich endlich ruhig wurde und ihn verwirrt ansah.

„Geschrei und Gebrüll bringt ihnen bei Constantin nicht viel. Sie sollten sich seine Sympathie nicht verspielen, sie werden sie noch brauchen. Er ist für einen Vampir noch sehr menschlich, glaubt mir. Sie hätten es viel schlimmer treffen können.“

Dann ließ er mich einfach verdattert stehen und verließ das Zimmer.

Noch immer konfus setzte ich mich auf das Sofa unter dem Bücherregal. Ich kickte mir die Schuhe von den Füßen, zog meine Beine aufs Sofa, schlang meine Arme darum und weinte.

Ich weiß nicht, wie lange ich weinte, doch schließlich klopfte es an der Tür und ich wischte mir hastig mit dem Ärmel über die Augen.

Herein kam eine kleine, rundliche Menschenfrau, die mindestens 65 Jahre alt seien musste. Sie trug ein hübsches dunkelblaues Wickelkleid, das exakt die gleiche Farbe wie ihre Augen hatte. Das schon grau melierte schwarze Haar trug sie zu einem strengen Knoten nach hinten. Alles in allem machte sie einen recht freundlichen, wenn auch strengen Eindruck. Als ich das Tablett sah, dass sie bei sich trug, merkte ich, dass ich fürchterlichen Hunger hatte.

Das Zimmer war offensichtlich nicht dafür gedacht, dass man darin Mahlzeiten einnahm, denn einen richtigen Tisch hatte es nicht.

Die kleine Frau ließ die Tür offen, als sie ins Zimmer hineinkam. Schnell spähte ich durch die Tür, zog jedoch sofort meinen Kopf zurück, als ich auf dem Gang einen Vampir erblickte.

„Mein Name ist Sophia“, stellte sich die Frau mit einem schweren Akzent vor, der nicht russisch klang. Allerdings hatte ich davon auch wenig Ahnung.

„Freut mich, Samantha.“

Irgendwie erschien es mir falsch, sich dieser Frau mit meinem Spitznamen vorzustellen. Sophia flößte einem Respekt ein, selbst in einem Haus voller Vampire.

Sie nickte. Dann ging Sophia zu dem Kleiderschrank und holte unter ihm einen kleinen Klapptisch hervor, den ich bei meiner Zimmerinspektion nicht bemerkt hatte. Lautlos schalt ich mich für meine Unachtsamkeit.

Sophia stellte den Klapptisch vor das kleinere Sofa unter dem Bücherregal und stellte das Tablett darauf, dann wandte sie sich wieder an mich.

„In einer Stunde werde ich das Tablett wieder holen kommen.“

Ich nickte zum Zeichen, dass ich verstanden hatte und sie verließ das Zimmer. Dieses Mal hatte ich besser auf ihren Akzent geachtet: Sie rollte das 'r' und dehnte die Vokale am Ende eines Wortes. Definitiv kein russischer Akzent.

Zu weiteren Überlegungen war mein Hirn nicht fähig, denn mein Magen übernahm die Kontrolle. Eilig huschte ich auf das Tablett zu und hob die Glocke hoch. Das Essen sah lecker aus. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass ich es kannte. Es waren Pelmeni, eine russische Nudelspezialität, die ich schon einmal gegessen hatte. Daneben standen noch ein Glas Wasser und ein Schokoladenkuchen.

Einen Moment lang hielt ich mich mit dem Gedanken auf, dass das Essen vergiftet sein konnte. Das Knurren meines Magens brachte mich dazu diese Idee zu verwerfen und ich machte mich mit Heißhunger über das Essen her.

Nach einer knappen Viertelstunde hatte ich es restlos verzehrt und lag genüsslich in den weichen Kissen auf dem Sofa.

Wage gab mir mein Unterbewusstsein zu verstehen, dass etwas nicht stimmte, doch es gelang mir auch nicht den Gedanken festzuhalten. Und ich wollte auch gar nicht, dass sich etwas an meinem Zustand änderte. Zum ersten Mal, seit ich wusste, dass Mikhail ein Alter war, hatte ich keine Angst oder war angespannt. Mir ging es einfach gut, als wäre ich in einem wohlig warmen Kokon, der mich vor allem Bösen in der Welt beschütze. Nur am Rande nahm ich war, dass Sophia das Tablett aus meinem Zimmer holte und den Klapptisch wieder aufräumte. Ich sah nicht einmal nach, ob wieder ein Vampir auf dem Flur stand. Wieso sollte ich auch fliehen wollen? Dieses Zimmer hier war wunderschön und behaglich und ich hatte hier alles, was ich brauchte. Wieso sollte ich mich in Gefahr begeben? Hier war ich beschützt und wohlbehütet.

Am Rande meiner Wahrnehmung lauerte ein Gedanke, der wahrgenommen werden wollte, doch ich hatte einfach nicht die Kraft mich mit ihm zu beschäftigen. Es hatte irgendwas mit Constantin zu tun. Mein Gehirn wusste endlich, nach so vielen Jahren wieder, wo ich ihn schon vor dem Zwischenfall am Strand gesehen hatte, doch mich interessierte es nicht. In meiner neuen Welt interessierte mich eigentlich nichts mehr.

Ich nahm wahr, dass ich irgendwann einen der Schlafanzüge aus dem Schrank anzog und mich in das große Himmelbett legte. Unter der blutroten Tagesdecke war das Bett purpurrot. Auch diese Farbe weckte irgendwo in mir eine Erinnerung, doch ich konnte sie einfach nicht fassen. Immer, wenn ich danach griff, entglitt sie mir wieder und ich war müde. Einfach so müde.

 

Kapitel 12 – Zeit Aufzuwachen

Die nächsten Tage nahm ich wahr, wie durch eine dicke Wand aus Nebel. Ich wachte auf und duschte erst einmal. Wenn ich aus dem Bad zurückkam stand dort schon mein Frühstück. Ich aß und schaltete anschließend den Fernseher an. Einmal hatte ich es auch mit Lesen versucht, doch ich war nicht in der Lage gewesen mich auf die Worte zu konzentrieren. Sie waren vor meinen Augen einfach davongeschwommen. Irgendwann brachte Sophia mir dann immer mein Mittagessen und wenn ich auch das gegessen hatte, legte ich mich hin und schlief, bis Sophia mich weckte, damit ich zu Abend aß. Nach dem Abendessen sah ich meistens auch noch eine Weile fern, bis ich zu müde wurde, mir kurz im Bad die Zähne putzte und mich wieder schlafen legte.

In diesem nebulösen Zustand verbrachte ich meine Tage und es gefiel mir eigentlich recht gut. Eigentlich war ich nie der Typ für Müßiggang gewesen, aber das erschien mir nicht wichtig.

Als mir Sophia eines Tages, ich wusste nicht der wievielte es war, mein Mittagessen brachte und ich ihr schon entgegen lächelte, blickte sie mich kurz an und ließ die Tür hinter sich entschlossen zufallen. Dann stellte sie das Tablett auf den Boden, kam auf mich zu, nahm mein Kinn in ihre kleinen starken Hände und zwang mich so sie anzusehen. Es schien ihr nicht zu gefallen, was sie sah. Schließlich schüttelte Sophia den Kopf, ging zu meinem Tablett und verschwand damit im Bad. Als sie wiederkam, war es leer. Ich gab einen empörten Laut von mir. Warum gönnte mir diese Frau nicht mein Essen? Mit eiligen kleinen Schritten kam Sophia auf mich zu und ließ sich neben mir auf das Sofa fallen.

„Mädchen“, sie ergriff meine Hände, „sie müssen zu sich kommen.“

Verwirrt blickte ich sie an. Um etwas zu sagen fehlte mir einfach die Kraft. Nach einem kurzen prüfenden Blick über mich verpasste mir Sophia eine schallende Ohrfeige. Es tat weh, aber es half. Ein paar Gedanken drangen wieder bis zu mir durch.

„Das Essen hat mich......hat mich....“

„Es war mir einem starken Beruhigungsmittel versetzt.“

Ich presste die Augen fest zu und hoffte so ein paar Gedanken mehr festhalten zu können.

„Warum helfen sie mir?“

„Weil sie das hier nicht verdient haben.“

Ich war verwirrt und der nebulöse Zustand, in dem ich mich befand, machte das alles nicht gerade leichter.

Sophia schien bemerkt zu haben, dass ich das alles nicht verstand.

„Ich werde es ihnen erklären. Wie sie vielleicht aus meinem Alter schon geschlossen haben, arbeite ich nicht für die Vampire, weil ich eine von ihnen werden will.“

Ich nickte, das hatte ich mir schon gedacht, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Jemand mit so einer Autorität und solch einem Selbstbewusstsein, wie Sophia es zu haben schien, brauchte keine Bestätigung im Vampirdasein zu finden.

„Inzwischen arbeite ich seit 26 Jahren für die Vampire.“

„Warum?“

„Lassen sie mich ausreden, Mädchen. Vor 26 Jahren nahm mein Sohn Estevan einen Auftrag von einem Vampir an. Er wusste nicht, was er da vor sich hatte und leider bemerkte dieser das große architektonische Talent meines Sohnes. Er meinte, es wäre eine Verschwendung, dass ein Sterblicher solch ein Talent besäße und holte Estevan herüber, wie die Vampire es nennen. Mein Mann und mein anderer Sohn waren kurz zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen und so brachte Estevan es nicht übers Herz mich einfach aus seinem Leben zu verbannen. Mit der Einwilligung seines Schöpfers holte er mich zu sich und seit dem arbeite ich hier für Constantin.“

Ich hatte Sophia schweigen zugehört und mein langsames Gehirn brauchte eine Weile, um diese ganzen neuen Informationen zu verarbeiten.

„Also war Constantin der....äh....Schöpfer ihres Sohnes?“

„Ja, du kennst ihn ebenso, wie meinen Sohn.“

Fragen sah ich sie an.

„Mein voller Name ist Sophia Elvi Martinez.“

„Oh...“

Plötzlich wurde mir so einiges klar: Warum Sophia bei jedem ihrer Besuche etwas missmutiger ausgesehen hatte und warum mich Martinez – äh, Estevan – gewarnt hatte. Er war noch immer zu sehr Mensch und hatte eine zu gewissenhafte Erziehung durch seine Mutter genossen, als dass er eine schlechte Behandlung gegenüber mir hätte vor sich rechtfertigen können.

„Und was soll ich jetzt tun?“

„Am besten solltest du hier so schnell wie möglich verschwinden. Es würde auffallen, wenn ich die Gerichte ohne Betäubungsmittel anrichte, die Vampire würden den Unterschied riechen und mich auf den Gängen aufhalten. Ohne etwas zu essen wirst du allerdings auch nicht lange auskommen.“

„Also muss ich fliehen.“

Sophia nickte.

„Aber wie?“

Sophia dachte nach.

„Während Constantin da ist wäre jeder Fluchtversuch zwecklos, aber du hast Glück. Er geht heute Abend eine menschlichen Geschäftspartner besuchen, das dauert etwas länger.“

„Können sie mir vielleicht helfen.“

Sophia schüttelte entschuldigend den Kopf.

„Es tut mir Leid, aber ich darf meinen Sohn nicht in Gefahr bringen.“

„Das verstehe ich natürlich. Wie komme ich am besten hier raus?“

„Durch das Haus kannst du unmöglich gehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass du einem Vampir über den Weg läufst ist viel zu hoch. Du musst durch das Fenster und die Fassade herunter klettern.“

Entsetzt starrte ich sie an.

„Wir sind hier im dritten Stock! Außerdem sind die Fenster vergittert.“

„Das mit dem klettern bekommst du schon hin, wir befinden uns hier im alten Teil des Gebäudes, die Fassade ist sehr rau und was den Rest angeht“, sie schenkte mir ein verschwörerisches Lächeln, „so brauchst du nur durch das dritte Loch von unten im Gitter greifen und links an der Fassade auf den leicht hervorstehende Stein drücken, dann fährt das Gitter zur Seite.“

Das verblüffte mich dann doch.

„Vor allen Fenstern befinden sich Spezialvergitterungen, die von einem Vampir alleine nicht entfernt werden können. Aber es könnte natürlich auch einmal sein, dass man auf der Flucht ist und schnell aus dem Haus muss. Dazu müssen erst durch einen anderen Schalter die an der Außenfassade freigegeben werden. Jeder Vampir, der hier wohnt, besitzt so einen und es befindet sich nochmal einer in jedem Überwachungsraum des Hauses. Ich kann einen davon für dich betätigen, aber das war es dann auch. Den Rest musst du alleine schaffen.“

Ich nickte eifrig und war so dankbar für Sophias Hilfe.

„Wen du dann einfach geradeaus weiter läufst, kommst du in einen Wald. Lauf auch dort einfach weiter geradeaus. Wir sind hier circa vier Autostunden von Moskau entfernt. Wenn du immer geradeaus läufst, müsstest du eigentlich dort hinkommen. Wenn du erst einmal unter so vielen Leuten bist können sie deinen Geruch nicht mehr aufspüren.“

„Aber ich habe weder einen Pass, noch Geld, noch kann ich Russisch!“

„Deinen Pass und dein Geld kann ich dir leider nicht wiederbeschaffen, das wäre zu gefährlich, aber du schaffst es sicher auch irgendwie ohne. Die Vampirjäger haben ihr Netz doch sicher auch dort, oder?“

Ich nickte erleichtert, das hatte ich ganz vergessen.

„Um das Russische müssen sie sich nicht so viele Gedanken machen, sie werden immer jemanden finden, der Englisch spricht. Vergessen sie nicht, dass Moskau eine Weltstadt ist.“

„Und ab wann ist Constantin fort?“

„Ab 19:00 Uhr dürften sie das Gebäude einigermaßen sicher verlassen können. Die Vampire glauben sowieso, dass sie sich wegen der Betäubungsmittel kaum rühren können.“

Als sie es erwähnte fiel mir auf, dass ich es kaum noch spürte.

„Ich habe die Dosis reduziert“, antwortete mir Sophia ohne dass ich sie danach fragen musste.

Dankbarkeit überwältigte mich und ich schloss Sophia in meine Arme. Die kleine Frau wirkte überrascht, schloss mich aber ihrerseits auch in die Arme.

„Ich weiß einfach nicht, wie ich ihnen danken soll.“

„Töten sie so viele von diesen Monstern, wie sie können.“

Dass sie ihren Sohn aus diesen Worten ausschloss war mir klar.

„Ich werde mein bestes tun.“

Sophia drückte mich noch ein letztes Mal. Dann stand sie auf und ging zur Tür.

„Wartet!“

Sophia drehte sich noch einmal um und sah mich fragend an.

„Was erzählen sie ihnen eigentlich, wenn sie sie fragen, warum sie solange hier drinnen waren?“

Ein kleines Lächeln breitete sich auf ihren Zügen aus.

„Dass du so weggetreten von dem Betäubungsmittel warst, dass ich dich füttern musste.“

Bevor mir auch nur der Kiefer nach unten klappen konnte war Sophia durch die Tür nach draußen auf den Gang geschlüpft und ich war wieder allein im Zimmer. Ohne jemanden, der mir meinen Geist wach hielt spürte ich die Betäubungsmittel wieder stärker. Ich erinnerte mich daran, dass mir etwas zu Constantin eingefallen war, aber momentan war mein Gehirn einfach noch überfordert damit.

Ich stand vom Sofa auf und streckte mich erst einmal ausgiebig. Dann ging ich zu dem Kleiderschrank und holte mir ein langärmliges grünes Kapuzensweatshirt sowie eine grüne Cordhose heraus. Eine bessere 'Tarnkleidung' für den Wald fand ich nicht. Zu meinem Glück fand ich auch noch ein Paar feste Turnschuhe, die hoffentlich nicht allzu schnell vom Schnee einweichen würden. Dann ging ich erst einmal ins Badezimmer, um vor meiner Flucht noch einmal gründlich zu duschen und hoffentlich noch etwas wacher zu werden.

Unter der warmen Brause zu stehen half wirklich etwas. Meine Muskeln entspannten sich völlig und die Nebelschleier, die meine Wahrnehmung bedeckten, lichteten sich langsam.

Ich föhnte meine Haare und flocht sie zu einem langen französischen Zopf, damit sie mich bei der Flucht nicht behindern würden. Dann schlüpfte ich in die grünen Klamotten, überlegte einen Moment, und holte den kleine Rucksack, den ich im Schrank entdeckt hatte heraus. Ich hatte mich schon früher gewundert, warum er hier war, doch jetzt war ich einfach froh, dass ich ihn hatte. Ich füllte ihn mit frischer Unterwäsche, Wechselkleidung sowie Zahnbürste, Zahnpasta und Kamm, dann war er voll. Obwohl ich wusste, dass der Kamm nur meiner Eitelkeit diente, wollte ich ihn nicht zurücklassen. Ich überlegte noch ein wenig herum, dann schnappte ich mir noch eines der Handtücher, drehte es und band es, mithilfe einer der Schals aus dem Schrank, auf den Rucksack.

Zufrieden mit meinem Werk setzte ich mich auf das Sofa und wartete.

 

Kapitel 13 – Zeit zu gehen

Die Zeit verging schneller, als ich gedacht hatte und es war 19 Uhr bevor ich bereit dafür war. Doch ich konnte es nicht hinauszögern, denn das hier könnte meine einzige Chance bleiben. Ich nahm einen tiefen Atemzug um mich zu beruhigen und öffnete das Fenster. Dann kniete ich auf den Fenstersims und langte durch das dritte Gitterloch von unten an die linke Seite der Fassade. Ich geriet in Panik, als ich den erhöhten Stein nicht fand, doch gerade als ich einen hysterischen Anfall bekommen wollte, ertastete ich ihn. Erleichtert drückte ich darauf und musste meine Hand rasch zurückziehen, als sich das Gitter lautlos zur Seite schob. Sophia hatte Wort gehalten. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht gewusst, dass ich Angst gehabt hatte, sie würde mir doch nicht helfen.

Nun kam der schwierigste Teil. Ich musste die Fassade drei Stockwerke hinunter klettern und durfte dabei eigentlich keine Geräusche machen. Als Kind war ich nicht einmal den Baum in unserem Vorgarten hochgekommen und jetzt sollte ich drei Stockwerke Gebäudefassade hinunter klettern, ohne Hilfen!

Fast wäre ich umgekehrt, aber nur fast. Beherzt griff ich an den Fenstersims und schwang die Beine darüber. Für eine erschreckende Sekunde glaubte ich, dass meine Hände vom Sims rutschen würden. Ich klammerte mich fester daran und suchte mit meinen Füßen nach Halt. Wieder musste ich mir eingestehen, dass Sophia Recht gehabt hatte. Man fand mit der bröckligen Fassade gut Halt und ich schaffte es ohne größere Probleme in das zweite Stockwerk. Meine Arme schmerzten schon und ich war froh mich kurz auf dem nächsten Fenstersims ausruhen zu können, wobei ich eigentlich mehr an dem Gitter hing. Ich lehnte gerade meinen Kopf daran, als ich hörte, wie eine Tür sich öffnete. Erschrocken blickte ich in den Raum hinein und sah Raoul in der Tür stehen. Er wandte mir den Rücken zu und sprach mit jemandem im Flur, den ich nicht sehen konnte. Jetzt verabschiedete er sich und war dabei die Tür zu schließen. Ich musste handeln, aber zum klettern hatte ich nicht genügen Zeit. Ich fasste schnell einen Entschluss, holte tief Luft und ließ das Gitter los.

Während des nicht einmal eine Sekunde währenden freien Falls schossen mit tausende Gedanken durch den Kopf. Aber der Beherrschendste war nicht meine Überlebensfrage, nein, sondern die, ob es den Vampiren um mich Leid tun würde, wenn man meine Leiche hier draußen fand. Dieser Gedanke verwirrte mich sehr.

Der Aufprall auf dem Boden tat weh, verdammt sogar, aber ich brach mir dank des Schnees wenigstens nichts, was ich schon als großen Erfolg sah. Meine Füße schmerzten zwar noch von dem harten Aufprall als ich loslief, aber nicht so, dass es mich aufgehalten hätte.

Der Wald begann in etwa einem Kilometer Entfernung, doch die Sonne stand noch hoch am Himmel und so entschied ich mich für die Augen-zu-und-durch-Methode: Ich rannte einfach auf den Wald zu und hoffte, dass gerade niemand aus dem Fenster schaute. Ich hielt nicht an als ich die Waldgrenze erreichte sondern rannte einfach weiter, verringerte jedoch mein Tempo. Jetzt machten sich die endlosen Stunden im Fitnessstudio, die Darius mir aufgezwungen hatte, bezahlt.

Meine Umgebung nahm ich gar nicht richtig wahr, ich konzentrierte mich nur aufs Laufen, darauf eine Fuß vor den Anderen zu setzten und ja nicht zu stürzen. Nach etwa einer Stunde kam mein Atem in kurzen heftigen Stößen und ich spürte, dass ich das Tempo nicht mehr lange würde durchhalten können. Ich wollte schon langsamer werden, als ich das Geräusch von brechendem Unterholz, wenn auch noch weit entfernt, wahrnahm, und ich wurde sogar noch schneller.

Ich hörte den Rest meines Laufes nichts mehr und als es schließlich zu dunkel wurde um weiterzulaufen, musste ich eine Pause einlegen bis der Mond aufging. Diese erzwungene Pause war eine Wohltat für meine Lungen, auch wenn sie mir meinen Durst noch einmal deutlich vor Augen führte. Ich fuhr mir mit der Zunge über die ausgedörrten Lippen, doch diese war genauso trocken und machte die ganze Sache eigentlich nur noch schlimmer.

Erleichterung machte sich in mir breit, als endlich der Mond aufging und ich weiterlaufen konnte. Im Licht der aufgehenden Sonne erreichte ich schließlich die Ausläufer von Moskau. Auf den ersten Blick wirkte es wie jede große Stadt, doch als ich durch die Straßen lief entdeckte ich immer mehr Gebäude, die im, wie ich es jetzt bezeichnen würde, russischen Stil gebaut waren. Diese bunten Häuser mit ihren Türmen mit den Zwiebeldächern nahmen mich sofort gefangen und ich verliebte mich in sie. Das Haus von Constantin war zwar auch in diesem Stil erbaut worden, aber ich war dort einfach zu sehr von der Tatsache beeinflusst gewesen, dass das Haus einem Vampir gehörte. Auch die Luft hier schmeckte anders als in L.A. oder New York. Ich kann mir nicht erklären warum, aber in diesem Moment empfand ich es einfach so. In diesem Moment war Moskau für mich die schönste Stadt der Welt, weil sich dort Tradition und Moderne so wunderbar ergänzten.

So schön diese Stadt auch war, ohne Geld kam ich hier genauso weit wie anderswo. Ich musste die Vampirjägerzentrale in Moskau finden. Irgendwie fand ich diese Tatsache irre komisch und kicherte vor mir hin, da ich ja nicht einmal gewusst hatte, wo die Vampirjägerzentrale von L.A. lag und das war die für meinen Umkreis verantwortliche gewesen. Also lief ich erst einmal hysterisch kichernd durch die Straßen von Moskau, bis ich eine Idee hatte. Ich hielt einen Passanten an.

„Entschuldigen sie, wissen sie wo das nächste Tattoostudio ist?“

Ich hatte diese Frau nicht ohne Grund ausgewählt, denn ihren Hals unter dem Schal zierte ein aufwändig gestaltetes Drachentatoo. Die Frau schenkte mir ein freundliches Lächeln und antwortete mir mit einem schweren Akzent:

„Ich kenne zwar nicht das Nahste, aber ich kann ihnen sagen wo meines liegt.“

„Das wäre sehr nett.“

Und so beschrieb mir die Frau einen doch etwas komplizierten Weg, der mich weiter in die Stadt hineinführte. Ich bedankte mich herzlich und folgte ihren Anweisungen. Nach zwanzig Minuten stand ich tatsächlich vor einem recht großen Tattoostudio mit ordentlicher Fassade und kyrillischen Schriftzeichen über der Tür. Mit der stillen Bitte, dass dort einer Englisch sprechen würde, betrat ich das Geschäft.

Das innere des Ladens war genauso sauber und gepflegt wie die Fassade. Den Boden bedeckten große terrakottafarbene Fließen und die Wände waren in einem warmen Braun-Orange gestrichen. Die Frau hinter dem Tresen trug ein weißes Poloshirt bei dem am linken Arm ein Tattoo hervorlugte. Alles in allem erinnerte das Tattoostudio mehr an eine Spaeinrichtung.

Mit zügigen Schritten ging ich auf die lächelnde Frau hinter dem Tresen zu. Ihr Namensschild konnte ich nicht lesen, da auch dieses kyrillische Schriftzeichen zierten. Sie sagte etwas auf Russisch.

„Tut mir Leid, ich verstehe kein Russisch. Sprechen sie auch Englisch?“, fragte ich zaghaft.

Das Lächeln der Frau wurde breiter.

„Aber natürlich“, sagte sie ohne den geringsten Hauch von einem Akzent, „Ich bin Lucy.“

„Sie sprechen erstaunlich gut Englisch.“

Lucy lachte.

„Ich wurde in den Staaten geboren und bin als ich sechs wurde mit meiner Familie nach Moskau gezogen. Meine Mutter ist Amerikanerin, mein Vater Russe.“

„Ah, dann können sie mir vielleicht weiterhelfen. Kennen sie jemanden, der solche Tattoos anfertigt?“

Ich zog das Kapuzensweatshirt an der rechten Seite hoch und entblößte meine Vampirjäger-Tätowierung. Lucy betrachtete sie genau und nickte schließlich und deutete auf den farblich abgestimmten, braunen Perlenvorhang.

„Juri hat zwei Kunden, die sich dieses Tattoo haben stechen lassen. Soll ich ihn dir holen?“

Ich lächelte erleichtert über so viel Glück und nickte.

„Das wäre nett.“

Daraufhin verschwand Lucy durch den Perlenvorhang und kam kurz darauf mit einem zierlichen Mann Mitte dreißig zurück.

„Juri, das ist“, Lucy sah mich fragend an.

„Delilah“, sagte ich und hielt Juri meine Hand hin. Dieser Lächelte freundlich, schüttelte sie und sagte etwas auf Russisch. Fragend sah ich Lucy an.

„Juri spricht nur Russisch, aber keine Sorge, ich werde für euch übersetzen. Er wünscht dir einen guten Tag und fragt dich, warum du dich für die Tätowierung interessierst.“

Darüber hatte ich gar nicht nachgedacht.

„Ich suche Freunde von mir.“

Lucy wirkte nicht ganz überzeugt, übersetzte aber, was ich gesagt hatte. Juri schien kein besonders skeptischer Mensch zu sein, denn als er antwortete, lächelte er. Lucy übersetzte wieder.

„Dann ist heute dein Glückstag. Roman ist drüben bei ihm und lässt sich einen Punkt stechen. Du sollst doch gleich mitkommen.“

Ich nickte Juri zu und folgte dem keinen Mann durch den Perlenvorhang in das nächste Zimmer. Dort saß ein Kerl, der aussah, wie ich mir einen Russen vorstellte: groß, ungeheuer muskulös, aschblondes Haar und unglaublich blaue Augen in einem markanten Gesicht. Diese Augen musterten mich skeptisch, also ich den Raum betrat und Juri mich vorstellte, zumindest glaubte ich, dass er das tat. Roman antwortete ihm etwas woraufhin Juri den Raum verließ. Ok, diese Sache behagte mir ganz und gar nicht.

„Was willst du?“, fragte er in deutlichem Englisch, jedoch mit einem leichten Akzent.

Statt einer Antwort hob ich, wieder Mal, die rechte Seite meines Kapuzensweatshirts an. Daraufhin entspannte sich Romans Miene erheblich, obwohl er immer noch den Rucksack auf meinem Rücken skeptisch beäugte.

„Ahh, eine von uns. Was führt dich nach Moskau?“

„Ich glaube das ist nichts, was wir hier besprechen sollten.“

Der Ausdruck in Romans Augen wurde wachsam und er nickte.

„Ich sage Juri nur, dass ich ein andermal wiederkomme.“

Er stand auf und verließ mit langen Schritten den Raum. Er war noch größer, als ich angenommen hatte. Hastig beeilte ich mich ihm zu folgen. An der Theke wechselte er ein paar Worte mit Lucy bevor er mir bedeutete ihm aus dem Laden zu folgen.

Während er mich durch die Straßen von Moskau lotste, betrachtete ich ihn genauer. Auf den ersten Blick wirkte er wie einer dieser Bodybuildingtypen, die den ganzen Tag im Fitnessstudio waren und abends dann als Türsteher arbeiteten. Ein genauerer Blick zeigte jedoch, dass seine Kleidung nicht nur ordentlich sondern auch teuer war. Er trug einen lässiges kurzärmliges Freizeithemd unter dem schlichten, und ziemlich sicher teuren, schwarzem Mantel und dazu eine ausgewaschene Jeans, wobei diese eindeutig in diesem Zustand verkauft worden war und der Preis sicher horrend gewesen war. Das blonde Haar war etwa daumenlang und aufwendig zu einem künstlichen Durcheinander gestylt worden. Die Uhr, die seinen rechten Arm zierte war eine Rolex, natürlich, was denn sonst.

Nach ungefähr fünfzehn Minuten machten wir vor einem Café halt. Dort setzten wir uns in ein Séparée in der hintersten Ecke und er bestellte, wie er mir später sagte, zwei Kaffee für uns.

„Ich habe kein Geld bei mir“, antwortete ich sogleich.

Roman lächelte schwach.

„Das hab ich mir bei deinem Aufzug schon gedacht.“

erst jetzt bemerkte ich den großen Riss, der sich über das Kapuzensweatshirt zog.

„Ich bin gleich wieder zurück“, meinte ich zu Roman, sprang vom Tisch auf und ging auf die Toilette. Gott sei Dank befanden sich unter den kyrillischen Schriftzeichen auch Männchen auf den Türen, die für Frau und Mann standen. Ich wäre gestorben, wenn ich Roman nach der richtigen Toilette hätte fragen müssen.

In der Toilettenkabine entledigte ich mich dann meiner Wanderkleidung und zog weißen Rollkragenpullover und die helle Jeans, die ich zum Wechseln mitgenommen hatte, an. Dann machte ich eine Katzenwäsche, kämmte mein Haar und trank ein paar Schlucke aus dem Wasserhahn. Am Ende der Prozedur blickte ich in den Spiegel und war doch recht zufrieden mit dem Ergebnis. Erfrischt kehrte ich zu Roman an den Tisch und zu den zwei dampfenden Tassen Kaffee, die inzwischen gekommen waren, zurück.

Roman ließ mich einen Schluck von dem Kaffee nehmen, bevor er sprach.

„Und jetzt erzähl mir mal, wer du bist.“

 

Kapitel 14 – In Sicherheit

„Mein Name ist Samantha Ariane Anderson und ich komme aus einem kleinen Ort in Kalifornien.“

„Juri meinte, du heißt Delilah.“

Ich nickte.

„Das ist der Name, den ich in der Öffentlichkeit benutze. Aber wer bist du eigentlich?“

„Ich bin Roman Kosloff und schon mit der Kenntnis über Vampire aufgewachsen. Mein Vater war Vampirjäger und Rechtsanwalt und ich trat in seine Fußstapfen. Da in Russland, und besonders in der Nähe von Moskau, die Vampirdichte sehr hoch ist, haben wir hier einen Vampirjägerrat, dem ich angehöre. Aber jetzt erst einmal wieder zu dir.“

Ich nickte schwer und senkte meinen Blick auf die Tischplatte während ich sprach.

„Vor ein paar Tagen lernte ich bei einem meiner Streifzüge durch die Bars einen Alten kennen....“

Ich erzählte Roman die ganze Geschichte, ohne etwas auszulassen. Nur Darius' Namen erwähnte ich nicht. Ich nannte in einfach nur 'ein befreundeter Vampirjäger'. Roman unterbrach mich kein einziges Mal und hörte sich einfach schweigen meine Geschichte an. Als ich geendet hatte sah ich in fragend an.

„Sobald du wusstest, dass es sich bei Mikhail um einen Russen handelt, hättest du die Moskauer Zentrale informieren müssen.“

„Das wusste ich nicht“, antwortete ich kleinlaut, „Ich weiß erst seit zweieinhalb Jahren von Vampiren und gehöre auch erst seit zwei Jahren zu den Vampirjägern.“

Roman sah mich erstaunt an.

„Dafür ist deine Tätowierung aber sehr groß. Ich wusste nicht, dass es in L.A. so viele Vampire gibt.“

„Gibt es auch nicht. Ich bin sehr viel umher gereist.“

„Du bist eine famula“, stellte er fest.

„Eine was?“

„Famula ist lateinisch und bedeutet so viel wie Dienerin oder Magd. Wir verwenden diesen Begriff für Vampirjäger, die besessen von der Jagd sind, deren ganzer Lebensinhalt das ist. Sie sind die Diener ihres Hasses auf die Vampire.“

Ich wusste, dass er Recht hatte, aber das machte es nicht gerade leichter für mich.

„Aber es ist wirklich beunruhigend, dass Constantin ein solches Interesse an dir zeigt.“

Ich horchte auf.

„Du kennst Constantin?“

„Hier in Russland, vielleicht sogar in ganz Eurasien, kennt jeder Vampirjäger den Vampir Constantin und fürchtet ihn. Die ganz alten und mächtigen Vampire zeigen sich meist gar nicht mehr und leben sehr abgeschieden. Wenn sie aber mal etwas benötigen sollten, wenden sie sich an Constantin, denn er ist skrupellos und arbeitet trotzdem sehr sauber, präzise und schnell.“

„Oh....das ist wirklich beunruhigend. Sagt dir dann auch der Name Mikhail in diesem Zusammenhang etwas?“

„Da wird es ein schon wenig schwieriger. Es gibt zwei Mikhail, die in Constantins Diensten stehen und recht bekannt sind. Der eine ist kein wirklicher Russe und nennt sich nur Mikhail, aber seinen richtigen Namen kennt trotzdem keiner. Er ist ein richtiger Schlächter und wir von Constantin immer für die Drecksarbeit losgeschickt. Der andere ist wie er Russe und eher der Taktiker. Dieser Mikhail steht sehr hoch bei Constantin, ist sein Stellvertreter und kümmert sich um alle Angelegenheiten, um die sich Constantin nicht persönlich kümmern kann, aber am liebsten würde.“

Roman lächelte mich entschuldigend an.

„Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen verwirrend, aber hast du mitbekommen, was ich dir im Grunde sagen will?“

Ich nickte.

„Dann hatte ich es wohl eindeutig mit dem Zweiten zu tun. Ist das gut?“

„Das würde ich jetzt nicht so sagen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser dich wiederfindet ist höher, aber er wird dir nicht sämtliche Knochen brechen, wenn er dich wiederfindet. So gesehen, ja, dieser Mikhail ist die angenehmere Variante.“

„Also muss ich irgendwo hin, wo er mich nicht finden kann.“

„Eine Weile wirst du hier bleiben können. Ich werde dafür sorgen, dass du gut versteckt wirst.“

Dankbar lächelte ich ihn an.

„Constantin hat noch meine Papiere und Kreditkarten.“

„Du brauchst sowieso eine neue Identität, keine Sorge, darum werde ich mich auch kümmern.“

„Danke, das ist sehr nett von dir.“

Roman zuckte nur mit den Schultern.

„Das ist doch das Mindeste, was ich tun konnte.“

Wir beide wussten, dass es nicht so war, aber sein Blick zeigte deutlich, dass er keine überschwängliche Dankbarkeit wünschte.

„Erst einmal muss ich dich wohl in meiner Wohnung unterbringen, denn ich muss jetzt zur Arbeit und werde dort wahrscheinlich keine Zeit haben etwas anderes zu organisieren“, meinte er entschuldigend.

„Das macht doch nichts“, antwortete ich träge, denn nun endlich hatte ich gemerkt, wie erschöpft ich war.

„Ok“, meinte Roman und winkte die Bedienung zu sich, „dann bring ich dich mal in meine Wohnung.“

Roman zahlte und wir machten uns auf den Weg. Er hatte gesagt, seine Wohnung sei nur ein paar Straßen entfernt und so gingen wir zu Fuß. Von dem Weg bekam ich, ehrlich gesagt, nicht viel mit, denn das Adrenalin, das mich wachgehalten hatte, war restlos aufgebraucht und ich wollte einfach nur noch schlafen.

Meine Aufmerksamkeit kehrte wieder etwas zurück, als Roman seine Wohnungstür öffnete. Wir betraten einen großzügig geschnittenen Flur, doch um mehr zu bemerken war ich einfach nicht mehr in der Lage. Am Rande nahm ich wahr, dass auch der Rest der Wohnung großzügig bemessen war.

„Das hier ist das Gästezimmer. Im Schrank dürften noch einige Sachen meiner Schwester sein, bediene dich ruhig. Ich werde so gegen sechs Uhr abends wieder da sein, aber wenn es geht, schicke ich dir noch meine Schwester vorbei.“

Ich nickte träge und da war Roman auch schon wieder verschwunden. Müde entledigte ich mich meiner Kleidung und kroch erschöpft in Unterwäsche ins Bett.

Geweckt wurde ich vom Klirren von Geschirr. Zuerst war ich sehr verwirrt, bis ich wieder wusste, wo ich war. Ein schneller Blick auf die Uhr neben dem Bett zeigte mir, dass es kurz nach zwölf Uhr mittags war. Noch immer etwas schläfrig setzte ich mich auf und sah mich im Zimmer um. Es war ungefähr zwanzig m² groß und hatte einen goldbraunen Teppichboden. Die Wände waren in einem sanften Crèmeton gestrichen und das Mobiliar war alles aus einem honigfarbenen Holz gefertigt. Dazu zählte das große Bett mit den goldenen und dunkelbraunen Bezügen, auf dem ich saß, ein kleiner Nachttisch, eine hüfthohe lange Kommode sowie ein Schreibtisch, auf dem ein Computer stand. Außerdem gingen zwei Türen von dem Zimmer ab. Die gegenüber dem Bett führte, meinen wagen Erinnerungen nach, in einen Flur, also hoffte ich, dass man durch die andere in ein Badezimmer gelangte, denn ich fühlte mich einfach grauenhaft.

Ich hatte Glück. Hinter der hellen Holztüre verbarg sich ein in Crème und Goldtönen gehaltenes, kleines Bad mit Toilette, Waschbecken und Dusche. Auf einer kleinen Ablage befanden sich auch goldbraune Handtücher und in der Dusche Shampoo und Spülung. Erleichtert sprang ich erst einmal unter die Dusche und wusch mir den Schweiß und den Dreck der Wanderung endlich vom Leib. Zu meiner Verwunderung hatte ich nur ein bisschen Muskelkater in den Beinen.

Nach dieser entspannenden Dusche schlang ich ein Handtuch um mich und ging erst mal zum Kleiderschrank, doch darin befand sich nur ein Nachthemd und eine Jogginghose. Während ich noch grübelte, was ich jetzt anziehen sollte, klopfte es an der Tür. Ich drehte mich überrascht um und durch einen Türspalt lugte eine junge Frau mit einem aschblonden Lockenschopf. Ohne dass sie es mir zu sagen brauchte, wusste ich, dass sie Romans Schwester war.

„Hallo, ich bin Irina, Romans Schwester“, bestätigte sie meine Vermutung, „Er hat mich vorbeigeschickt, damit ich mich ein bisschen um dich kümmere.“

Auch ihr Englisch war tadellos.

„Hi, ich bin Sam. Nett, dass du die Zeit gefunden hast.“

„Ach, das war doch nichts“, sagte sie und schlüpfte in das Zimmer hinein.

Dann musterte sie mich kritisch von oben bis unten, wobei ich mir doch etwas komisch vorkam.

„Meine Sachen werden dir nicht passen“, stellte sie fest und zog eine Schnute, „ich bin fast zehn Zentimeter größer als du. Was hat sich Roman nur dabei gedacht?“

Das stimmte wirklich, sie sah aus, wie eine 1,75 m große Amazone.

„Na, dann muss ich wohl mit dir einkaufen gehen. Solange musst du halt mit meine Sachen auskommen“, und sie legte mir ein Bündel Kleider hin.

Zu meiner Schande knurrte dann mein Magen.

„Oh, tut mir Leid, du musst ja am Verhungern sein!“, meinte Irina entschuldigend und war aus dem Zimmer verschwunden bevor ich etwas erwidern konnte.

Ich schüttelte lächelnd den Kopf während ich mir ansah, was das Kleiderbündel enthielt: ein schlichtes langärmliges, weißes T-Shirt und eine lange blaue Jeans sowie schlichte weiße Unterwäsche. Diese passte mir, aber die Hose musste ich hochkrempeln und das T-Shirt passte auch einigermaßen. Irina war zwar groß, aber genauso schlank wie ich. Dann flocht ich mir das Haar noch zu einem langen Zopf und tappte aus dem Zimmer. Es lag am Ende eines kurzen breiten Flures, von dem zu beiden Seiten noch eine Tür abging. Wenn man geradeaus lief kam man in einen wirklich riesigen Wohnraum der aus Wohnzimmer, Essbereich und einer, durch halbhohe Wände ein wenig abgegrenzten, Küche bestand. Auch hier war alles in warmen Pastelltönen gehalten. Im ganzen Raum war ein honigfarbener Parkettboden verlegt worden und zwei der Wände wurden von großen, wenn auch verspiegelten, Fenstern beherrscht. Der Wohnbereich bestand aus zwei großen beigen Sofas, die in einem rechten Winkel zueinander standen und unter denen sich ein dunkelbrauner Teppich mit lange flauschige Zottel befand, sowie einem Fernseher, der auf einem ebenfalls honigfarbenen Holzrolltisch stand und einem, fast eine ganze Wand einnehmenden, gut gefüllten Bücherregal.

Der Essbereich mit seinem großen Tisch und den vier Stühlen befand sich auf einem leicht erhöhten Podest. Die Küche war wieder aus dem warmen honigfarbenen Holz gefertigt und hatte terrakottafarbene Arbeitsflächen.

Irina stand, eine Schürze umgebunden, vor dem Herd und machte Pfannkuchen. Als sie mich bemerkte, lächelte sie.

„Setz' dich doch schon mal hin, ich bin gleich fertig.“

Artig setzte ich mich an den großen Tisch und keine dreißig Sekunden später brachte mir Irina ein paar Pfannkuchen, einen Kakao und ein Glas Orangensaft. Dann verschwand sie auch schon wieder in der Küche um sauberzumachen und ich machte mich hungrig über mein Frühstück her.

Als ich fertig war, setzte Irina sich zu mir und ich wusste nicht, wie viel ich ihr sagen durfte.

„Keine Sorge, mein Bruder hat mir alles erzählt.“

Ich lächelte erleichtert.

„Ihr seid alle so nett zu mir, ich weiß gar nicht, wie ich mich dafür bedanken soll.“

Irina zuckte nur mit den Schultern, anscheinend machten alle in ihrer Familie das so.

„Ach das war doch das Mindeste.“

Auch das schien einfach die Art dieser Familie zu sein.

„Komm, beeil' dich“, sagte Irina plötzlich und sprang von ihrem Stuhl auf.

Verdattert blickte ich sie an.

„Warum denn?“

„Ich denke kaum, dass du die ganze Zeit in meinen Klamotten herumlaufen willst.“

„Aber ich hab doch kein Geld!“

Wieder zuckte Irina nur mit den Schultern.

„Du bist unser Gast, also zahle ich sowieso.“

„Aber...“

„Keine Widerrede“, sagte Irina und schnappte sich meine Hand, „und jetzt komm schon!“

Ohne dass ich es verhindern konnte, schleppte mich Irina hinter sich aus der Wohnung zum einkaufen.

 

Kapitel 15 – Neue Freunde

Das Einkaufszentrum, das wir besuchten, war wirklich riesig und nachdem ich die ganzen Platinkreditkarten in Irinas Geldbeutel gesehen hatte, kam es mir auch nicht mehr ganz so schlimm vor, dass sie Geld für mich ausgab. Auch erklärte sie mir noch einmal, dass ihre Familie wirklich mehr als genug hatte und ich mir deswegen ja keine Sorgen machen sollte. Und als ich alle meine Bedenken schließlich über Bord geworfen hatte, machte mir der Shoppingausflug wirklich Spaß. Irina und ich verstanden uns blendend und ich erfuhr, dass sie 26 und Romans jüngere Schwester war. Außerdem war sie schon seit zwei Jahren verheiratet, allerdings mit einem Mann, der nichts von Vampiren wusste. Sie hatte ihn in der Anwaltskanzlei ihres Vaters, wo auch Roman arbeitete, kennengelernt und sofort in ihn verliebt. Danach hatte sie auch aufgehört sich aktiv an der Vampirjagd zu beteiligen und versuchte im Moment schwanger zu werden.

Was mich anging, so war ich von Irina einfach fasziniert, wie sie ihr ganzes Leben unter einen Hut brachte. Sie hatte Management studiert und kümmerte sich in dieser Hinsicht um die Kanzlei ihres Vaters, die, wie sie mir stolz erklärte, eine der größten in Europa war und dort auch überall Zweigstellen hatte. Und als wäre das nicht schon genug Arbeit für fünfzig Personen war sie auch ein Mitglied im Vampirjägerrat und kümmerte sich auch dort um alles Mögliche. Trotzdem hatte diese Frau heute irgendwie Zeit gefunden mit mir shoppen zu gehen. Oh, ich hatte ja ganz vergessen bei dieser Auflistung auch noch liebende und fürsorgliche Ehefrau beizufügen. Kurz zusammengefasst: Irina war einfach der Wahnsinn und als Bonus noch nett dazu.

Als sie schließlich der Meinung war, dass ich erst einmal genug Klamotten hatte, fuhren wir in ihrem, zugegebenermaßen etwas protzigen, Mercedes zurück zur Wohnung ihres Bruders.

„Wo wohnst du eigentlich Irina?“, fragte ich sie, als wir grade in das unterirdische Parkhaus fuhren.

„Hat mein Bruder dir das nicht erzählt? Dieses Haus gehört Roman, meinem anderen Bruder Nikolaj und mir. Im Erdgeschoss befinden sich solche Dinge wie das Schwimmbad, die große Sauna und Fitnessräume und in den oberen drei Stockwerken wohnen wir.“

Überrascht sah ich sie an woraufhin Irina lachte.

„Anfangs fanden wir die Idee unseres Vaters auch nicht so toll, aber inzwischen sind wir sogar richtig froh darüber. Ich würde meine Brüder wahrscheinlich gar nicht mehr sehen, wenn wir nicht im gleichen Haus wohnen würden. Roman ist immer im Hauptsitz der Kanzlei und kümmert sich um Kunden, ich bin in der Marketingabteilung und Nikolaj tourt immer durch ganz Europa und sieht in den Zweigstellen nach dem Rechten.“

Ich nickte, das verstand ich.

„Da hat dein Vater aber weit vorausgedacht.“

Wieder lachte Irina. Inzwischen waren wir im Aufzug, der und zu Romans Wohnung brachte.

„Ja, mein Vater ist ein sehr weitsichtiger Mann und ich bin stolz mich seine Tochter nennen zu dürfen.“

Der Aufzug kam an und Irina schloss die Wohnungstür auf und half mir die neuen Kleider in meinem Schrank zu verstauen.

Danach setzten wir uns mit einer Tasse Kakao auf die Sofas und plauderten noch ein wenig bis Roman kam. Es war eine Stunde später, als er es gesagt hatte und augenscheinlich hatte er ein furchtbar schlechtes Gewissen deswegen. Als er seine Schwester und mich aber entspannt plaudernd auf den Sofas sah, schien er sich nicht mehr ganz so schuldig zu fühlen.

„Irina“, er gab seiner Schwester einen Kuss auf die Wange, „ich bin so erleichtert, dass du es geschafft hast vorbeizuschauen.“

„Wie konnte ich mir die Gelegenheit entgehen lassen mal wieder mit einer Frau zu sprechen, bei der ich nicht die ganze Zeit aufpassen muss das Wort 'Vampir' in den Mund zu nehmen. Und außerdem hatten wir richtig Spaß bei unserem kleine Einkaufsbummel.“

Sie grinste mich verschwörerisch an und wir lachten. Ja, ein paar Typen waren schon auf uns zugekommen.

Roman starrte verwirrt von seiner Schwester zu mir und wieder zurück.

„Wie auch immer.“

Noch immer lachend erhob sich Irina, verabschiedete sich bei uns beiden und ging in ihre Wohnung hinauf. Statt ihrer setzte sich nun Roman zu mir aufs Sofa.

„Wie es aussieht hast du dich gut mit meiner Schwester verstanden.“

„Ja, sie ist ein großartiger Mensch.“

„Und eine verdammt gute Vampirjägerin. Echt schade, dass sie damit aufgehört hat.“

Er zuckte mit den Schultern.

„Und wie war dein Tag so?“

Roman wirkte etwas verwundert, antwortete mir aber.

„Gut, ich hab einen Fall vor Gericht gewonnen.“

Ich schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

„Das ist ja super.“

„Ja, war es wirklich. Und du warst den ganzen Tag mit meiner Schwester im Einkaufszentrum?“

„Ja.“

Er lachte.

„Dann hat sie dich wahrscheinlich durch jeden einzelnen Laden geschleift.“

Nun lachte ich auch.

„Ja, das hat sie, aber irgendwie hat es auch Spaß gemacht.“

„Hab ihr auch über mich geredet?“, fragte er unvermittelt.

„Ähh“, ich war vollkommen verdattert, „ein bisschen, ja. Als sie mir von der Kanzlei erzählt hat.“

Und als Irina sich lang und breit über Romans schreckliche Exfreundin ausgelassen hatte und meinte, wie viel lieber sie mich an seiner Seite sehen würde, aber das ließ ich hier lieber weg.

„Da bin ich erleichtert. So wie sie dich zu mögen schien, dachte ich schon, sie würde versuchen uns zu verkuppeln.“

Roman lächelte mich schwach an. Er hatte ja keine Ahnung.

„Mag sie denn deine jetzige Freundin nicht?“, fragte ich unschuldig.

„Sie mochte Jekaterina nicht sonderlich, als wir zusammen waren. Irina ist fast vor Freude explodiert, als wir uns letzten Monat getrennt haben.“

„Oh“, mehr viel mir dazu beim besten Willen nicht ein.

„Aber egal, ich will dich ja nicht mit meinen Problemen belästigen.“

„Nein, nein, das macht mir nichts aus“, sagte ich zu schnell.

Roman lächelte.

„Es wird wahrscheinlich eine Weile dauern, bis wir alles zusammenhaben, dass du weiterreisen kannst. Wenn es dir nichts ausmacht, kannst du solange hier bleiben.“

Er sah mich fragend an.

„Das wäre echt super.“

„Gut, dann hätten wir das schon mal geklärt. Irina hat gesagt sie kümmert sich darum, dass du bis Morgen wenigstens eine Kreditkarte hast...“

Ich unterbrach ihn rasch.

„Aber wie soll das funktionieren, wenn ich keinen Zugriff mehr auf meine Konten habe?“

„Oh, ich habe mit meinem Vater gesprochen und er meinte es sei ok, wenn Irina und ich dir eines einrichten.“

Ich sprang vom Sofa auf.

„Nein, das geht doch nicht!“

„Wirklich“, meinte er beruhigend, „das macht uns nichts aus. Wir haben genügend Geld.“

„Aber mir macht es etwas aus. Mein Vater hatte eine große Baufirma, die nach seinem Tod an mich übergegangen ist und die noch immer mehr als profitabel ist. Ich habe genügend Geld und möchte keines von euch.“

„Aber du wirst wahrscheinlich lange Zeit nicht darauf zugreifen können. Hast du überhaupt jemanden, der sich darum kümmert?“

Ich nickte.

„Ich habe alles bei meinem Notar hinterlegt, dass, auch wenn nur bei längerer Abwesenheit, eine gute Freundin sich um alles kümmert. Aber das ändert nichts daran, dass ich euer Geld nicht geschenkt haben will, es tut mir Leid.“

„Ok“, meinte Roman beschwichtigend und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, wobei sich das sorgfältig gestylte Durcheinander in ein Echtes verwandelte, „wie wäre es, wenn du ein bisschen in der Kanzlei jobbst, solange du hier bist?“

Ich sah ihn skeptisch an.

„Das könnte gehen. Eigentlich studiere ich auch Jura.“

Romans Miene hellte sich auf.

„Wirklich? Dann passt es ja perfekt.“

„Na gut“, ich ließ mich wieder auf das Sofa sinken, „machen wir es erst einmal so.“

Dann schaltete Roman den Fernseher an. Weil das meiste zu kompliziert für mich war, blieben wir schließlich an einer Seifenoper hängen. Obwohl ich diese eigentlich schrecklich kitschig fand, machte es doch ungeheuren Spaß mir diese mit Roman anzusehen, denn er übersetzte für mich und machte gleichzeitig noch den Kommentator, wobei die Kommentare extrem witzig und zum Teil auch sehr fies waren. Ich, für meinen Teil, lachte mich schlapp und schlief irgendwann, als die Seifenoper schon zu Ende war und Roman sich die Nachrichten ansah, ein. Ich erwachte nur noch einmal kurz, als Roman mich hochhob und in das Gästezimmer trug, doch ich war schon wieder eingeschlafen, bevor ich das Bett berührte.

Irgendwann in der Nacht wachte ich noch einmal auf und zog mir einen der Schlafanzüge an, die ich zusammen mit Irina gekauft hatte. Dann putzte ich mir noch schnell die Zähne und kroch zurück ins Bett.

Endgültig geweckt wurde ich schließlich von einer Hand, die sanft an meiner Schulter rüttelte. Langsam öffnete ich die Augen und sah in Romans Gesicht.

„Hey, wir hatten das gestern nicht mehr besprochen, aber willst du heute schon mit ins Büro kommen?“

„Aber klar doch, wann müssen wir los?“

„Erst in eineinhalb Stunden, aber ich dachte, wenn du noch duschen willst...“

„Danke, da hast du wohl mehr mitgedacht, wie ich.“

Langsam setzte ich mich auf und steckte mich erst einmal ausgiebig.

„Wir sehen uns dann beim Frühstück“, meinte Roman, der es plötzlich einig hatte aus dem Zimmer zu kommen.

Verwirrt sah ich an mir herunter und merkte, dass ich gestern Nacht anscheinend nicht mehr in der Lage gewesen war alle Knöpfe meines Pyjamaoberteils zu schließen und man sah.....sagen wir einfach mal viel. Um rot zu werden war es jetzt zu spät, also schob ich diesen kleinen Zwischenfall ganz weit weg von mir und ging erst einmal unter die Dusche. Danach föhnte ich meine Haare und zog das Businesskostüm an, das Irina mich gezwungen hatte zu kaufen. Gestern war es mir einfach lächerlich erschienen eines zu kaufen, aber heute war ich einfach nur froh darüber.

Dann ging ich in die Küche und holte aus dem Schrank, den Irina mir gezeigt hatte, Cornflakes und eine Schüssel heraus. Anschließend füllte ich noch etwas Milch aus dem Kühlschrank dazu und setzte mich zu Roman an den Tisch. Die peinliche Szene von vorher schien vergessen, denn er erzählte mir freudig von der Kanzlei seines Vaters. Lächelnd hörte ich ihm zu und stellte ihm ein paar Fragen. Schließlich mussten wir los und als ich die Tür hinter mir schloss hatte ich das Gefühl, zum ersten Mal seit langer Zeit ein glückliches Leben zu führen.

 

Kapitel 16 – Ein bisschen Normalität

In der Kanzlei herrschte geschäftiges Treiben. Roman und Irina hatten komplett untertrieben, denn es war nicht nur eine Kanzlei, nein, sie besaßen auch noch eine Zeitung, und zwar die meistverkaufte in Moskau, nicht dass das erwähnenswert gewesen wäre.

Zum Glück sprachen fast alle in der Kanzlei, die im oberen Teil des Hochhauses lag, fließend Englisch – ein Hoch auf die Weltsprachenpolitik – und ich fand mich nach schon zwei Stunden recht gut zurecht. Ich hatte mich angeboten das Laufmädchen zu machen und die Verträge, Klientenmappen etc. durch die Gegend von einem Anwalt zum anderen zu tragen, sowie kurze Nachrichten zu überbringen. Das war besser als jedes Fitnessstudio. Jedes Mal, wenn ich eine Pause machen wollte, piepte mich jemand an und wollte irgendetwas. Man sollte doch meinen, sie bräuchten eine Eingewöhnungszeit, um einen neuen Mitarbeiter an seine Leistungsgrenze zu treiben.

Als dann endlich Mittagspause war, und ich im Pausenraum meinen wohlverdienten Kaffee genoss, kam Roman herein. Die zwei Sekretärinnen, die mit mir im Pausenraum gesessen waren, sprangen auf, murmelten irgendwas auf Russisch und verließen eilig den Raum. Als sie weg waren, ließ sich Roman mir gegenüber auf einen Stuhl fallen und ich schenkte ihm ein Lächeln.

„Macht der Juniorchef also auch Pause?“

„Ich wollte sehen, ob du dich schon eingewöhnt hast.“

Ich trank einen Schluck Kaffee.

„Die Leute hier sind alle sehr nett und umgänglich. Sie haben kein Problem damit Englisch zu sprechen, wenn ich dabei bin, das ist zuvorkommender, als ich erwartet hatte.“

„Da hat es sich ja endlich mal gelohnt, dass mein Vater auf die grundlegenden Englischkenntnisse besteht“, meinte Roman und lächelte frech.

Spielerisch schlug ich nach ihm und sein Lachen erfüllte den kleinen Pausenraum.

„Ach übrigens, warum habt ihr mir nicht erzählt, dass ihr auch noch eine Zeitung besitzt?“

„Oh, tut mir Leid, aber das vergessen wir manchmal einfach. Die Zeitung gehört uns zwar, aber ist eigentlich trotzdem eigenständig. Mein Vater, meine Geschwister und ich nehmen nur einmal in der Wochen am Gesamtmeeting teil und das war es auch schon, aber in der Kanzlei arbeiten wir.“

Roman zuckte mit den Schultern.

„Daran denken wir einfach nicht so oft.“

„Du willst mir also weismachen, dass ihr es immer wieder vergesst, dass euch die größte Zeitung Moskaus gehört?“, fragte ich ungläubig.

„Ja“, antwortete Roman schlicht.

Ich schüttelte den Kopf, das war einfach zu......ach auch egal.

„Ok, habt ihr vielleicht noch irgendeine Firma, einen Verlag oder sonst etwas, von dem ich eventuell wissen sollte?“

Mein Blick wurde noch ungläubiger, als Roman doch tatsächlich erst einmal nachdenken musste. Einfach unglaublich!

„Wir halten zwar bei einigen Firmen den Hauptteil, oder zumindest einen Großteil der Aktien, aber das war es dann auch schon“, meinte er schließlich.

„Wow“, mehr viel mir dazu nicht ein.

Wieder zuckte Roman mit den Schultern. Langsam ging mir das auf die Nerven. Ein Schulterzucken war doch keine Antwort. Ich verdrehte die Augen woraufhin Roman mich fragend ansah.

„Was ist?“

„Ich wundere mich nur gerade wieder, dass du, entschuldige schon mal die Formulierung, kein eingebildeter reicher Schnösel bist.“

Roman lachte, er lachte mich doch tatsächlich aus. Nach einer Weile beruhigte er sich wieder.

„Meine Familie hat schon seit sehr vielen Generationen sehr viel Geld. Uns fällt das schon gar nicht mehr auf, für uns ist Geld einfach nicht mehr so wichtig. Wir hatten schon immer mehr als genug. Aber danke für das Kompliment.“

Mit einer hochgezogenen Augenbraue sah ich ihn an.

„Gern geschehen.“

Eine Weile saßen wir einfach nur da und sahen uns in die Augen und es ging mir richtig unter die Haut. Da ging plötzlich sein Handy los und ich war erleichtert, dass dieser, doch etwas komische, Moment vorbei war. Doch wie sich Romans Gesichtsausdruck veränderte, während er am Telefon sprach, gefiel mir auch nicht gerade. Als er Auflegte, fragte ich ihn, was los war.

„Am besten gehen wir zu meinem Vater.“

Und schon stand Roman auf und verließ hastig den Raum. Ich beeilte mich ihm zu folgen.

Das Büro von Romans Vater befand sich in obersten Stockwerk, wie es sich für den Chef einer so riesigen Unternehmensgruppe, meiner Meinung nach, gehörte. Als wir mit dem Aufzug in der obersten Etage ankamen, stellte ich erstaunt und erfreut zugleich fest, dass ein großer Teil des Daches aus einem überdachten Wintergarten mit allen möglichen Pflanzen bestand. Mr Kosloff Senior gefiel mir immer besser.

Zuerst kamen wir in das Büro der Sekretärin, welches auf der Seite zum Wintergarten komplett verglast war. Die große schlanke, rothaarige Frau, die wie ich ein Businesskostüm in grau trug, lächelte uns freundlich zu.

„Ah, Mr Kosloff, ihr Vater hat gerade eine Besprechung, aber sie können am Teich warten. Ich schicke ihren Vater dann zu ihnen, die Besprechung dürfte nicht mehr allzu lange dauern.“

Anscheinend kannten mich schon alle hier, denn die Sekretärin hatte Englisch gesprochen.

„Danke, Anjutha.“

Ich nickte ihr auch freundlich zu, bevor mich Roman durch eine Tür in der verglasten Wand nach draußen in den Garten führte. Wir gingen einen schmalen, gekiesten Weg entlang, bis wir bei einem kleinen Teich ankamen, der außerhalb des Sichtfeldes des Büros der Sekretärin lag. Mein Erstaunen wuchs, als ich sah, dass doch tatsächlich Fische in diesem kleinen Teich auf dem Dach eines Hochhauses schwammen. Roman bemerkte meinen Blick und lächelte mich stolz an.

„Hier auf dem Dach gibt es fünf verschiedene Teiche, in denen seltene Fischarten leben. Wir haben auch eine Auszeichnung dafür bekommen, dass wir uns für die Erhaltung seltener Fischarten in der Wildnis einsetzen.“

Ein kleines Lächeln konnte ich mir dann doch nicht verkneifen.

„Seltene Fischarten?“

Als er meinen mühsam beherrschten Gesichtsausdruck sah, schnaubte er entnervt.

„Und auch andere seltene Tierarten, aber unser Augenmerk gilt den Fischen.“

Ich konnte einfach nicht anders und fing an schallend zu lachen. Roman sah mich wütend an, was das ganze nicht gerade besser machte. Nach ein paar Minuten hatte ich mich wieder beruhigt, aber nun hatte ich Schluckauf.

„Geschieht dir Recht“, murmelte Roman vor sich hin.

Er war wirklich angefressen und plötzlich bekam ich Schuldgefühle wegen meines Lachanfalls.

„Es...*hicks*...tut mir wirklich Leid...*hicks*. Ich wollte dich...*hicks*...wirklich nicht verärgern.“

Mann, mit so einem Schluckauf war es sogar schwer einen so kurzen Satz zu sagen. Roman sah mich zweifelnd an, doch meine Mine musste wirklich sehr geknickt ausgesehen haben, denn jetzt nahm er mich sogar in den Arm. Im ersten Moment war ich natürlich sehr überrascht, doch als ich mich in seiner Umarmung entspannte, merkte ich, dass es mir gefiel. Ich mochte diesen netten großen, gutaussehenden Mann, der mich sogar dann in die Arme nahm, wenn wir beide wussten, dass ich eigentlich die Schuldige war und so verharrten wir in dieser Umarmung, bis das leise knirschen des Kieses uns auseinanderfahren ließ, wie zwei Teenager, die man bei weitaus Schlimmerem erwischt hatte.

In Romans Familie sahen sich wohl alle sehr ähnlich, denn der Mann, der da um die Ecke kam, sah aus wie eine ältere Ausgabe von Roman. Nur die Gesichtszüge von Mr Kosloff Senior waren weicher und sein aschblondes, säuberlich nach hinten gekämmtes Haar durchzogen bereits graue Strähnen. Doch der Blick seiner blauen Augen war ungetrübt scharf und seine Haltung und sein Gang verrieten, dass er trotz fortgeschrittenen Alters noch vor Kraft nur so strotzte.

Roman und ich erhoben uns von der steinernen Bank, auf der wir gesessen hatten, um Romans Vater zu begrüßen.

„Roman“, er nickte seinem Sohn zu, „Miss Anderson“, er schüttelte meine Hand, „schön sie endlich kennenzulernen. Mein Sohn hat mir gestern schon so einiges von ihnen erzählt. Setzen wir uns doch“, sagte er mit seiner tiefen, volltönenden Stimme.

Roman und ich setzten uns wieder auf die gleiche Bank wie vorher, während sich sein Vater auf die Bank uns gegenüber setzte.

„Bist du nur gekommen, um mir Miss Anderson vorzustellen oder gibt es im Vampirjägerrat wieder Probleme?“

Nervös sah ich in die Richtung, in der das Büro der Sekretärin lag, denn ich wusste nicht, wie weit hier die Worte getragen wurden.

„Keine Sorge, meine Liebe“, beschwichtigte mich Mr Kosloff, „Anjutha ist eine von uns, wie viele unserer anderen Mitarbeiter hier auch.“

Überrascht sah ich ihn an.

„Arbeiten denn viele Vampirjäger für sie?“

„Fast 20% meiner Belegschaft sind Vampirjäger. So ist es leichter, denn wie will man seinem Arbeitgeber erklären, wie man es geschafft hat sich die Beinknochen zerschmettern zu lassen, ohne dass man gefeuert wird oder woher das blaue Auge kommt? Mir können sie es sagen. Außerdem haben viele Vampirjäger Unwissende geheiratet und hier können sie dann wenigstens ab und zu mit jemandem über ihr zweites Leben reden und müssen nicht komplett abgekapselt leben.“

Ich überlegte kurz und überschlug ein bisschen.

„Dann gibt es aber sehr viele Vampirjäger in Moskau“, stellte ich erstaunt fest.

Roman und sein Vater begannen gleichzeitig zu lachen.

„Hier gibt es auch die meisten Vampire“, meinte Mr Kosloff nach einer Weile, „Russland und Osteuropa sind die Heimat der Vampire. Hier nahmen sie ihren Ursprung und hier waren sich die Menschen noch sehr lange der Tatsache bewusst, dass es Vampire gibt und viele dieser Familien wissen es bis heute noch. Deshalb zählt Moskau selbst als die vampirsicherste Stadt der Welt, auch wenn das vorbei ist, sobald man nur einen Fuß aus der Stadt setzt, denn das Gebiet um Moskau ist das Vampiraktivste.“

„Interessant“, stellte ich fest, „aber nun würde ich wirklich gerne wissen, was Roman uns erzählen wollte.“

„Stimmt“, meinte Mr Kosloff und wir wandten uns seinem Sohn zu.

Dieser war sichtlich nicht begeistert jetzt im Zentrum unserer Aufmerksamkeit zu stehen und ein ungutes Gefühl machte sich in meinem Magen breit.

„Dimitri hat mich angerufen“, Mr Kosloff horchte überrascht auf und das ungute Gefühl begann langsam mich von innen aufzufressen. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht, „und meinte, dass gestern eine ungewöhnlich hohe Zahl von Vampiren in die Stadt gekommen sei. Was ihm jedoch die größten Sorgen bereitet, war, dass sie anscheinend nach etwas gesucht haben. Sie sind den Kämpfen mit den Vampirjägern ausgewichen und nur ein oder zwei hätten überhaupt von Menschen getrunken. Meine Vermutung ist ja...“, Roman atmete tief durch und sah mir dann tief in die Augen, „...dass sie nach dir suchen.“

Erschrocken riss ich die Augen auf.

„So schnell.....“

„Woher hat Constantin denn so schnell die vielen Vampire herbekommen?“, fragte Mr Kosloff seinen Sohn, der sich nun ihm wieder zuwandte.

„Das bereitet Dimitri auch große Sorgen. Er überwacht den Vampirfluss hier in der Gegend eigentlich sehr genau und kann sich nicht erklären, woher sie so plötzlich kommen. Dimitri hatte nicht einmal die Hälfte von ihnen als momentan hier eingeordnet.“

Zischend stieß Mr Kosloff die angehaltene Luft durch die geschlossenen Zähne aus.

„Das hört sich aber gar nicht gut an“, mit zu Schlitzen zusammengezogenen Augen musterte er mich, „Was haben sie nur getan?“

 

Kapitel 17 – Verwirrte Gefühle

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete ich mit fester Stimme und sah Mr Kosloff dabei direkt in die Augen, „Was ich weiß, habe ich ihnen schon gesagt, aber so, wie Constantin nach mir sucht, kann es wohl nicht nur um Pedors Verschwinden gehen.“

Mr Kosloff musterte mich noch einmal, dann nickte er schließlich. Roman hatte die ganze Szene mit entsetztem Gesichtsausdruck verfolgt und es hatte ihm anscheinend die Sprache verschlagen, dass sein Vater mich der Unehrlichkeit bezichtigt hatte. Langsam sortierte Roman seinen Gesichtsausdruck und richtete ein paar barsche Worte auf Russisch an seinen Vater. Dieser zuckte nur mit den Schultern und antwortete Roman vollkommen ruhig. Daraufhin hob Roman die Hände zu Himmel und sagte etwas, dass sogar ich als einen ziemlich heftigen Fluch identifizieren konnte. Dann wandte sich Roman wieder lächelnd mir zu.

„Aber erst einmal besteht noch kein Grund zur Sorge. Wie es aussieht leitet der Russe Mikhail die Untersuchungen, so dass wir keine Angst vor übermäßig gewalttätigen Übergriffen auf unsere Leute haben müssen. Bis alles mit deinen neuen Papieren und deinen weiteren Reiseplänen geregelt ist, kannst du bei mir bleiben.“

„Ok, wenn das auch wirklich geht...“

„Es geht“, fiel mir Roman ins Wort.

Der wütende Wortwechsel mit seinem Vater hatte mich an etwas erinnert, etwas, dass ich dankt dem Betäubungsmittel fast wieder vergessen hätte. Es flackerte am Rande meines Bewusstseins und ich konnte beinahe den Gedanken wieder fassen, jetzt war es gleich so weit....

„Komm Sam, wir gehen. Mein Vater muss wieder an die Arbeit.“

Am liebsten hätte ich laut aufgeschrien vor Wut. Wegen der Ablenkung durch Roman entglitt der Gedanke mir wieder und nur das dumpfe Gefühl, dass dieser eine Gedanke alles verändern würde, blieb zurück.

Wie in Trance verabschiedete ich mich von Mr Kosloff, verließ mit Roman den Garten, lief mit ihm an der rothaarigen Sekretärin, Anjutha vorbei, die uns wieder freundlich zulächelte, und betrat den Aufzug. Als sich die Türen schlossen, drehte Roman sich zu mir um, legte mir seine Hände auf die Schultern und sah mir fest in die Augen.

„Was ist los Sam?“

„Nichts...“

„Lüg' mich nicht an“, unterbrach er mich.

Hilflos öffnete ich den Mund und schloss ihn wieder, ohne einen einzigen Ton von mir gegeben zu haben. Vorsichtig lugte ich auf die Stockwerkanzeige, doch Roman bemerkte es. Er verdrehte die Augen, drehte sich entschlossen um und zog die Notbremse. Mir klappte das Kiefer nach unten und ich konnte ihn einfach nur anstarren.

„Nun erzählst du mir, was los ist“, meinte Roman, als er sich wieder zu mir umgewandt hatte.

Ich konnte aber nur weiterhin die gezogene Notbremse anstarren. Mit einem entnervten Seufzen legte Roman seine Hand um mein Kinn und drehte meinen Kopf so, dass ich ihm in die Augen sehen musste. Plötzlich war ich mir seiner Nähe sehr deutlich bewusst.

„Sag mir, was los ist, Sam“, wiederholte Roman und sein warmer Atem strich sanft über meine Wangen.

Ich atmete tief durch. Das war definitiv der falsche Zeitpunkt.

„Ich weiß nicht was du meinst“, und da log ich ja auch nicht. Ich wusste wirklich nicht, was er meinte.

„Als du da draußen mit meinem Vater geredet hast warst du plötzlich.....du warst plötzlich so anders.“

Verwirrt sah ich ihn an. Von was redete er da?!

„Du hast es wirklich nicht bemerkt?“, fragte er zweifelnd.

Ich schüttelte den Kopf und versuchte nicht weiter darüber nachzudenken, wie nahe er mir war. Verdammt, das war doch bisher auch noch nie ein Problem gewesen? Allerdings hatte ich mir bisher bei den Männern immer vor Augen gehalten, dass ich sie in Gefahr bringen würde und Darius, der einzige andere Vampirjäger, den ich bis vor kurzem wirklich gekannt hatte, war immer mehr ein Bruder für mich gewesen. Roman war aber weder ein unwissender Mensch, der sich nicht selbst verteidigen konnte, noch so etwas wie ein Bruder für mich. Er war ein netter, verdammt gutaussehender Kerl, der es schon innerhalb von zwei Tagen geschafft hatte sich in meinem Herzen, dass ich doch sonst so gut vor der Welt verschlossen hielt, einen Platz zu erkämpfen. Wie hatte ich nur in den letzten Tagen meinen Schutzwall dermaßen fallen lassen können? Waren das noch Nachwirkungen von den Betäubungsmitteln? Ich wollte wieder zurück in meinen sicheren Kokon, wo nur Nala und ab und zu auch noch Darius Platz hatten. Seit dem Tod meiner Eltern war ich zu keinen Gefühlen gegenüber anderen Menschen in der Lage gewesen und jetzt trat Roman so mir nichts dir nichts in mein Leben und warf einfach alles über den Haufen! Ich musste dem Einhalt gebieten, und zwar sofort.

Diese ganzen Überlegungen hatten während meines kurzen Nickens stattgefunden und ich musste mir noch einmal kurz vor Augen führen, worum es in meinem Gespräch mit Roman eigentlich ging.

„Nein, ich habe wirklich keine Ahnung, wovon du sprichst“, antwortete ich mir fester Stimme und war ungeheuer Stolz darauf.

„Da“, meinte Roman, „du tust es schon wieder.“

„Was?“

„Es ist als ob....als ob...“, verzweifelt rang er nach Worten, „als ob du plötzlich kein menschliches Wesen mehr wärst. Du wirkst so gefühllos und kalt und unnahbar, fast schon wie sie!“, rief er fast aufgebracht und senkte schnell wieder die Stimme, „Das macht mir Angst Sam, und ich mache mir Sorgen um dich. Ich will nicht, dass dir etwas zustößt“, gab er schließlich zu und sah mir, obwohl ich das nicht für möglich gehalten hatte, noch fester in die Augen.

Es war, als könnte er durch sie hindurch, direkt in meine Seele blicken, und der Schutzwall um meine Gefühle, den ich gerade so mühsam wiederaufgebaut hatte, brach zusammen, als wäre er aus hauchdünnem Glas gewesen. Anscheinend sah er etwas davon in meinen Augen, denn er beugte sich zu mir vor, hob mein Kinn mit seiner Hand sanft noch ein Stückchen an und küsste mich und auch mein letzter Widerstand erstarb vollkommen. Viel zu schnell beendete er den Kuss, doch er entfernte sich nur wenige Zentimeter von meinem Mund und sah mich fragend an. Anstatt zu antworten schlang ich meine Arme um seinen Hals und wir küssten uns wieder. Anfangs zögerlich, doch dann wurden die Küsse immer fordernder und ich spürte, wie Roman mich gegen die Wand des Aufzugs drängte. Das war der Moment, in dem sich mein Hirn wieder einschaltete. Sanft löste ich mich von Roman und sah ihm zärtlich in die Augen. Auch er schien wieder voll bei sich zu sein, gab mir noch einmal einen sanften Kuss, dachte kurz nach, warf einen kurzen Blick auf seine Uhr und löste die Notbremse. Sanft fuhr er mir mit einer Hand über die Wange und ich schmiegte mich kurz an ihn.

„Wir reden heute Abend, ok? Ich hab leider eine Sitzung“, sagte er mit rauer Stimme.

„Klar“, meinte ich mit einem Lächeln.

Dann öffneten sich die Türen des Aufzugs und wir gingen beide unserer Wege. Ein kurzer Blick verriet mir, dass ich noch ein bisschen Zeit hatte, also setzte ich mich ins Pausenzimmer, um ein wenig nachzudenken. Das gerade eben war nicht ganz, ach, was log ich mich selbst an, gar nicht so verlaufen, wie ich es geplant hatte. Das war nicht gut, überhaupt nicht gut. Am liebsten hätte ich mich selbst geohrfeigt, aber da sich noch andere im Pausenraum aufhielten, befand ich, dass das keine so gute Idee war. Also atmete ich stattdessen einmal tief durch und dachte an Jamie. Jamie, der Einzige, der es jemals geschafft hatte mich zu einer festen Beziehung zu überreden. Ein trauriges Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus und ich nahm mir einen Becher Kaffee, um einen Grund den Blick senken zu können zu haben. Jamie, mit seinen kurzen schwarzen Haaren, tiefbraunen Augen, in denen man sich einfach verlieren musste, und immer freundlichem Gesicht. Ich hatte ihn so geliebt und nach ihm hatte ich auch keine Zeit mehr für Männer gehabt, denn danach hatten die Vampire meinen Tag bestimmt.

Ich merkte erst, dass ich weinte, als eine Träne in meinen Kaffeebecher fiel. Hastig wischte ich sie mit meinen Handrücken fort. Ich musste mich zusammenreißen. Das war weder die richtige Zeit, noch der richtige Ort, um einem Verflossenen nachzutrauern. Streng ermahnte ich mich, dass die Sache schon vor über zwei Jahren ein Ende gefunden hatte und nachdem ich wieder einigermaßen ich selbst war, war es auch wieder an der Zeit weiterzuarbeiten.

Den Rest des Tages arbeitete ich zügig und gewissenhaft, stets mit einem Lächeln auf den Lippen und Jamie in die letzte Ecke meines Bewusstseins gedrängt. Pünktlich um 18 Uhr tippte mir jemand von hinten auf die Schulter und ich wurde panisch. Ich wusste doch noch nicht, was ich jetzt mit Roman machen sollte, aber ich hatte keine Wahl, also drehte ich mich schweren Herzens um. Doch es war nicht Roman, der mir da auf die Schulter klopfte, sondern Irina. Diese lachte.

„Du bist aber schreckhaft! Wen hast du denn erwartet?“

„Ja“, meinte ich und lächelte schwach.

„Roman braucht heute wieder etwas länger und meinte, ich soll dich mit raus nehmen.“

Noch immer kicherte sie vor sich hin, aber das machte mir jetzt nichts mehr aus, da ich wusste, dass ich nicht mit Roman nach Hause – denn so etwas war es irgendwie für mich – fahren würde und noch etwas Zeit zum nachdenken hatte.

„Dann lass uns fahren.“

Endlich hatte sich Irina wieder beruhigt und wir gingen in die Tiefgarage zu ihrem Wagen. Obwohl der Verkehr in der Stadt sehr dicht war dauerte es keine halbe Stunde, bis wir am Haus ankamen.

„Wenn du willst komm ich noch auf einen Sprung mit rein“, sagte Irina, als wir vor Romans Wohnung standen.

„Wartet dein Mann nicht auf dich?“, fragte ich zögerlich, denn ich wollte zwar noch gerne mit Irina plaudern, aber nicht ihren Mann darunter leiden lassen, da sie ja schon den ganzen gestrigen Tag mit mir verbracht hatte. Doch Irina schüttelte nur den Kopf.

„Er begleitet Nikolaj auf seinem Kontrollrundgang durch die Zweigstellen und ist frühestens nächsten Monat zurück.“

„Dann sehr gerne“, antwortete ich lächelnd und wir gingen in die Wohnung und warfen uns, kichernd wie zwei kleine Schulmädchen, auf die Sofas.

Zuerst plapperten wir ein wenig über die verschiedenen Mitarbeiter, die wir nun beide kannten und ich lachte über die Geschichten, die Irina über sie zu erzählen wusste. Doch dann kam sie auf ein brisantes Thema zu sprechen.

„Olga, eine der Sekretärinnen im 16.Stock, hat mir erzählt, dass bei einem Aufzug ohne Grund über zehn Minuten lang die Notbremse angezogen war. Was meinst du wohl, was da los war?“, fragte sie mich, obwohl ich ihr ansah, dass sie sich schon selbst ein Szenario ausgemalt hatte und ich konnte nicht verhindern, dass ich rot wurde. Natürlich sah Irina das und zog scharf die Luft ein. Dann hob sie spielend tadelnd den Zeigefinger.

„Und das an deinem ersten Tag, meine Liebe. Das hatte ich gar nicht von dir gedacht.“

„Nein! So war das gar nicht!“

„Also ist der Aufzug nur zum Spaß stehen geblieben?“, fragte Irina mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Nein das auch wieder nicht...“, stammelte ich vor mich hin.

„Mit wem warst du denn da drin?“, fragte Irina einfach weiter.

Ok, das war wirklich eine Frage, auf die ich nicht antworten wollte.

„Na komm schon“, bettelte Irina, „Sag mir mit wem du im Aufzug warst und...“

„Ich hab da mit niemandem geschlafen Irina!“, unterbrach ich sie mit hochrotem Kopf.

Irina machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Ist ja auch nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, mit wem du da drin warst!“

In diesem Moment öffnete sich die Haustür und mein Blick zuckte kurz zur Flurtüre, hinter der sich nun Roman befinden musste. Irina hatte mich die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen und natürlich hatte sie mitbekommen, wo ich hingesehen hatte. Ihre Augen wurden groß, dann schnappte sie meine Hand und zog mich hinter sich her ins Gästezimmer.

 

Kapitel 18 – Auf der Spur

Die Tür fiel mit einem unheilverkündenden Klicken ins Schloss. Als Irina sich zu mir umdrehte setzte ich schon zu einer Entschuldigung, doch dazu kam ich nicht. Plötzlich umarmte sie mich und ich konnte nicht mehr, als wie erstarrt dastehen. Irgendwann hatte ich meine Sprache wiedergefunden.

„Ähhh......Irgendwie hab ich mir deine Reaktion....anders vorgestellt.“

Da fing Irina an zu lachen und löste die Umarmung.

„Was hast du denn erwartet.“

„Keine Ahnung, aber sicher nicht das!“

„Ich freue mich nur so wahnsinnig, dass er über Jekaterina hinweg ist und dass ich dich mag ist noch ein Bonus.“

Wie sollte ich Irina nur beibringen, dass ich keine Ahnung hatte, ob ich überhaupt eine Beziehung zu Roman wollte? Auch wenn er wie der perfekte Mann schien, so war er vielleicht doch nicht der perfekte Mann für mich.

„Stimmt was nicht“, fragte Irina besorgt.

Ohne dass ich es gewollt hatte, waren mir meine Gesichtszüge entglitten.

„Nein, nein, es ist alles ok...“

„Oh“, unterbrach mich Irina, der ein Licht aufzugehen schien, „aber du kannst ja gar nicht hier bleiben!“

In diesem Moment hätte ich Irina küssen können. Sie hatte mir die Entscheidung einfach abgenommen. Ich musste ja wirklich bald weiterreisen, schließlich wollte ich nicht von Mikhail geschnappt werden.

„Sam?“, rief Roman.

„Wir sind im Gästezimmer“, antwortete ich ihm.

Kurz darauf öffnete sich die Tür und Roman betrat das Zimmer.

„Na, dass du auch hier bist, hatte ich mir schon gedacht“, meinte er lächelnd an Irina gewandt.

„Und auch schon wieder weg.“

Irina drückte ihrem Bruder einen Kuss auf die Wange, drückte mich kurz und war dann auch schon wieder verschwunden. Jetzt stand ich da, alleine mit Roman, und wusste einfach nicht, wie ich anfangen sollte. Die Stille dehnte sich unangenehm aus und ich dankte Gott und allen Heiligen, als Roman endlich das Wort ergriff.

„Ich denke, wir sollten über die Sache heute in Aufzug reden.“

Ich nickte.

„Setzten wir uns doch aufs Wohnzimmersofa“, schlug ich vor.

Ich wollte das Gesprächsumfeld so unbefangen wie möglich halten und deshalb erschien es mir besser, wenn wir das Schlafzimmer verlassen würden. Roman nickte nur und wir gingen gemeinsam ins Wohnzimmer und setzten uns. Wieder herrschte eine Weile Schweigen.

„Das im Aufzug war...-“, begann Roman, beendete seinen Satz jedoch nicht.

„Unüberlegt.“

„Ja.“

„Ich werde bald wieder fort sein und wahrscheinlich nie wieder zurückkommen können.“

Roman nickte.

„Genau das ist mir auch nach einer Weile aufgefallen.“

Während er sprach, sah er mir nicht in die Augen. Dieser Umstand gefiel mir ganz und gar nicht und versetzte mir einen Stich. Anscheinend empfand ich doch etwas für Roman, aber ob es genug war, wusste ich nicht. Ich war ein verdammter Feigling.

„Also lassen wir die Sache auf sich beruhen?“, fragte ich mit fester Stimme, wenn auch etwas zögerlich.

„Ja“, antwortete Roman, wobei er mir noch immer nicht in die Augen sah.

Ich gab einen stummen Seufzer von mir.

„Dann geh ich mal schlafen, es war ein anstrengender Tag heute.“

Roman nickte wieder nur, also stand ich auf, um in das Gästezimmer zu gehen, zögerte jedoch. Dann beugte ich mich vor, um Roman einen Gutenachtkuss auf die Wange zu geben. Leider drehte er in genau diesem Moment seinen Kopf und anstatt seiner Wange trafen meine Lippen die seinen.

Die Gefühle, die dieser Kuss in mir auslöste, hätten unterschiedlicher nicht sein können. Zum einen war wieder etwas geschehen, was ich definitiv nicht so geplant hatte und ich versuchte gedanklich schon verzweifelt einen Ausweg aus der Misere zu finden. Zum anderen fühlten sich Romans Lippen wunderbar weich auf meinen an und durch mich ging ein wohliger Schauer. Um zu sagen, dass ich ihn liebte war es noch viel zu früh, aber ich konnte schon durchaus behaupten, dass ich Roman wirklich sehr sehr gern mochte.

Das war es schließlich auch, was mich dazu brachte dem zweiten Teil meiner Gefühle nachzugeben und auch Roman schien diese Entwicklung der Ereignisse willkommen zu heißen. Er hatte mich schon zu sich aufs Sofa gezogen, als das Telefon klingelte und uns zurück in die Realität holte. Wir erinnerten uns an das, was wir nur wenige Minuten zuvor beschlossen hatten und fuhren auseinander. Während Roman das Telefon beantwortete ging ich eilig und mit hochrotem Kopf ins Gästezimmer. Dort stellte ich mich erst mal unter die kalte Dusche, um wieder zu klarem Verstand zu kommen.

In letzter Zeit war mein Leben sowieso das reinste Chaos, da sollte es mich eigentlich nicht wundern, dass ich irrationale Entscheidungen traf, schließlich war ich ja auch nur ein Mensch.

Ich verzog unwillig das Gesicht. Am besten sollte ich für den Rest meines Aufenthalts zu Irina ziehen. Ihr Mann war unterwegs und ich war gern mit ihr zusammen.

Froh darüber, einen einigermaßen angenehmen Weg aus der Misere gefunden zu haben, schlüpfte ich ins Bett und schlief rasch ein.

Ein heftiges Rütteln an meiner Schulter weckte mich.

„Du musst sofort aufstehen Sam!“, meinte Roman aufgebracht.

Erschrocken riss ich die Augen auf und sah in fragend an. Er jedoch schüttelte nur den Kopf.

„Zieh dich an und pack' deine Sachen, aber beeil' dich“, sprach er energisch und verließ mein Zimmer.

Kopfschüttelnd stand ich auf, zog mir eine Jeans und ein langärmliges T-Shirt an, stopfte meine Klamotten in den Koffer, an den Irina mit ihrer Weitsicht schon gedacht hatte, und ging damit ins Wohnzimmer, wo Roman ungeduldig auf mich wartete.

„Was zur Hölle ist denn los? Wir haben drei Uhr morgens!“

„Dimitri meint, sie würden dich spätestens bis zum Mittag aufgespürt haben. Anscheinend hat der Russe Mikhail seine Anstrengungen dich zu finden verdoppelt. Es sind mehr Vampire in der Stadt, als er je gesehen hat und glaub mir, das heißt bei Dimitri eine ganz schöne Menge.“

„Und was machen wir jetzt?“, fragte ich und hasste meine Stimme dafür, dass sie kaum mehr als ein Wispern war.

„Wir fahren bei Borislav vorbei und hoffen, dass er deine Papiere schon fertig hat.“

„Und was wenn nicht?“

Darauf gab mir Roman keine Antwort und so gingen wir hastig in die Tiefgarage, setzten uns in den Wagen und rasten los.

Schon nach kurzer Zeit hatte ich vollkommen die Orientierung verloren und war froh, als wir endlich in einer, wenn auch etwas heruntergekommenen, Gegend zum stehen kamen. Das Haus, an dem wir klingelten, war ein blanker Betonquader ohne jeglichen Zierrat. Die Wände waren mit Graffiti verschmiert und die Erdgeschossfenster vergittert. Nur eine einzige Straßenlampe in einiger Entfernung beleuchtete die Szenerie. Wäre ich nicht regelmäßig in solchen Gegenden wegen der Vampirjagd unterwegs, hätte ich mich wahrscheinlich etwas gefürchtet. Jetzt empfand ich nur Vorsicht und zuckte überrascht zusammen, als sich die schwere Tür vor uns öffnete. Heraus sah ein kleiner untersetzter Mann, der einen dunkelbraunen, schon etwas ausgebleichten Pyjama trug. Die Schatten in seinem Gesicht zeigten, dass er sich schon seit einer Weile nicht rasiert hatte und seine kleinen, beinahe schwarzen, Knopfaugen fokussierten streng Roman.

„Ich hab dir doch gesagt, du sollst mich unter dieser Adresse nicht aufsuchen!“, zischte der kleine Mann und seine Stimme klang dabei unangenehm hoch und schrill.

Erst einen Moment später viel mir auf, dass er Englisch gesprochen hatte und verwundert sah ich ihn an.

„Borislav hat ein Talent dafür die Nationalität eines Menschen zu erkennen.“

Der zuckte nur mit den Schultern.

„Amerikaner erkennt doch jeder. Aber jetzt kommt rein, bevor euch noch jemand sieht. Warum musstest du auch mit so einer protzigen Karre kommen?“

Schon jetzt war mir Borislav äußerst unsympathisch, aber ich folgte Roman trotzdem in das Haus. Überrascht stellte ich fest, dass das Innere des Hauses in keinster Weise dem Äußeren entsprach. Die Einrichtung wirkte geschmackvoll und teuer und war orientalisch angehaucht und alles war überraschend sauber. Borislav hatte sicher eine Putzfrau, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass er auch nur einen einzigen Finger krümmte.

Hinter Borislav gingen wir den Flur entlang und ich späte durch einige der offenen Türen. Auch hinter diesen war die orientalisch angehauchte Einrichtung zu sehen und alles war sauber und ordentlich. Wahrscheinlich hatte er auch noch eine Innenarchitektin gehabt. Eine gute noch dazu.

Schließlich hielten wir vor einer massiven Metalltür, die durch ein schweres Schloss und Zahlenkombination geschützt war. Borislav bedeutete uns, dass wir uns umdrehen sollten. Als er die Tür dann öffnete, drehten wir uns wieder um. Vor mir führte eine Treppe in die Tiefe. Ich hasste Keller und folgte Roman und Borislav nur zögerlich die Betonstufen nach unten. Am Ende der Treppe wartete wieder eine massive Tür vor uns in die Borislav einen Schlüssel steckte und damit einen Fingerabdruckscanner zum Vorschein brachte. Was machte dieser Mann hier unten, dass solcher Sicherheitsmaßnahmen bedurfte?

Als sich dann ein weiteres Feld an der Türe öffnete und eine Computerstimme Netzhaut- und Sprachtest verlangte, hätte ich am liebsten Laut aufgelacht. Ob vor Amüsement oder Furcht konnte ich selbst nicht sagen.

Borislav hielt ruhig sein rechtes Auge vor das kleine Feld und sprach anschließend seinen Namen.

„Borislav Rozhdestvenskij mit zwei Besuchern.“

Nach einem erschreckend ruhigen Moment öffnete sich die Tür mit einem Klicken und wir betraten einen riesigen Raum in dem sich unzählige Computergeräte befanden, von denen ich viele noch nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte.

Während unseres ganzen Weges hatten sich Borislav und Roman schon miteinander auf Russisch unterhalten. Ich wusste nicht einmal mehr, wann sie die Sprache gewechselt hatten, denn ich war zu gefangen genommen von dem Haus gewesen.

Jetzt ging Borislav auf den großen Schreibtisch in der Mitte des Raumes zu, an dem sich ein Computer mit 11 Monitoren befand, die neben- und übereinander waren. Mit einem Seufzen ließ sich der füllige Mann auf den Schreibtischstuhl fallen und holte ein Päckchen aus einer Schublade, das er Roman in die Hand drückte.

„Sei froh, dass ich gerade nicht viel zu tun hatte“, meinte er nun wieder auf Englisch.

„Und das ist auch wirklich alles?“, fragte Roman zweifelnd.

„Normaler Pass, Reisepass und Geburtsurkunde. Da du mir auch gesagt hast, es soll gründlich sein, hab ich außerdem dafür gesorgt, dass sie immer in einer Stadt gemeldet war, viele Umzüge, da sie ja niemand kennen soll, einige Schulen haben jetzt ihre Daten als ehemalige Schülerin, ihre Eltern sind vor einigen Jahren gestorben, keine Geschwister und ein Strafzettel wegen Falschparkens.“

Dankend nahm Roman das Päckchen entgegen.

„Du weißt aber, wie viel ich dafür verlange, dass ich mich in die Regierungscomputer einhacke!“, warnte Borislav.

„Das ist mir bewusst“, meine Roman mit ausdrucksloser Miene, „und jetzt müssen wir gehen. Ich lasse dir das Geld wie immer zukommen.“

Borislav nickte nur und Roman nahm mich bei der Hand und zog mich hinter sich aus dem Haus. Dann verfrachtete er mich schnell im Auto und wir rasten wieder los.

„Wohin geht es dieses Mal?“, fragte ich nach einer Weile zögerlich.

„Zum Flughafen“, meinte Roman kurz angebunden und ich schwieg den Rest der Fahrt.

 

Kapitel 19 – Neue Identität

Der Flughafen lag außerhalb von Moskau, was mich nervös machte, aber wegen Romans schlechter Laune traute ich mich nicht ihn zu fragen, ob wir hier nicht in Gefahr waren. Romans Raserei machte es wahrscheinlicher, dass uns die Polizei anhielt, was nicht gerade zur Besserung meines angespannten Nervenkostüms verhalf, doch wir kamen ohne Probleme zum Flughafen und auch Romans Stimmung schien sich ein wenig zu bessern. Wenigstens hatte er jetzt nicht mehr diesen verkniffenen Gesichtsausdruck.

Das Flughafenterminal war einfach riesig und ohne Romans Hilfe hätte ich mich dort niemals zurechtgefunden. Am Schalter kaufte er mir ein Ticket, doch da er Russisch sprach, erfuhr ich nicht wohin. Er sprach nur mit mir, als ich ihm meinen Ausweis geben sollte. Peinlicherweise fiel mir auf, dass ich den Pass bisher noch nicht angesehen hatte und nicht einmal wusste, wie ich jetzt hieß – wenigstens sah ich, dass ich jetzt Britin war. Aber für sich kaufte er kein Ticket und ich konnte nicht verhindern, dass ich etwas enttäuscht war.

Schließlich verabschiedete er sich von der Frau am Schalter und ging mit mir an eine ruhige Ecke im Terminal. Dort gab er mir meinen Pass zurück und drückte mir das Flugticket in die Hand.

„Mit diesem Ticket kommst du nach João Pessoa, das liegt an der brasilianischen Küste. Du musst zwei Mal umsteigen. Alle Informationen dazu stehen auf dem Ausdruck bei den Tickets, keine Sorge, sie sind auf Englisch. Von dort holt dich dann ein Freund von mir ab, der wird dir alles Weitere erklären.“

Ich nickte schwach.

„Wie lange werde ich dort bleiben können?“

„Zuerst einmal wirst du dich versteckt halten müssen. Aber nach einigen Monaten wirst du anfangen können dich wieder etwas freier zu bewegen. Wenn alles nach Plan verläuft, kannst du dort für immer bleiben.“

„Dann muss ich ja Portugiesisch lernen“, meinte ich mit einem schwachen Lächeln.

Roman erwiderte es, ebenso schwach.

„Du kriegst das schon hin.“

„Werde ich dich jemals wiedersehen?“

Roman umfing vorsichtig mit seinen Händen mein Gesicht und strich mir mit seinen Daumen zart über die Wangen.

„Wenn ich dich jemals aufsuchen würde, wäre deine Sicherheit gefährdet.“

Ich konnte es nicht verhindern, dass eine Träne sich den Weg aus meinem Auge hinaus meine Wange hinunter suchte. Hastig senkte ich den Blick.

„Lebe wohl, Sam“, flüsterte Roman, hauchte mir einen Kuss auf die Lippen und als ich den Blick hob, war er verschwunden.

Rasch wischte ich mir die verirrte Träne von der Wange, schulterte meine Tasche neu, nahm den Trolli und machte mich auf den Weg zu meinem Gate.

Ich wollte ihn nicht haben und doch traf mich es jetzt ihn verloren zu haben. Ein nervöses Kichern bahnte sich den Weg meine Kehle hinauf. Ich war ja so ein Idiot. Nach der Geschichte mit Jamie hätte ich in der Lage sein müssen meine Gefühle besser zu deuten. Bei ihm war ich auch vor meinen Gefühlen geflohen, weil ich Angst davor hatte, aber Jamie hatte mich besser gekannt. Er hatte mir meine Gefühle für ihn vor Augen geführt und mir die Angst genommen.

Wieder füllten sich meine Augen mit Tränen. Ich würde Roman nie wiedersehen und auch nie eine Chance bekommen alles mit ihm klarzustellen. Ich hatte einen Fehler gemacht, damit musste ich mich jetzt erst einmal abfinden, vielleicht auch für immer.

Ich musste noch eine Weile warten, bis ich ins Flugzeug durfte, also setzte ich mich und fischte meinen Pass aus dem braunen Kuvert. Er war dunkelrot und oben zierte ihn der Schriftzug 'European Union – United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland'. Darunter befand sich ein Wappen mit einer Krone darauf, links davon ein Löwe und rechts ein Einhorn. Um das Wappen lief der Schriftzug 'Honi soit qui mal y pense' – Beschämt sei, wer schlecht darüber denkt. Und etwas weiter unten 'dieu et mon droit' – Für Gott und mein Recht. Der Wahlspruch der britischen Monarchen, wie ich wusste.

Mit einem Lächeln auf den Lippen klappte ich ihn auf. Geboren war ich in Hastings, nur schade, dass ich nicht einmal wusste, wo das lag. Mein Lächeln wurde breiter. Dann sah ich den Namen: Luna Ekaterina Lya Steel.

Was hatte er sich nur bei Ekaterina gedacht? Das war ein russischer Vorname! Ich sah noch einmal in das Kuvert und bemerkte zu meiner Überraschung einen zweiten Reisepass. Er war von dem gleichen Rot wie der Englische, jedoch war auf ihm mit kyrillischen Schriftzeichen geschrieben: ein russischer Pass. Auf dessen Umschlag befand sich ein zweiköpfiger Adler mit einem Wappen auf der Brust.

Ich öffnete ihn rasch und darin lag ein Zettel. Die Handschrift erkannte ich nicht. Auf ihm stand: 'Mutter: Natascha Wissarionowitsch; Vater: Adam Peter Steel; vor 2 Jahren in einem Autounfall bei Moskau umgekommen'.

Roman hatte mich zu einer Halbrussin machen lassen. Schnell überprüfte ich den Pass. Auch darin war ich als Luna Ekaterina Lya Steel ausgewiesen.

Da sprach mich ein großer blonder Steward mit einem freundlichen Lächeln auf Russisch an.

„Tut mir Leid, sprechen sie auch Englisch?“, fragte ich etwas eingeschüchtert.

Verwundert sah mich der Steward an.

„Aber natürlich“, meinte er mit einem feinen Akzent, „ich dachte nur wegen des Passes, dass sie auch Russin sind.“

Er wirkte skeptisch. Ich lachte, um die Situation zu entspannen.

„Nur auf dem Papier. Meine Mutter war Russin, aber ich bin in England groß geworden und habe es versäumt Russisch zu lernen. Jetzt war ich zum ersten Mal meine russische Verwandtschaft besuchen.“

Die Miene des Stewards wurde wieder freundlicher.

„Oh, ich hoffe es hat ihnen gefallen. Warum, wenn ich fragen darf, haben ihre Eltern sie auf ihrem ersten Besuch nicht begleitet?“

„Sie dürfen. Meine Eltern haben mich nicht begleitet, weil sie tot sind.“

Nun wurde der Steward rot.

„Ohh, das tut mir Leid“, stammelte er los.

Ich lächelte ihn beruhigend an.

„Sie können ja nichts dafür. Begleiten sie den Flug?“, wechselte ich das Thema.

Der Steward schien erleichtert.

„Ja, ich bin für die First Class zuständig.“

„Dann sehen wir uns ja noch“, teilte ich ihm freudig mit.

Mit ein paar Worten verabschiedete ich mich und betrat das Flugzeug.

Die Sessel in der First Class waren dieses Mal aus hellgrauem Leder und die einzelnen Sitze durch kleine Wände voneinander getrennt, doch trotzdem, oder gerade deswegen, konnte ich während des ganzen Fluges kein Auge zu tun. Jedes Mal, wenn ich gerade das Gefühl hatte einzuschlafen, stellte ich mir vor, wie plötzlich Mikhail hinter mir stand und mich süffisant anlächelte. Das war einfach zu viel für meine Nerven.

Schließlich bat ich eine Stewardess, die gerade den Gang entlang lief, mir ein leichtes Beruhigungsmittel zu bringen. Dank dieses kleinen Wundermittels der Medizin schlief ich schnell und beruhigt ein. Doch die Träume, die ich bekam, waren alles andere als angenehm.

Ich saß auf der Terrasse des Hauses meiner Eltern. Unterbewusst war mir klar, dass das Haus bei der Gasexplosion zerstört worden war und ich träumen musste, doch das Gefühl des zuhause-seins war einfach zu schön.

Ich schloss die Augen und genoss es, wie sich die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut anfühlten. Nach einer Weile legte sich von hinten eine Hand auf meine linke Schulter. Ich blickte mich um und sah in Andreas' lächelndes Gesicht.

Vor drei Jahren war das Lächeln auf seinen Lippen für immer verschwunden. Ich wusste es, und doch saugte ich diesen Augenblick, der so real erschien, in mich auf, um später davon zehren zu können. Ich vermisste ihn, Tom und meine Eltern so sehr. Wenn mir ein kurzer Moment, wenn er auch nicht real war, vergönnt war, so musste ich ihn genießen.

Ich lächelte zurück und Andreas öffnete den Mund, um zu sprechen, doch ihm entwich kein Laut. Verwundert sah ich ihn an und er versuchte es erneut, ohne Erfolg. Plötzlich verzog sich sein Gesicht vor Schmerz, doch noch immer kam ihm kein Laut über die Lippen.

Als Andreas seinen Mund erneut in dem Versuch zu sprechen öffnete, begann er plötzlich zu husten. Die schnell vorgehaltene Hand konnte nicht verhindern, dass einige Blutspritzer den Weg zu meinem Gesicht fanden.

Irritiert wischte ich sie fort und blickte auf die rote Flüssigkeit, die nun meine Hände benetzte. Doch sie war nicht wirklich rot, die Flüssigkeit war beinahe schwarz und nur mit einem Stich ins rötliche.

Mein verwunderter Blick wanderte wieder zurück zu meinem Bruder, der noch immer hustete. Das dunkle Blut lief ihm bereits die Arme hinunter und tränkte sein weißes T-Shirt. Sein Blick war starr auf mich gerichtet, als hätte ich Schuld an dem, was ihm widerfahren war. Hilflos streckte ich die Hände nach ihm aus, doch er wich vor mir zurück und starrte wie gebannt auf meine Arme, während ich sah, dass nun auch Blut aus seiner Nase zu laufen begann.

Ich folgte seinem Blick und erschrak vor meinen eigenen Armen. Sie schimmerten leicht weißlich im Schein der Sonne. Panisch blickte ich an meinem Körper hinunter. Auch die Haut meiner Beine war von diesem weißlichen Schimmer überzogen.

Das war nicht ich.

Plötzlich war da ein Pflock in der Hand meines Bruders, der nicht mehr mein Bruder war. Vor mir stand jetzt mein Vater und ihm lief Blut aus Mund, Nase und den Augenwinkeln. Sein Blick war entsetzt und entschlossen zugleich und sehr sehr traurig. Langsam kam er auf mich zu und nicht einmal der Hustenreiz, der ihn schüttelte, konnte ihn davon abhalten näher zu kommen.

Blut spritzte mir auf mein Gesicht und meine Lippen. Ein Tropfen stahl sich zwischen meine leicht geöffneten Lippen. Mit der Zunge leckte ich ihn fort. Das Blut schmeckte nach...Verrat. Eine plötzliche unbändige Wut machte sich in mir breit und bevor ich es verhindern konnte, knurrte ich auch schon mit gefletschten Zähnen den Mann vor mir an. Er kam unbeeindruckt weiter auf mich zu, festigte nur schnell seinen Griff um den Pflock, doch das machte mich nur noch wütender. Ohne einen weiteren Augenblick nachzudenken sprang ich auf den Verräter zu und brach ihm mit bloßen Händen das Genick.

 

 

Brasilien

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Kapitel 20 – Nachhilfe in Geschichte

Erschrocken fuhr ich auf. Ich zitterte am ganzen Körper während ich versuchte den Traum zu verstehen. Was wollte mein Unterbewusstsein mir damit sagen? Meine Haut hatte das Schimmern von einem der Ihren gehabt, aber das fließende Blut hatte keinen Hunger in mir geweckt. Bedeutete das jetzt, dass ich eines dieser Wesen seien wollte?

Erschöpft ließ ich mich in den Flugzeugsessel zurückfallen. Was auch immer in letzter Zeit mit mir los war, es musste aufhören, denn es raubte mir den letzten Schlaf. Ich war den restlichen Flug angespannt wie eine Feder und zuckte beim leisesten Geräusch zusammen. Einzuschlafen traute ich mich jetzt auch nicht mehr, denn ich fürchtete mich vor den Träumen, die mich dann wieder heimsuchen würden. Träume, die mir Dinge vor Augen führten, die ich nicht verstand. Was hatten mein Vater und mein Bruder in diesem Traum zu suchen gehabt? Gab es da irgendeine Verbindung oder spielte mir mein Unterbewusstsein nur einen Streich?

Hilflos vergrub ich mein Gesicht in den Händen. Ich hatte so viele Fragen und auf keine davon kannte ich eine Antwort. Nicht nur der Traum, auch Konstantin und Mikhail stellten mich vor unlösbare Rätsel. Wieder fiel mir ein, dass ich kurz vor meinem Betäubungsmittelschlaf eine Erkenntnis gewonnen hatte, doch mir wollte einfach nicht mehr einfallen welche. Mein Unterbewusstsein pochte auf seine Wichtigkeit – ohne Erfolg. Noch immer, wenn ich an diese Tage zurückdachte, sah ich alles wie durch eine dicke Wand aus Nebel. Alles schien so fern, nichts war wirklich greifbar.

Eine Stewardess, die bemerkt hatte, dass ich aufgewacht war, brachte mir ein Glas Wasser und erkundigte sich, als sie mein blasses Gesicht sah, besorgt nach meinem Befinden. Ich versuchte sie zu beruhigen und versicherte ihr, dass mir das Fliegen einfach nicht gut bekam.

„Fall sie etwas brauchen, rufen sie einfach nach mir“, meinte die Stewardess noch immer etwas besorgt.

„Machen sie sich um mich nur keine Sorgen, mir geht es wieder besser, sobald ich festen Boden unter den Füßen habe.“

Ich schenkte ihr ein schwaches Lächeln und die Stewardess ging wieder, wobei sie sich jedoch noch mehrmals nach mir umblickte.

Der restliche Flug und die Umstiege waren gezeichnet von meiner Anspannung und Furcht. Als sich mein Gesicht einmal in einer Fensterscheibe widerspiegelte, erkannte ich mich zuerst selbst nicht wieder. Vor mir stand eine junge Frau mit wirrem Haar, dunklen Ringen unter den Augen, Sorgenfalten zeichneten das Gesicht. Und ihre ganze Haltung war zum Sprung bereit. Ich sah aus wie ein geprügelter Hund, der jeden Moment seinen Henker erwartete. Erfolglos versuchte ich eine etwas entspanntere Haltung einzunehmen. Als ich endlich am Flughafen von João Pessoa ankam, hoffte ich, dass Roman Recht behalten und ich hier Frieden finden würde. Das Gefühl der Flucht, auch wenn ich jetzt, wie mir gerade erst klar wurde, nur wenige Wochen erdulden musste, hatte mich psychisch und physisch völlig ausgelaugt.

Erschöpft stand ich in der Eingangshalle des Flughafens und fragte mich, wie ich die Person, die mir weiterhelfen würde, finden sollte.

Doch meine Bedenken erwiesen sich als überflüssig. Nach nur wenigen Minuten kam ein nicht besonders großer Brasilianer mit pechschwarzem Lockenschopf und einer so olivfarbenen Haut, dass jedes Model eifersüchtig geworden wäre, auf mich zu. Er lächelte breit und als er sprach bemerkte ich zu meiner Überraschung, dass er ein vollkommen akzentfreies Englisch sprach.

„Sind sie Luna Steel?“, fragte er in seinem klaren Englisch.

„Ja“, antwortete ich und schüttelte die Hand, die er mir hinhielt.

„Es freut mich sehr sie kennenzulernen. Mein Name ist Alessandro, aber nennen sie mich einfach Ale.“

Flink schnappte er sich meinen Trolli, schulterte den Rucksack bevor ich etwas sagen konnte und lief los. Eilig folgte ich ihm.

„Wohin bringen sie mich denn jetzt?“, fragte ich, während ich versuchte mit seinen schnellen Schritten mitzuhalten.

„Zu ihrem Wohnort für mindestens den nächsten Monat.“

„Und wo liegt der?“, bohrte ich weiter nach.

Lächelnd wandte sich Ale zu mir um.

„Warten sie es nur ab, sie werden überwältigt sein.“

Obwohl ich kein besonders großer Freund von Überraschungen war, musste ich doch lächeln. Ale verströmte so eine positive Stimmung, dass man einfach nicht anders konnte, als sich mitreisen zu lassen. Plötzlich kam mir ein Gedanke.

„Sind sie eigentlich auch ein...“

Ich zog mein langärmliges T-Shirt etwas an meiner rechten Seite hoch und entblößte ein Stück meiner Tätowierung. Ales Lächeln wurde breiter und er zog bei seinem kurzärmligen T-Shirt den linken Ärmel hoch. Zum Vorschein kam die Vampirjägertätowierung.

„Was sollte ich sonst sein?“, fragte er mit einem Feixen in der Stimme.

„Ich weiß auch nicht“, meinte ich mit einem Lachen in der Stimme, „aber woher können sie eigentlich so gut Englisch sprechen?“

„Weil ich aus Louisiana komme.“

Erstaunt sah ich ihn an.

„So sehen sie aber nicht aus.“

Er lachte.

„Sowohl mein Vater also auch meine Mutter sind Brasilianer, leben aber in Louisiana, wo ich auch aufgewachsen bin. Als ich dann zwanzig geworden bin habe ich mich angeboten die Vampirjagd in Brasilien neu zu organisieren, da ich sowieso gerne im Land meiner Familie leben wollte, und jetzt bin ich schon seit fünf Jahren hier.“

„Das klingt nach sehr viel Arbeit.“

„Ist es auch. Als ich nach Brasilien kam, gab es hier praktisch keine organisierte Vampirjagd. Einige Jäger wussten nicht einmal, dass sich unsere Vereinigung über die ganze Welt erstreckt. Sie dachten nur in Brasilien wisse man von Vampiren.“

„Um ehrlich zu sein, ich weiß selbst nicht besonders viel über die Vampirjägervereinigung.“

Ale schenkte mir einen lächelnden Blick über seiner Schulter.

„So geht es den meisten. Lieber Vampire jagend als sich mit Geschichtsdaten befassen“, feixte er.

Ich lachte. Inzwischen waren wir bei einem großen, teuer aussehenden schwarzen Jeep angelangt. Ale verstaute mein Gepäck während ich auf den Beifahrersitz kletterte, und damit meinte ich wirklich klettern.

Nach einer kurzen Weile stieg auch Ale, mit eindeutig mehr Eleganz als ich, in den Jeep ein und startete den Motor.

„Darf ich jetzt erfahren, wohin es geht?“

„Dann wäre es doch keine Überraschung mehr“, meinte er lächelnd, „aber um ihnen die Zeit ein wenig zu vertreiben, kann ich ihnen gerne etwas über die Vampirjägervereinigung erzählen.“

„Ok.“

„Geben tut es Vampirjäger schon, seit es Vampire gibt, aber niemand weiß genau, wann das war. Aufzeichnungen über unsere Vereinigung gab es zum ersten Mal im alten Ägypten. Der Pharao Ka, der Ägypten um 3020 v.Chr. regierte, ließ ein Tongefäß, das zeigte, wie eine vermummte Gestalt einem blassen Mann einen Pflock ins Herz rammt, anfertigen. Darunter war mit einigen Schriftzeichen vermerkt: 'Dem Fremden, der uns von dem Leben nehmenden Dämon befreite'. Wir haben diesen Tonkrug, sofort nachdem er entdeckt wurde, verschwinden lassen. Die dadurch aufkommende Hysterie wäre nicht zu bändigen gewesen.“

„Schon so früh hatten wir Jäger in der ganzen bekannten Welt?“, fragte ich erstaunt.

„Oh ja, aber es kommt sogar noch besser. Sagt ihnen der Name Nefertari etwas?“

Ich überlegte kurz.

„Ich glaube, ich habe ihn schon einmal gehört.“

„Nefertari war die Gemahlin des Pharaos Ramses II. und eine von uns.“

Mit vor Erstaunen geweiteten Augen blickte ich Ale an.

„Ihr Vater, Eje, war auch einer von uns. Seine Familie war vor hunderten von Jahren nach Ägypten geschickt worden. Dank ihm blühte unsere Vereinigung auf, denn Nefertari war nicht seine einzige Tochter.“

Ale warf mir einen schnellen lächelnden Blick zu.

„Nofretete sagt ihnen doch hoffentlich etwas?“

Hätte ich nicht angeschnallt auf einem Sitz gesessen, wäre ich wahrscheinlich umgekippt. Wie hatte ich nur dieser Vereinigung angehören und nichts davon wissen können?

„Sonst noch jemand aus der Geschichte, der einer von uns war?“

„Viele“, meinte Ale lachend, „aber nur die wenigsten waren besonders berühmt. Oft schützten sie jedoch Königshäuser.“

„Und wieder ein Beweis für die Privilegien der Reichen und Mächtigen.“

„Ein Land braucht gefestigte Herrscher, jemanden an den sie sich halten und dem sie die Schuld an allem geben können. Schon Erbfolgekriege sind verheerend, aber wenn alle versuchen auf den Thron zu kommen.....das ist einfach nur noch ein Desaster. Aber jetzt genug zur Geschichte. Wie sind sie zur Vampirjagd gekommen? Auch durch ihre Familie?“

„Nein, ich war das einzige überlebende Opfer eines Vampirangriffs.“

Die Stille, die sich im Wagen ausbreitete, war drückend.

„Das tut mir Leid“, meinte Ale schließlich befangen.

„Muss es nicht, niemand kann etwas dafür, nur sie.“

Ich konnte es nicht verhindern, dass der Hass in meiner Stimme deutlich zu hören war. Erst als Ale seine Hand auf die meine legte, merkte ich, dass ich das Armaturenbrett umklammert hielt.

„Hier müssen wir raus.“

Ich zog meine Hände schnell vom Armaturenbrett weg und stieg hastig aus dem Wagen, und stockte. Wir waren direkt am Meer. Die Abendsonne glitzerte auf dem Wasser und einen Moment war ich einfach nur überwältigt von der Schönheit der Szenerie. So stellte ich mir das Paradies vor.

„Kommen sie Luna, wir haben noch ein Stückchen Wegstrecke vor uns.“

Widerwillig riss ich mich von dem Anblick des Sonnenuntergangs los und folgte Ale den Pier entlang. Schließlich hielten wir vor einem etwas größeren Sportboot, in das Ale mein Gepäck warf.

„Ich hoffe sie sind nicht seekrank.“

Überrascht schüttelte ich den Kopf und ließ mir von ihm ins Boot helfen.

„Sie bringen mich auf eine Insel?“, fragte ich, nachdem wir eine Weile aufs offene Meer hinausgefahren waren.

„Ja, es ist eines der sicheren Verstecke eines inzwischen verstorbenen Vampirjägers.“

„Wie komme ich dazu?“

Ale zuckte mit den Schultern.

„Das habe ich mich auch schon gefragt. Der Sinn von sicheren Verstecken ist ja eigentlich, dass nicht einmal die Vereinigung davon weiß.“

Noch einmal zuckte er mit den Schultern.

Eine Weile verbrachte ich noch mit Grübeln, bis ich beschloss, dass es mir eigentlich egal sein konnte und genoss einfach die Wärme der Sonnenstrahlen auf meiner Haut.

Als das Geräusch des Motors verstummte, öffnete ich die Augen.

„Wir sind da.“

 

Kapitel 21 – In der Einöde

Die Insel durfte ungefähr einen Kilometer im Durchmesser messen und schien die angedeutete Form einer Sichel zu haben. Sie erinnerte mich sehr an die karibischen Inseln, die ich aus Filmen kannte.

In den letzten Sonnenstrahlen des Tages betrat ich den Steg und lief hinter Ale einen schmalen Trampelpfad her, der zu einem überraschend modernen Haus führte. Es war einstöckig, mit einem mediterranen Dach und weiß getünchten Wänden und wirkte vollkommen fehl zwischen der regenwaldartigen Vegetation.

Die Einrichtung des Hauses war ebenso modern und zwei Fronten waren komplett verglast. Das grünliche Licht des Dschungels ließ den großen Raum des Wohnzimmers und der Küche surreal erscheinen.

„Der Kühlschrank ist gut gefüllt. In einer Woche werden ihnen neue Lebensmittel gebracht, für die Sauberkeit des Hauses müssen sie selbst sorgen.“

Ale hatte meine Koffer neben einer Tür abgestellt, die er gerade öffnete.

„Das ist das Schlafzimmer, daneben befindet sich das Bad. Dort finden sie auch eine Waschmaschine.“

„Lebt sonst noch jemand auf dieser Insel?“, unterbrach ich ihn.

„Nein“, meinte er mit einem Kopfschütteln, „sie werden den nächsten Monat allein hier verbringen müssen, tut mir leid.“

Mit großen Augen ließ ich mich auf das Sofa fallen. Ein Monat, das war eine lange Zeit.

„Sie haben Satellitenfernsehen, aber leider keinen Internetanschluss, das wäre zu gefährlich. DVDs stehen im Regal hinter dem Fernseher, die Bücher haben sie sicher schon gesehen, die Regale bedecken ja alle Wände hier, die nicht aus Glas sind.“

Um ehrlich zu sein war mir das noch nicht aufgefallen. Erstaunt blickte ich noch einmal durch den Raum, und da waren sie tatsächlich. Mindestens zwei Regale übereinander, manchmal sogar bis zu vier.

„Kommen sie mich mal besuchen?“, fragte ich wieder an ihn gewandt.

„Es tut mir leid, aber das würde zu viel Aufmerksamkeit auf diese Insel ziehen. Heute ging es, weil ich einmal im Jahr nach der Insel sehe und ihre Ankunft gerade auf diesen Zeitraum gefallen ist.“

„Oh.“

Ich konnte es nicht verhindern, dass die Ernüchterung deutlich in meiner Stimme zu hören war.

Zu meiner Überraschung setzte sich Ale zu mir und schloss mich in seine Arme. Mein erster Gedanke war ihn wegzustoßen und ihn zu fragen, was zur Hölle er da tat. Aber dann wurde mir klar, dass es wahrscheinlich die letzte zwischenmenschliche Interaktion für sehr lange Zeit für mich seien würde und ich erwiderte seine Umarmung.

„Sie....Du wirst das schon überstehen, wir Vampirjäger sind alle vom gleichen Schlag, wir sind zäh. Unsere Überzeugung hält uns aufrecht, gibt uns die Kraft weiterzumachen, denn wir sind die einzigen, die das Unnatürliche besiegen können. Wir müssen die Unwissenden schützen, auch wenn uns das manchmal auf eine harte Probe stellt.“

„Was ist, wenn ich diese Probe nicht bestehe?“

Ale antwortete nicht sofort darauf, was die ganze Sache nur noch schlimmer für mich machte.

„Du wirst nicht versagen“, antwortete er schließlich, doch er klang nicht überzeugt.

Wie sollte er auch? Er kannte mich doch erst seit einigen Stunden und selbst da hatten wir nicht gerade viel gesprochen.

Ich löste mich aus Ales Umarmung.

„Danke, für alles“, sagte ich zu Ale und meinte es wirklich ernst.

Doch auch das Bedürfnis, dass er jetzt ging, schwang deutlich in meinen Worten mit. Ale verstand. Mit einem Nicken erhob er sich.

„In einem Monat werde ich jemanden zu dir schicken, der dir sagt, wie es weitergehen wird. Bis dahin, halte durch Luna.“

Ich nickte schwach und Ale verließ ohne ein weiteres Wort das Haus. Kurze Zeit später hörte ich den Motor des Bootes aufheulen und sich dann langsam entfernen. Die Stille, die darauf folgte, schien endgültig. Ich schlag mir meine Arme um den Körper, schloss die Augen und atmete tief durch. Es würde eine harte Zeit werden, ja, aber ich würde nicht in Selbstmitleid zerfließen. Hier gab es genügen Bücher und Filme um mich zu beschäftigen. Hier würde ich endlich die Ruhe bekommen, die ich so dringend benötigte. Genau. Als erstes würde ich den Schlaf nachholen, den ich verloren hatte.

Entschlossen stand ich auf, schnappte mir mein Gepäck und ging damit ins Schlafzimmer. Dann holte ich mir ein Schlafshirt und meinen Waschbeutel aus dem Koffer, duschte und putzte mir die Zähne und legte mich dann mit einem tiefen entspannten Seufzer ins Bett. Die Matratze fühlte sich für meinen übermüdeten Körper einfach himmlisch an und ich kuschelte mich tiefer in die Decken. Für einen Moment war ich vollkommen entspannt, dann setzten die Träume ein.

Sie waren anders als der letzte, aber deshalb nicht weniger verstörend. Ich sah keine Mitglieder meiner Familie mehr, was mich sehr erleichterte, aber dafür war Constantin dort. Anstelle eines Anzuges trug er einen langen schwarzen Staubmantel mit einer Kapuze, die zurückgeschlagen war. Er stand mir mit schräg gelegtem Kopf gegenüber und starrte mich einfach mit seinen azurblauen Augen an, als versuche er irgendetwas Bestimmtes in mir zu sehen. Aber das Verwirrendste an dieser ganzen Situation war, dass er Angst davor zu haben schien es zu sehen. Dieser Umstand konnte jedoch nicht verhindern, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken lief.

„Wie konnte ich das nur übersehen?“, flüsterte Constantin schließlich und ich zuckte vor Schreck zusammen.

„Was?“, fragte ich mit bebender Stimme.

Lächelnd schüttelte Constantin den Kopf.

„Was?“, fragte ich erneut, wobei meine Stimme kaum noch ein Flüstern war.

Das Lächeln auf Constantins Gesicht wurde breiter.

„Renn“, meinte er schlicht, und ich rannte.

 

Schweißgebadet schreckte ich aus diesem Alptraum aus und schlang mir die Arme um den Körper. Ich war gerannt wie noch nie in meinem Leben und trotzdem hatte ich gewusst, dass es nicht reichen würde. Constantin würde mich finden. Irgendwie glaubte ich der Aussage, dass es ihm bei mir nur um Pedro gegangen wäre, nicht mehr. Da gab es mehr.

Müde strich ich mir mit den Händen übers Gesicht, doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. Also stand ich auf und ging wieder erst einmal unter die Dusche, um mir dem Schweiß vom Körper zu waschen. Anschließend machte ich mich mit noch nassen Haaren daran meine Koffer auszupacken. Wenn mich die Vampire hier finden würden hätte ich sowieso keine Chance zu fliehen.

Der Schrank war viel zu groß für meine wenigen Klamotten, aber besser so, als zu klein. Als ich gerade die dickeren Pullover, die ich auf dieser Insel sicher nicht brauchen würde auf Zehenspitzen im obersten Regal zu verstauen versuchte, fiel mir die Spange, die mein Haar zurückgehalten hatte, heraus und zwischen die Bretter des Schrankbodens. Mit einem Seufzen legte ich die Pullover ab und kniete mich auf dem Boden, um die Spange wieder herauszufischen. Mit einem Supermarkt in der Nähe hätte ich mir einfach eine neue kaufen können.

Obwohl die Spalten zwischen den Brettern eigentlich viel zu schmal für meine Finger waren versuchte ich es trotzdem. Wie zu erwarten blieben sie nach einigen Millimetern stecken. Seufzend zog ich meine Hand zurück und konnte einen überraschten Aufschrei nicht verhindern, als eines der Bretter hinterher kam. Verdutzt saß ich auf dem Boden und betrachtete das Brett vor meinen Füßen. Nur langsam sickerte in mein Unterbewusstsein, dass der Schrank einen doppelten Boden gehabt hatte.

Ale hatte mir ja erzählt, dass dieses Haus früher einmal einem Vampirjäger gehört hatte und neugierig spähte ich jetzt durch das entstandene Loch, um zu entdecken, was ein Vampirjäger sogar noch in einem Sicheren Haus nötig befunden hatte zu verstecken.

(Babyrassel) Nicht weniger überrascht als zuvor, als ich das Geheimfach entdeckt hatte, zog ich eine kleine Babyrassel hervor. Sie bestand aus einem schlichten Holzring, auf dem verschnörkelte kyrillische Schriftzeichen eingebrannt worden waren. Gefüllt musste sie mit etwas grobkörnigem sein, denn sie klapperte sehr.

Verzückt strich ich über die Gravuren und bewunderte das kunstvolle und trotzdem schlichte Kinderspielzeug. Aber was hatte es in dem Sicheren Haus zu suchen? War nicht eine der obersten Regeln auf der Flucht, dass man alleine ging? Ohne Freunde, ohne Familie? Dass man alles hinter sich lassen musste? Als wir uns diesen Weg aussuchten hatten wir gewusst, dass er viele Entbehrungen bereithielt. Hatte dieser Vampirjäger gegen die Regeln verstoßen? Und selbst wenn, warum hätte er dann diese Rassel verstecken sollen?

Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Selbst auf dieser Insel bekam ich lauter neue Fragen, aber keine Antworten. Es war entmutigend. Roman hätte mir die Schrift auf der Rassel wahrscheinlich übersetzen können, aber ihn würde ich wahrscheinlich nie wieder sehen. Roman, der Mann, den ich von mir weggestoßen hatte, wie all die anderen auch.

Ich wünschte, ich könnte diesem inneren Konflikt ausweichen, wie immer, doch auf dieser Insel war ich mit mir allein. Nichts konnte meiner inneren Stimme Einhalt gebieten.

Ich setzte mich im Schneidersitz auf mein Bett, atmete tief durch, schloss die Augen und gab mich ganz meinem inneren Konflikt hin.

Vor Roman hatte es nur einen Mann in meinem Leben gegeben, der mir wirklich wichtig gewesen war: Jamie. Auch ihn hatte ich anfangs nicht an mich herangelassen, doch er hatte es so lange versucht, bis ich nachgegeben hatte. Bei dieser Erinnerung musste ich lächeln. Er hatte mich der Welt gegenüber geöffnet. Vor ihm hatte ich niemandem außer meiner Familie und Nala wirklich an mich herankommen lassen.

Heute stellte ich mir zum ersten Mal die Frage, warum ich davor niemanden an mich herangelassen hatte. Es überraschte mich selbst, dass ich dieser Frage noch nie wirklich nachgegangen war. Natürlich war es, weil ich nicht verletzt und enttäuscht werden wollte, aber woher rührte diese Angst? Ich war nie von jemandem verletzt und enttäuscht worden. Meine Kindheit war glücklich und behütet gewesen. Trotzdem, so gestand ich mir ein, hatte ich mich immer anders als die anderen gefühlt. Als wäre ich nicht nur anders sondern einfach Keine von Ihnen

Das hatte ich schon immer gefühlt, obwohl ich es nie verstanden hatte. Es ergab einfach keinen Sinn.

Es hatte auch nie einen Sinn ergeben, dass ich sogar meine Eltern und Brüder für anders als mich gehalten hatte. Ich hatte sie geliebt, über alles, aber doch hatten sie mich nie wirklich verstanden.

Das erinnerte mich an einen Abend vor vielen Jahren, als ich noch keine vier Jahre alt gewesen war. Andreas und Tom hatten beschlossen mir an diesem Abend Gruselgeschichten zu erzählen. Ich liebte es, wenn sie mir Geschichten erzählten, denn sie konnten es auf eine Art wiedergeben, dass die Geschichten lebendig wurden. Meistens hatten sie mir schöne Märchen erzählt, mit Schlössern und Rittern und Zauberern und Drachen. Ich hatte diese Geschichten immer abgöttisch geliebt und war manchmal noch Stunden nach dem Ende der Erzählung in dieser erfundenen Zauberwelt festgehangen. Meine Brüder hatten es auf mein Alter geschoben, aber das war nicht der Grund gewesen. Es hört sich zwar selbst in meinen Ohren ziemlich einfältig an, aber ich hatte immer gewusst, dass die Menschen nicht das beherrschende Geschlecht auf diesem Planeten waren. Und an diesem Abend erzählten mir meine Brüder zum ersten Mal von Vampiren. Sobald ich von ihnen hörte machte sich ein ungutes Gefühl in meinem kleinen Bauch breit. Ich hatte mich weinend in die Arme meiner Brüder gestürzt und sie daran erinnert, dass sie mir doch nur erfundene Geschichten von erfundenen Wesen und Gestalten erzählen wollten. Sie beruhigten mich und wiederholten so lange, dass es keine Vampire gab, bis ich es ihnen glaubte.

Heute, dachte ich bitter, wusste ich es besser.

 

Kapitel 22 – Zusammenbruch

Obwohl ich mich auf einer einsamen Insel an der brasilianischen Küste, und damit weit weg von Russland, befand, hatte mich die Unruhe wieder gepackt. Nervös lief ich durch das Haus nachdem der Versuch sich auf eines der Bücher zu konzentrieren gescheitert war. Ich befand mich noch keine 24 Stunden auf dieser Insel und wollte schon wieder fort. Das Gefühl, dass die Vampire mir schon wieder auf den Fersen waren war wie ein Gegenstand, der sich gerade außerhalb des Sichtfeldes befand. Man konnte vielleicht noch die Konturen erahnen, sich jedoch nie sicher sein, ob dort wirklich etwas war. Und genau diese Unsicherheit machte mich so verrückt. Es war einfach nicht zu fassen.

Wie schon unzählige Male an diesem Tag zuvor nahm ich die Holzrassel in die Hand und betrachtete die kyrillischen Schriftzeichen darauf. Inzwischen hatte ich festgestellt, dass auf dem beiden Seiten des Holzringes verschiedene Dinge standen, aber ich hatte mich nicht lange genug in Russland aufgehalten, um auch nur ein einziges Wort darauf lesen zu können.

Als es endlich zu dämmern begann machte sich Erleichterung in mir breit, denn nun konnte ich mich ohne schlechtes Gewissen schlafen legen.

Auch in dieser Nacht blieb ich trotz meiner Müdigkeit nicht von den Träumen verschont.

Constantin war wieder da, dieses Mal in einem schlichten schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schmaler schwarzer Krawatte. Wie im Traum die Nacht zuvor starrte er mich mit seinen azurblauen Augen an und schüttelte immer wieder ungläubig leicht den Kopf. Diese kleine Bewegung ließ ihn so menschlich erscheinen, dass ich sogar für einen Moment vergaß, was er war. Das Verstörendste daran war, dass er keinen Zwang eingesetzt hatte. Und plötzlich war die Erinnerung wieder da. Die Erinnerung, die ich in Constantins Haus wiedergefunden und durch die Betäubungsmittel anschließend verloren hatte. Doch diese hatten es nicht für immer verdrängen können. Damals hatte ich mit dieser Situation nichts anfangen können, ob ich es jetzt konnte, wusste ich nicht.

„Du“, klagte ich Constantin mit bebender Stimme an.

„Ich?“, fragte Constantin mit deutlich vernehmbarem Amüsement.

 „In.....in der Nacht der Gasexplosion, kurz bevor ich von meinem Bruder zu Boden gestoßen wurde, da glaubte ich blaue Augen in der Dunkelheit zu sehen, Azurblaue.“

Constantin lachte spöttisch.

„Und ich bin der einzige Mensch auf Erden mit azurblauen Augen?“, fragte er mit vor Hohn triefender Stimme.

„Nein“, meinte ich vorsichtig und meine Zuversicht schwankte.

Was, wenn ich mich irrte? In diesem Moment sah ich etwas in seinen Augen aufblitzen, doch es war vorbei, bevor meine Augen richtig scharfstellen konnten. Ich brauchte einen Moment, bevor ich zuordnen konnte, was ich gesehen hatte. Aber anstatt einer Antwort schüttelte ich den Kopf.

„Was ist nur mit mir los, ich diskutiere mit mir selbst. Das ist nur ein Traum, er führt mir nur meine größten Ängste vor Augen. Das kann einfach nicht wahr sein“, murmelte ich mit geschlossenen Augen vor mich hin.

Constantin lachte und als ich erschrocken die Augen öffnete, stand er nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt.

„Bist du dir wirklich sicher?“

Verwirrt sah ich ihn an. Mit einem breiter werdenden Grinsen beugte er sein Gesicht noch weiter mir zu, bis seine Nase fast die meine berührte.

„Ob das hier wirklich nur ein Traum ist.“

 

Erschrocken fuhr ich aus dem Schlaf hoch. Durch das große Fenster schien noch das Licht der Sterne. Müde rieb ich mir mit den Händen übers Gesicht. Ich würde in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden, da war ich mir sicher, also stand ich auf und beschloss etwas spazieren zu gehen.

Die Luft draußen war warm und stickig. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass das gesamte Haus klimatisiert war, denn erst hier draußen bemerkte ich den großen Unterschied zu Russland. Trotz der unangenehm drückenden Hitze der Nacht genoss ich meinen kleinen Spaziergang. Bisher hatte ich der Schönheit der Insel wenig Beachtung geschenkt.

Während ich mich jetzt in der Dunkelheit durch den Dschungel bewegte, dachte ich über den Traum dieser Nacht nach. Schon wieder war Constantin darin vorgekommen. Diese Tatsache allein war nichts Besonderes, schließlich quälte sein Anblick in meinen Träumen mich schon seit zweieinhalb Jahre, aber da war er immer ein böses unbändiges Monster gewesen, kein denkendes und sprechendes Wesen.

Nach einer Weile Fußmarsch war ich am Ufer der anderen Seite der Insel angekommen. Dort setzte ich mich in den Sand des Strandes und betrachtete die brechenden Wellen im Schein des Mondes und der Sterne.

Hier draußen schien die Welt so ruhig, so friedlich. Wenn man das Meer im Lichte der Nacht betrachtete, konnte man seine Sorgen vergessen; zumindest fast. Der Gedanke an die azurblauen Augen in jener Nacht ließ mir keine Ruhe. Ich konnte mich zwar irren, aber was war, wenn es wirklich Constantins Augen gewesen waren. Was hatte er an jenem Abend dort getan?

Fragen über Fragen und jeden Tag kamen welche dazu, türmten sich auf und begannen mich zu erdrücken. Wann würde ich endlich Antworten bekommen?

Mit meinen Händen fuhr ich durch den warmen Sand und versuchte dort den Schriftzug der Rassel nachzuschreiben. Zuerst bemerkte ich nicht, was ich tat, doch die größere Überraschung war, dass ich sie wirklich aus dem Gedächtnis nachzeichnen konnte. Erschrocken wich ich vor den kyrillischen Schriftzeichen im Sand zurück, als wären sie ein todbringendes Reptil. Mit Augen gezeichnet von Ungläubigkeit und dem beschleichen von Furcht erhob ich mich und entfernte mich rückwärts vom Strand und schlich in den Dschungel, immer den Blick auf die Schrift im Sand gerichtet.

Sobald der Strand hinter dem Dschungelgestrüpp verschwand drehte ich mich um und rannte so schnell, dass meine Lungen brannten.

Zurück im Haus stand ich erst einmal eine Weile mit dem Rücken an die Tür gelehnt da und versuchte zu verstehen, was dort draußen geschehen war.

Irgendetwas war dort draußen mit mir passiert. Ich hatte nicht nur die Schriftzeichen vor mir gesehen, ich hatte sie auch verstanden. Zumindest glaubte ich das.

Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. Es war einfach nur noch verstörend und ich sehnte mich nach einer anderen menschlichen Seele, einfach irgendjemandem zum reden. Irgendjemand, der mir vielleicht erklären könnte, was zurzeit in meinem Leben los war.

Tränen begannen meine Augen zu füllen und ich atmete tief ein. Das war im Moment einfach alles zu viel für mich und ich wusste nicht, ob ich den Monat auf dieser Insel überstehen würde. Ich war allein und doch fehlte mir die Luft zum atmen. Ich sehnte mich nach anderen Menschen und doch wollte ich allein sein. Ich war einfach nur noch verwirrt. Ich wusste nicht, was ich wollte, ich wusste nicht, was ich brauchte, um wieder die zu werden, die ich gewesen war. Am liebsten würde ich die Vergangenheit hinter mir lassen und neu anfangen, aber das war schwer, wenn einem die Vergangenheit etwas genommen hatte, was man nicht mehr zurückbekommen konnte.

Die Tränen wollten sich ihren Weg aus meinen Augen bahnen. Ich bohrte mir die Fingernägel in die Arme und sank an der Tür hinunter in die Knie. Doch auch dass konnte nicht verhindern, dass meine Wangen nass wurden und so weinte ich das erste Mal seit drei Jahren. Am Grab meiner Familie hatte ich es nicht gekonnt, zu groß war der Schmerz gewesen, aber jetzt weinte ich um meine Eltern und Brüder, um die Freunde, die von dem Vampiren getötet worden waren und wegen des Schmerzes, den ich deswegen erdulden musste.

Ich lehnte stumm weinend an der Tür, bis die Sonne aufging, dann schließlich erhob ich mich und schleppte mich ins Schlafzimmer, wo ich vollkommen erschöpft ins Bett fiel.

Gegen Mittag erwachte ich wieder. Eine Weile blieb ich noch liegen und betrachtete das grünliche Licht, dass durch die dschungelartige Vegetation fiel. Ich hatte traumlos und deshalb tief und ruhig geschlafen, wofür ich sehr dankbar war. Langsam schob ich mich aus dem Bett und tappte ins Bad, wo ich erst einmal duschte. Mit nassen Haaren ging ich in die Küche und fand in einem der Schränke tatsächlich Schüsseln und Schokomüsli, im Kühlschrank die Milch. Ich beschloss auf der Terrasse zu frühstücken und setzte mich dort auf einen der drei Plastikstühle, die überraschend bequem waren. Mit angezogenen Beinen löffelte ich mein Müsli und betrachtete den Dschungel vor mir. Kurz dachte ich darüber nach, ob man die Vegetation wirklich Dschungel nennen konnte oder ob nur Regenwald ging und kam schließlich zu dem Schluss, dass es, zumindest entfernt, dasselbe seien musste, auch wenn ich mir nicht vollkommen sicher war.

Als ich fertig gegessen hatte dachte ich darüber nach, was ich den nächsten Monat hier tun sollte. Viel fiel mir nicht ein. Ich konnte lesen, DVDs anschauen und die Insel erkunden, aber wie immer, wenn man zur Ruhe gezwungen war, war es in diesem Moment das Letzte, was ich wollte.

Ich zwang mich auf dem Stuhl sitzen zu bleiben und den warmen, wenn auch etwas schwülen, Mittag zu genießen. Es war schwer, das musste ich zugeben, aber nach einer Weile vergaß ich wirklich die Zeit um mich herum. Ich lauschte den Geräuschen des Dschungels und war überrascht, wie schön es auf der Insel doch war. Es hatte mir gut getan nach so langer Zeit einmal wieder zu weinen, auch wenn ich eigentlich nie viel von dieser Ausdrucksweise von Gefühlen gehalten hatte, aber in diesem Fall hatte mir es wirklich geholfen, auch wenn ich mir jetzt ein wenig gedemütigt vorkam.

Auch wenn es mir im Moment auf dieser Insel ganz gut gefiel, so stand fest, dass ich hier keinen Monat oder sogar länger bleiben könnte. Ich musste von hier verschwinden irgendwie. Da fiel mir wieder etwas ein, dass Ale gesagt hatte: nach einer Woche würde ein Boot kommen, dass mich mit dem Nötigsten versorgen würde.

Ein kleines Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Mit diesem Boot würde ich von der Insel verschwinden. Und wo wäre ich sicherer, als an einem Ort, von dem wirklich nur ich wusste, wo er war? Ich hatte ein sicheres Haus in Europa, genauer gesagt in Rom, Italien. Obwohl Vampiren Weihwasser und Kruzifixe nichts ausmachten, so waren die meisten doch kein großer Freund der Kirche und hielten sich von ihr fern, da die ersten Vampirjäger der heutigen Organisation vom Papst ausgesendet worden waren und auch heute noch wurde ein neu geweihter Papst über die Existenz von Vampiren unterrichtet. Das sichere Haus befand sich mitten in Rom und selbst wenn es dort 'Probleme' geben sollte, so konnte ich mich doch immer noch in den Vatikanstaat flüchten, denn dort befanden sich stets so viele Vampirjäger, dass sich kein Unsterblicher dort hinein wagte.

Ich musste mich also nur wieder bis zu diesem Flughafen durchkämpfen und möglichst schnell einen Flug nach Italien antreten. Wieso war mir diese Idee noch nicht früher gekommen?

Ich musste zugeben, der Plan sich einfach das Boot zu schnappen und von der Insel zu verschwinden würde Ale in eine schwierige Lage bringen. Ich musste ihm einen Brief dalassen, damit er wusste, dass ich nicht von Vampiren entführt worden war. Auf keinen Fall würde ich ihnen von Italien aus Bescheid geben, dass ich dort war. Zum Glück hatte ich meine alten gefälschten Pässe behalten. Ich hatte die Pässe von Roman nur angenommen, weil diese eine perfekte Hintergrundgeschichte besaßen. Meine würden bei genauerer Kontrolle durchfallen, aber um ein Ticket zu buchen würden sie reichen und niemand würde mich damit in Verbindung bringen.

So würde ich die nächsten Tage überstehen, ich würde mich auf meine erneute Flucht vorbereiten, nur dass ich dieses Mal vor meinen eigenen Leuten floh. Ich machte mich daran die Schränke wieder auszuräumen und alles sorgfältig in meine Koffer zu packen. Dabei stieß ich wieder auf die Holzrassel. Eine Weile betrachtete ich den schlichten Holzstück still. Schließlich schob ich ihm mir über die Hand, um ihn wie einen Armreif zu tragen. Dank meiner kleinen Hand passte er perfekt und zu meinem erstaunen stellte ich fest, dass ich mich damit lautlos bewegen konnte.

Dann wartete ich, bis der Tag gekommen war zu gehen.

 

Kapitel 23 – Neuer Verbündeter

Ich hörte das Boot schon von weitem. Das Geräusch des Motors tönte laut durch die Stille der Insel. Ich hielt mich in der Nähe des Stegs in der dschungelartigen Vegetation versteckt und beobachtete das sich herannähernde Boot. Es war das gleiche, mit welchem mich Ale eine Woche zuvor auf die Insel gebracht hatte.

Als es am Steg zum Stillstand kam sprang ein junger Brasilianer vom Boot und vertäute es mit geübten Bewegungen. Er schien allein zu sein und ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Das würde ein Kinderspiel werden.

Ich trat aus meinem Versteck hervor und ging lächelnd auf den Brasilianer zu. Als er meine Schritte auf dem Steg hörte, blickte er auf. Sein Blick war der komplette Gegensatz zu dem von Ale. Er war eiskalt, distanziert und abschätzend. Es würde mir eine Freude sein in als verschnürtes Päckchen am Hafen zurückzulassen.

„Hey, bringst du mir die Lebensmittel?“, fragte ich ihn zuckersüß.

„Ja“, antwortete er mit einem schweren Akzent, der alles andere als Brasilianisch klang, „warte einen Moment, ich hol sie schnell.“

Er kehrte mir den Rücken zu, um erneut auf das Boot zu klettern. Darauf hatte ich gewartet. Mit einer Geschwindigkeit und Präzision, die man nur durch jahrelanges hartes Training erhalten kann, sprang ich auf ihn zu und schlug ihn bewusstlos, noch bevor er überhaupt bemerkte, was geschah. Das war zumindest der Plan gewesen. Schon in dem Moment, als ich die Tätowierung an seinem rechten Schulterblatt unter dem T-Shirt hervorlugen sah, wusste ich, dass er es mir nicht so einfach machen würde.

Mit einer mindestens genauso schnellen Bewegung fuhr er herum, packte mein Handgelenk und riss mich aus dem Flug auf den Boden, sodass ich hart auf dem Steg landete und dieser bedenklich schwankte.

Flink schwang ich mich wieder auf die Füße, bevor er mich mit seinem Gewicht auf dem Boden fixieren konnte und verpasste ihm dabei einen Tritt zwischen die Rippen, was ihn dazu brachte wild zu fluchen. Ich konnte bei dieser Energieverschwendung und Abwendung der Aufmerksamkeit nur die Nase rümpfen. Ich würde die Sache jetzt zu Ende bringen.

Mit einer ruhigen Bewegung schnürte ich eines der Seile los, das ich mir um die Hüften geschlungen hatte. Ich hielt es mit beiden Händen so, dass dazwischen ein gutes Stück Seil lose herunterhing. Dann war ich mit ein paar schnellen Schritten bei ihm und hatte ihm das Seil um den Hals geschlungen noch bevor er seine Schimpftirade beenden konnte.

„Ich schlage vor du machst jetzt was ich dir sage“, meinte ich mit ruhiger Stimme.

„Wieso sollte ich, Kleines?“, fragte er mit einem süffisanten Lächeln, das für ein ungutes Gefühl bei mir sorgte.

„Weil ich mich eindeutig in der besseren Position befinde, ich habe ein Seil um deinen Hals geschlungen und kann dir jederzeit mit nur einer einzigen schnellen Bewegung das Genick brechen.“

Sein Lächeln wurde breiter.

„Das glaube ich nicht.“

Verwirrt sah ich ihn an. Noch immer lächelnd deutete er mit dem Kopf nach unten.

„Sag mir jetzt Kleines, wer hier das sagen hat.“

Langsam wandte ich meinen Blick von ihm ab, um nach unten zu schauen und wäre vor Schreck zurückgewichen, hätte er mich nicht am Arm festgehalten.

Kurz unterhalb meines Bauchnabels drückte er ein langes Messer gegen meine Haut.

„Warum hast du ein Messer bei dir, das hilft dir wenig bei der Vampirjagd!“, meinte ich entsetzt und versuchte mich aus seinem Griff zu winden.

„Nein, aber es hilft gegen junge Frauen, die aus einem unerfindlichen Grund versuchen mich umzubringen“, meinte er das erste Mal ohne sein süffisantes, ekelhaftes Grinsen auf dem Gesicht.

Dann nahm er das Messer von meiner Haut, hob die Hände, als würde er sich ergeben und ließ das Messer klirrend auf den Steg fallen.

„Also Kleines, ich hab meine Verteidigung aufgegeben. Jetzt verrate mir, warum du mich umbringen willst.“

Ich ließ das Seil, das um seinen Hals geschnürt war, los und trat einen Schritt zurück. Sofort löste er das Seil von seinem Hals und warf es achtlos zu dem Messer auf den Boden.

„Ich wollte dich nicht umbringen, das musst du mir glauben und es tut mir leid.“

„Schon okay, du wirst es mir sicher gleich erklären, dann muss es dir auch nicht leidtun, Kleines.“

Ich schüttelte den Kopf. Jetzt war er es, der mich verwirrt ansah.

„Nicht das tut mir leid“, meinte ich, duckte mich mit fast übermenschlich schneller Geschwindigkeit, schnappte mir das Messer, stand auf, indem ich noch einen Schritt auf ihn zu tat und schlug ihn mit dem Griff des Messers bewusstlos, „sondern das.“

Ich meinte es ernst, dass es mir Leid tat. Er war in der besseren Position gewesen und hatte diese aufgegeben, um mit mir von Angesicht zu Angesicht zu sprechen, aber ich hatte es schamlos ausgenutzt und ihn überwältigt. Doch es war notwendig gewesen. Ich konnte und würde niemandem erklären, was ich vorhatte.

Mit wenigen schnellen Handgriffen fesselte ich ihn und trug ihn mit einiger Mühe aufs Boot. Dann holte ich meine Koffer aus dem Haus, warf sie zu dem Vampirjäger in den hinteren Teil des Bootes und dankte Gott beim starten des Motors, dass Darius mich letztes Jahr auf einem Sportboot mitgenommen und mir alles gezeigt hatte. Und auch ohne das Navigationsgerät hätte ich wahrscheinlich die Küste nicht gefunden, doch so hatte ich sogar eine Weile lang wirklich Spaß, bis der Vampirjäger wach wurde. Anfangs bewegte er sich nicht, doch ich wusste einfach, dass er wach war; ich spürte es. Nach kurzem Überlegen schaltete ich den Motor einfach mitten auf dem Meer ab und wandte mich meinem Mitfahrer zu.

„Ich hoffe der Kopf schmerzt nicht zu sehr.“

„Was soll das, Kleines?“, fragte er, ohne auf das Vorangegangene einzugehen.

„Die Insel ist zwar sehr schön, aber nichts für mich. Ich lass mich nicht gerne einsperren, ich kann mich gut selbst um mich kümmern.“

Wieder lachte er sein süffisantes Lachen und ich hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen.

„Und da bist du nicht auf die Idee gekommen mich zu fragen, ob ich dich einfach mitnehme?“

Überrascht sah ich ihn an.

„Nein...“, begann ich, doch wurde unterbrochen.

„Ich bin hier genauso unfreiwillig wie du, Kleines. 'Zu meiner eigenen Sicherheit' hieß es, weil ich inzwischen in Europa zu bekannt unter den Vampiren geworden war und sie um mein Leben fürchteten. Jetzt werde ich hier mit Babysitterjobs abgespeist, damit ich ja nicht auch hier zu viele Vampire töte und wieder auffällig werde.“

„Du bist Luca Foresta“, brachte ich mühevoll hervor, denn er war eine Legende.

Natürlich war sein Akzent nicht Brasilianisch gewesen, denn er war Italiener, was mich auf eine Idee brachte, nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte.

„Genau“, antwortete er angenervt, „der bin ich. Und ich bin es leid in Brasilien, einer so vamprileeren Zone, zu leben.“

„Dann hab ich vielleicht einen Vorschlag für dich.“

Skeptisch musterte er mich.

„Du hast es geschafft mich zu überwältigen. Ich wäre ein Dummkopf, wenn ich dich nicht wenigstens anhören würde, also sprich.“

Er nickte mir mit dem Kopf zu.

„Komm mit mir nach Italien.“

Eine Weile lang starrte er mich einfach nur an. Schließlich schüttelte er den Kopf.

„Du meinst es wirklich ernst, oder Kleines? Nicht zu fassen, aber du scheinst noch verrückter zu sein als ich. Tut mir leid Kleines, aber ohne mich.“

„Wieso denn?“

„In die Hochburg der Vampirjäger fliehen? Warum willst du unbedingt da hin fliehen?“

Luca musterte mich skeptisch.

„Was weißt du über mich?“, fragte ich zurück.

„Dass du eine russische Vampirjägerin bist, die sehr amerikanisch spricht, und dich vor Vampiren bis auf einer kleinen Insel vor der Küste Brasiliens verstecken musst.“

„Ich bin nur zur Hälfte Russisch und in England groß geworden.“

Er zog spöttisch eine Augenbraue hoch und ein kleines verschwörerisches Lächeln huschte mir übers Gesicht, das er erwiderte.

(Deal Luca und Luna) „Und willst du dich vor diesen Vampiren den Rest deines Lebens verstecken?“

Mein Lächeln erlosch und ich schüttelte mit ernster Miene den Kopf.

„Ebenso ich, also lass uns einen Deal machen, Kleines. Ich gehe mit dir nach Italien und dort mache ich mir nochmal ein Bild von deinen Fähigkeiten, wobei deine Schnelligkeit, die ich schon beobachten durfte, äußerst bemerkenswert war. Glaub mir, hätte ich das nicht gesehen würde ich dir das folgende nicht anbieten, denn eigentlich kämpfe ich nicht im Team. Wenn mir also deine Fähigkeiten ausreichen, dann werde ich dir mit deinem Vampirproblem helfen und du mir anschließend mit meinem. Was hältst du davon?“

Ich überlegte nur kurz. Vor mir saß der bekannteste Vampirjäger meiner Zeit, der nach einem 'kleinen' Zwischenfall bei einem seiner Einsätze verletzt und danach nie wieder gesehen worden war. Hier stand er jetzt vor mir und bot mir seine Hilfe an. Da gab es nur eine mögliche Antwort.

Ich trat ein paar Schritte auf ihn zu, beugte mich über ihn und durchschnitt seine Fesseln. Ein erleichtertes Stöhnen entfuhr ihm, als sich der Druck des Strickes löste und er rieb sich kurz die Handgelenke bevor er sich daran machte die Fesseln um seine Füße zu lösen.

Ohne ihm weiter zuzusehen startete ich wieder den Motor und fuhr weiter. Nach einer Weile merkte ich, wie er hinter mich trat. Luca sagte nichts, doch ich wusste worauf er starrte. Ich trug nur Shorts und ein Top und die Narben an meinem linken Arm waren deutlich zu sehen. Ohne dass ich es verhindern konnte versteifte sich mein Rücken.

„Soll ich lieber in den Hafen einfahren?“, fragte er mich über das Lärmen des Motors hinweg.

Ich nickte nur knapp und übergab ihm das Steuer. Dann lief ich zu meinem Gepäck, zog eine weite und, worauf mein besonderes Augenmerk gelegen hatte, langärmlige Tunika hervor und streifte sie über, um meine Narben zu verstecken. Eine Weile hatte ich die Scham verloren gehabt, doch nun war sie zurückgekommen, vielleicht sogar noch stärker als zuvor.

Nachdem wir angelegt hatten zeigte Luca, dass er neben seinem 'Kleines-Gerede' doch irgendwelche Manieren hatte und half mir mein Gepäck vom Boot auf die Ladefläche des teuer aussehenden Pick-ups zu schaffen.

„Ihr gebt euch ja nicht besonders viel Mühe unauffällig zu bleiben“, merkte ich an, als wir schon im Führerhäuschen saßen und Luca den Wagen durch die Stadt steuerte.

„Wieso?“, fragte er ernsthaft irritiert.

„Das Auto“, sagte ich ganz langsam.

Luca warf mir einen genervten Blick zu.

„Ich würde sowieso herausstechen als Italiener in Brasilien, wieso also nicht ein bisschen Luxus gönnen?“

Nach einer Weile merkte er noch an:

„Wen meinst du eigentlich mit 'ihr'?“

„Alessandro.“

„Da hast du hier gerade die einzigen zwei Vampirjäger kennengelernt, die herausstechen“, meinte er mit einem Lachen in der Stimme.

„Und seine Begründung ist?“, fragte ich neugierig geworden.

„Seine Familie gehört zu den Wohlhabendsten in ganz Brasilien, das ist Begründung genug.“

„Gehören etwa alle reichen Familien den Vampirjägern an?“, fragte ich empört und dachte wieder an die Bevorzugung vermögender Leute.

„Nicht reiche, alte Familien. Nun hatten meistens nur die reichen Familien eine Chance die Jahrhunderte zu überdauern. Aber dann gibt es ja auch noch Leute wie mich.“

„Deine Eltern waren keine Vampirjäger?“

„Nein.“

„Wie bist du dann dazu gekommen etwas über Vampire zu erfahren?“

Luca wandte mir seinen Blick zu und sah mir tief in die Augen, als müsste ich die Antwort wissen. Und ich wusste sie.

„Du warst Opfer eines Vampirangriffs und hast überlebt“, antwortete ich mir selbst und erwiderte seinen Blick.

„Genau wie du.“

 

Kapitel 24 – Ein Plan für die Zukunft

„Wie kommst du darauf?“, fragte ich und versuchte mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen.

„Dein Blick.“

Als er nicht weitersprach sah ich ihn fragend an.

„Die, die aus Vampirjägerfamilien kommen sprechen von der ganzen Sache wie von einem Sport, aber wenn Leute wie du und ich darüber sprechen, dann sieht man die Leidenschaft für die Jagd in unseren Augen. Dass sie es ist, die unserem Leben Sinn gibt!“

„Sie verstehen es nicht und verurteilen uns dafür“, sagte ich mehr zu mir, als zu Luca. Bei seinen Worten musste ich daran denken, wie mich Roman genannt hatte: famula, Dienerin meines Hasses auf die Vampire. Schon damals war mir klar gewesen, dass es stimmte, und mich dafür geschämt. Luca war stolz darauf ein famulus zu sein und vielleicht sollte ich auch beginnen es so zu sehen, schließlich war ich vor Romans Worten auch Stolz darauf gewesen.

„Ich hole mir nur schnell das nötigste aus der Wohnung. Bin gleich wieder da.“

Luca stieg aus dem Wagen aus und erst jetzt realisierte ich, das wir schon eine ganze Weile vor einem Wohnblock parkten. Ich schob es auf die Erschöpfung, was wahrscheinlich auch stimmte, und wartete darauf, dass Luca zurückkehrte.

Keine zehn Minuten später tat er es dann auch, einen braunen Trolli hinter sich herziehend. Er warf ihn auf die Ladefläche des Pick-ups, stieg wieder ins Auto und fuhr los.

Keine halbe Stunde später hatten wir schon unsere Flugtickets nach Rom und hatten eingecheckt. Das war der Vorteil an so kleinen Flughäfen, hier war das Sicherheitspersonal nicht so hypernervös und genau. Ich wollte auch gar nicht wissen, was passiert wäre, wenn sie Lucas Waffenarsenal gefunden hätten. Es war unter der Ladefläche seines Pick-ups versteckt gewesen. Auf meine Frage, warum er es dort aufbewahre, meinte er nur, dass es da niemand suchen würde, womit er auch Recht hatte. Die ganze Idee war einfach nur absurd, aber dadurch vielleicht auch so genial.

In einer weiteren halben Stunde würde unser Flug gehen. Wir saßen auf einer der Bänke im Terminal und warteten. Irgendwann hielt ich die Stille nicht mehr aus.

„Wie viele?“

„Mehr als du“, meinte er schlicht, ohne mich auch nur anzublicken.

Verwundert musterte ich den Mann, der neben mir saß, tat es aber schließlich mit einem Schulterzucken ab. Er wäre nicht der erste Vampirjäger, der nicht über die Zahl sprach, auch wenn er sie auf seinen Körper tätowiert hatte.

Ein leichtes Lächeln stahl sich auf meine Lippen und ich schüttelte den Kopf.

„Was?“

Ich wandte meinen Kopf wieder zur Seite und sah, dass auch Luca mich anblickte.

„Die Ironie, dass ich so wenig über dich weiß, aber wir bei diesen wenigen Dingen schon so viel gemein haben.“

Ich sah ihm tief in die Augen.

„Nur ja nicht zu viel über sich selbst verraten...“

„...es könnte ja später einmal gegen einen verwendet werden.“

Ein Lächeln stahl sich auf unsere Lippen. In diesem Moment wurde unser Flug ausgerufen und wir standen auf und machten uns auf den Weg ins Innere des Flugzeugs. Dieses war das erste Mal seit meiner Reise, dass ich nicht First Class flog und irgendwie trauerte ich den breiten, bequemen Sitzen und dem guten Service hinterher.

Wir würden einmal in Brasília umsteigen müssen, doch von dort aus ging es dann direkt nach Rom.

Nachdem wir gestartet waren wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder Luca zu, der neben mir aus dem Fenster sah.

„Wir machen uns gemeinsam aus so eine Reise und wissen doch so gut wie gar nicht übereinander.“

Er wandte mir seinen Blick zu und sah mich leicht angenervt an.

„Du willst als wirklich mit mir sprechen, Kleines?“

Er sprach das Wort 'Kleines' so anders aus als Yo. Wenn Luca es sagte hatte es nichts mehr mit dem liebevoll gemeinten Spitznamen zu tun, nein, dann klang es jedes Mal wie eine Beleidigung.

„Ja, Luca, ich denke das würde uns auch helfen die Zeit miteinander auszuhalten.“

Auf meine Betonung hin zog er fragend eine Augenbraue in die Höhe, nickte jedoch schließlich.

„Okay, von mir aus, Kleines. Frag.“

 „Fangen wir erst mal mit was Leichtem an: Wie alt bist du?“

„28, du?“

„22. Wie lange jagst du schon aktiv Vampire?“

Ich hatte meine Stimme gesenkt und mich zu ihm gebeugt, dass niemand unser Gespräch belauschen konnte.

„Meinst du mit aktiv, wann ich meinen ersten Vampir getötet habe, oder wann ich die Tätowierung bekommen habe?“

Verwirrt sah ich ihn an.

„Kommt das nicht aufs Gleiche raus?“

Er sah mich mit einem süffisant nachsichtigen Lächeln an und ich glaubte eine Spur Traurigkeit in seinen Zügen wahrzunehmen.

„Meinen ersten Vampir habe ich mit 13 getötet, als sie meine Familie überfielen. Es war mehr Glück als Können gewesen. Die offizielle Tätowierung erhielt ich erst mit 18, wegen den Regeln, aber zu Jagen begonnen habe ich schon mit 15.“

„Und deine Familie?“

„Sie sind alle beim ersten Übergriff gestorben.“

„Das tut mir leid“, sagte ich, bedrückt, dass ich ihn auf ein so schweres Thema angesprochen hatte.

Luca zuckte nur mit den Schulten.

„Es ist schon lange her, der Schmerz lässt nach. Wie war es bei dir?“

„Ich jage seit zwei Jahren aktiv Vampire, um sie weiß ich seit zweieinhalb Jahren, bei einem Überfall auf mich und einige Freunde von mir. Vampirjäger versuchten uns zu retten, aber für die anderen war es schon zu spät...“

Meine Stimme klang sehr hart, als ich meine Vergangenheit erzählte.

„Und weiß deine Familie um Vampire?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, meine Eltern und meine Brüder starben bei einer Gasexplosion vor drei Jahren.“

Luca zog schwer die Luft ein.

„Und das alles innerhalb von drei Jahren? Da hast du echt eine verdammt harte Zeit hinter dir, Kleines.“

„Man kann die Vergangenheit nicht ändern.“

„Aber die Zukunft von anderen vor einem Teil von deinen Erfahrungen bewahren.“

Damit hatte er meine Gedanken laut ausgesprochen und ich lächelte ihn an.

„Und die Welt von dem Unnatürlichen zu reinigen.“

„Exakt, Kleines. Darf ich dich auch etwas fragen?“

„Aber klar doch.“

Ich war neugierig darauf, was ihn interessierte.

„Woher stammen die Narben an deinem linken Arm?“

Wie schon zuvor auf dem Boot versteifte ich mich.

„Glassplitter, haben sich hinein gebohrt.“

„Und wie?“, fragte er, als ich nicht weitersprach.

„Bei einer Gasexplosion im Haus meiner Eltern.“

„Du warst da?“

Ich nickte steif.

„Wow, das tut mir Leid Kleines. Ich hätte nicht fragen sollen.“

„Schon okay, du konntest es ja nicht wissen.“

„Also“, begann Luca, um das Thema zu wechseln, „wer ist denn der Vampir, der dir das Leben schwer macht?“

Ein schwaches Lächeln stahl sich auf meine Lippen und ich wandte den Blick von Lucas Gesicht ab.

„Constantin.“

„Der Constantin“, fragte er ungläubig.

„Ja.“

Luca stieß einen Fluch in einer Sprache aus, die ich nicht verstand.

„Was will denn Constantin von dir, Kleines?“

Ich zuckte die Schultern.

„Ich weiß es nicht, zumindest nicht wirklich.“

„Und das heißt?“, fragte Luca ungeduldig.

Ich wandte ihm wieder meinen Blick zu.

„Das heißt, dass er einer der Vampire war, die mich und meine Freunde überfielen.“

Ein paar weitere, ziemlich unfreundlich wirkende Worte verließen Lucas Mund und er fuhr sich angestrengt durch die Haare. Schließlich wandte er mir wieder seine Aufmerksamkeit voll zu und blickte mir tief in die Augen.

„Wer bist du?“

„Niemand besonderes, nur eine junge Vampirjägerin aus Amerika, die einer unglücklichen Verkettung von Umständen zum Dank jetzt auf der Flucht ist.“

„Das ist schwer zu glauben.“

„Und doch ist es wahr.“

Ich erwiderte seinen forschenden Blick ohne mit der Wimper zu zucken. Schließlich schüttelte er den Kopf.

„Du brauchst dringend etwas Glück in deinem Leben, weißt du das, Kleines?“

„Ja“, sagte ich schlicht.

Eine Weile herrschte Schweigen, doch er war nicht unangenehm.

„Welcher Vampir ist eigentlich hinter dir her?“

„Sein Name ist Pascal Ledoux und er ist so etwas, wie das Oberhaupt der Vampire in Frankreich. Ich habe seinen leiblichen Bruder Malo getötet und seine Schwester Régine schwer verletzt.“

„Alle drei Geschwister sind Vampire?“, fragte ich ungläubig.

Luca nickte.

„Meine eigentlicher Auftrag war es gewesen Pascal zu töten, aber er und sein Bruder Malo sehen sich sehr ähnlich und so bin ich leider dem falschen gefolgt. Auf Régine hatte ich es gar nicht abgesehen, sie war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort und ich konnte keine Zeugen gebrauchen.“

„Dann ist es aber auch irgendwie verständlich, dass dich Pascal tot sehen will.“

„Ja, es muss ihn schwer getroffen haben. Er und seine Geschwister waren um die 1500 Jahre zusammen gewesen. Sie wurden irgendwann am Beginn des Mittelalters geboren und verwandelt.“

„Das ist aber sehr alt. Sie müssen alle die....Entwicklung gemeistert haben.“

„Ja, sie alle haben einen starken Charakter gehabt, aber auch, dass sie gegenseitig für sich da gewesen sind, muss ihnen geholfen haben. Die interessanteste Persönlichkeit diese Geschwisterkreises ist jedoch Régine.“

„Wieso?“

„Sie soll sich nie ganz mit ihrem Vampirdasein abgefunden, es nie wirklich akzeptiert haben ein Monster sein zu müssen. Sie hat vier Kammerzofen, oder wie man das heute nennt, und es sind die einzigen Personen, von denen sie Blut trinkt. Sie soll auch noch nie einen Menschen getötet haben.“

„Das klingt nach einem netten Märchen“, meinte ich sarkastisch.

„So habe ich zuerst auch gedacht, aber ich war im Schloss ihre Familie, draußen auf dem Land. Ich habe die Zofen gesehen. Sie geben Régine ihr Blut nicht etwa deshalb, weil sie darauf hoffen auch eines Tages Vampire zu werden, sie geben es ihr, weil sie sie als ihre Freundin sehen und sie bei ihrem Vorhaben unterstützen möchten.“

Ungläubig schüttelte ich den Kopf.

„Das ist so absurd. Es gibt keine guten Vampire.“

„Ich traue der ganzen Sache auch noch nicht so ganz, aber wir werden es herausfinden.“

 

Italien & Schweiz

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Kapitel 25 – Zwischenstopp Vatikan

Der Rest des Fluges war eher still verlaufen, aber das hatte keinem von uns etwas ausgemacht. Es hatte einfach nichts mehr zu reden gegeben.

In Rom verliebte ich mich sofort, als ich aus dem Taxi stieg, das uns zu Lucas Wohnung dort gebracht hatte. Diese alten, kleinen engen Gässchen und die bröckeligen Fassaden hatten für mich einen unwiderstehlichen Charme, dem ich mich nicht entziehen konnte. Ich ließ Luca nicht einmal mehr die Zeit richtig anzukommen, ich zerrte ihn sofort wieder aus der Wohnung, damit er mir die Stadt einmal richtig zeigte. Zwar hatte ich in Rom ein Sicheres Haus, doch hatte ich es noch nie benötigt und war deshalb noch nie hier gewesen.

Schon in der Schule hatte mich die Geschichte der alten Römer fasziniert, doch das war nichts dagegen auf den echten Schauplätzen zu wandeln. Ich benahm mich wie ein kleines Mädchen und mir war egal, dass es Luca seine letzten Nerven zu kosten schien. So gut hatte ich mich einfach lange nicht mehr gefühlt.

Unsere letzte Station war der Petersdom und als ich ihn erblickte, holte mich die Realität schlagartig wieder ein. Ich blieb so abrupt stehen, dass Luca in mich hineinlief und laut zu fluchen begann. Einige Touristen starrten ihn neugierig an, doch als sie seinen wütenden Blick bemerkten sahen sie rasch fort.

„Was?“

„Der Vatikanstaat, ich würde ihn zu gerne betreten.“

„Dann machen wir das“, meinte er und wollte schon losgehen, als ich ihn am Arm zurückhielt.

„Wir wollen doch nicht, dass jemand weiß, dass wir hier sind.“

Ich wusste nicht warum, aber aus irgendeinem Grund verschaffte mir diese Bemerkung einen spöttischen Blick von Luca.

„Sieh zu und lerne“, sagte er grinsend, befreite sich aus meinem Griff und schritt zielstrebig auf den Soldaten der Schweizer Garde zu, der an einem Tor stand.

Ich hatte keine Wahl, als ihm zu folgen. Wütend und ängstlich zu gleich lief ich neben ihm her. Der Soldat musterte uns kurz, als wir vor ihm zum stehen kamen.

„Audias fabulas veteres sermonesque maiorum.“ (Höre uralte Geschichten und Erzählungen aus Urväterzeiten!)

Etwas blitzte in den Augen des Soldaten auf und er sah uns genauer an, bevor er antwortete:

„Conscia mens recti famae mendacia ridet.“ (Ein Geist, im Bewusstsein des Richtigen, lacht über die Lügen eines Gerüchts! (Ovid))

„Deficit omne, natus sum.“ (Alles geht zu Ende, ich bin geboren. Sinngemäß: Was einen Anfang hat, nimmt auch ein Ende (Quintilian))

„De mortuis nil nisi bene!“ ( Über die Toten (soll man) nur in guter Weise (reden)! [denn die Toten können sich nicht wehren, falsche Übersetzung: Über die Toten soll man nur Gutes reden!] (Cheilon))

„Nicht über diese“, antwortete Luca jetzt in Englisch.

Der Soldat neigte den Kopf zu einer kleinen Verbeugung. Luca tat es ihm nach und entblößte dabei einen Teil seiner Tätowierung, die der Soldat sofort erspähte.

„Seid willkommen im Vatikanstaat.“

Dann huschte sein Blick zu mir.

„Und sie?“

Ich zog die Tunika an meiner rechten Seite hoch und zeigte somit meine Tätowierung. Wieder nickte der Soldat, zog ein Funkgerät hervor und sprach einige schnelle Sätze auf Italienisch hinein, die ich nicht verstand. Dann wandte er sich wieder uns zu.

„Ich habe sie angemeldet, gleich wird jemand kommen, der sie abholt.“

Wir warteten keine zwei Minuten, da erschien auch schon ein riesiger, breitschultriger Mann mit kurzgeschorenen schwarzen Locken, einem ebenso gepflegtem kurzen Goatee-Bart und überraschend warmen dunkelblauen Augen. Als er Luca erblickte, stockten seine Schritte kurz, nur um dann eilig, mit einem breiten Lächeln, auf uns zu zukommen. Als er uns erreichte schloss er erst einmal Luca in seine Arme und ließ einen ganzen Wortschwall auf Italienisch auf ihn los. Dieser wirkte total überfordert mit so viel offener Zurschaustellung von Zuneigung und unterbrach den sicher 2,10m großen Mann.

„Mattia, darf ich dir Luna Steel vorstellen?“

Mit einem Lächeln wandte der Riese sich mir zu, doch statt meine angebotene Hand zu nehmen umarmte er mich einfach, was mich vollkommen aus der Fassung brachte.

„Es freut mich sie kennenzulernen Luna.“

„Ebenfalls“, murmelte ich noch immer leicht verstört.

„Aber lasst uns doch in mein Büro gehen“, meinte Mattia, hatte sich schon umgedreht und lief mit übermenschlich großen, raschen Schritten los, sodass ich wahrlich Mühe hatte mitzuhalten.

Das Büro selbst war groß und schlicht eingerichtet. Unter dem großen Fenster befand sich ein Schreibtisch, auf dem sich Aktenstapel türmten und links an der Wand befand sich eine Sitzgruppe bestehend aus zwei Sofas und einem Sessel, wohin uns Mattia auch jetzt führt. Das interessanteste an diesem Raum war jedoch die Tür, die durch einen zehnstelligen Zahlencode gesichert war und die Gitter vor dem großen Fenster.

Als wir Platz genommen hatten, richtete Mattia seine Aufmerksamkeit wieder auf Luca.

„Also, was machst du hier, mein Freund? Ich dachte du bist 'in Sicherheit' gebracht worden?“

„Ach, du kennst mich ja, nichts kann mich lange an einem Ort halten.“

Mattia lächelte.

„Ja, das weiß ich, und gerade das macht mir sorgen.“

„Was ist denn aus dir geworden?“, fragte Luca lachend, „Früher hast du dich doch an noch weniger Regeln gehalten, als ich.“

„Ja, und dann bekam ich diese tolle 'Beförderung' zu diesem Bürojob hier und rette dir regelmäßig den Arsch.“

Ein breites Grinsen stahl sich auf Lucas Züge.

„Hey, du schuldest mir noch etwas dafür, dass ich in die Einöde geschickt wurde!“

„Ja genau, João Pessoa ist wirklich das Ende der Welt“, meinte Mattia mit einem Lachen.

„Du hast gewusst, wo sie mich hingebracht haben. Mein Freund, jetzt schuldest du mir echt was.“

„Wenn es nach den Oberen gegangen wäre, dann wärst du in der Antarktis gelandet.“

Langsam wurde mir das alles zu bunt.

„Äh, es tut mir leid eure Plauderei zu unterbrechen, aber Luca, was wollen wir eigentlich hier?“

„Nur Geduld, Kleines. Wir haben uns schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, also gib uns doch einen Moment, ja?“

Mattia lachte.

„Keine Sorge Luna, das Wichtigste haben wir schon geklärt.“

Er wandte sich wieder Luca zu.

„Und jetzt sag mir, weswegen du mich aufgesucht hast.“

„Zum einen würden wir gerne unsere Ausrüstung aufstocken und etwas Geld bräuchten wir auch.“

„Kein Problem, aber so wie ich dich kenne, kommt das Schwierigere zum Schluss.“

Luca lächelte.

„Dann brauch ich noch die genaue Adresse von Constantins Anwesen.“

Mattia sog scharf die Luft ein.

„Wofür brauchst du die denn? Ich dachte du wärst schlau genug dich von jemandem wie ihm fernzuhalten?“

„Die Adresse ist eigentlich auch nicht für mich.“

Es dauerte einen Moment, aber dann begriffen es sowohl Mattia als auch ich.

„Für sie?“, fragte Mattia so ungläubig, dass es schon an eine Beleidigung grenzte.

Anscheinend waren die Beiden doch nicht so unterschiedlich, wie sie schienen.

„Ja, für mich“, sagte ich und sah ihn von oben herab an.

Zumindest versuchte ich dass, denn auch im Sitzen war er um einiges größer als ich.

„Was willst du von ihm?“, fragte er mit zusammengekniffenen Augen.

„Ich will nur mit ihm sprechen“, sagte ich in einem spitzen Tonfall.

Mattia sah mich weiterhin verwundert an.

„Ich glaube, das war irgendein Insiderwitz, den wir nicht verstehen“, gab Luca seine Meinung ab.

„So kann man es sehen“, sagte ich, ohne ihn anzublicken.

Mattia musterte mich noch eine Weile, bevor er schließlich seufzend mit den Schultern zuckte.

„Ich weiß, dass ich es bereuen werde“, meinte er kopfschüttelnd und erhob sich aus seinem Sessel um zum Schreibtisch zu gehen.

Luca lächelte breit und bedeutete mir, dass wir zu gehen hatten. Die beiden tauschen keine Worte des Abschieds, was mich verwirrte, doch ich fragte auch nicht nach.

Nachdem wir das Büro verlassen hatten gingen wir auf direktem Wege zu seiner Wohnung und ich nahm mir dieses Mal die Zeit sie genauer zu betrachten. Sie war klein und bestand nur aus einem Schlafzimmer, einer Küche, einem Bad und einem kleinen Wohnzimmer, alle sehr spartanisch eingerichtet. Man merkte, dass Luca nicht viel für Dekoration oder ähnliches übrig hatte. Trotzdem war es gemütlich und ich konnte es nicht verhindern mir zu wünschen, dass das alles einfach vorbei wäre. Ich war eigentlich nie der Typ für ein ruhiges Leben gewesen, aber es gab immer Momente in denen man schwach wurde. Dieser war so einer und ich atmete tief durch. Luca und ich würden dem Ganzen, was auch immer da los war, ein Ende setzen und ich würde wieder zu meinem Alltag zurückkehren: Studium und Vampirjagd, und zwar ohne dass ich zur Beute wurde.

Ein wenig war ich enttäuscht, dass ich nur knapp einen Tag in Rom verbringen durfte. Mir gefiel die Stadt sehr und als ich mich neben Luca auf den Beifahrersitz seines Wagens, eine protzige Mercedes S-Klasse, setzte, war ich traurig, dass ich sie schon wieder verlassen musste.

Wir fuhren nicht zum Flughafen. Luca hatte beschlossen dass es das Beste war, wenn wir einfach mit dem Auto fuhren, weil er noch einen 'kleinen Zwischenstopp' einlegen musste.

Dieser 'kleine Zwischenstopp' erwies sich als Zürich. Wir hatten die Wegstrecke von über 850km schweigend und wegen Lucas irrsinniger Fahrweise in nur sechseinhalb Stunden hinter uns gebracht. Als wir schließlich vor einem großen grauen Gebäude zum stehen kamen sprach ich das erste Mal seit Beginn unserer Fahrt:

„Warum halten wir hier?“

„Weil wir hier die Dinge bekommen um die ich Mattia gebeten habe.“

„Aber wieso befinden sie sich hier?“, fragte ich verwirrt.

Luca wandte sich mir endlich zu und schenkte mir ein breites Lächeln.

„Es ist immer wieder amüsant wie ihr Amerikaner auf euer Land fixiert seid und nichts vom Rest der Welt mitbekommt. Kennst du etwa nicht den Ausspruch 'neutral wie die Schweiz'?“

Ich schüttelte den Kopf und Luca schüttelte lachend den Kopf.

„Den Schweizern ist nichts wichtiger als ihre Neutralität, sie sind nicht einmal Mitglied in der Europäischen Union. Aus diesem Grundgedanken heraus geboren kommt auch das Bankgeheimnis in der Schweiz. Niemand fragt dich hier woher du es hast, ob Schwarzgeld oder legal und das macht die Schweiz für die anderen Länder so wichtig und sorgt dafür, dass kein Land wirklich auf die Schweiz verzichten kann. Wir haben bei dieser Bank eine ganze Reihe von Schließfächern gemietet in denen wir Waffen, Geld, Ausweise und solche Dinge eingelagert haben. Inzwischen müsste mir Mattia auf die entscheidenden Schließfächer den Zugriff gewährt haben. Du kannst gerne mit rein kommen, wenn du willst.“

Ich nickte.

„Das würde ich sehr gerne.“

So stiegen wir aus und begaben uns in das Innere des Gebäudes. Das erste, was mir auffiel, waren die schwer mit Maschinengewehren bewaffneten Wachleute, die überall postiert waren und das Fehlen von Überwachungskameras. Hier regierte wirklich das Geld.

Luca ging direkt auf den breiten Tresen zu, der sich über die gesamte Breite des Raumes zog. Dahinter saß ein dünner Mann mit sich lichtendem braunen Haar und einer Hornbrille auf der Nase in einem schwarzen Anzug und Krawatte. Er hob nicht den Blick als wir eintraten sondern starrte weiter auf den Computerbildschirm vor sich. Erst als wir direkt von dem Tresen standen hob er langsam den Blick und musterte uns flüchtig, aber sehr exakt, wie mir auffiel.

„Sie wünschen?“, fragte er in perfektem und klarem Englisch.

„Ich hätte gerne Zugang zu einigen Schließfächern.“

Der Anzugträger verzog keine Miene und holte ein Blatt Papier und einen Stift hervor und legte sie vor Luca auf den Tresen.

„Wenn sie bitte ihre Schließfachnummer hier notieren würden.“

Luca nahm den Stift und notierte eine zwölfstellige Zahl: 107-4472-43-189

Der Bankangestellte zog den Zettel zu sich heran und nickte. Dann drückte er auf einen Knopf, den ich von meiner Position aus nicht sehen konnte und ein Teil des massiven Tresens fuhr zurück sodass wir dahinter gelangen konnten.

„Wenn sie mir nun folgen würden“, sagte der Mann und setzte sich sofort in Bewegung.

 

Kapitel 26 – In der Schatzkammer der Vampirjäger

Wir liefen durch mehrere Gänge zu einem Aufzug. An jeder Ecke stand mindestens ein Wachmann, die auch offen mit Maschinengewehren bewaffnet waren und ich fragte mich, was hier eingelagert wurde, dass solche Sicherheitsvorkehrungen von Nöten waren.

Auch im Aufzug befand sich ein Wachmann. Ich wunderte mich, als der Anzugträger auf einen Knopf drückte auf dem U5 stand. Es war der unterste Knopf. Ich hatte eher damit gerechnet, dass wir uns in die Höhe begeben würden.

Als sich die Türen des Aufzugs öffneten konnte ich nicht verhindern, dass sich der Fluchtinstinkt in mir regte. Vor uns befand sich ein Raum von ungefähr 20m² dessen Wände, Boden und Decke von Granit bedeckt waren. Die Lichter waren in der Decke eingelassen und von hauchfeinen, aber stabil aussehenden Gittern geschützt. Die einzige Tür, die aus dem Raum herausführte befand sich dem Aufzug direkt gegenüber, doch es war keine normale Tür, es war die eines Safes, die mich schwer an die in Borislavs Keller erinnerte, nur noch ein paar Nummern extremer.

„Ich werde ihnen die Sicherheitsmaßnahmen kurz erläutern: Zuerst geben sie an dem Zahlenfeld an der Tür ihre Schließfachnummer ein. Anschließend das von ihnen gewählte Passwort. Ist dieses richtig wird sich das Zahlenfeld zur Seite schieben und einen Handabdruckscan fordern. Ist auch dieser erfolgreich auf seine Richtigkeit geprüft werden sie aufgefordert in den Netzhautscanner zu sehen. Anschließend folgt noch die Spracherkennung. Wenn sie noch auf weitere Schließfächer, zu denen sie nur eine eingeschränkte Zugriffserlaubnis haben, öffnen wollen, erscheint ein kleines Feld, auf das sie ihren Daumen legen. Sie werden einen kleinen Stich spüren und ihr Blut wird überprüft werden. Sollten sie bei einem dieser Tests....versagen, so schalten sich die Sicherheitsmaßnahmen ein. Haben sie es soweit verstanden?“

Luca nickte während ich am liebsten aus dem Gebäude gerannt wäre.

„Dann werde ich sie jetzt wieder verlassen“, meinte der Bankangestellte schlicht, betrat den Aufzug.

Als sich die Türen geschlossen hatten wandte ich mich Luca zu.

„Was sind denn das für Sicherheitsmaßnahmen?“, fragte ich mit einer wagen Ahnung.

„Sagen wir einfach, dass Personen, die versuchen sich hier illegal Zugang zu verschaffen den Raum nicht mehr lebend verlassen.“

Ich schluckte schwer.

„Warum eigentlich so viele Tests?“

„Erübrigt sich diese Frage nicht? Wir wollen nicht, dass irgendjemand von der Existenz der Vampire erfährt. Folglich darf auch niemand wissen, was wir tun. Da wäre es schon ziemlich blöd, wenn jemand unsere ganzen Ausrüstungsgegenstände finden würde. Jetzt aber lass mich erst einmal in Ruhe die Test machen, danach können wir weiterreden.“

Ich nickte und sah im nervös zu, wie er auf die Tür zuging. Als er den Schutz von dem Zahlenfeld hochklappte, hörte ich ein scharrendes Geräusch hinter mir und fuhr erschrocken herum.

„Der Aufzug hat sich verschlossen. Er öffnet sich erst wieder, wenn die Tür wieder verschlossen wird, also wenn wir den Schließfächerraum wieder verlassen“, sagte Luca in meinem Rücken.

Ich drehte mich um und sah wieder Luca zu, wie er die Schließfachnummer mit Zwischenstrichen in das Zahlenfeld eingab. Als er seine Eingabe bestätigte erklang ein leiser Piepton und der Bildschirm klärte sich wieder. Der Code, denn Luca jetzt eingab war wesentlich komplizierter. Er umfasste doppelt so viele Stellen und enthielt nicht nur Zahlen sondern auch Buchstaben in Groß- und Kleinschreibung. Als er damit fertig war erklang wieder der Piepton. Ich wandte mich wieder von Luca ab, denn dieses Spektakel war zu viel für meine Nerven.

Nach einer Weile, die mir wie eine Unendlichkeit vorkam, durchbrach Lucas Stimme die Stille:

„Wir können jetzt rein, kommst du Luna?“

Ich drehte mich um und stellte überrascht fest, dass die massive, mindestens ein Meter dicke Tür sich vollkommen lautlos geöffnet hatte. Hinter Luca trat ich in den Gang, der jenseits der Tür begann.

Er war mit den gleichen Granitfließen bedeckt wie der Vorraum und weitere, nicht ganz so massiv erscheinende Türen verliefen zu beiden Seiten den Gang entlang. Das waren wirklich große 'Schließfächer'.

Wir liefen den mäßig beleuchteten Gang hinunter und um eine Biegung, die ich zuerst gar nicht bemerkt hatte. Dort gab es weitere Türen und zwei von ihnen waren leicht geöffnet. Verwundert wandte ich mich an Luca.

„Warum sind zwei der Türen nicht verschlossen?“

„Weil es die sind, für die ich eine Zugangsberechtigung habe.“

Ich nickte und folgte ihm in eines der offenen Schließfächer zu unserer Linken. Die Wände im Innern waren bedeckt von Regalen auf denen sich fein säuberlich Waffen jeglicher Art aus Titan stapelten. Das mit dem Silber war nämlich vollkommener Humbug, genauso wie dass nur bestimmte Holzarten etwas ausrichten konnten. Holz splitterte einfach an der harten Haut der Vampire wenn er auf die schmale Breite in der Spitze geschnitten wurde. Das Geheimnis einer Waffe gegen die Vampire lag einfach darin, dass die Spitze möglichst dünn sein musste und Titan eignete sich einfach hervorragend dazu.

„Nimm dir was du möchtest.“

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich fühlte mich nackt seit ich alle meine Waffen verloren hatte und hier gab es was das Herz begehrte. Ich wanderte durch den Raum und sah mir die verschiedenen Messer, Pflöcke, Dolche und sogar Schwerter, Speere und Piken an und war einfach hingerissen.

„Du kannst dich ruhig daran gewöhnen auch größere Waffen mit dir herumzutragen.“

Ich warf ihm einen fragenden Blick zu.

„Dieser Teil von Frankreich steht seit über einem Jahrtausend unter dem Einfluss von Vampiren. Sie wissen schon lange was los ist und offene Bewaffnung ist dort in den kleinen Orten oft zu sehen.“

Ich ließ meinen Blick erneut über die Waffen schweifen und blieb an einem wunderschönen Dadao-Säbel Zwillingspaar hängen. Die einschneidige gebogenen Klingen ohne Mittelgrad aber mit zwei Hohlbahnen waren jeweils ungefähr 50cm lang und somit fast 30cm kürzer als gewöhnlich, was es ermöglichte die Waffen einhändig zu führen. Der mit schwarzem Leder umwickelte Schaft war relativ lang und verlieh der Waffe eine unheimliche Eleganz. Neben dieser Zwillingswaffe lag ein Geschirr aus ebenso schwarzem Leder mit dem man die Dadao auf dem Rücken befestigen konnte.

„Ich werde diese nehmen“, sagte ich ohne Luca anzusehen, griff nach dem Geschirr und legte es an.

Luca musterte die Waffen während ich sie mühelos in die Scheiden auf meinem Rücken gleiten ließ.

„Hast du schon einmal mit solchen Waffen gekämpft?“

„Als mir das Fechten zu langweilig wurde habe ich auch andere Waffen ausprobiert und ja, breite Säbel waren auch darunter.“

„Du warst eine Fechterin?“, fragte Luca ehrlich verblüfft.

„Sogar recht gut, aber ich habe nie an offiziellen Wettkämpfen teilgenommen. Und dann erfuhr ich von den Vampiren, das änderte sowieso alles.“

Ich sprach es nicht bitter aus, nur ein wenig teilnahmslos, als wäre es eine unwichtige Nebensache, nicht von Bedeutung. Doch Luca ließ nicht locker.

 „Warum hast du denn nie an offiziellen Wettkämpfen teilgenommen?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Meine Eltern wollten es nicht. Sie waren sowieso nicht von der Tatsache begeistert, dass ich eine ihrer Meinung nach 'gewalttätige' Sportart ausübte. Ballett oder ähnliches wäre ihnen lieber gewesen“, erzählte ich ihm mit einem leichten Lächeln.

"Ist aber auch wirklich ein ungewöhnlicher Sport für ein Mädchen."

Ich zuckte nur mit den Schultern und sah mir weiter die Waffenauslage an. Drei zusammengehörend scheinende Dolche erregten meine Aufmerksamkeit. Ihre Griffe waren von einem breiten, fast weißen Lederband umschlungen. Die beidseitig scharfen Klingen waren immer proportional kleiner. Die Klinge des größten Dolches war ca. 17cm lang, die des Mittleren ca. 12cm und die des Kleinsten ca. 7cm. Sie waren genauso schlicht wie die Zwillingssäbel gehalten. Keine Verzierungen, kein Zierrat störte die Perfektion der Klingen. Ich legte mir den Gürtel aus ebenso hellem Leder um, an dem sich an der rechten Seite zwei Scheiden für die längeren Dolche befanden und schob sie anschließend gleich hinein. Für den kleinsten Dolch gab es auch eine Scheide, die mit der Schlaufe an dessen Rückseite ebenfalls am Gürtel befestigt werden konnte. Ich entschied mich jedoch dagegen und verstaute ihn stattdessen in dem rechten Innenfach meiner Jacke.

Ich sah mich noch einmal kurz in dem Raum um, doch war ich der Meinung, dass ich jetzt genug Waffen bei mir hatte und wandte mich Luca zu.

Dieser hielt gerade einen ca. 70cm langen Säbel in der Hand, von dessen Machart ich noch nie einen gesehen hatte. Seine Klinge war etwa 55cm lang, gebogen und wurde vom Heft zum Ort etwas breiter, aber das war nicht das Ungewöhnliche, denn die Spitze des Säbels war durch einen Einschnitt zweigeteilt und vom Heft zum Ort hatte es eine Klingenrückenscheide. Es war eine Waffe, dessen Anblick die meisten Gegner schon in die Flucht schlug.

"Was ist das für ein Säbel?"

Luca wandte sich mit zu und drehte den Säbel im Licht der Lampen.

"Das ist ein Dsulfiquar Tegha. Diese Säbelart wird von der Kriegerkaste in Indien benutzt."

"Sie sieht ziemlich grausam aus."

Luca nickte.

"Einem Menschen zerfetzt ein 'normales Eindringen' mit der Klinge sämtliche Organe, mit denen es in Berührung kommt. Bei einem Vampir ist es nicht ganz so schlimm, doch sagen wir mal, auch nicht angenehm."

Ein schelmisches Grinsen huschte über sein Gesicht und auch ich musste lächeln.

"Ich hab noch etwas für dich", sagte er dann und griff hinter sich.

Als seine Hand wieder zum Vorschein kam lag eine Pistole darin. Verwirrt sah ich ihn an.

"Warum gibst du mir eine Pistole? Die meisten Projektile können nicht die Haut der Vampire durchdringen und die, die es können, bleiben nicht im Körper stecken. Das kitzelt sie nur und lässt sie in Rage geraten."

"Nicht immer ist der Feind ein Vampir, nimm sie", sagte er schlicht und drückte sie mir in die Hand.

Noch immer ein wenig verwirrt schob ich die Pistole zu dem kleinen Dolch in die Innentasche und folgte Luca aus dem 'Schließfach' durch die andere offene Tür.

Hier befanden sich fein säuberlich in Fächern, die die Wände vollständig bedeckten, gebündelte Geldscheine verschiedenster Währungen. In diesem Raum mussten sich hunderte von Millionen befinden. Ich hatte nicht gewusst, dass die Vampirjäger so gut situiert waren. Als Luca meinen entrückten Gesichtsausdruck bemerkte, lachte er.

„Nicht schlecht, oder? Aber was hast du erwartet, ich meine wir arbeiten mit der katholischen Kirche zusammen und viele unserer Mitglieder gehörten großen Dynastien und Familien an, da hat sich über die Jahrtausende schon was angesammelt, wobei es nur einer unserer Tresore ist, aber der Größte. Witziger Weise lässt die Tatsache, dass die Päpste von Vampiren wussten die ganze Hexenjagd- und Verfolgungsgeschichten nicht mehr ganz so irre erscheinen. Ein paar Päpste sind mit dieser Nachricht echt nicht gut klargekommen und haben ihre Angst in ganz Europa ausgebreitet. Hat ewig gedauert das ganze wieder in den Griff zu bekommen, aber egal.“

Er trat zu einem der Fächer hin in dem sich braun-gelbliche Geldscheine mit einer 50 darauf befanden und nahm ein Bündel heraus. Dann halbierte er es und reichte mir einen Teil. Das gleiche machte er mit blauen Scheinen auf denen eine 20 und mit roten Scheinen auf denen eine 10 war.

„Das sind Euro, mit denen kannst du im größten Teil von Europa bezahlen. Vom Wert her sind sie ähnlich wie die amerikanischen Dollar, aber ich sag es gleich, es gibt keine Ein-Euro-Scheine, nur so als kleine Info. Wir Europäer halten sowas nämlich für Papierverschwendung.“

Oh wie witzig er doch war. Ich warf ihm einen verächtlichen Blick zu, verstaute die Geldscheine auch in meiner Jacke und machte mich auf zu gehen.

„Warte.“

Mit einem Seufzer drehte ich mich zu ihm um.

„Du willst also an den ganzen Jungs mit dem MGs in diesem Aufzug vorbeilaufen?“, fragte er amüsiert.

„Du meintest doch, ich solle anfangen die Waffen offen zu tragen“, pampte ich zurück.

Das Lächeln auf Lucas Gesicht wurde breiter.

„Aber doch noch nicht jetzt, Es sei denn du möchtest die Jungs da oben genauer kennenlernen, Kleines.“

„Und wo soll ich sie denn dann hin tun?“

Luca reichte mir einen großen schwarzen Rucksack von dem ich keine Ahnung hatte, wo er ihn herbekommen hatte. Noch immer etwas verstimmt nahm ich ihn entgegen. Dann zog ich zuerst den kleinen Dolch aus dem Innenfach meiner Jacke und warf ihn in den Rucksack. Die Pistole, der Gürtel mit den zwei anderen Dolchen und das Geschirr mit den Zwillingssäbeln folgte. Als letztes legte ich noch das Geld hinein, schloss den Rucksack, schulterte ihn und wandte mich wieder Luca zu. Inzwischen hatte auch er

seinen Rucksack, der meinem aufs Haar glich, gepackt und wir machten uns auf dem Weg zurück zum Aufzug.

Als Luca die massive tresorartige Tür zum Vorraum hinter sich schloss vernahm ich wirklich das erlösende Klicken vom Aufzug und als ich auf ihn zu trat öffneten sich seine Türen. Luca und ich betraten ihn gemeinsam und fuhren wieder ins Erdgeschoss, durch die schmalen Gänge an den bewaffneten Männern vorbei ins Vorzimmer, wo der Anzugträger hinter dem Tresen saß. Ohne sich nach uns umzublicken betätigte er den Knopf wieder und das Tresenstück schob sich zurück, sodass wir hindurchgehen konnten. Wir verließen das Gebäude ohne dass er uns auch nur noch einen einzigen Blick gewürdigt hätte. Ich war froh über diese Professionalität, denn sie gewährleistete uns einen gewissen Grad an Anonymität.

Draußen im Auto wandte ich mich wieder Luca zu.

„Und jetzt nach Frankreich?“

Mit einem Lächeln wandte er mir seinen Kopf zu.

„Und jetzt nach Frankreich.“

 

 

Frankreich

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Kapitel 27 – Freund oder Feind?

Wir waren die ganze Nacht gefahren und schließlich in einem kleinen verschneiten Ort an der westlichen Küste Frankreichs zum Atlantik hin angekommen. Dort hatte Luca für uns in einer kleinen Pension zwei Zimmer in fließendem Französisch bestellt.

Müde lag ich nun nach dieser langen Fahrt in meinem Zimmer auf dem Bett und konnte nicht einschlafen. Zum großen Teil lag es sicher am Jetlag, aber auch an der Furcht in meinen Träumen wieder Constantin zu begegnen.

Die Kälte, die hier im Gegensatz zu Italien herrschte, hatte mich sehr überrascht. In Italien war es zwar auch nicht besonders warm gewesen, aber man hatte den ankommenden Frühling doch schon deutlich gespürt. Hier war davon noch nichts zu spüren und ich wickelte mich fester in die warmen Decken des Bettes ein. Im Stillen dankte ich Irina wieder dafür, dass sie für mich Kleidung für alle möglichen Klimas eingekauft hatte. Kurz schweiften meine Gedanken zu Roman ab und ich nahm ein gewisses Bedauern war, was aber nichts im Vergleich zu meinem psychischen Zusammenbruch auf der Insel war. Natürlich war ich nicht gerade glücklich, wie ich es gehandhabt hatte, aber es war nun einmal nicht mehr zu ändern und deshalb würde ich mir nicht weiter den Kopf darüber zerbrechen.

Entschlossen schob ich alle Gedanken von mir fort und gab mich ganz meiner Müdigkeit hin.

Als ich die hochgewachsene Gestalt, die mit dem Rücken zu mir stand, sah, seufzte ich schwer. In Fällen wie diesen hasste ich es, wenn sich meine Vermutungen bestätigten, er ließ mich einfach nicht los. Die Alpträume waren besser geworden gewesen, aber seit ich wirklich mit ihm gesprochen hatte, wurde es immer schlimmer.

„Warum lässt du mich nicht einfach in Frieden?“, fragte ich erschöpft.

Langsam drehte er sich zu mir um und musterte mich intensiv.

„Sag mir, ob du es bist?“, fragte er anstatt mir zu antworten.

„Antworte zuerst mir.“

„War ich wirklich all die Zeit so blind?“, sinnierte er weiter ohne mich zu beachten.

„Was hab ich nur für bizarre Träume“, murmelte ich vor mich hin und schüttelte den Kopf.

Überraschenderweise ließen diese so viel leiser gesprochenen Worte Constantin aufhorchen und mir seine Aufmerksamkeit zuwenden.

„Tschudowischtschje“, flüsterte er mit einem leichten Lächeln um die Lippen.

„Was?“, fragte ich ihn verwirrt.

„Das bist du, das ist der Grund, warum ich dich nicht in Ruhe lassen kann.“

„Und was heißt es?“

„Dass du bald zu mir kommen wirst.“

Ich drehte mich um und rannte.

 

Als ob mich jemand geschlagen hätte fuhr ich aus dem Traum hoch. Mein Nachthemd klebte an meiner schweißnassen Haut. Erschöpft legte ich den Kopf in die Hände und ließ den Traum Revue passieren. Was zur Hölle wollte ich mir damit sagen? Die menschliche Psyche war wirklich das Letzte.

Noch immer geistig vor mich hin fluchend stand ich auf, ging zum Fenster und schob den Vorhang zur Seite. Draußen war es noch dunkel, doch mir war klar, dass ich sowieso nicht wieder einschlafen würde, also ging ich in das kleine Bad, das zu dem Zimmer gehörte, und stellte mich unter die Dusche. Diese Träume mit Constantin kosteten mich jedes Mal wieder Kraft und ich fühlte mich noch ausgelaugter wie vor dem Zubettgehen.

Nach dem Duschen flocht ich mir die nassen Haare zu einem Zopf, setzte mich vor das Fenster und starrte hinaus, bis die Sonne aufging. Es war ein klarer Tag und als die ersten Sonnenstrahlen über die Ebene krochen, war sie sofort erfüllt von der Helligkeit des durch den Schnee reflektierten Lichts. Schnell begann dieses grelle Licht in meinen Augen zu schmerzen und ich stand wieder vom Fenster auf. In diesem Moment klopfte es an meiner Tür und ich ging hin um sie zu öffnen. Davor stand Luca mit seinem gewohnten süffisanten Grinsen. Er trug eine dunkelgrüne Skijacke, was mich stutzig machte.

„Zieh dir was Warmes an, Kleines. Wir haben noch was vor vor dem Frühstück.“

Verwirrt zog ich die weiße Skijacke, die ich mit Irina gekauft hatte, aus dem Koffer und zog sie an, während ich Luca aus dem Haus folgte.

„Was machen wir denn?“, fragte ich skeptisch.

„Das sag ich dir schon rechtzeitig“, meinte er ohne sich zu mir umzublicken.

Da er augenscheinlich wirklich nicht vorhatte mir jetzt irgendetwas zu sagen, betrachtete ich die Landschaft um mich herum genauer. Das Land hier war wirklich sehr flach und die großen Ebenen, die so weit waren, wie das Auge reichte, waren von einer dicken Schneeschicht bedeckt. Nur ein kleines Nadelwäldchen durchbrach die Perfektion und genau darauf steuerten wir zu. Einen Moment überlegte ich, ob ich etwas sagen sollte, ließ es dann aber. Ich wollte Luca nicht verstimmen, da er so guter Laune war und wirklich Spaß an dieser Sache zu haben schien.

Als wir die ersten Bäume hinter uns gelassen hatten und die Ebenen nicht mehr zu sehen waren, drehte er sich zu mir um.

„Sagst du mir jetzt, was wir hier machen?“, fragte ich neugierig.

„Sowas in der Art“, meinte er und sein Lächeln wurde breiter, dann sprang er mich an.

Der erste Schlag traf mich vollkommen unvorbereitet mitten in die Magengrube und ich konnte nicht verhindern, dass ich mich vor Schmerz krümmte. Luca ließ seinen Vorteil nicht ungenutzt und riss mich an meinen Haaren wieder hoch, sodass ich vor Schmerz schrie. Seine Idee war gut, er würde mir als nächsten die Beine wegschlagen und wenn ich am Boden läge, hätte er mich, doch beim Training mit Darius hatte ich viele Schläge dieser Art einstecken müssen und gelernt diesen Schmerz für den Moment des Kampfes beiseite zu drängen.

Während er mich hochzog drückte ich, einen Moment bevor er mich ganz hochgezogen hatte, meinen Rücken ins Hohlkreuz durch, griff mit meinen Händen an meinem Kopf vorbei nach seinem Arm, stieß mich mit meinen Füßen vom Boden ab und benutzte seinen Arm als Stütze. Meine alte Sportlehrerin wäre stolz auf mich gewesen, es war ein perfekter Flick Flack und ich wusste nicht woher ich die Kraft nahm, dass ich meine Füße bis in den Handstand schwingen konnte.

Durch den plötzlichen Druck meines Gewichts auf seinen einen Arm stürzte Luca zu Boden und ich schwang in einem perfekten Abgang ab, einen Moment, bevor sein Arm auf dem Boden aufschlug. Doch er war gut. In einer einzigen fließenden Bewegung nutzte er die Energie des Sturzes um wieder auf die Beine zu kommen. Ich ließ ihm nicht die Gelegenheit sich vollständig aufzurichten und sich in Kampfhaltung zu bringen. Bevor er auch nur den Kopf heben konnte war ich bei ihm und verpasste ihm einen harten Haken mit meiner Linken. Ich hatte schon immer einen harten Schlag gehabt, das wusste ich, und Darius hatte auch gemeint, dass ich sogar ihn damit aus dem Gleichgewicht bringen würde, doch Lucas einzige Reaktion war, dass er mir einen weiteren Schlag in die Magengrube mit seiner Rechten verpasste.

Da normale Mittel hier anscheinend nicht weiterhalfen, musste ich eben einen Schritt weiter gehen. Viele Menschen unterschätzen die Beinarbeit, die man beim Fechten braucht. Ein falsch gesetzter Schritt auf dieser engen Bahn und der Gegner hat einen Punkt. Mein Trainer hatte viel Wert auf meine Wendigkeit und überperfekte Beinarbeit gelegt, aber er war noch einen Schritt weiter gegangen, als er merkte, dass ich es ohne Probleme meisterte. Er selbst war in seiner Jugend zwar ein äußerst erfolgreicher Fechter gewesen, doch hatte er mit Kickboxen angefangen; Kinder aus den Slums nahmen keinen Fechtunterricht. Als er mein Talent bemerkte, unterrichtete er mich auch darin und besonders meine Beweglichkeit fiel ihm schnell auf. Ich hatte mir schnell den Spitznamen 'contortionist' – Schlangenmensch – eingehandelt.

Als mein Fuß in Lucas Gesicht landete, konnte ich kurz Überraschung in seinen Augen aufblitzen sehen, bevor er zu Boden ging.

Ich ließ ihm kein zweites Mal die Chance hochzukommen. Sofort war ich über ihm, drehte ihn herum, verdrehte ihm die Arme auf dem Rücken und setzte mich auf ihn. Als ich mir sicher war, dass er mir nicht entkommen konnte beugte ich mich etwas vor und zischte ihm ins Ohr:

„Was sollte den das?“

„Gar nicht so übel, Kleines.“

„Wie bitte was? Du bist doch derjenige, der in den Schnee gedrückt wird?“

Ich verstand nicht und mich überkam ein mulmiges Gefühl.

„Das ist nicht die richtige Haltung für dich“, meinte er nur.

Ich verstand einen Moment zu spät. Bevor ich etwas tun konnte hatte er die Knie unter den Körper gezogen und war so ungestüm aufgesprungen dass ich es nicht schaffte seine Arme festzuhalten. Ich fiel nach hinten in den aufgewühlten Schnee und ohne dass ich es verhindern konnte, brachte er mich in dieselbe Position, in der er sich zuvor befunden hatte, mit dem winzigen Unterschied, dass mir sein kleines Kunststück nicht gelingen konnte, da er zu schwer war.

„Was soll das?“, knurrte ich, nicht bereit mich geschlagen zu geben, „Geh runter von mir!“

Wie um mich zu reizen begann er doch ernsthaft zu lachen. Wütend und beschämt über meine Niederlage versuchte ich mich aus seinem Griff zu befreien, doch es war vergebens.

„Ganz ruhig Kleines, ich hatte dir doch gesagt, dass ich mir mal anschauen will, was du so drauf hast.“

Noch immer lachend ließ er mich los und trat zurück. Gereizt sprang ich auf und wischte mir den Schnee von der Kleidung. Ich funkelte ihn an.

„Du hättest mich wenigstens vorwarnen können.“

„Hey Kleines, wie du mir, so ich dir. Außerdem sieht man die echten Fähigkeiten erst im Ernstfall.“

Zu meinem Ärger musste ich eingestehen, dass er mit der Aussage sogar Recht hatte und ich blitzte ihn verstimmt an. Schließlich siegte die Neugier.

„Wie hab ich mich denn deiner Meinung nach geschlagen?“

„Gar nicht schlecht Kleines, um ehrlich zu sein, ich hätte nicht gedacht, dass du mich überhaupt zu Boden bringst, aber du unterschätzt die Kraft deiner Gegner, oder besser gesagt du überschätzt deine eigene Kraft. Du bist nun einmal eine zierliche Person, Kleines. Nutzte deine Wendig- und Schnelligkeit und setzte nicht auf deine reine Kraft, denn dann wirst du verlieren, wie heute.“

„Unter anderen Umständen wäre dein Kopf schon neben deinen Körper gelegen. Du hättest gar keine Chance gehabt.“

„Nicht in jedem Kampf kannst du deinem Gegner gleich den Kopf abschneiden und was ist, wenn du deinen Gegner erst noch befragen musst? Ohne Kopf kann er dir schlecht eine Antwort geben.“

Ich musste dem kindlichen Zwang widerstehen ihm meine Zunge herauszustrecken. Wieso hatte er nur immer Recht?

„Komm Kleines, lass uns Frühstücken gehen.“

Noch immer etwas verstimmt über die Niederlage folgte ich ihm schweigend zurück zur Pension. Dort begrüßte uns die Pensionsmutter freudig auf Französisch und führte uns in das gemütlich eingerichtete Speisezimmer, wo auf einem der Tische ein reichliches Frühstück aufgetragen war. Wir setzten uns, die Frau sagte noch einige Worte und ließ uns dann allein im Zimmer zurück. Ich musterte das ganze Essen vor mir skeptisch, zog die Nase kraus und nahm mir am Ende nur eine Tasse Schwarztee. Als ich aufblickte, sah ich, dass Luca mich musterte.

„Du isst nichts?“, fragte er skeptisch.

Ich schüttelte nur den Kopf. Eine Weile herrschte Schweigen.

„Seit wann hast du Probleme mit dem Essen?“

Ich war schon dabei zu einer Erwiderung anzusetzen, als ich es mir doch anders überlegte und die Wahrheit erzählte.

„Angefangen hat es schon nach der Gasexplosion, doch richtig schlimm wurde es erst nach dem Überfall, mit den Alpträumen. Darius hat mich davor bewahrt, mich selbst zu zerstören. Er hat mir geholfen ein neues Ziel für mein Leben zu finden. Aber seit ich Constantin wieder begegnet bin...“

„Wieder begegnet?“, fragte Luca überrascht und ich hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen.

Ich hatte Angst, dass Luca die Sache für zu gefährlich befinden würde, wenn er die ganze Wahrheit wusste. Jetzt war ich wohl gezwungen es herauszufinden und so erzählte ich ihm davon, wie Mikhail mich aufgespürt hatte, wie ich versuchte zu fliehen, wie er mich wiederfand und nach Russland brachte, wie Constantin mich nach Dingen fragte, die für mich keinen Sinn ergaben, wie ich unter Betäubungsmitteleinfluss in meinem Zimmer lag und wie Sophia mich rettete. Die ganze Zeit in der ich erzählte unterbrach mich Luca kein einziges Mal, sondern hörte mir nur schweigend zu und verzog keine Miene.

 

Kapitel 28 – Träume und Pläne

„An dem Abend brach ich dann noch aus und rannte bis nach Moskau. Die dortige Vamiprjägerszene half mir unterzutauchen und brachte mich dann schließlich auch nach Brasilien“, endete ich und sah Luca erwartungsvoll und ängstlich zugleich an.

Die Stille, die darauf folgte, war kaum zu ertragen.

„Du hast gelogen“, meinte er schließlich schlicht.

„Nicht wirklich, ich habe nur etwas nicht gesagt“, wehrte ich mich schwach, doch Luca schüttelte den Kopf.

„Als ich dich fragte, was du bist, hast du darauf bestanden ein ganz normaler Mensch zu sein. Das war eine Lüge. An einem 'ganz normalen Menschen' hätte Constantin nicht solch ein Interesse.“

„Ich weiß aber wirklich nicht, was er von mir möchte“, meinte ich schwach.

„Dann müssen wir das unbedingt herausfinden, bevor wir ihn uns vornehmen.“

„Du hilfst mir immer noch?“, fragte ich überrascht.

Natürlich“, antwortete Luca ebenso überrascht, „Wenn, dann ist das nur ein Grund mehr dir zu helfen, denn egal was er von dir will, er darf es nicht bekommen.“

Ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus.

„Danke, wirklich.“

„Du brauchst nicht zu danken, schließlich hilfst du auch mir.“

„Genau, wie geht es jetzt eigentlich weiter?“

„Wir müssen herausfinden, wie wir an Pascal herankommen.“

„Eine ganz blöde Idee: Fenster einschlagen und rein oder auflauern?“

Aus irgendeinem Grund brachte diese Aussage Luca zum lachen, dann sah er meine Gesichtsausdruck.

„Oh, du hast das ernst gemeint“, stellte er fest.

„Ja“, meinte ich verwirrt.

„Tut mir leid, ich habe mal wieder dein Alter und deine Herkunft vergessen.“

Ich war, wenn möglich, noch verwirrt.

„Das mit dem Alter wegen der Erfahrung versteh ich ja, aber was hat meine Herkunft mit der ganzen Sache zu tun?“

„In Amerika gibt es eigentlich nur sogenannte 'Jugendvampire', in der Regel nicht älter als hundert Jahre, was zum Teil der hohen Zahl der Vampirjäger zu verdanken ist, aber maßgeblich, dass Amerika erst 1492 entdeckt wurde, wenn man einmal die Wikinger außer Acht lässt. Der Kontinent war einfach lange nicht von Interesse, da er so dünn besiedelt war und deshalb erst seit ungefähr eineinhalb Jahrhunderten Vampire dort zu finden sind. In Europa aber haben die Vampire ihren Ursprung und es gibt trotz Insania viele Alte dort und sie kann man nicht bekämpfen wie einen Jugendvampir. Sie haben Fähigkeiten, die du dir nicht einmal in deinen kühnsten Träumen vorstellen könntest und Dinge wie anschleichen sind schlicht und ergreifend unmöglich. Du musst dich einschleichen und dann auf den richtigen Moment warten.“

„Aber das ist doch unglaublich gefährlich!“

„Deshalb sind Tätowierungen deiner Größe in Europa eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit.“

„Aber du meintest doch, du hättest mehr Vampire getötet als ich.“

„Hörst du mir denn nicht zu, Kleines? Es ist in Europa eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit.“

„Und du bist die große Ausnahme?“, fragte ich spöttisch.

„Es muss ja einen Grund dafür geben, dass jeder in der Welt der Vampirjäger meinen Namen kennt.“

„Wie viele?“, fragte ich wieder.

„Kleines, warum bist du so versessen auf diese Zahl?“

„Ich weiß es nicht“, sagte ich und meinte es ehrlich.

„Wenn du mir eine Antwort auf diese Frage hast, dann beantworte ich dir auch deine.“

„Okay.“

„Gut, dann wieder zum wesentlichen zurück. Ich habe schon auf alle erdenklichen Arten versucht an Pascal heranzukommen, aber nichts davon ist geglückt, aber ich habe gestern ein paar Anrufe getätigt und ich muss sagen, wir haben fast zu viel Glück, als dass es real scheint.“

„Wieso habe ich nur das Gefühl, dass das nichts Gutes für mich heißt?“

Luca lächelte entschuldigend und das alarmierte mich bei diesem doch sonst so sarkastischen und reservierten Menschen.

„Sie suchen ein neues Mädchen, das sich um Régine kümmern soll. Natürlich nicht in den offiziellen menschlichen Kreisen, aber ich kenne da ein paar, die mir noch einen Gefallen schulden. Wenn du dich also dazu bereit erklären würdest diesen Job anzunehmen?“, fragte er vorsichtig.

„Bitte sag, dass das ein Scherz ist.“

„Sieh es doch auch als Chance. Interessiert dich nicht auch der Wahrheitsgehalt von den Geschichten über sie?“

„Sie ist ein Vampir, was gibt es da noch großartig, was man wissen möchte?“, meinte ich abfällig.

„Selbst du kannst nicht so verbohrt sein und glauben, dass sie alle so schlecht sind. Wo ist denn dein Glaube an das Gute, wo ist deine Hoffnung?“

„Diese Hoffnung kostet einen nur das Leben.“

„Kleines, ich habe meine Familie durch sie verloren, meine Familie, und selbst ich glaube, dass ich eines Tages dort draußen einen Vampir finden werde, der noch eine Vorstellung von Gewissen und Moral hat.“

Ich lachte freudlos auf.

„Das haben sie doch alle, nur ist sie mit der unseren nicht kompatibel. Oder was meinst du denkt die Kuh, die wir essen über das was wir mit ihr tun? Wir sehen uns deswegen nicht als Monster und haben trotzdem Gewissen und Moral, oder?“

„Es ist anders.“

„Nein, es ist genau gleich.“

„Warum jagst du dann Vampire?“

„Wenn es heißt sie oder ich ist es nicht schwer eine Wahl zu treffen.“

Eine Weile herrschte schweigen.

„Du bist ein komplizierter Mensch, Kleines.“

Ich schenkte ihm ein schwaches Lächeln.

„Ich weiß.“

Einen kurzen Moment genossen wir unsere Übereinstimmung.

„Also?“, fragte er schließlich.

„Hab ich denn eine Wahl?“, fragte ich mit einem schweren Seufzer und er lächelte.

„Ich werde schnell Bescheid sagen“, meinte Luca, holte sein Handy hervor und verließ den Raum.

Nun allein starrte ich auf meine Tasse. Der Tee darin dampfte noch und versonnen tauchte ich einen Finger in das brühend heiße Wasser. Der Schmerz schoss sofort in meinem Finger hoch, doch ich widerstand dem Reflex ihn sofort wieder herauszuziehen und tauchte ihn noch tiefer hinein. Es war faszinierend wie stark doch der Körper auf diese vergleichsweise geringfügige Einflussnahme reagierte. Wenn er jedoch vom Adrenalin in einem Kampf durchströmt wurde, bemerkte man selbst lebensbedrohliche Verletzungen oft zu Anfang nicht.

„Was machst du da?“

Erschrocken fuhr ich zur Tür herum und zog meinen Finger aus dem Tee. Er war ganz rot und es hatten sich schon im Ansatz kleine Blasen gebildet. Bevor ich die Hand hinter meinem Rücken verstecken konnte hatte er mich am Handgelenk gepackt und sah sich den Finger genauer an.

„Dannazione!“, zischte er auf Italienisch.

„Was?“

„Warum hast du das gemacht?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß auch nicht, heute ist ein komischer Tag.“

„Hattest du einen dieser Alpträume, die du erwähnt hast?“

„Auch eine der Hoffnungen, die ich mit der Tötung Constantins verbinde, ist, dass diese Alpträume endlich endgültig aufhören.“

Luca horchte auf.

„Er kommt in jedem deiner Alpträume vor?“

„Ja“, antwortete ich verwirrt, „wieso?“

„Eigentlich nichts, es ist nur ein Gerücht.“

„Sag es mir trotzdem.“

„Du weißt, dass es viele Geschichten um die Fähigkeiten der Vampire gibt?“

„Ja, aber ich kenne wirklich sehr wenige, eigentlich gar keine. Ich weiß erst seit zweieinhalb Jahren von Vampiren und auf das, was alles so im Umlauf ist, kann man wirklich kein Augenmerk legen.“

Luca lachte über meinen Kommentar.

„Ja, wenn du anfangen würdest, die Fähigkeiten, die Hollywood den Vampiren anrechnet, zu zählen, fändest du kein Ende, aber ich meinte auch eher die Geschichten aus Vampirjägerkreisen.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Ich habe noch keine sehr hohe Vertrauensstufe.“

„Dann ändere ich das jetzt.“

Überrascht blickte ich ihn.

„Das darfst du nicht!“

Luca schien unglaublich amüsiert über mich.

„Also willst du es doch nicht wissen?“, fragte er mit einem Lachen in der Stimme.

Ich verdrehte die Augen.

„Jetzt sag schon.“

„Was denn, keine Skrupel?“, witzelte er.

Ich sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an.

„Na gut, na gut“, lachte er.

Dann wurde er plötzlich wieder ernst.

„Es heißt, dass eine der Fähigkeiten, die Vampire im Alter im erlangen, ist, dass sie einen in Träumen besuchen können.“

„Das ist ein Scherz, oder?“

„Es ist nur ein Gerücht, die Vampirjäger sind sich keineswegs sicher, was das betrifft.“

„Und du?“

„Was?“

„Glaubst du, dass sie es können?“

„Ehrliche Antwort? Ich halte es für möglich. Es ist nicht weniger verrückt, als der Rest, den wir von ihnen wissen.“

Ein kalter Schauer lief über meinen Rücken. Wenn das stimmte, dann war es wesentlich schlimmer, als ich bisher gedacht hatte. Alpträume waren eine Sache, im Schlaf von Constantin wirklich und wahrhaftig heimgesucht zu werden eine ganz andere.

„Und kann er mir durch die Träume....auch was anhaben?“

Luca legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter.

„Es ist nicht einmal sicher, dass sie das wirklich können. Wahrscheinlich ist es wirklich nur ein Alptraum“, sagte er, doch er klang nicht wirklich überzeugt.

„Egal“, schob ich das Thema aus meinen Gedanken, „wie sieht es jetzt eigentlich mit meinem neuen 'Job' aus?“

Luca lächelte über meinen kleinen Scherz.

„Ich rufe bei meinen Leuten an und dann wirst du in die Burg eingeladen.“

„Eine Burg? Sie leben wirklich in einer Burg? Ist das nicht etwas zu klischeehaft?“

„Die meisten Vampire sind etwas nostalgisch“, meinte Luca mit einem Lächeln in der Stimme, „aber keine sorge, die wenigsten verzichten deshalb auf moderne Technik.“

„Gut, denn ohne ein funktionierendes Badezimmer hättest du mich nie dahin bekommen.“

„Schön zu hören, dass du so positiv darüber gestimmt bist.“

„Wenn ich es nicht mit Humor nehmen würde, könnte ich es gar nicht machen“, meinte ich trocken.

„Nimm's nicht so schwer, Kleines, und denk immer an unser Ziel. Dafür lohnt es sich das alles auszuhalten.“

 

Kapitel 29 – Die neue Gesellschafterin

Der Kragen der Seidenbluse lag unangenehm eng um den Hals und mit dem Rock fühlte ich mich schutzlos, da ich unmöglich in ihm kämpfen konnte. Die Ballerinas mit den schmalen Absätzen waren auch nicht gerade ein Vorteil, aber Luca hatte darauf bestanden. Und es war außerdem furchtbar kalt mit dem Blazer und den dünnen Strümpfen. Leise verfluchte ich Luca, während ich aus dem Taxi ausstieg und das letzte Stück zur Burg, was immerhin sicher noch ein Kilometer war, lief. Der Taxifahrer hatte zu meinem Glück etwas Englisch gesprochen. Er hatte mir erklärt, dass die Familie Ledoux sehr abgeschottet lebte und er nur bis hier vorfahren dürfe. Die Burg war wirklich beeindruckend und in überraschend gutem Zustand. Sie hatte alles, was zu einem richtigen alten Gemäuer gehörte: Einen mit Wasser gefüllten Graben, eine Toranlage, eine Mauer mit Wehrtürmen, einen Zwinger und dahinter die zweite Mauer mit Burgtor. Mehr sah ich im Moment nicht. Die Brücke war heruntergelassen und ich lief durch den Zwinger auf das geschlossene Burgtor zu. Klein an der Seite und wegen seiner Modernität grotesk herausstechend befand sich eine Gegensprechanlage mit Kamera. Luca hatte also recht gehabt.

Ich drückte auf die Klingel. Nur wenige Momente später erklang eine Stimme durch den Lautsprecher.

„Ja bitte?“

„Mein Name ist Luna Steel, ich habe ein Vorsprechen wegen der Stelle als Gesellschafterin.“

„Kommen sie herein.“

Ich hatte ein Klicken oder so erwartet, doch die großen Tore schwangen vollkommen lautlos auf und eingeschüchtert trat ich ein. Luca hatte mir nicht einmal die Mitnahme eines einzigen kleinen Messers erlaubt und mich sogar noch durchsucht, bevor ich losgefahren war.

Vor mir tat sich ein großer gepflasterter Innenhof auf, in dessen Zentrum sich ein Brunnen befand. Mir gegenüber befanden sich das Haupthaus, der Bergfried und die Burgkapelle. Entschlossen lief ich auf das Haupthaus zu und klopfte dort an die Tür. Ein älterer Mann mit kurzgehaltenem grauem Haar im Anzug und einer schmalen Brille musterte mich mit kaltem starrem Blick. Dann trat er einen Schritt zurück und machte mir somit den Weg ins Haupthaus frei.

„Bitte kommen sie herein Mademoiselle Steel“, sagte er genauso kalt, wie er aussah und nur mit einem Hauch von Akzent.

„Dankeschön“, antwortete ich mit einem freundlichen Lächeln und folgte ihm durch die große Eingangshalle. Der Steinboden und die weiß getünchten Wände waren größtenteils mit teuer und antik wirkenden Teppichen bedeckt, was das Gebäude überraschend gemütlich erscheinen ließ. Er lief mit mir über den Treppenturm in den ersten Stock und dort brachte er mich in einen kleinen, vollständig in blassem grün gehaltenen Salon, wobei klein hier relativ zu sehen war. Er war maß mindestens 40m², aber im Vergleich zur gesamten Burg war er nicht besonders groß.

„Sie können sich hier setzen. Soll ich ihnen einen Tee oder Kaffee bringen?“

„Ich möchte ihnen keine Umstände machen“, sagte ich, während ich mich auf ein zweisitziges Sofa mit einem Bezug im gleichen Grün der Tapeten der Wand setzte.

„Nicht im Geringsten, es ist sowieso Teezeit. Also?“

„Nun, dann einen Schwarztee bitte.“

Zu meiner Verwunderung verneigte er sich kurz vor mir.

„Mit dem größten Vergnügen.“

Dann verließ er den Salon und ließ mich allein zurück. Ein bisschen überrascht über die ganzen Umstände sah ich mich um. Der Raum hatte zwar einen Kamin, doch bei näherer Betrachtung stellte ich fest, dass es bloß ein Scheinkamin war. Er war im Nachhinein aufgesetzt worden und in ihm konnte auch kein Feuer entzündet werden. Er war schlicht und ergreifend da, um den Raum älter und eindrucksvoller wirken zu lassen.

Gerade als ich überlegte aufzustehen und mir den Kamin aus der Nähe anzusehen, kam der Mann mit einem Silbertablett zurück auf dem ein Porzellanservice drapiert war. Er stellte es auf das kleine Tischchen neben meinem Sofa und goss etwas Tee in die Tasse, dann setzte er sich auf das Sofa mir gegenüber und begann zu sprechen, während ich die hauchzarte Tasse in die Hand nahm.

„Die junge Herrin steht in der Regel um sieben auf, ihre Aufgabe ist es ab circa zehn Uhr für sie da zu sein, sich um sie zu kümmern und sie nicht aus den Augen zu lassen. Wohnen würden sie hier im Schloss, auch die Wochenenden. Urlaub haben sie zwei Wochen im Jahr, frei einteilbar. Verpflegung und Unterkunft im Schloss sind in ihrem Arbeitsarrangement beinhaltet und sie verdienen ein jährliches Nettogehalt von 66.000 Euro.“

„Hugo, lächele doch mal ein bisschen. Ich bin mir sicher, du hast dich nicht einmal vorgestellt“, erklang eine feine Mädchenstimme hinter mir und ich fuhr überrascht herum.

Dort stand ein vielleicht 14jähriges zierliches Mädchen in einem dunkelgrünen Wollkleid mit weißer Strumpfhose und schwarzen Lackschuhen. Ihr langes blondes Haar war zu einem hohen Zopf zusammengebunden und legte das Augenmerk auf ihre perfekten feinen Gesichtszüge. Das einzige, was ihr makelloses Erscheinungsbild störte, waren ihre Augen, die von langen schwarzen Wimpern umrahmt und unter geschwungenen Augenbrauen lagen. Ihre blauen Augen waren trüb und blickten zwar in meine Richtung, aber starrten gleichzeitig an mir vorbei. Ich sah, dass sie ein Vampir war und doch war es unmöglich, denn das zierliche Mädchen, das vor mir stand, war blind.

Der Mann, Hugo, stand sofort auf, doch das Mädchen hob die Hand und bewegte sich zielstrebig durch den Raum auf die gegenüberliegenden Sofas zu, wandte sich mir zu und hielt ihre Hand in meine Richtung.

„Hallo, ich bin Régine, also die, um die du dich kümmern sollst“, sagte sie in einem offenen und freundlichen Ton.

Ich sprang vom Sofa auf und schüttelte ihre Hand.

„Luna, freut mich dich kennenzulernen.“

Obwohl ich versuchte ruhig zu klingen, merkte ich, dass meine Verunsicherung hindurchklang. Auf Régines Gesicht breitete sich ein warmes Lächeln aus und sie setzte sich mir zugewandt auf die andere Seite des Sofas.

„Frag ruhig“, meinte sie lächelnd, während sie mich mit ihren trüben Augen ansah und doch wieder nicht.

„Bist....bist du blind?“

„Ja, aber Hugo und mein Bruder Pascal sind sehr darauf bedacht, dass es so wenige Leute wie möglich wissen. Sie meinen es wäre gefährlich für mich.“

„Aber wie? Ich dachte...“

„Dass die Verwandlung alles heilt und einen perfekt macht? Das dachten sie bei mir auch. Niemand kann sich erklären, warum ich blind geblieben bin.“

„Du warst schon vor der Verwandlung blind?“

„Ja, schon mein ganzes Leben.“

Ich war einfach nur verblüfft. Das war nicht möglich. Vor mir saß ein blinder Vampir, ein blindes Vampirkind und sie schien keinen Groll gegenüber der Welt deswegen zu empfinden.

Régines Lachen riss mich aus meinen Gedanken.

„Nur keine Zurückhaltung, du sollst meine Gesellschafterin werden, also frag mich ruhig.“

Ich warf nervös einen Blick in Hugos Richtung, doch dieser saß nur stumm da und betrachtete das Geschehen.

„Hat man dich verwandelt, in der Hoffnung, dass du wieder sehen könntest?“

„Nein“, ihr Lächeln verrutschte etwas und ihr Gesichtsausdruck wurde ernster, „man hat mich verwandelt, um mein Leben zu retten.“

„Oh.“

Mehr fiel mir beim besten Willen nicht ein. Eine Weile herrschte angespanntes Schweigen, doch dann erschien wieder ein Lächeln auf Régines Gesicht.

„Aber genug von mir, erzähl mir etwas von dir.“

„Mein Name ist Luna Ekaterina Lya Steel, meine Mutter war Russin, mein Vater Brite. Ich bin in England geboren und auch dort groß geworden. Meine Kindheit war recht ereignislos, aber vor zwei Jahren sind meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Das ist eigentlich auch schon alles Wichtige über mich.“

„Woher weißt du von uns?“

Erleichterung machte sich in mir breit, dass ich mir dazu eine Geschichte überlegt hatte.

„Nach dem Tod meiner Eltern bin ich nach Russland gereist und habe dort zum ersten Mal die Familie meiner Mutter getroffen. Sie wissen schon seit Generationen von Vampiren. Meine Mutter wollte mich ursprünglich davon fern halten, was auch einer der Gründe dafür war, dass ich in England aufgewachsen bin und meine Mutter mir nie ein Wort Russisch beigebracht hat. Sie wollte, dass ich die Wahl habe, die sie nicht hatte.“

Régine hatte den Kopf schief gelegt und schien zu überlegen, schließlich nickte sie.

„Ich muss zugeben, ich hätte als Mutter wahrscheinlich auch so gehandelt.“

Erstaunt sah ich sie an.

„Wirklich?“

Régine nickte.

„Niemand sollte zu etwas gezwungen werden, das er nicht möchte, besonders, wenn es etwas ist, dass das Leben so einschneidend verändert, wie das Wissen um Meinesgleichen.“

Mir wurde langsam bewusst, dass sie das Wort Vampir, aus welchem unerfindlichen Grund auch immer, vermied.

„Aber“, wechselte sie das Thema, „du hast mir ja noch gar nicht gesagt, warum du dich auf diese Stelle gemeldet hast.“

„Durch das Arbeiten für und mit Vampiren fühle ich mich meiner Mutter und ihrem Leben, meiner Familie, die ich noch habe, näher.“

Régine lächelte versonnen. Mir schien, dass sie ein heiteres Wesen hatte, dessen Stimmung nichts so schnell trüben konnte.

„Das ist eine schöne Art zu denken.“

Und obwohl ich wusste, dass sie es nicht sehen konnte, oder vielleicht gerade deswegen, lächelte ich zurück.

„Ich werde dann schnell zu meinem Bruder gehen und ihm sagen, dass du hier bist. Hugo zeigt dir dann dein Zimmer. Wir können deine Sachen aus dem Ort für dich holen lassen. Heute habe ich etwas mit meinem Bruder vor, aber ab morgen gehöre ich ganz dir.“

Wenn möglich wurde ihr Lächeln noch breiter und sie sprang glücklich auf und huschte elegant zur Tür.

Das Unbehagen, dass sie alleine durch die Burg lief, war Hugo deutlich anzusehen, doch gewissenhaft erledigte er das ihm Aufgetragene und führte mich durch einige Gänge hindurch zu einer Tür.

„Dahinter befindet sich ihr Zimmer, genauer gesagt ihr Wohnzimmer oder Salon. Von dort gehen zwei Türen ab: Die Linke führt in ihr Schlafzimmer, die Rechte in ihr Badezimmer. Abendessen gibt es um 6 Uhr. Heute werde ich sie noch dazu abholen, um ihnen die Räumlichkeiten zu zeigen. Willkommen auf der Burg Ledoux.“

Dann verbeugte er sich wieder und war verschwunden, bevor ich noch etwas sagen konnte.

Kopfschüttelnd öffnete ich die Tür und sah ein Gegenstück zu Régines Salon in blassgelb. Das Erste, was mir auffiel, war, dass anstelle des falschen Kamins ein Flachbildschirm in die Wand eingelassen war und an der gegenüberliegenden Wand befand sich anstelle von Bildern ein großes Bücherregal, das die gesamte Wand bedeckte und nur die Tür frei ließ, die laut Hugo ins Bad führte.

Als nächstes öffnete ich neugierig die Tür zum Badezimmer und war wenig überrascht ein komplett modernes Bad mit weißen Fließen und blassgelben Handtüchern vorzufinden. Zu meinem entzücken stellte ich fest, dass ich nicht nur einen überdimensionalen beleuchteten Spiegel, sondern auch eine Whirlpoolbadewanne besaß.

Nachdem ich mich daran sattgesehen hatte, huschte ich neugierig weiter ins Schlafzimmer. Auch hier fanden sich die blassgelben Tapeten des Wohnzimmers wieder. Es war ein Eckzimmer und durch die Fenster konnte ich weite grüne Ebenen sehen.

Das Zimmer wurde von einem riesigen Himmelbett aus hellem Holz beherrscht, dessen Bettwäsche ebenfalls blassgelb war. Außerdem gab es noch einen großen Kleiderschrank an der Wand, sonst war der Raum leer, doch er wirkte keinesfalls kahl, denn der Blick auf die Landschaft schien den Raum zu füllen.

Glücklich über so schöne Zimmer ging ich zurück in den Salon, ließ mich dort auf ein Sofa fallen, schloss die Augen und entspannte mich einfach einmal.

 

Kapitel 30 – Pauls Geschichte

Doch an Ruhe war nicht zu denken. Mein Gehirn war zu sehr mit der Tatsache beschäftigt, dass Régine so gar nicht wie die Vampire wirkte, die ich kannte. Genau wie Mikhail und Constantin hatte sie menschliche Züge, doch bei ihr waren sie viel ausgeprägter und sie wirkte außerdem so verletzlich durch ihre Blindheit. Und sie schien wirklich nett, was unmöglich war, schließlich war sie ein Vampir. Mit Mikhail und Constantin hatte ich auch normal geredet und sie wollten mir nichts Gutes. Aber Régines Lächeln und ihre Offenheit hatten so ehrlich gewirkt und Hugo schien schon eine ganze Weile für sie zu arbeiten, also musste ich wohl nicht damit rechnen im Schlaf ausgesaugt zu werden.

Ich musste zugeben, dass Luca Recht hatte: Schon allein wegen Régine hatte es sich gelohnt hierher zu kommen. Ich musste unbedingt mehr über sie herausfinden und in Erfahrung bringen, ob sie wirklich so anders war, als all die anderen Vampire, die ich kennengelernt hatte.

Die Zeit verging schnell, denn ich war erst am späten Nachmittag auf der Burg vorstellig geworden und so war es rasch Zeit zum Abendessen. Pünktlich um fünf Minuten vor 6 Uhr klopfte es an meiner Tür. Ich stand auf und Hugo brachte mich hinunter ins Erdgeschoss in eine Küche mit großzügig geschnittenem angrenzendem Speisezimmer. Die Küche wirkte hochmodern und hatte alles, was sich ein Koch auch nur erträumen konnte. Im Speisezimmer befand sich außer den Bildern an den Wänden nur ein langer Tisch mit acht Stühlen, welche aus dunklem glänzendem Holz gefertigt waren. Bis auf zwei Stühle waren alle Plätze besetzt und als ich den Raum betrat, drehten sich sechs Augenpaare zu mir um und musterten mich.

„Meine Herren und Damen“, begann Hugo in seinem distanzierten Ton, „das ist die neue Gesellschafterin der jungen Herrin, Luna. Luna, dass sind Bernadette, Evangeline und Nicole, die sich um die Sauberkeit der Burg kümmern...“

Ich nickte den drei Frauen ende vierzig oder Anfang fünfzig zu.

„...und das ist Paul, unser Stallmeister...“

Stellte er mir einen überraschend jungen Mann ende zwanzig mit kurzem braunem Haar vor.

„...unsere Haushälterin und Köchin Susette...“

Sie war eine rundliche Frau in den Sechzigern, die ihr graues Haar zu einem festen Knoten im Nacken frisiert hatte.

„...und schließlich Christian, der sich um alles andere kümmert, was anfällt.“

Auch dieser Mann war überraschend jung, trug sein schwarzes Haar ebenso kurz wie Paul und sah ihm auch auf gewisse Weise ähnlich.

„Guten Tag, ich hoffe es macht keine zu großen Umstände, dass ich nur Englisch spreche.“

„Machen sie sich da keine Sorgen“, meinte Hugo, „die junge Herrin hat dafür gesorgt, dass jeder von uns Englisch lernt.“

Ich wandte meinen Blick überrascht Hugo zu, als ich mich setzte.

„Wieso?“

„Sie wollte, dass wir eine Möglichkeit haben uns weiterzubilden, und was wäre dafür besser geeignet, als die Weltsprache zu lernen.“

Da musste ich ihm Recht geben. Ich wandte nun endlich meinen Blick dem Essen vor mir auf dem Tisch zu. Es war ein einfacher Linseneintopf, doch er schmeckte köstlich und verschaffte mir ein wohliges Gefühl in der Magengegend. Während des Essens wurde nicht gesprochen, doch es war kein unangenehmes Schweigen, sondern eher eine stumme Übereinkunft der Stille.

Als nach dem Essen alle aufstanden, kam der Stallmeister Paul auf mich zu.

„Hat dir Régine schon den Tagesablauf für morgen gesagt?“, fragte er mich mit deutlichem Akzent.

„Es gibt einen Tagesablauf?“, fragte ich überrascht.

Paul lachte herzlich.

„Komm mit“, meinte er schlicht und drehte sich einfach um, ohne meine Antwort abzuwarten.

Überrascht und neugierig folgte ich ihm.

„Wohin gehen wir?“, fragte ich, als wir das Haupthaus verließen und durch das Tor in den Zwinger traten.

„Zu den Ställen.“

Bei diesen Worten breitete sich ein Lächeln in meinem Gesicht aus. Ich liebte Pferde, liebte es den Wind in meinen Haaren zu spüren, wenn ich über Felder und Wiesen galoppierte, liebte dieses Gefühl zu fliegen.

„Wie viele Pferde gibt es denn hier?“

Anstatt zu antworten schüttelte Paul nur amüsiert den Kopf.

„Sieh selbst“, meinte er nur, während er das Tor der in der äußeren Mauer befindlichen Ställe öffnete.

Ein vertrauter Duft von Heu und Pferden drang mir in die Nase und vor mir tat sich ein langer Gang auf, an dessen Seiten sich – wie ich nach kurzem Zählen feststellte – 32 Boxen aneinanderreihten.

„Die Ställe sind aber.....groß.“

Wieder lachte Paul.

„Die Familie Ledoux züchtet seit Jahrhunderten Pferde, zuerst für die Jagd, heutzutage für Galopprennen, und das sogar recht erfolgreich. Momentan haben wir 23 Pferde in den Ställen, inklusive der beiden Privatpferde der Ledoux-Geschwister sowie mein eigenes und das meines Bruders.“

„Dein Bruder lebt auch in der Gegend?“

„So etwas in der Art. Christian ist mein Bruder.“

„Oh.“

Mehr fiel mir beim besten Willen nicht ein. Was sollte ich denn davon halten, dass beide Brüder für Vampire arbeiteten?

Etwas stupste mich in den Rücken und vor Schreck fuhr ich herum und begab mich in Kampfhaltung. Anschließend wäre ich vor Scham am liebsten im Boden versunken. Aus großen, treuherzigen braunen Augen blickte mir ein großer Rappe mit Schnippe an. Als es mich erneut mit dem Maul anstupste gab ich meine Kampfhaltung rasch auf und streichelte ihm, noch immer mit Adrenalin durchrauschen Adern, die Stirn.

„Was bist du denn für ein Süßer?“, fragte ich, als ich das Pferd gerade hinter den Ohren kraulte.

„Das ist Coureur en Forêt, kurz Forêt, Régines Hengst.“

„Ein wunderschöner Vollblüter und so zahm“, sagte ich, als der Hengst mit dem Kopf unter meine Jacke schlüpfte, um nach Leckerlis zu suchen.

„Régine würde Forêt mit auf ihr Zimmer nehmen, wenn es ihr Bruder ihr erlauben würde“, meinte Paul lachend.

„Das war übrigens eine interessante Reaktion da gerade eben.“

Etwas in mir versteifte sich, doch ich drehte mich nicht zu Paul um.

„Ich weiß nicht, was du meinst.“

Doch Paul ging gar nicht auf meinen Kommentar ein.

„Mich hat es nur gewundert, dass du Forêt nicht gleich einen Round-House-Kick verpasst hast, aber ich weiß, wo man so eine Reaktionsweise lernt.“

Nun gefror mir doch das Blut in den Adern und ich drehte mich langsam und mit ausdrucksloser Miene zu Paul um.

„Wo?“

Zu mehr als diesem einen kurzen Wort war ich nicht fähig. Alles in mir schrie nach Flucht, doch ich zwang mich zu bleiben.

„Dort, wo ich es gelernt habe: bei den Vampirjägern. Für mich ist diese Zeit schon lange vorbei, auch wenn sie, streng genommen, nie wirklich angefangen hat.“

Er sah meinen verwirrten Gesichtsausdruck und holte weiter aus.

„Am besten erzähle ich dir die ganze Geschichte: Christian und ich hatte ursprünglich noch einen Bruder, Alfréd, doch dieser wurde von einem Vampir getötet, als wir gemeinsam auf einer Reise waren. Aus Trauer und voller Rachegelüste wollten wir uns den Vampirjägern anschließen und durchliefen die ersten körperlichen Test problemlos, doch bei den psychischen Tests wurde Christian und mir schnell klar, dass das Vorgehen der Vampirjäger nicht ganz unseren Vorstellungen entsprach. Wir wollten sofort handeln, also flohen wir, bevor die unsere Erinnerungen löschen konnten. Durch unsere kurze Zeit bei den französischen Vampirjägern hatten wir schnell den Aufenthaltsort der wichtigsten Vampire Frankreichs ausgemacht und, hochmütig wie wir waren, erkoren wir sie als unser Ziel aus. Heute ist uns klar, wie dumm und gefährlich diese ganze Aktion war, besonders, weil wir eigentlich keine Ahnung von Vampiren, geschweige denn der Jagd auf sie, hatten. Und so schlichen Christian und ich eines frühen Morgens über die riesigen Wiesen vor der Burg. Wir erschraken wahnsinnig, als wir das Lachen eines jungen Mädchens hörten und als wir üben den Hügel spähten, Hugo und Régine entdeckten. Sie drehte sich einfach im Kreis und ließ ihr Kleid um sich flattern während sie ihr Gesicht der aufgehenden Sonne entgegenstreckte. Christian bemerkte als erster, dass der Grund, warum sie vor dem grellen Licht die Augen nicht verschloss, der war, dass Régine blind ist. Nun war unsere Verwirrung vollkommen, denn zum einen war uns klar, dass sie ein Vampir sein musste, zum anderen konnten wir aber nicht glauben, dass ein Vampir blind sein konnte. Und dann auch noch die Tatsache, wie besorgt Hugo sich nach ihr umblickte, als müsse er sie beschützen. Danach ging alles sehr schnell. Christian trat auf einen Ast und Pascal, den wir zuvor nicht gesehen hatten, stürzte auf uns zu. Er warf uns beide innerhalb eines Sekundenbruchteils zu Boden und fauchte wie ein wild gewordenes Tier. Nichts schien ihn davon abhalten zu können unsere Kehlen aufzureißen, da hörten wir ein leises Schluchzen.

'S'il te plaît, Pascale ne ils peines pas....Tu fais peur à moi'(Bitte Pascal, tu ihnen nichts...du machst mir Angst), flüsterte sie und die Wildheit wich aus seinen Augen.

Er musterte uns noch einmal eindringlich, dann ließ er uns los und hatte uns innerhalb eines Wimpernschlages entwaffnet. Anschließend brauchte er uns zu Régine, die sich inzwischen auf eine Decke gesetzt hatte.

Lange saßen wir so da und redeten mit ihr, auch wenn das blödsinnig erscheint. Wir hörten ihr zu, sie hörte uns zu und sie weinte um unseren Bruder. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht einmal gewusst, dass Vampire überhaupt weinen können. Durch ihre Hilfe haben Christian und ich eine wichtige Sache gelernt: Genauso wie es gute und schlechte Menschen gibt, so gibt es auch gute und schlechte Vampire und es lohnt sich Ausschau nach den Guten zu halten.“

Paul hatte seine Geschichte beendet und eine Weile herrschte Schweigen.

„Warum hast du mir diese Geschichte erzählt?“

„Ich weiß nicht, warum du hier bist, aber ich möchte, dass dir eins klar ist: Régine ist ein gutes Wesen. Du hast dir wahrscheinlich die ganze Sache bisher nur von einer Seite angesehen, also egal weswegen du hier bist, nutze deine Zeit hier, um dein Wissen zu erweitern, bevor du etwas tust, das du später vielleicht bereust.“

Ich wollte schon etwas Schnippisches erwidern, doch als ich seinen ernsten Blick sah überlegte ich es mir noch einmal und nickte.

„Ich verspreche dir, ich werde Régine erst einmal kennenlernen.“

 

Kapitel 31 – Temüdschin und Heirat

Dass mich Paul so schnell erkannt hatte gab mir zu denken. War ich zu unvorsichtig gewesen oder stand das ganze Vorhaben einfach unter einem schlechten Stern? Doch mein Gefühl sagte mir, dass mir nichts zustoßen würde solange ich niemanden bedrohte. Oder ich Pascal begegnete. Aus Pauls Geschichte schloss ich, dass er nicht besonders lange zögern würde, wenn er von den eigentlichen Beweggründen meines Aufenthalts hier erfuhr.

Ein schneller Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon viertel vor zehn war und so legte ich die Bürste, mit der ich mir gerade noch die Haare gekämmt hatte, beiseite und lief zu Régines Salon. Ich klopfte kurz und trat dann ein. Sie stand vor dem Fenster, trug ein langärmliges tannengrünes Wollkleid mit Rollkragen, hatte ihr langes blondes Haar zu einem hohen Pferdeschwanz zurückgekämmt und sah mit ihren blicklosen Augen hinaus.

„Guten Morgen Régine“, meinte ich vorsichtig und trat neben sie.

„Salut Luna.“

Eine Weile herrschte Schweigen.

„Warum stehst du vor dem Fenster?“

„Ich spüre gerne die Sonne auf meiner Haut, auch wenn es ein bisschen weh tut.“

„Das Sonnenlicht schmerzt dich?“, fragte ich überrascht.

„Ich würde nicht Schmerz sagen, aber es ist schon unangenehm.“

Sie wandte mir ihr Gesicht zu und lächelte.

„Manche der Legenden um uns sind nicht ganz grundlos entstanden.“

„Weißt du auch, warum sich Sonnenlicht für dich unangenehm anfühlt?“, fragte ich neugierig geworden.

„Nein“, meinte sie entschuldigend, „aber es hat nichts mit der UV-Strahlung zu tun, das haben wir ausprobiert. Nur die echte Sonne weckt in uns das Gefühl aus ihrem Licht verschwinden zu müssen.“

„Das ist wirklich komisch“, meinte ich, nachdem ich eine Weile nachgedacht hatte.

Régine zuckte mit den Schultern.

„Schlimmer wäre es, wenn wir, wie in den Legenden, gar nicht mehr in die Sonne treten könnten.“

„Das wäre eine wirkliche Strafe.“

„Ich finde es immer schlimm, wenn mein Dasein in Extremen dargestellt wird. Entweder als seelenlose Monster oder als scheinende, übermenschliche Wesen. Wir haben unsere guten und unsere schlechten Seiten, genau wie die Menschen.“

Nun waren wir bei einem heiklen Thema angekommen. Ich war mir nicht sicher inwieweit ich meine wahre Meinung kundtun konnte. Ein Blick in Régines blinde Augen gab mir die Antwort.

„Leider kommt es mir so vor, dass viele von euch nach ersterem geradezu streben.“

Ein trauriger Ausdruck breitete sich auf Régines Gesicht aus.

„Das ist leider nur zu wahr. Sie werden es oft, weil sie sich für letzteres halten und einige wenige, weil sie einfach ein grausames und brutales Wesen haben.“

Das so jung wirkende kleine Mädchen überraschte mich, sie war wirklich eine außergewöhnliche Persönlichkeit.

„Mir gefällt, dass du nicht versuchst alle deinesgleichen in Schutz zu nehmen.“

„Das bringt niemandem etwas, wieso sollte ich es also tun?“

Das brachte mich zum Lächeln.

„Da hast du auch wieder Recht. Bis heute war ich mir übrigens nicht einmal sicher, ob du überhaupt schläfst.“

„Ich habe einen Organismus, auch wenn er vollkommen anders funktioniert, als der eines Menschen, aber er muss sich genauso erholen, doch kann ich viel länger wach bleiben, wenn ich es sein muss.“

„Wie lang kannst du denn wach bleiben?“

„Ich habe die Grenze noch nie erreicht, aber meine längste Wachphase war auch nie mehr, als ein paar Tage. Von jüngeren Vampiren, die es ausprobiert haben, habe ich mir sagen lassen, dass es sich anfühlt, als ob man reines Koffein zum wach bleiben genommen hätte. Man wäre zwar müde, könne aber auch nicht schlafen.“

„Das hört sich nicht besonders angenehm an. Was war der Grund für deine mehrtägigen Wachphasen?“

„Die Inquisition.“

„Hat man dich etwa gefoltert?“, fragte ich entsetzt, doch Régine schüttelte den Kopf.

„So weit haben es meine Brüder nicht kommen lassen. Als die Leute anfingen hinter unserem Rücken über uns zu reden sind sie mit mir in den Osten geflohen.“

„Das hört sich auch nicht besonders schön an.“

Ein kleines verträumtes Lächeln stahl sich auf Régines Lippen.

„Es war eine der schönsten Zeiten meines Lebens.“

„Erzähl davon“, bat ich sie, als sie nicht von alleine weitersprach.

„Ich lernte den brutalsten, skrupellosesten und gleichzeitig weisesten und vorausschauendsten Menschen dieser Zeit kennen: Temüdschin, besser bekannt als Dschingis Khan. Wie der Zufall es so wollte war es gerade mitten in der Nacht, als wir, drei in Kapuzenmänteln vermummte Gestalten, in sein Heerlager ein ritten. Malo war es, der die Krieger dazu brachte uns in Temüdschins Zelt vorzulassen. Als wir es betraten, spürte ich sofort, dass er merkte, dass wir nicht menschlich waren. Er nannte uns 'bleiche Schatten' und 'Boten des Todes', doch aufgrund seiner Neugier erlaubte er uns zu bleiben, solange wir seine Krieger unbeschadet ließen, denn jedes Vergießen von Blut bedeutete für ihn Krieg. Fast drei Jahrzehnte reisten wir mit ihm und seinem Heer und meine Brüder kämpften an der Seite seiner Krieger. An den Abenden saßen wir gemeinsam um Feuer oder in Temüdschins Zelt und ich erzählte ihm Geschichten aus meinem Leben, von fremden Völkern und Kulturen. Auch seinen Söhnen erzählte ich diese Geschichten und ich bin bis heute davon überzeugt, dass sie der Grund für ihren Vorstoß nach Westen waren.

Auch Temüdschin verwunderte meine Blindheit und bei jedem Volk, das wir überrannten, ließ er den berühmtesten Heiler am Leben, damit er sich meine Augen ansah. Für ihn war ich schnell zu einer Tochter, jemand, den er beschützen musste, geworden und ich war sehr glücklich in dieser Zeit, auch wenn der Mensch, der so wunderbar zu mir war, riesige Menschenmassen einfach abschlachten ließ. Mehr als einmal fragte ich ihn nach dem warum und jedes Mal erhielt ich die gleiche Antwort: Entweder er tötete sie und verschaffte sich damit Respekt, oder man würde ihn und sein Volk für schwach halten und sie töten.

So absurd und extrem es klingt, er meinte es ernst und sein Herz war beseelt von dem Gedanken sein Volk zu schützen und groß zu machen; er wollte nur das Beste für es. Eines Abends, als er schon sehr alt war, gestand er mir, dass er mich gerne an der Seite seines ältesten Sohnes gesehen hätte, wenn ich sterblich gewesen wäre, denn mit einer Frau wie mir an seiner Seite, so meinte er, hätte sein Volk eine blühende Zeit vor sich gehabt. Ich war gerührt wie viel er von mir hielt, doch es beruhte auf Gegenseitigkeit. Mehr als einmal boten wir ihm an, ihn zu einem von uns zu machen, doch jedes Mal lehnte er ab, nie fragte ich ihn warum. Als er schließlich auf dem Sterbebett lag, war ich bei ihm und flehte ihn ein letztes Mal unter Tränen an mir zu erlauben ihn zu einem von uns zu machen. Er jedoch wischte nur mit zittriger Hand meine Tränen fort und meinte, dass es nicht das Richtige für ihn sei. Noch immer schluchzend fragte ich ihn doch endlich nach dem Warum, und so, am Tag seines Todes, sagte er mir endlich den Grund: 'Régine, mein Reich blüht und gedeiht, meine Söhne sind erwachsen, ich habe sie zu guten Kriegern und du sie zu weisen Männern erzogen. Ich habe alles in meinem Leben erreicht, das ich wollte. Wieso sollte ich weiterleben wollen und meine Söhne und deren sterben und mein Reich zerfallen sehen?'

Mit diesen Worten starb der größte Mensch, den ich je kennengelernt hatte.“

Eine einzelne Träne rann Régine die Wange hinab und sie wischte sie mit einer schnellen Handbewegung fort. Sie hatte diesen Mann wirklich wie einen Vater geliebt. Sie hatte mich tief in ihr Herz schauen lassen und mir ihren Schmerz offenbart und so tat ich etwas, von dem ich nie geahnt hätte, dass ich es tun würde: Ich umarmte einen Vampir.

Ich wusste, dass es unsagbar dämlich war einen Vampir in eine so vorteilhafte Position in der Nähe meines Halses zu bringen, doch irgendwie glaubte ich nicht, dass Régine mir etwas tun würde. Sie war der menschlichste Vampir, der mir je begegnet war und das einzige, was sie im Moment von mir wollte, war Trost.

So wiegte ich das zierliche Mädchen in meinen Armen während ihre Tränen meinen Pullover tränkten. Es erschien mir eine kleine Ewigkeit zu dauern, bis Régines Tränen versiegten und sie sich vorsichtig aus meiner Umarmung löste.

„Es tut mir leid“, schniefte sie, „dass du mich gleich am ersten Tag so erleben musst.“

„Wenn, dann muss ich mich entschuldigen, ich hätte dich nicht fragen dürfen.“

„Aber es ist schon über 700 Jahre her, dass er gestorben ist. Langsam sollte ich aufhören so emotional darauf zu reagieren.“

„Régine, er war wie ein Vater für dich und den Tod der Eltern überwindet man nie ganz.“

Sie lächelte schwach.

„Vielleicht hast du recht“, meinte sie mit ihren geröteten Augen, „Wie schaffst du es eigentlich?“

„Gar nicht, mir geht es da genau wie dir. Die meiste Zeit scheint alles gut, doch dann gibt es Momente, wo ich zusammenbreche.“

„Lass uns ein wenig draußen spazieren gehen“, wechselte Régine das Thema.

„Das ist eine gute Idee.“

Gemeinsam verließen wir den Salon und ich beobachtete die ganze Zeit neugierig Régine, wie sie den Weg mit ihrer Blindheit bewältigte: Man merkte, dass ihr die Burg vertraut war, denn den ganzen Weg zögerte sie bei keinem einzigen Schritt, keiner einzigen Handbewegung. Selbst als wir im Innenhof waren fiel sie über keinen einzigen hervorragenden Stein. Wir verließen die Burg nicht sondern setzten uns noch im Innenhof auf eine Bank.

„Erinnerst du dich eigentlich noch an deine Zeit als Mensch?“, fragte ich Régine, nachdem wir eine Weile schweigend dagesessen hatten.

„Nicht so klar wie meine jetzigen Erinnerungen, aber an die wichtigen Dinge erinnere ich mich noch, ja.“

„Erzähl mir davon“, bat ich sie zum zweiten Mal an diesem Morgen.

„Ich wurde zu Beginn des Mittelalters Ende des 6. Jahrhunderts geboren. Ich war das Jüngste von 7 Kindern, doch drei davon erreichten nie das Erwachsenenalter. Als reiche Adelsfamilie hatte man es in dieser Zeit sehr gut, auch wenn mich meine Eltern wegen meiner Blindheit nicht einmal aus dem Haupthaus ließen aus Furcht, ich könnte mich verletzen. Nur an den Sonntagen durfte ich mit ihnen in die Burgkapelle zum Gottesdienst. Man hat mir erzählt, dass meine Mutter, die Tochter des Anführers einer der letzten Keltenstämme, als eine der schönsten Frauen dieser Zeit galt und ihr Stamm es nur ihr und ihrer Heirat zu verdanken hatte, dass sie am Leben blieben. Ich war die einzige Tochter, die sie gebar und als ich heranwuchs, erzählte mir meine Mutter, dass ich ihr jeden Tag ähnlicher sähe. So kam es, dass schon die ersten Lehnsherren um meine Hand anhielten, als ich zwölf Jahre alt war, was zu dieser Zeit nicht so ungewöhnlich war, doch als ihre blinde Tochter, die immer bei ihr war und mit der sie sich auf ihrer Muttersprache unterhalten konnte, ließ mich meine Mutter nicht sofort gehen.

Ein Jahr lag sagte sie meinem Vater, dass keiner dieser Männer gut genug für mich war, doch dann starb sie an einer Lungenentzündung. Mein Vater verfiel in tiefe Trauer und auch wenn er sich sichtlich selbst dafür hasste, so konnte er mich nicht um sich haben, weil ich ihr so ähnlich sah. So geschah es, dass er sich einen reichen deutschen Fürsten mit französischer Abstammung heraussuchte, der nicht allzu alt war, und ich im Alter von ca. 13 Jahren vermählt wurde. Ich zog zu ihm auf seine Burg, die im Gebiet der heutigen deutsch-französischen Grenze liegt, und machte mir eigentlich wenige Sorgen, weil mein Vater diesen Mann weise ausgesucht hatte. Doch eines hatte mein Vater nicht gewusst: dass mein Gemahl kein Mensch gewesen ist.“

 

Kapitel 32 – 1426

„Hat er dich verwandelt?“, fragte ich überrascht und Régine schüttelte den Kopf.

„Bei unserer Heirat stand er erst kurz nach seiner Verwandlung und hatte nur wenig Kontrolle über seinen Durst. Die Feierlichkeiten hielt er ganz gut durch, doch in der Hochzeitsnacht fiel er über mich her. Meine drei Brüder hörten meine Schreie und eilten mir zur Hilfe. Mein Bruder Iodoc durchbohrte meinen Gemahl Looïs mit seinem Schwert und riss ihn von mir herunter, doch Looïs hatte mich schon sehr schwer verletzt: Er hatte mir aus Blutdurst einfach die Kehle aufgerissen. Der schnell herbeigerufene Arzt weigerte sich mich zu berühren, doch eine der Mägde hatte Mitleid mit mir. Sie nahm sich Malo zur Seite und erzählte ihm von einem weiteren Fürsten, der nur wenige Stunden zu Pferd entfernt lebte, und der genauso ein Wesen sei, wie es Looïs gewesen war. In diesem Moment mussten meine Brüder feststellen, dass Looïs noch nicht tot war. Er riss die Person, die ihm am nächsten stand, zu sich auf den Boden und saugte sie aus, bevor jemand etwas tun konnte. Daraufhin schlug Pascal ihm den Kopf ab, aber für Iodoc war es zu spät, er starb mit nur zwanzig Jahren und hinterließ eine Frau und drei Kinder. Ich selbst musste das Spektakel zum Glück nicht miterleben, vom Blutverlust war ich schon bewusstlos geworden. Meine Brüder brachten mich zu dem Fürsten Oswald, der wirklich ein Vampir war, und sie trafen eine Vereinbarung mit ihm: Er würde mich herüberholen, wenn er auch meine Brüder herüberholen könne und sie ihm ewige Treue und Gefolgschaft schworen. So kam es, dass Pascal im Alter von 25, Malo mit 22 und ich mit 13 Jahren nie wieder einen Tag älter wurden.“

Eine Weile herrschte Schweigen.

„Du hast soviel Schreckliches in deinem Leben ertragen müssen.“

„Auch Iodoc vermisse ich jeden Tag und seit Malo tot ist sehe ich auch Pascal so gut wie nicht mehr, weil er immer im Auftrag von Oswald unterwegs ist. Vor Malos Tod haben sie sich immer abgewechselt, damit jemand bei mir war, doch vor drei Jahren verstarb leider auch er.“

Mir fiel auf, dass sie weder erwähnte, dass er ermordet worden war, noch, dass es durch die Hand eines Vampirjägers geschehen war, obwohl sie es wissen musste, da sie ja da gewesen und selbst verletzt worden war.

„Das tut mir so Leid Régine.“

„Ich hatte ihn so viel länger als es uns in einem menschlichen Leben vergönnt gewesen wäre.“

Dieses Mädchen war einfach unglaublich. Ich an ihrer Stelle hätte die Dinge ganz anders gesehen.

„Wie alt bist du eigentlich?“

„Mein jetziges Dasein friste ich seit 1426 Jahren.“

„Das ist eine lange Zeit“, stellte ich beeindruckt und leicht geschockt fest.

„Die Zeit verfliegt, das kannst du mir glauben. Es war oft sehr schwer mit dem Fortschritt mitzuhalten und nicht einfach auf die alten Gewohnheiten zu verharren. Das merkt man besonders an der Einrichtung der Burg. Es ist einfach schwer Kindheitserinnerungen wegzuwerfen und wenn man wie ich ewig Kind ist, wird es noch schwerer“, scherzte Régine und ich lachte.

„Eine weitere Sache ist die Kleidung. Zwar fand ich die vielen Unterröcke schon immer anstrengend, aber ich kann nicht verhindern, dass ich mich bis heute ohne sie ein wenig nackt fühle.“

„Wer kauft eigentlich deine Kleidung?“

„In der Regel bringt mir Pascal immer etwas von seinen Reisen mit, aber manchmal bringen mit auch Bernadette, Evangeline oder Nicole etwas mit.“

„Du trägst sehr viel grün.“

„Es hört sich vielleicht dumm an, aber es ist meine Lieblingsfarbe.“

„Warum?“, fragte ich überrascht.

„Weil es die Farbe der Wiesen und der Wälder, die Farbe der Natur ist. Die Farbe des Ortes, wo ich am glücklichsten bin und den ich doch nie sehen werde.“

„Ich finde das gar nicht dumm. Ich finde sogar, es ist eine schöne Art zu denken.“

„Es ist gut zu hören, dass jemand es genauso sieht wie ich.“

„Wer sieht es denn so anders?“, fragte ich leicht empört.

„Pascal rastete aus, als wir nach meiner Verwandlung feststellten, dass ich immer noch blind war und ich kann dir nur sagen, dass wenn jemand, der erst so kurz zuvor Verwandelt wurde, ausrastet, viel Schaden angerichtet werden kann.“

„Ich verstehe ehrlich nicht, warum er so extrem ausgerastet ist“, meinte ich kopfschüttelnd.

„Dadurch, dass mein Körper so stark beschädigt war, musste Oswald mich heilen. Jedoch war ich noch zum größten Teil Mensch, was bedeutete, dass jede Stelle, die geheilt werden musste, sich anfühlte, als würde mir ätzende Säure darüber gegossen. Sogar Oswald war sich nicht sicher, ob es für meine Verwandlung nicht vielleicht schon zu spät gewesen war. Also schoben meine Brüder ihre Schmerzen aus Sorge um mich zur Seite und Pascal hielt mich in dieser Welt fest, indem er mir erzählte, was ich alles endlich würde sehen können, wenn ich die Verwandlung einmal hinter mir gelassen hatte.“

Eine Weile herrschte Schweigen, während Régine ihren eigenen Gedanken nachhing.

„Wie kommt es, dass du nicht vollkommen verbittert bist?“, durchbrach ich schließlich die Stille.

Régine legte überlegend den Kopf schief.

„Als ich nach der Verwandlung zum ersten Mal die Augen aufschlug und wieder nur in die altbekannte Schwärze blickte war ich sehr traurig. Ich musste es Pascal und Malo nicht einmal sagen, sie sahen, dass meine Augen noch immer trüb waren. Ich wollte weinen, doch dann hörte ich, wie Pascal seine Contenance verlor. Ich sprang auf und eilte ohne nachzudenken auf ihn zu. Das war der Moment, als ich merkte, dass mir die Verwandlung vielleicht kein Augenlicht geschenkt hatte, aber mir doch etwas von der Dunkelheit genommen hatte, wenn du verstehst, was ich meine. Ich war in der Lage meinen Bruder in einem mir unbekannten Raum zu finden! Das war mehr, als ich je in meinem ganzen Leben gekonnt hatte und ab diesem Moment war ich einfach nur noch glücklich, ich meine, ich habe noch nie in meinem ganzen Dasein etwas gesehen, ich kann es mir nicht vorstellen und deshalb fehlt es mir auch nicht wirklich.“

Etwas fassungslos schüttelte ich den Kopf.

„Du warst mit deinen 13 Jahren schon viel erwachsener, wie es manche Menschen in ihrem ganzen Leben nicht werden.“

„Damals war es eine andere Zeit, ich war eine Erwachsene.“

„Aber sag mir ehrlich: Waren die anderen auch so ruhig, vorausschauend und verzeihend?“

Sie antwortete nicht sofort und ich merkte, wie unangenehm es ihr war etwas Schlechtes über andere zu sagen.

„Nein, nicht wirklich“, brachte sie schließlich hervor.

„Gäbe es nur so ehrliche und gute Menschen wie dich.“

„Aber die gibt es doch.“

Ich lachte bitter.

„Ach ja? Ich habe noch keinen getroffen.“

„Ich halte dich für einen ehrlichen und guten Menschen.“

Überrascht wandte ich ihr mein Gesicht wieder zu.

„Aber du kennst mich doch kaum.“

Régine zuckte mit den Schultern.

„Wenn man eines über die Jahrhunderte lernt, dann Menschen einzuschätzen. Du hast ein gutes Herz, auch wenn du von Trauer und Schmerz gekennzeichnet scheinst. Du musst nur einen Weg finden diese Emotionen zu verarbeiten und gehen zu lassen.“

Einen Moment überlegte ich noch und hielt meine Schutzwälle aufrecht, dann brach ich zusammen.

„Was, wenn ich nicht kann?“

„Es ist ganz einfach: Es gibt immer einen Moment, der die Quelle für die Trauer und den Schmerz ist. Dann musst du für dich herausfinden, wem du die Schuld daran gibst und dieser Person vergeben.“

„Was, wenn ich selbst diese Person bin?“, fragte ich mit kaum hörbarer Stimme und gesenktem Kopf.

Ich fühlte wie Régine mir vorsichtig eine Hand auf die Schulter legte.

„Was geschehen ist, ist geschehen. Jedem gibt man eine zweite Chance, nur sich selbst nicht, und das ist falsch. Vergib dir für die Vergangenheit, an der du nichts mehr ändern kannst.“

„Aber das ist nicht so leicht.“

„Es braucht seine Zeit. Sag dir jeden Tag, dass du dir selbst vergibst und eines Tages wirst du es auch wirklich meinen. Eines Tages wirst du dich nicht mehr irrational gegen die Argumente wehren und dir verzeihen.“

„Ich wünschte, ich könnte das glauben.“

„Dann tu es“, meinte Régine schlicht, „es liegt ganz bei dir.“

Mit einem schwachen Lächeln schüttelte ich den Kopf.

„Versteh mich jetzt nicht falsch, aber du bist überhaupt nicht wie die anderen deiner Art.“

Régine lachte.

„Da du es als Kompliment gemeint hast, sag ich danke. Es stimmt wirklich, dass die meisten sich im sozialen Feld zurückentwickelt haben und nun vollkommen auf Darwins 'Überleben des Angepasstesten' beschränkt sind und das tut mir im Herzen weh. Ich kann nur hoffen, dass sie eines Tages begreifen, dass das reine Idiotie ist.“

„Wie sieht dein Bruder eigentlich die ganze Sache?“, fragte ich vorsichtig.

Régine zögerte einen Moment, bevor sie mir antwortete.

„Bei Pascal ist die Sache nicht so einfach. Er erlaubt sich keine eigene Sicht der Dinge, weil er als Oswalds Diener dessen Ansicht vertreten und ausführen muss.“

„Ausführen?“, hakte ich nach.

„Meine Welt unterliegt sehr strengen Gesetzen und auf den Bruch dieser gibt es eigentlich nur eine Strafe: den endgültigen Tod.“

„Das klingt....hart.“

„Das ist es auch und um zu vergewissern, dass auch alle neu Gewandelten rechtens unterrichtet werden, steht auf einen Gesetzesbruch von ihnen dieselbe Strafe für ihren Schöpfer.“

Überrascht sog ich die Luft ein.

„Das ist grausam und genial.“

„Dieses Gesetz gilt nur die ersten 200 Jahre nach der Erschaffung, danach ist man für sich selbst verantwortlich.“

„Um zurück auf unser vorheriges Thema zu kommen: Oswald achtet also, dass die Gesetze eingehalten werden und wenn das einmal nicht der Fall sein sollte, schickt er deinen Bruder los?“

Régine nickte.

„Oswald sichert die Einhaltung der Gesetze in Westeuropa seit Jahrtausenden. Nicht einmal ich weiß, wie alt er eigentlich ist.“

„Ihr scheint alle so alt.“

„Das kommt dir nur so vor. Bevor man noch keine 200 Jahre dieses Dasein fristet, wird man nicht einmal als vollwertig anerkannt. Zum einen, weil sie noch so etwas wie Kinder sind. Zum anderen, weil einfach sehr viele bis zu diesem Zeitpunkt hin getötet werden, weil sie einfach nicht vorsichtig oder vorausschauend genug sind. Und außerdem sind unsere Strukturen an den Ältesten ausgerichtet, logischerweise, weil diese sie aufgebaut haben.“

„Wer ist eigentlich für Osteuropa zuständig?“, fragte ich neugierig.

„Für Osteuropa und Russland ist Constantin zuständig. Ich habe ihn nur ein einziges Mal getroffen und das ist nun auch schon über 200 Jahre her. Er besuchte mich auf der Burg, als Pascal und Malo gerade beide nicht da waren. Ich war in meinem Salon und webte einen Teppich. Niemand kündigte ihn an, ich hörte ihn nicht hereinkommen und doch wusste ich, dass jemand meinen Salon betreten hatte. Ich spürte seine Präsenz, eine Gabe, die Meinesgleichen im Alter bekommt. Doch ich ließ mir nichts anmerken und webte einfach weiter. Ich webte, bis mir das Garn ausging. Dann streckte ich die Hand Richtung Tür aus und forderte die dort stehende Person damit auf, mir einen weiteren Knäuel zu reichen. Als Antwort bekam ich nur ein leises Lachen.

'Wenn ihr schon so unhöflich seid und ohne euch bemerkbar zu machen meinen Salon betretet, könntet ihr mir wenigstens die Güte erweisen mir ein weiteres Knäuel zu reichen und euch endlich vorzustellen und mir euer Begehr zu verraten', machte ich mich bemerkbar.

'Mein Name ist Constantin', stellte er sich vor, 'und ich bin gekommen, um Oswalds meistgeliebtes Geschöpf zu betrachten und herauszufinden, warum er euch schon seit über einem Jahrtausend versteckt.'

 

Kapitel 33 – Lucas Auftrag

'Wenn ihr Oswald sucht, so werdet ihr ihn hier nicht finden, also geht', meinte ich mit ruhiger Stimme und doch voll Angst vor dem Fremden, dessen Name ich schon mehr als einmal voll Furcht von meinen Brüdern in den Mund genommen gehört hatte.

'Seid ihr etwa blind?', fragte er mich, ohne auf meine Bitte einzugehen, 'Ich hätte das nicht für möglich gehalten. Ihr seid wirklich ein außergewöhnliches Geschöpf. Unterscheidet ihr euch noch in anderen Dingen vom Rest von uns?'

'Geht', forderte ich ihn erneut und nun mit einem deutlichen Zittern in der Stimme auf.

'Es ist zu schade, dass ihr schon in so jungen Jahren verwandelt wurdet. Ihr wärt zur größten Schönheit Unseresgleichen herangewachsen, das kann ich euch versichern.'

'Verlasst meine Burg', forderte ich ihn erneut mit zitternder Stimme auf und dieses Mal schien er mich endlich zu hören.

'Aber warum? Ich habe euch doch nichts angetan?', fragte er mit ernsthaft gekränkt scheinendem Ton.

'Ihr seid in meine Burg ohne Erlaubnis eingedrungen, zu einem Zeitpunkt, an dem meine Brüder nicht anwesend sind und steht nun in meinem persönlichen Salon. Zudem seid ihr mir auch noch vollkommen fremd und deshalb fordere ich sie erneut dazu auf sofort zu gehen.'

Noch einmal lachte er.

'Es war mir ein Privileg euch endlich kennenlernen zu dürfen.'

Nach diesen Worten war er verschwunden und ich sah ihn nie wieder.“

„Und wie haben deine Brüder darauf reagiert, als du es ihnen erzählt hast?“, fragte ich mit einer Gänsehaut, die mir diese Geschichte verpasst hatte.

„Wir ritten umgehend zurück zu Oswald, damit er Constantin zur Rede stellen konnte“, antwortete eine tiefe Männerstimme hinter mir und ich fuhr überrascht herum.

Dort stand ein ca. 1,80m großer Mann in einem schwarzen Anzug mit einem schwarzen Hemd, das einen starken Kontrast zu seiner hellen Haut bildete. Sein Gesicht wies ihn deutlich als Régines Bruder aus, denn seine Züge waren von derselben Perfektion und sein Haar von demselben blond. Doch seine blauen Augen waren nicht gezeichnet von Blindheit und sie musterten mich scharf.

„Sie müssen die neue Gesellschafterin meiner Schwester sein“, stellte er fest.

Weder stellte er sich mir vor noch reichte er mir die Hand. Régine neben mir jedoch war aufgesprungen und warf sich dem Mann vor mir ohne zu zögern in die Arme.

„Pascal, j'avais ressenti l'absence de toi.“

Vorsichtig, als könne sie zerbrechen, schloss auch Pascal die Arme um seine Schwester.

„Moi toi aussi sœurette.“

Er strich ihr kurz über die Haare bevor er sich vorsichtig aus der Umarmung befreite.

„Frère, das ist Luna“, stellte mich Régine ihrem Bruder vor, „du wirst sie mögen.“

Von der Ausdruckslosigkeit in seinem Gesicht her erinnerte er mich sehr an Constantin. Nur für einen kurzen Moment, als er Régine in seine Arme geschlossen hatte, hatte er überhaupt ein wenig menschlich gewirkt.

„Ich habe dir ein neues Kleid mitgebracht“, überging er Régines Erwähnung von mir.

Doch Régine ließ sich nicht ablenken.

„Luna, wie du dir sicher schon gedacht hast, das ist mein Bruder Pascal.“

Nun nickte er mir doch kurz zu und ich erwiderte es.

„Weiß Hugo eigentlich schon, dass du da bist?“, fragte Régine aufgekratzt, was mich bei ihr doch überraschte.

„Nein“, meinte Pascal kurz und bevor er noch etwas sagen konnte, war Régine auch schon lächelnd in Richtung Haupthaus davon geeilt.

Nun saß ich dem stoischen Vampir, der mich mit scharfem Blick weiterhin musterte, allein gegenüber.

„Meine Schwester ist sehr vertrauensselig und davon überzeugt, dass jeder eine gute Seite in sich hat“, brach Pascal das Schweigen, „ich glaube das nicht.“

Rums, das hatte gesessen. Ich war nicht dumm und erkannte eine offene Drohung, wenn sie mir gegenüber ausgesprochen wurde.

„Da muss ich ihnen Recht geben“, riss ich mich schnell zusammen.

„Dann ist ihnen sicher auch bewusst, dass wenn sie meiner Schwester auch nur ein Haar krümmen sie die Sonne nie wieder aufgehen sehen.“

„Nichts anderes hatte ich erwartet.“

Pascal nickte.

„Ich kann sie gut leiden, verwechseln sie das aber nicht mit Vertrauen, das wäre ein dummer Fehler.“

„Sehe ich etwa aus wie ein dummer Mensch?“, fragte ich, um sein Verhalten auszutesten.

„Ihrem Aussehen nach sind sie wie alt? Anfang zwanzig würde ich sagen. Sie sind ein Kind und Kinder machen nun einmal oft dumme Fehler“, meinte er mit einem vollkommen ausdruckslosem Blick, der mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

„Darf ich ihnen eine Frage stellen?“

„Sie dürfen, aber ich werde mir die Möglichkeit vorbehalten nicht zu antworten.“

„Sind sie jemals persönlich auf Constantin getroffen?“

„Ja.“

„Würden sie mir davon erzählen?“

„Warum nicht. Es war nachdem er meine Schwester aufgesucht hatte. Oswald hatte mir und Malo schnell klar gemacht, dass er sich in diese Angelegenheit nicht einmischen dürfe, doch er war noch erzürnter als wir über Constantins unangemeldetes Erscheinen auf der Burg. Also schickte er Malo und mich zu Constantin, um die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Ich hatte noch nie so viele Meinesgleichen gesehen als in Constantins Residenz, denn Oswald bevorzugt es seinen Staat klein und von einander getrennt zu halten. Constantin ließ uns einige Tage warten, bevor er uns zur Audienz vor ließ. Wir durften das Anwesen nicht betreten sondern hatten zur Krönung unserer Demütigung auch noch davor zu warten, während der nicht aufhören zu wollende Regen auf uns niederprasselte.“

Pascal schwieg für einen Moment und ich konnte beobachten, wie seine Hände in dem Bedürfnis auf den nicht anwesenden Constantin einzuschlagen zusammenzuckten.

„Nachdem wir nach einer Woche noch immer an derselben Stelle standen kam Constantin schließlich zu uns heraus. Er musterte uns eine ganz Weile schweigend und auch wenn er sich nicht vorstellte war es ohne Zweifel er. Schließlich sagte er ein einziges Wort: 'Geht.'

Dann verschwand er im Inneren der Residenz und ich habe ihn seither nie wieder gesehen“, beendete Pascal seine Erzählung.

„Sein Verhalten scheint mir.....bizarr.“

„Constantin ist sehr alt. Er tut viele Dinge, die dem Rest von uns unverständlich erscheinen, aber eins dürfen sie mir glauben, einen Grund hat er immer und in diesem Fall war es meinen Bruder und mich zu demütigen.“

„Sie scheinen ihn nicht besonders zu mögen“, stellte ich mit schräg gelegtem Kopf fest.

„Auch mit einem unendlichen Leben haben meine Geduld und mein Gleichmut seine Grenzen.“

„Régine bedeutet ihnen alles, hab ich Recht?“

Sein starrer Blick richtete sich erneut auf mich als wollte er mich damit durchbohren.

„Sie sind ziemlich vorlaut dafür, dass sie einem Meinesgleichen gegenüber sitzen, von dem sie keine Ahnung haben, wie er auf solch vorlaute Worte reagieren wird.“

Obwohl seine Worte meinen Fluchtinstinkt mehr als überstrapazierten zwang ich mich dazu ihm weiterhin fest in die Augen zu Blicken. Ich wusste, dass ich mit dem Feuer spielte, aber auf irgendeine masochistisch-krankhafte Art und Weiße genoss ich diesen Nervenkitzel.

„Haben sie so dringend das Bedürfnis zu sterben?“

„Bloß weil ich ein paar Fragen stelle?“

„Sie haben wirklich Glück, dass ich sie gut leiden kann“, meinte er kopfschüttelnd.

„Was ist denn daran so schlimm zuzugeben, dass ihnen ihre Schwester wichtig ist?“

„Weil er dann zugeben müsste, dass er Gefühle hat“, meinte Régines Stimme plötzlich lachend hinter uns und Pascal und ich drehten uns überrascht um.

Das, was mich an dieser Situation aber am meisten überraschte, war, dass Pascal sie nicht hatte kommen hören und ihm ging es anscheinend dabei genauso.

„Es tut mir leid Luna, aber wie du sicher gemerkt hast ist es mit meinem Bruder nicht immer ganz leicht“, meinte sie mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen, „aber wenn ihr erst einmal ein Thema gefunden habt, über das ihr euch seiner Meinung nach gefahrlos unterhalten könnt, dann werdet ihr euch prächtig verstehen.“

„Dann sollte ich wohl eine Checkliste oder etwas dergleichen führen, nicht war?“, meinte ich mit einem sarkastischen Unterton.

Régine lachte schallend auf und griff nach dem Arm ihres Bruders.

„Wieso bin ich nicht schon vor tausend Jahren auf diese Idee gekommen?“, brachte sie zwischen zwei Lachern hervor.

Es dauerte einige Momente bis sich Régine wieder vollkommen beruhigt hatte.

„Aber bis auf weiteres könntest du dich mit ihm über unsere Pferde unterhalten“, sagte sie, drückte ihrem Bruder einen Kuss auf die Wange und lief zielstrebig zurück zum Haupthaus.

Einen Moment blickte ich ihr einfach verdutzt hinterher.

„Was war das denn?“, fragte ich schließlich Pascal.

„Das was Régines Art uns klarzumachen, dass sie möchte, dass wir uns vertragen.“

„Hat sie denn keine Angst, dass sie mir etwas antun könnten?“, fragte ich blödsinnigerweise und Pascal sah mich mit einem nachsichtigen Lächeln auf den Lippen an.

„Hätte sie gemerkt, dass ich sie nicht leiden könnte, dann wäre sie ihnen nicht mehr von der Seite gewichen.“

„Ich schätze mal, das ist etwas gutes, nicht?“

Pascals Lächeln wurde breiter.

„Meine endgültige Meinung über sie habe ich aber auch noch nicht getroffen.“

An mir sträubte sich alles und in diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher herbei als meinen wunderschönen scharfen Titanpflock, aber der befand sich sicher in Lucas Verwahrung.

„Pascal!“, hörten wir warnend Régines glockenklare Stimme leise vom Haupthaus herüber wehen und ohne dass ich es wollte entspannte ich mich ein wenig, was mir einen überraschten Blick von Pascal einbrachte.

„Was?“

„Haben sie Régine etwa eben gehört?“

„Äh, ja“, brachte ich verwirrt hervor und Pascal schüttelte den Kopf.

„Ich verliere langsam wirklich den Bezug dazu, was für ihresgleichen wahrnehmbar ist und was nicht.“

„Was erwarten sie, wenn sie auf einer Burg abseits der Zivilisation leben?“, versuchte ich mich an einem Scherz und wurde mit einem Schmunzeln von Seitens Pascals belohnt.

„Touché.“

„Also, haben sie auch ein eigenes Pferd hier in den Stallungen?“

Pascal zog eine Augenbraue hoch.

„Natürlich. Eine Atlasschimmel-Stute namens Phantôme de Labours, was so viel wie Geist der Felder bedeutet. Es ist eine Anspielung darauf, dass sie so schnell über die Felder galoppieren kann, dass man glaubt sie wäre ein Geist.“

„Eine Atlasschimmel-Stute? Das ist wirklich etwas Außergewöhnliches.“

„Das ist sie wirklich. Ich versuche in Anlehnung an die Herrenhäußer Weißgeborenen ebenfalls eine Atlasschimmel-Zucht zuwege zu bringen und Phantôme ist mein Schlüssel dazu.“

„Haben sie auch einen Atlasschimmel-Hengst?“

„Aber natürlich, sein Name ist Lueur de Lune. Das heißt Schimmer des Mondes.“

„Wieso habe ich die Atlasschimmel nicht gesehen, als ich mit Paul in den Stallungen war?“

„Weil die beiden in den letzten Boxen stehen. Kommen sie mit, ich zeige sie ihnen.“

 

Kapitel 34 – Ein Tag mit Pascal

„Es sind wirklich wunderschöne Tiere“, meinte ich zu Pascal, während ich Lueur die Nüstern kraulte, „aber ich dachte Albinos haben rote Augen?“

„Atlasschimmel sind keine Albinos, das ist ein weitverbreiteter Irrtum. Wie sie sehen haben Atlasschimmel blaue oder dunkle Augen, was ich im Übrigen auch viel ansehnlicher als rote Augen finde. Wenn sie genau hinsehen werden sie auch bemerken, dass selbst die Wimpern der Pferde weiß sind.“

„Das ist bemerkenswert. So ein Pferd kostet sicher ein Vermögen.“

„Ein kleines, deshalb lohnt es sich auch wieder einen Weg zu finden sie zu züchten, denn Momentan sind Atlasschimmel eher Produkte des Zufalls. Früher wurden sie als Gespann-Pferde genutzt und ich bin mir sicher, dass wenn ich einen Weg zur Zucht finde die Königshäuser auch wieder Interesse an Atlasschimmeln zeigen würden.“

„Aber sie haben doch schon zur Zeit, als die Herrenhäußer Weißgeborenen gezüchtet wurden gelebt. Kennen sie nicht ihr Geheimnis?“

„Leider nein. Zwar liebte ich schon immer Pferde, aber mein Interesse an der Zucht ist relativ jung. Ich bin jedoch optimistisch, schließlich habe ich ja Zeit.“

Diese Aussage traf er ohne den Anflug von Humor, er meinte es vollkommen ernst, was mich schon ein wenig verdutzte, aber vielleicht wurde man einfach so, wenn die Zeit für einen von Bedeutung verlor.

„Reiten sich Atlasschimmel eigentlich anders?“

„Wieso finden sie es nicht einfach selbst heraus?“, meinte Pascal und ich warf ihm einen entsetzten Blick zu.

„Das sind ungeheuer kostbare Pferde und sie wollen sie mich einfach so reiten lassen?!“

„Nun, ich nehme Mal an, dass sie mit ihnen an keinem Military-Rennen teilnehmen und außerdem hatte ich vor sie in der Reithalle reiten zu lassen.“

„Wo gibt es hier denn eine Reithalle?“, fragte ich verdutzt.

„Es ist von vorn vielleicht nicht sofort ersichtlich, aber rechts im Zwinger wurde zwischen die beiden Mauern eine große Reithalle gebaut, schließlich müssen die 23 Pferde auch im Winter irgendwo Auslauf finden.“

„Kümmert sich Paul eigentlich ganz allein um die 23 Pferde?“

„Nein, das wäre unmöglich. Morgens, beim Ausmisten und füttern helfen ihm Evangeline, Bernadette, Nicole und Christian, beim Bewegen dann Christian, Régine und sie.“

„Und was wäre, wenn ich kein Pferdenarr bin?“

Wir waren inzwischen in der Sattelkammer und er drückte mir eine Kiste mit Putzzeug, auf dem 'Lueur' stand, sowie Halfter und Strick in die Hand.

„Wir hätten einen aus ihnen gemacht“, meinte er schlicht und ich schüttelte amüsiert den Kopf.

„Hat wirklich jedes Pferd sein eigenes Putzzeug?“

„Ja, wieso?“, fragte mich Pascal da doch wirklich vollkommen ernst.

„Das ist Geldverschwendung“ meinte ich nur noch immer amüsiert und ging zu Lueur in die Box um ihn erst einmal zu striegeln.

Régine hatte Recht gehabt. Hier mit den Pferden benahm sich Pascal viel lockerer und erschien fast so menschlich wie seine Schwester. Nur seine Bewegungen, während er Phantôme striegelte, waren noch etwas zu schnell und auch wenn ich von Régine bestätigt bekommen hatte, dass er in Oswalds Auftrag alle möglichen schrecklichen Dinge tat, so wirkte er im Moment nur wie ein 25-jähriger junger Mann, der mit Hingabe und in vollkommener Versunkenheit das Pferd vor sich striegelte und liebevoll auf es einredete. Auch Pascal passte im Moment einfach nicht in mein Bild eines Vampirs. Die Geschwister Ledoux hatten mein Weltbild, das ich in den letzten zweieinhalb Jahren mühsam aufgebaut und gefestigt hatte innerhalb weniger Tage mit deutlichen Rissen durchzogen.

Ich grübelte noch immer, während ich Lueur den Halfter überzog und ihn an der Stange gegenüber der Sattelkammer anband, weshalb ich auch erschrak, als Pascal mir einen Sattel und Zaumzeug in die Hand drückte.

Eilig kehrte ich zurück in die Gegenwart und sattelte Lueur. Zu meiner großen Erleichterung nahm er dass Gebiss der Trense bereitwillig ins Maul und pustete sich auch nicht auf, als ich den Sattelgurt festzog. Beim kontrollieren, ob ich alle Schnallen des Zaumzeugs geschlossen hatte, fiel mir etwas auf.

„Pascal, hier fehlt der Kehlriemen.“

„Nein Luna, das ist mit Absicht so. Wir haben festgestellt, dass sich die Pferde beim rennen ohne wohler fühlen, also haben wir ihn bei jedem Zaumzeug entfernen lassen.“

„Habt ihr denn keine Angst, dass es dann herunterfallen könnte?“; fragte ich verwundert.

„Das passiert schon nicht, keine Sorge“, meinte er und drückte mir einen Reithelm in die Hand, „hier. Régine hat für sie auch schon Reithosen, Stiefel und Chaps besorgt. Sie sind in der Sattelkammer. Ziehen sie etwas an, dann können wir los.“

Überrascht nickte ich und zog mich rasch um. Régine hatte mir eine beige Reithose mit dunkelbraunen Stiefeln besorgt und dazu noch einen rote Rollkragenpullover, den ich auch anzog. Pascal wartete schon mit Lueur und Phantôme an den Zügel vor den Stallungen auf mich. Ich schwang mich sogleich in den Sattel und er reichte mir die Zügel bevor er selbst aufstieg.

Ich fand es einfach unfassbar, dass ich die Reithalle nicht bemerkt hatte, aber vom Hauptweg aus war sie trotz ihrer beträchtlichen Größe nicht zu sehen.

Es war Jahre her, dass ich auf einem Pferd gesessen hatte, ganz zu schweigen von einem so perfekt geschulten Vollblüter. Schon nach wenigen Schritten stellte ich fest, dass Lueur sehr empfindlich auf Gewichtsverlagerungen reagierte.

„Lueur ist aber kein Anfängerpferd“, meinte ich halb umgewandt zu Pascal.

„Und sie sitzen offensichtlich auch nicht zum ersten Mal im Sattel.“

Das stimmte zwar, aber ich war wenn dann nur freizeitmäßig geritten.

„Und er reitet sich auch nicht wie ein Rennpferd.“

„Das kommt daher, da Lueur ursprünglich zum Dressurpferd ausgebildet wurde, bevor ich ihn gekauft habe.“

„Dann ist seine ausgezeichnete Ausbildung ja die reinste Verschwendung gewesen.“

„Ja“, meinte Pascal schlicht und überraschte mich damit.

„Ich hätte da eine Frage“, griff ich das Gespräch wieder auf.

„Fragen sie nicht schon die ganze Zeit?“

„Diese Frage hat aber nichts mit den Pferden zu tun.“

Obwohl ich Pascal nicht sah, spürte ich förmlich, wie er seine Schutzschilde wieder hervorholte.

„Ich warte.“

„Wie können sie einen so offenen Lebensstil pflegen, ohne dass herauskommt, was sie sind? Ich meine, wir sind hier in Europa.“

„Dazu tragen viele Faktoren und Strukturen bei, die wir über die Jahrhunderte aufgebaut haben. Zum einen treten wir nie öffentlich in Erscheinung. Sie können es gerne nachprüfen, es gibt kein einziges Bild von meinen Geschwistern und mir. Unser gesamter Besitz läuft außerdem auf Hugo, die menschliche Welt glaubt, dass er der Nachfahre von meinen Geschwistern und mir und somit ein rechtmäßiger Erbe ist. Nach ihm wird sein Sohn diese Position übernehmen.“

„Ich wusste nicht, dass Hugo verheiratet ist.“

„Bernadette ist seine Frau, sie haben vier Kinder, alles Söhne. Der Älteste wird der seit Generationen folgenden Tradition nach der nächste offizielle Verwalter der Ledoux-Besitztümer.“

Ich dachte über das, was Pascal mir gerade erzählt hatte, nach, während ich Lueur im Zirkel warm ritt. Das war ein ziemlicher Balance-Akt, da der junge Hengst eigentlich meine ganze Aufmerksamkeit verlangte, weil er auf jede noch so kleine meiner Bewegungen reagierte. Schließlich musste ich mich damit abfinden das Nachdenken auf später zu verschieben und widmete mich nun brav ganz Lueur.

Um ehrlich zu sein, es machte Spaß herauszufinden, dass man die Befehle für die ganzen Dressurfiguren, die man im Kindesalter gelernt hatte, noch immer wusste und Lueur schien sich nicht weniger zu freuen beweisen zu können, dass er nicht vergessen hatte, was ihm beigebracht worden war.

Ich war so versunken, dass ich erst bemerkte, dass Pascal uns zusah, als er mich ansprach.

„Ihr zwei seit ein gutes Team.“

„Danke“, meinte ich lächelnd und tätschelte Lueurs Hals, „das ist aber hauptsächlich ihm hier zu verdanken, ihm muss man wirklich nichts zweimal sagen.“

„Wenn sie möchten können sie ihn in ihrer Zeit hier reiten, auch selbstständig. Ich bin mir sicher, dass sie ihn im Griff haben werden, auch außerhalb der Reithalle.“

„Ich schätze mal, das war ein großes Kompliment aus ihrem Mund.“

„Bilden sie sich nur nichts darauf ein.“

„Wie spät ist es eigentlich?“, wechselte ich das Thema.

Pascal legte den Kopf schief.

„Die Sonne wird bald untergehen. Wir sollten gehen, Susette kann es überhaupt nicht leiden, wenn man zu spät zum Abendessen kommt.“

Ich nickte und ritt Lueur am losen Zügel zurück zu den Stallungen. Nachdem ich ihn abgesattelt hatte rieb ich ihn erst einmal richtig mit Stroh trocken bevor ich ihn striegelte. Zum Abschied gab es noch ein Leckerli und ich machte mich auf den Weg ins Haupthaus nachdem ich meine Kleider aus der Sattelkammer geholt hatte.

Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich noch Zeit für eine schnelle Dusche hatte, wenn ich mich jetzt beeilte. Also eilte ich zurück ins Haupthaus und die Stufen zu meinen Räumlichkeiten hinauf. Doch kaum stand ich unter der Dusche klingelte das Handy, das Luca mir gegeben hatte. Ich seufzte schwer und überlegte ernsthaft einen Moment es einfach klingeln zu lassen. Dann aber kam mir in den Sinn, wie es mir an seiner Stelle gehen würde und stellte mit einem stummen Fluch das Wasser ab. Eilig wickelte ich mir ein Badetuch um und tappte in den Salon, nur um wie angewurzelt in der Tür stehen zu bleiben, denn mitten im Raum, das Handy gerade ans Ohr hebend, stand Paul. Er wandte mir den Rücken zu und da er mich noch nicht bemerkt hatte nahm er ab.

„Lunas Handy“, meldete er sich und es folgte eine kurze Stille.

„Sie steht gerade unter der Dusche, ich bin der Stallmeister der Ledoux, Paul. Kann ich ihr etwas ausrichten?“

Paul schwieg wieder und hörte Luca am anderen Ende der Leitung zu.

„Mhm, kein Problem, ich sag es ihr.“

Noch bevor er aufgelegt hatte traf ich eine rasche Entscheidung. Ich wich zurück ins Bad, schloss geräuschlos die Tür und stellte mich unter die Dusche. Nach meinem Gespräch, das ich mit Paul geführt hatte, interessierte es mich, ob er mir überhaupt ausrichten würde. Ihm war sicher klar, dass dieser Anruf mit den Vampirjägern in Verbindung stehen musste und somit seinem Bestreben mich das Gute in Régine sehen zu lassen entgegen wirken würde, zumindest aus seiner Sicht sicher.

Außerdem würde mich interessieren, was Paul überhaupt in meinem Zimmer suchte und ob er noch da war, wenn aus dem Bad kam.

Zumindest letzterem würde ich leicht auf den Grund gehen können und so schaltete ich wieder das Wasser ab, mit dem Unterschied, dass ich dieses Mal die Dusche beendete, wickelte mich wieder in das Handtuch und trat in den Salon. Paul war noch da und saß auf dem Sofa. Ich gab mich überrascht und blieb abrupt stehen.

„Was machst du denn hier Paul?“

„Régine wollte, dass ich sicherstelle, dass du das Abendessen nicht vergisst, wenn du mit Pascal unterwegs bist. Er hat mir allerdings gesagt, dass du schon wieder auf dem Weg in dein Zimmer bist, also dachte ich, ich hol dich einfach von hier ab.“

„Also halten Franzosen anscheinend nicht so viel von Privatsphäre, gut zu wissen.“

Es dauerte einen Moment bevor die Erkenntnis in Pauls Gesicht aufblitzte.

„Ich halte dich nicht davon ab dich umzuziehen. Geh einfach, ich warte hier.“

Mit einem Seufzer verdrehte ich die Augen und lief ins Schlafzimmer, um mir etwas anzuziehen.

 

Kapitel 35 – Neue Erkenntnisse

Als ich nach dem Essen in meinen Salon kam ließ ich mich erst einmal aufs Sofa fallen und wie auf Befehl klingelte mein Handy wieder. Ich nahm ab.

„Hey Luca.“

„Hey Luna, ich wollte nur wissen, ob du noch am Leben bist.“

„Sehr witzig.“

„Ich war mir nicht sicher, ob dieser Paul dir sagen würde, dass ich angerufen habe, also habe ich mich lieber noch einmal gemeldet.“

„Er hat es beim Essen nebenbei erwähnt.“

„Ich bin positiv überrascht.“

„Ja, und du hattest übrigens Recht, was Régine betrifft.“

„Also stimmt es wirklich, was man sich von ihr erzählt?“

„Einen Vampir wie sie hab ich noch nie getroffen. Luca, sie ist blind.“

Einen Moment herrschte Schweigen.

„Bist du dir da wirklich sicher?“

„Ich hätte es auch nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.“

„Das hätte mir auffallen müssen, als ich sie auf der Burg bedroht habe.“

„Solange man ihr nicht direkt in die Augen sieht, bemerkt man es nicht.“

„So etwas versuche ich in der Regel bei der Vampirjagd zu vermeiden.“

Ich lachte.

„Da hast du auch wieder Recht.“

„Kannst du mir schon etwas über Pascal sagen?“

„Er ist auch relativ ausgeglichen, aber ihm fehlt diese vollkommene Unschuld, die Régine umgibt.“

„Luna, alle Alten sind ausgeglichen, das bringen nun einmal die Jahre mit sich.“

„Ich möchte nur wissen, warum du es eigentlich auf Pascal abgesehen hast.“

„Das ist jetzt doch nicht dein ernst?“, fragte mich Luca mit ausdrucksloser Stimme.

„Sag es mir einfach.“

Einen Moment herrschte wieder Stille.

„Es war ein Auftrag.“

„Auftrag? Von wem?“

„Es gibt vieles, was du nicht weiß“, meinte Luca zögerlich.

„Dann hilf mir auf die Sprünge.“

„Sagen wir einfach die Vampirjägervereinigung sind nicht die Heiligen, für die du sie hältst.“

„Wirst du es mir nicht erklären?“, fragte ich, als er nicht weitersprach.

„Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dazu. Ich habe eigentlich sowieso schon zu viel gesagt.“

„Und wann willst du es mir dann sagen?“

„Wenn wir diesen Auftrag beendet haben.“

„Das ist zu spät, ich muss es vorher wissen.“

„Übers Telefon?“

„Wenn es sein muss, ja.“

Es klopfte an die Tür und ich fuhr erschrocken herum.

„Was war das?“, fragte Luca alarmiert.

„Es ist jemand an der Tür, ich muss jetzt auflegen.“

Und schon hatte ich den Anruf beendet und öffnete die Tür. Davor stand Paul.

„Was ist?“, fragte ich verwundert.

„Wir müssen reden.“

Ich trat zur Seite und ließ ihn hinein.

„Über was?“, fragte ich, als wir auf den Sofas saßen.

„Mir ist meine eigene Dummheit klargeworden, als ich heute mit diesem Freund von dir am Telefon gesprochen habe.“

Er hielt für einen Moment inne und sah mir direkt in die Augen.

„Régine ist nicht euer Ziel, das war sie nie, auch nicht beim letzten Angriff. Ich dachte, dass Malo beim Versuch sie zu schützen gestorben sei. Verstanden hab ich es nicht, aber jetzt: Ihr wollt Pascal. Was ihr aber nicht versteht, wenn ihr Pascal tötet, tötet ihr damit auch Régine.“

„Sie hat den Rückhalt aller hier auf der Burg und ich habe gehört, dass sie auch unter dem Schutz von diesem Oswald steht.“

„Dieser Schutz ist an gewisse Bedingungen geknüpft, die mit dem Tod Pascals nicht mehr erfüllt werden können.“

Ich sah Paul fragend an.

„Régine kennt nicht die ganze Wahrheit über den Abend, an dem sie fast gestorben wäre, und wird es, wenn es nach Pascal geht, auch nie erfahren.“

„Was ist geschehen?“, fragte ich mit kaum hörbarer Stimme und einer dunklen Vorahnung.

„Es stimmt, dass Régines Ehemann Looïs schuld an ihren schweren Verletzungen war, doch er tötete nicht Iodoc. Die drei Brüder brachten Régine gemeinsam zu Oswald. Dieser war wie gefangen von ihrer Schönheit und erklärte sich bereit sie zu retten, stellte aber im Gegenzug zwei Bedingungen: Erstens, dass Malo und Pascal ebenfalls verwandelt und zu ewiger Dienerschaft gegenüber Oswald verpflichtet wurden. Zweitens, dass Iodoc als Blutdiener bei ihm zurückblieb.“

„Blutdiener?“, warf ich ein.

„Zu dieser Zeit war es schwer Blut zu nehmen, ohne dass es Aufmerksamkeit erregte. Deshalb hielten sie sich einige Blutdiener, die ihnen, wie der Name schon sagt, aus einer Schuld heraus freiwillig ihr Blut zur Verfügung stellen. Aber an die erste Bedingung war noch eine weitere gekoppelt: Sollte Oswald, auf welche Art auch immer, seine beiden treuen Diener verlieren oder sie sich von ihm Abwenden, so wäre auch Régines Leben verwirkt und er würde es mit eigenen Händen beenden.“

„Das würde er wirklich tun?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort schon wusste.

„Wer in dieser Welt seine Drohungen und Versprechungen nicht hält, der verliert schnell Macht und Leben.“

„Und Régine weiß davon nichts?“

Paul schüttelte den Kopf.

„Es gibt kein Geheimnis, das Pascal besser vor ihr hütet.“

„Wie kommt es dann, dass du davon weißt?“, fragte ich skeptisch.

„Ich habe ein Telefonat zwischen Hugo und Pascal mitangehört, als ich danach deswegen auf Hugo zugegangen bin, hat er mir den Rest auch noch erzählt und das Versprechen abgenommen, dass Régine es nicht von mir erfährt.“

„Und jetzt erzählst du mir es einfach so?“

„Harte Zeiten erfordern harte Mittel.“

Ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte, also schwieg ich.

„Ich geh dann mal, schlafe einfach eine Nacht darüber.“

Ich nickte nur und Paul verschwand und ließ mich mit meinen Gedanken allein zurück, welche zugegebenermaßen gerade ziemlich verworren waren. Die Alten waren eine vollkommen andere Kategorie als Jugendvampire, in mehr als einer Hinsicht. Die Seite mit den Fähigkeiten war mir klar gewesen, aber auch das Verhalten unterschied sich in so charakteristischer Weise. Die Alten hatten ihre vampirischen Instinkte so gut unter Kontrolle und erinnerten nur noch wenig an die Monster aus meinen Alpträumen. Doch sie konnten auch anders sein, das hatte ich am eigenen Leib erfahren. Die Frage war nur: Hatten alle diese dunkle Seite in sich oder war Régine wirklich anders?

Aber ich hatte an diesem Tag einfach nicht mehr die Energie mich mit dieser Problematik zu beschäftigen, also verschob ich diesem inneren Disput auf morgen und legte mich ins Bett.

Doch die erhoffe Ruhe brachte mir der Schlaf nicht, denn kaum hatte ich meine Augen geschlossen fand ich mich in einem blühenden Garten wieder. In meinem Traum war es früher Morgen, die Sonne war gerade erst aufgegangen und der Tau hing noch an den sich öffnenden Blüten der vielen verschiedenen Blumen. Ich schloss die Augen und sog den herrlichen Duft des Gartens in mich auf. Dann ging ich zu einer großen Eiche, die in der Mitte des Gartens stand, und vor der sich eine Bank befand, auf der ich mich niederließ. Erst da bemerkte ich, dass ich ein langes grünes Kleid trug, das in der leichten Brise um die Knöchel meiner nackten Füße wehte. Der Brustteil war von einem hellen grün, das immer dunkler wurde, je näher der Stoff meinen Knöcheln kam. Es war ein wunderschönes Kleid und verträumt strich ich mit der Hand über den seidigen Stoff.

„Ich wusste, dass es dir gefallen würde“, meinte eine Stimme und ich fuhr erschrocken hoch.

Constantin stand vor mir, in einem schwarzen Anzug mit weißem Hemd, schmaler schwarzer Krawatte und polierten schwarzen Halbschuhen. Er wirkte vollkommen fehl am Platz in diesem Garten.

„Was machst du schon wieder in meinen Träumen?“, fragte ich mich selbst seufzend.

„Das ist aber nicht besonders nett von dir, ich habe mir dieses Mal wirklich Mühe gegeben. Sag bloß, es gefällt dir nicht?“

Als Antwort blickte ich ihm einfach ausdruckslos in die Augen.

„Dies ist mein Traum, also befehle ich dir zu verschwinden.“

Nachsichtig lächelnd schüttelte Constantin den Kopf.

„Ach Sam“, meinte er tadelnd, „ich dachte wirklich, du wärst klüger.“

Ich biss mir auf die Lippe.

„Also ist es wahr?“, fragte ich zögerlich.

Fragend und gleichzeitig amüsiert zog er eine Augenbraue nach oben.

„Was denn?“

„Du bist wirklich hier, du hast dich in meinen Traum eingeschlichen.“

„Das stimmt so nicht ganz: Ich habe dich in meinen Traum hineingezogen.“

Ich ließ mich wieder auf die Bank fallen, das musste ich erst einmal verdauen. Nachdem ich ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, sprach ich wieder:

„Warum bin ich hier?“

„Ist das nicht offensichtlich? Du bist mir davongelaufen und ich möchte dich wiederfinden.“

„Warum holst du mich dann nicht jede Nacht in deine Träume?“

„Weil du sehr viel auf Reisen bist. Dein Schlafrhythmus ändert sich ständig und ich habe auch noch andere Dinge zu tun, als den ganzen Tag darauf zu warten, dass du einschläfst.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Ich verstehe immer noch nicht, was es dir bringt mich in deine Träume zu ziehen. Ganz zu schweigen davon, dass du es mir auch noch sagst.“

„Es stimmt, aufspüren kann ich dich damit nicht, aber manchmal sagt einem ein Traum viel mehr, als tausend Worte.“

„Dies ist aber dein Traum“, entgegnete ich.

Constantin lachte.

„Das stimmt, aber die Sache ist etwas komplizierter, doch dazu komme ich später. Vielleicht.“

Ich überlegte einen Moment und beschloss, auch dieses Thema für den Moment ruhen zu lassen.

„Bei unserem letzten....Traum-Aufeinandertreffen nanntest du mich tschudoschte. Was heißt das?“

„Tschudowischtschje.“

„Dann eben so, aber was bedeutet es?“

„Willst du es wirklich wissen?“

„Würde ich sonst fragen?“, meinte ich ungeduldig und schon etwas genervt.

„Gut, wie du willst. Tschudowischtschje heißt übersetzt Monster.“

 

Kapitel 36 – Einmal im Traum...

„Monster?“, fragte ich fassungslos, „Wieso nennst du mich ein Monster? Etwa weil ich so viele Vampire getötet habe?“

Ich wollte noch weiter ausholen, doch da hielt mir Constantin im wahrsten Sinne des Wortes den Mund zu. Das brachte mich endgültig aus dem Konzept und ich starrte ihn einfach ungläubig an.

„Ich weiß auch nur, dass du eine tschudowischtschje bist, nicht warum und auch nicht, was es in diesem Fall genau bedeutet. Das ist der andere Grund, warum ich dich in meine Träume ziehe: Ich möchte herausfinden, was an dir so besonders ist.“

Nachdem er zu ende gesprochen hatte nahm er die Hand wieder von meinem Mund und trat einen Schritt zurück.

„Und nur, weil mich jemand so genannt hat, jagst du mich um die ganze Welt?“, fragte ich kopfschüttelnd.

„Nicht ganz, aber es muss dir im Moment so als Antwort genügen.“

Eine Weile herrschte Schweigen, während ich nachdachte und er mich nicht aus den Augen ließ und genau musterte.

„Ich verstehe noch immer nicht, warum du mir überhaupt Fragen beantwortest.“

„Warum denn auch nicht? Außerdem bist du für einen Mensch recht interessant.“

Doch ich hatte ihm nur mit halbem Ohr zugehört, weil ich eine Kleinigkeit ausprobieren wollte. Ich konzentrierte mich auf die Bank, auf der ich saß und plötzlich verschwanden deren Füße und ich krachte mit der Bank auf den Boden. Jedoch schlug ich nicht auf dem Boden auf, denn bevor das geschehen konnte war Constantin bei mir und hatte mich hoch in seine Arme gezogen. Ohne es wirklich zu realisieren hatte ich mich auch schon aus dem Schock heraus an ihn geklammert und ich spürte, wie seine Brust sich hob und senkte, als er lauthals zu lachen begann. Ich war wie paralysiert und einfach nicht in der Lage loszulassen, vielleicht auch, weil ich in diesem Moment Constantins Herzschlag hören und die Wärme seines Körpers spüren konnte. Es fühlte sich an, als würde ich einen ganz normalen Menschen umarmen. Das lag sicher nur am Traum.

„Hast du etwa versucht meinen Traum zu manipulieren?“, fragte Constantin immer noch lachend, während nun auch er die Arme seinerseits um mich legte und mich festhielt.

Dies löste mich endlich aus meiner Starre und ich ließ Constantin los, doch er schien das gar nicht zu bemerken.

„Ach Sam, man kann nicht einfach so anderer Leute Träume verändern. Was wolltest du denn machen? Mit einer Bank kannst du mich wohl schwerlich töten und außerdem ist das hier ein Traum.“

„Ich wollte nichts in dieser Art tun“, murmelte ich gegen Constantins Brust, da er mich noch immer nicht losgelassen hatte, und wieder einmal nervte mich meine geringe Körpergröße und -kraft.

„Was wolltest du dann tun?“, fragte er mich, als ich nicht weiter sprach.

„Erst einmal hätte ich gerne wieder etwas Luft zum atmen“, meinte ich spitz, woraufhin mich Constantin abrupt auf Armeslänge von sich weg schob und sich hektisch umsah, bevor er mir fest in die Augen blickte.

„Hast du wieder versucht den Traum zu verändern?“, fragte er ernsthaft besorgt, „Atme einfach tief durch, das ist alles nur Einbildung, dir kann nichts passieren.“

Einen Moment konnte ich ihn nur anstarren, weil ich einfach nicht glauben konnte, dass er ernsthaft besorgt war, doch allem Anschein nach war er es wirklich.

„Nein“ meinte ich verdattert, während er mir mit seinen Händen weiter unangenehm die Blutzufuhr in den Armen abdrückte, „nein, das ist nur so eine Redensart und heißt, dass du mir zu nahe bist.“

Constantins Gesichtszüge entspannten sich und er ließ mit einem Nicken meine Arme los.

„Ich verstehe, aber eigentlich warst du diejenige, die sich an mich geklammert hat“, meinte Constantin wieder so ausdruckslos, wie ich es von ihm aus der echten Welt gewohnt war.

„Ich hab mich erschrocken“, meinte ich etwas zickig, „und du hättest mich ja auch nicht am Fallen zu hindern brauchen.“

„Bloß weil ich sehr alt bin heißt das nicht, dass meine Eltern mir keinen Anstand beigebracht haben.“

„Wie alt bist du eigentlich?“, wechselte ich das Thema.

„Älter als du.“

Ich zog spöttisch eine Augenbraue hoch.

„Darauf wäre ich nie gekommen, aber wie wäre es mit einer Zahl?“

„Zwischen 26 und 28, zu meiner Zeit nahm man das noch nicht so genau.“

„Ich meinte nicht dieses Alter, aber das weißt du auch.“

„Das Alter eines Vampirs ist eines seiner bestgehüteten Geheimnisse.“

„Warum eigentlich?“, fragte ich mit schräg gelegtem Kopf.

„Weil uns nichts mehr bedeutet, als unsere Vergangenheit.“

„Wie darf ich das verstehen?“, fragte ich verwirrt.

„Ein Vampir zu werden bedeutet nicht nur ewiges Leben, es bedeutet auch, dass man seine Welt verliert. Alles, was du kennst und liebst verschwindet, diesen Prozess möchtest du nicht auch noch dadurch beschleunigen, dass ein rachsüchtiger Vampir davon erfährt.“

„Du willst mir also sagen, dass du während deiner ganzen Lebenszeit deine menschliche Familie nicht aus den Augen verloren und beschützt hast? Das ist unmöglich, dein Familienzweig muss inzwischen sicher riesig sein.“

Ein schwaches abwesendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

„Ja, es war wirklich nicht immer leicht sie im Auge zu behalten.“

„Ich hätte nie gedacht, dass es Menschen gibt, an denen dir etwas liegt.“

„Weil ich ein Vampir?“, fragte er geradeheraus.

„Ja“, gab ich zu.

„Blut ist dicker als Wasser, egal wie ich mich verändert habe und wie viel Zeit auch vergehen mag.“

„Ein Vampir, der ein Familienmensch ist“, meinte ich kopfschüttelnd, „und gleichzeitig so viel Leid über die Welt bringt.“

„Auch ich habe eine Moral, wenn sie sich vielleicht auch nicht mit deiner deckt.“

Ich hob meinen Kopf und sah ihm direkt in die Augen.

„Dann sag mir, warum ihr tötet, wenn ihr es doch nicht müsst. Warum ihr eure Opfer quält, wenn es euch doch nichts nutzt“, meinte ich anklagend.

„Warum gibt es Rassismus? Warum ziehen eure Länder gegeneinander in den Krieg? Warum habt ihr Atomwaffen?“

„Das beantwortet nicht meine Frage.“

„Wenn du mir meine Fragen beantworten kannst, dann finde ich auch Antworten auf deine.“

„Gut, lass es mich anders formulieren: Warum tötest du, wenn du es doch nicht musst?“

Constantin schüttelte mit einem wehmütigen Lächeln auf den Lippen den Kopf.

„Du hast wirklich keine Ahnung von meiner Welt.“

„Aber erklären wirst du es mir auch nicht, genauso wie du mir nicht den wahren Grund dafür nennen wirst, warum du mich bis in meine Träume verfolgst.“

„Für letzteres würde schon allein die Tatsache reichen, dass du mir zweimal entwischt bist. Besonders deine letzte Flucht war faszinierend, eigentlich ohne Hilfe nicht zu bewältigen.“

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich wollte Sophia auf keinen Fall in Gefahr bringen.

„Du hast mich unterschätzt.“

„Ja, aber keine Sorge, ich werde diesen Fehler nicht noch einmal begehen.“

„Dazu musst du mich erst einmal finden.“

„Ich habe dich schon einmal gefunden, vergiss das nicht.“

„Da wusste ich auch noch nicht, vor wem ich mich verstecke.“

Mit einem Kopfschütteln wandte er seinen Blick der Bank zu, woraufhin plötzlich zwei Seile vom Baum herunter an die Bank wuchsen und sie hoch hoben, wie eine Schaukel.

„War es das, was du versuchen wolltest?“, wechselte er recht unvermittelt das Thema.

„Ja“, gab ich kleinlaut und etwas verdutzt zu.

„Du hast Recht, das passt viel besser in das Bild dieses Gartens. Ich werde es mir merken.“

„Existiert dieser Garten wirklich?“, fragte ich neugierig geworden.

„Existierte, ich habe vor ihn wieder aufbauen zu lassen.“

Ich entfernte mich von der Schaukel und lief durch den Garten, um mir die verschiedenen Blumen anzusehen. Constantin folgte mir mit einigen Schritten Abstand.

„Er ist wunderschön, aber viele der Blüten haben sich trotz des Sonnenaufgangs nicht geöffnet“, stellte ich überrascht fest.

„Das ist so beabsichtigt, es sind Nachtblüher.“

„Der perfekte Garten für einen Vampir: den ganzen Tag nutzbar“, murmelte ich vor mich hin und zuckte erschrocken zusammen, als Constantin hinter mir auflachte.

„Ja, das ist genau das, was man mit diesem Blumenarrangement erreichen will und ich finde, es ist gelungen.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Was?“, wollte Constantin wissen.

„Ich weiß einfach nicht mehr, was ich von euch halten soll“, gab ich schließlich gegenüber Constantin meinen momentan größten inneren Zweifel zu.

Warum, wusste ich nicht. Vielleicht war es der Traum, vielleicht brauchte ich auch nur endlich jemanden, der mir wirklich zuhörte und bei Constantin hatte ich das Gefühl, dass er es tat, auch wenn er vielleicht der falsche Ansprechpartner war.

Er nahm mich am Arm, aber hielt mich nicht fest, sodass ich mich jeder Zeit hätte befreien können, und führte mich zurück zur Schaukel, auf welcher wir uns dann niederließen. Er starrte in den Garten, als er mir antwortete:

„Du musst einfach akzeptieren, dass wir keine Menschen sind, aber das auch nicht automatisch bedeutet, dass wir Ungeheuer sind. Die meisten werden in diese Welt hineingeworfen, ohne große Vorwarnung, und auch wenn ihr Erschaffer sie mit den Regeln unserer Welt bekannt macht, so sind sie doch eigentlich immer von den Geschichten über uns aus eurer Welt beeinflusst und wer sich als Bestie sieht, der wird auch früher oder später zur Bestie. Dies kann nur verhindert werden, wenn man selbst begreift, dass man kein Ungeheuer, sondern einfach anders ist, aber das schaffen nur die wenigsten. Sie machen die, die sie als Monster abgestempelt haben für ihr Schicksal verantwortlich: die Menschen.“

Wir schwiegen eine Weile, während ich über das nachdachte, was er mir gerade gesagt hatte.

„Das ist keine Entschuldigung“, meinte ich schließlich.

„Und ich wiederhole mich: Wir sind keine Menschen. Auch wenn mein nächster Vergleich vielleicht etwas hart klingt, aber zwischen Vampiren und Menschen, ist es, wie zwischen Menschen und Affen: Sie mögen sich vielleicht in vielen Dingen ähnlich sein und aneinander erinnern, es ändert aber nichts daran, dass es unterschiedliche Spezies sind und der Mensch, der sich den Affen übergeordnet fühlt, auch die untergeordnete Spezies isst.“

„Wir sind aber keine Affen“, meinte ich giftig.

„Und wir sind keine Menschen“, antwortete er ruhig.

„Ihr wart aber mal welche.“

„Genauso, wie sich der Mensch aus dem Affen heraus entwickelt hat.“

Genervt sprang ich von der Schaukel auf und schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

„Das ist aber Millionen von Jahren her und diese Generation von Menschen hat das im Gegensatz zu euch nicht selbst erlebt! Ihr wart Menschen, wirkliche Menschen, und meine Spezies war einmal ein Affen, nicht ich selbst. Das ist ein gewaltiger Unterschied.“

Constantin zuckte nur mit den Schultern und strapazierte damit meine Nerven.

„Du solltest dir endlich darüber klar werden, wer hier das wirkliche Monster ist.“

 

Kapitel 37 – Zurück

Empört schnappte ich nach Luft.

„Ich meine dabei nicht wegen tschudowischtschje, sondern weil du 43 Vampire getötet hast, nur weil sie waren, was sie waren. Eigentlich könnte man sagen, dass du ein Rassist bist.“

Ich öffnete den Mund, doch kein Ton kam heraus.

„Sie es endlich ein Sam, du bist eine Heuchlerin.“

Er hatte mich....fast.

„Jetzt weiß ich, was das ganze hier soll“, murmelte ich und hatte Constantin schon ins Gesicht geschlagen, bevor er auch nur den Mund öffnen konnte.

„Versuch nie wieder mich zu manipulieren, ziehe mich einfach nie wieder in einen deiner Träume“, zischte ich aufgebracht und mit zum erneuten Schlag erhobener Hand.

Doch Constantin beachtete mich gar nicht. Er fuhr sich mit einem Finger über den Mundwinkel und betrachtete den Bluttropfen, den er sich abgewischt hatte, wie hypnotisiert.

„ignoriere mich nicht!“, fuhr ich ihn an.

Als wäre er aus einer Trance erwacht, hob er langsam den Blick und richtete ihn auf mich. Dann breitete sich plötzlich ein verschlagenes Lächeln auf seinem Gesicht aus.

„So knapp, ich hatte dich fast, aber keine Sorge, wenn du nicht von selbst zu mir kommst, werde ich dich finden und höchstpersönlich holen kommen.“

„Heißt das, dass meine Träume jetzt wieder mir gehören?“, fragte ich schon wieder deutlich beruhigter.

Constantin legte den Kopf schief und tat so, als würde er nachdenken.

„Nein, ich denke nicht. Dazu finde ich die Gespräche mit dir viel zu unterhaltsam. Du solltest dich geehrt fühlen, das können nur wenige Wesen von sich behaupten.“

„Und ich könnte wetten, dass keines dieser Wesen deine Aufmerksamkeit lange überlebt hat.“

Constantins Lächeln wurde breiter.

„Das kommt der Sache ziemlich nahe.“

„Was hat das Gefühl der Angst und Furcht bei anderen euch nur angetan?“

„Angst ist die Emotion, die der Mensch am stärksten erleben kann. Nicht kommt dem auch nur Nahe, auch nicht eure so hoch geschätzte Liebe. Es ist einfach unglaublich. Ihr könnt es nicht richtig erkennen, eure Augen sehen zu schlecht und sind zu träge. In einem Moment der Angst, und wenn er auch noch so kurz ist, gehen tausende Dinge in einem Menschen vor, und jeder einzelne dieser Gedanken ist auf dem Gesicht abzulesen. Wenn man einen Menschen im Moment seiner größten Angst gesehen hat, dann kennt man ihn besser, als jeder, der ihn jemals kannte.“

„Für einen Menschen würde so etwas es schwieriger machen jemanden zu töten.“

„Dann hast du noch nie einen Menschen richtig gekannt.“

„Willst du damit etwa sagen, dass jeder Mensch in seinem Innersten schlecht ist?“, fragte ich trocken.

„Erscheint dir das wirklich so unglaublich? Im Angesicht des Todes setzten sich beim Menschen die Urinstinkte durch und die lassen nur einen einzigen Gedanken zu: überleben.“

„Und es ist natürlich so viel besser die ganze Zeit nach Blut zu dürsten“, spottete ich kühl.

„Ich wiederhole mich: Du hast keine Ahnung von meiner Welt. Wie viele denkst du eigentlich, gibt es von uns?“

„Schon allein in den USA gibt es tausende und in Europa gibt es sicher mehr, ganz zu schweigen vom Rest der Welt.“

Doch Constantin schüttelte den Kopf.

„Ihr Jäger verwendet den Begriff Vampir viel zu allgemein. In meiner Welt darf sich nur der Vampir nennen, der tjashjolaja boljesn, die schwere Krankheit, überlebt hat. Wie du sicher weißt, schmälert das unsere Reihen sehr.“

Es war klar, dass er Insania meinte, was sonst. Wir waren hier an einem interessanten Punkt im Gespräch angekommen, denn Vampire, die diese Stufe gemeistert hatten, waren die wirklich Gefährlichen für die anderen Jäger und mich. Eine Zahl zu haben wäre eine beinahe unfassbare Entwicklung, aber ich bezweifelte, dass Constantin mir die Wahrheit sagen würde.

„Dann habe ich keine Ahnung“, gab ich zu.

„Wir sind exakt 182.“

„In Russland“, verbesserte ich ihn spöttisch, doch Constantin schüttelte nachdrücklich den Kopf.

„Nein Sam, von den echten Vampiren gibt es nur 182 auf der ganzen Welt.“

„Das glaube ich nicht. Wieso solltest du mir so etwas auch verraten?“, legte ich die Karten offen.

„Weil du es nicht an die Vampirjägervereinigung weitergeben wirst.“

Ich lachte auf.

„Und was bringt dich auf diese vollkommen lächerliche Idee, dass ich das für mich behalten würde?“

„Dachtest du wirklich ich würde nicht herausfinden, dass du aus den schützenden Armen deiner geliebten Vereinigung geflohen bist? Nebenbei angemerkt, eine wirklich kluge Entscheidung. Ich hätte dich sonst sicher längst gefunden. Mikhail war sehr aufgebracht darüber, dass er deine Spur verloren hat.“

Das schlimme daran war, dass er Recht hatte: Ich konnte der Vampirjägervereinigung keine Nachricht übermitteln ohne zu verraten, wo ich war, aber, und ich musste verhindern, dass sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete, Luca konnte es Mattia erzählen. Er würde sicher nicht verraten, wo wir uns befanden und trotzdem diese so wichtige Information an die Vereinigung weitergeben. Meine Zweifel, dass mich Constantin deswegen anlog, waren verflogen. Ich wusste was er von mir erwartete.

„Du setzt also vollkommen auf meinen Wunsch der Rache? Glaubst du wirklich, dass ich dich so unbedingt töten möchte?“

„Ich glaube es nicht, ich weiß es. Du kannst nicht anders.“

Er hatte Recht, aber zu seinem Pech war mein Zwang in diesem Fall kein Problem.

„Dann würde ich an deiner Stelle hoffen, dass du Recht behältst, denn ich denke die anderen Vampire wären nicht besonders begeistert darüber zu erfahren, dass du mir gegenüber so offen warst.“

„Da irrst du dich, es liegt in meinem Ermessen, was ich dir erzähle. Unterschätze nicht meine Wichtigkeit in der Vampirhierarchie.“

„Diesen Fehler würde ich nie begehen, glaub mir.“

Plötzlich ging ein ungutes Gefühl durch meinen Körper und die Konturen des Traums um mich herum begannen zu verschwimmen. Mit schockgeweiteten Augen wandte ich mich an Constantin.

„Was passiert hier?“, fragte ich ängstlich.

„Jemand versucht dich aufzuwecken...“, meinte Constantin etwas abgelenkt, bevor er mich wieder scharf fixierte, „du bist nicht allein unterwegs. Es war töricht von mir anzunehmen, dass du keine Verbündeten für deine Mission finden würdest.“

Die Konturen verschwammen noch mehr, so dass ich kaum noch etwas erkennen konnte.

„Lass mich aus deinem Traum!“, meinte ich verzweifelt in der Hoffnung, dass mich das von diesem komischen Gefühl befreien würde.

Da spürte ich plötzlich klar und deutlich eine Hand auf meiner Schulter, die an mir zog und plötzlich saß ich aufrecht im Bett, mir gegenüber Régine.

„Luna?“, fragte sie ängstlich, „Luna?“

„Régine, was machst du hier?“

„Ich wollte dich zum Frühstück abholen, aber du hast auf mein Klopfen nicht reagiert, da bin ich reingekommen und hab gehört, dass dein Atem sehr unregelmäßig ging und immer wieder ausgesetzt hat, als ob du große Furcht hättest und das hat wiederum mir Angst gemacht. Doch du wolltest einfach nicht aufwachen“, meinte sie mit tränenerfüllter Stimme, was mich völlig aus der Fassung brachte.

„Aber mir geht es doch gut“, meinte ich besänftigend, doch Régine war noch immer furchtbar aufgewühlt.

Einmal mehr war es mir ein Rätsel, wie dieses Mädchen eine Vampirin sein konnte.

„Hattest du etwa einen Alptraum?“, fragte sie noch immer besorgt.

„So etwas in der Art“, meinte ich mit einem schiefen Lächeln.

Plötzlich schloss mich Régine fest in ihre Arme.

„Ich weiß, du bist erst sehr kurz bei uns, aber ich habe dich schon jetzt sehr gern und ich möchte, dass es dir gut geht.“

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals.

„Danke Régine, das bedeute mir viel.“

Ich erwiderte ihre Umarmung und so saßen wir einen Moment schweigend da, bevor ich mich wieder löste.

„Jetzt muss ich mich aber langsam fertig machen, wie wäre es, wenn wir uns in einer halben Stunde unten zum Frühstück treffen?“, fragte ich Régine mit einem sanften Lächeln.

Sie nickte eifrig, küsste mich zum Abschied auf die Wange und eilte förmlich aus meinem Zimmer.

Als sie fort war stützte ich erschöpft den Kopf in meine Hände. Ich dachte ich hätte auf der Insel Probleme gehabt. Nun, die Welt hatte es für nötig befunden mich eines besseren zu belehren, als ob sie nichts anderes zu tun hätte, war ja klar. Wenn ich jetzt wenigstens wissen würde, warum Constantin so verbissen hinter mir her war oder ob die azurblauen Augen am Tag der Gasexplosion wirklich die seinen gewesen waren oder ob das alles vielleicht doch nur damit zu tun hatte, dass ich das einzige seiner Opfer war, das ihm entkam. Aber es wäre mir möglich mit all diesen ungelösten Fragen zu leben, wenn ich doch nur wieder mein altes Leben zurückbekommen könnte. Ich war jetzt schon seit über einem Monat fort und mit jedem weiteren Tag kam es mir unwahrscheinlicher vor je wieder in es zurückzukehren. Ob ich es wohl überhaupt könnte? Ich war so blauäugig gewesen, hatte mich selbst für einen unglaublich begabten Vampirjäger gehalten und jetzt flößte mir schon die bloße Anwesenheit von Alten Respekt ein. Und der Aufenthalt auf dieser Burg tat mir auch nicht gut, denn wenn ich einmal richtig anfangen würde Vampire als Personen zu sehen, so wäre ich auch nicht sicher davor Skrupel vor dem Töten von ihnen zu bekommen. Ich wüsste dann nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, eine traurige Tatsache.

Ich musste den Kopf freibekommen, also stand ich aus dem Bett auf und machte Liegestützen. Dies war schon immer die mir am meisten verhasste Übung gewesen, denn Darius hatte es für meine Ausbildung nicht bei den gewöhnlichen Liegestützen gelassen. Jedes Mal, wenn ich mich  vom Boden abdrückte, klatschte ich in die Hände. Es war anstrengend und man musste im wahrsten Sinne des Wortes darauf aufpassen, dass man nicht auf die Nase fiel. Die gesamte Konzentration war gefordert und das war genau das, was ich jetzt brauchte. Ich verschwendete keinen Gedanken mehr an mein altes Leben, Constantin oder meine Einstellung gegenüber Vampiren. Ich konzentrierte mich nur auf meine Atmung und den schon bald aufkommenden Schmerz in meinen Armmuskeln und Handflächen. Es erfüllte seinen Zweck und befreite meinen Geist von seinen Wirrungen und ich genoss jeden Moment davon.

Doch leider hatte ich Régine versprochen, dass wir uns in einer halben Stunde zum Essen treffen würden, also stellte ich die Übung nach 20 Minuten ein. Ich steckte mir mein Haar auf, damit ich mich kurz abduschen konnte und war in Rekordzeit wieder im Schlafzimmer über den Koffer gebeugt, um mir etwas zum Anziehen herauszusuchen. Als ich einen grauen Rollkragenpullover herauszog, viel die Holzrassel, die ich in dem Sicheren Haus auf der Insel gefunden hatte, mit aus dem Koffer. Verwundert nahm ich sie zur Hand und betrachtete ein weiteres Mal den kyrillischen Schriftzug. Ich hatte seine Bedeutung herausfinden wollen, es jedoch wegen der gegenwärtigen Umstände vollkommen vergessen. Doch auch jetzt fiel mir niemand ein, der es mir Übersetzen und den ich auch momentan fragen könnte. Die einzigen, die eventuell russisch sprachen waren Pascal und Régine, doch Pascal würde zu viele Fragen stellen und Régine war blind. Allerdings war der Schriftzug eingebrannt, was bedeutete, dass man ihn erfühlen konnte.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es Zeit wurde zum Frühstück zu gehen und nach kurzem Überlegen zog ich die Holzrassel als Armreif an, wie ich es schon auf der Insel getan hatte, bevor ich nach unten ging.

 

Kapitel 38 – Die Prophezeiung

Régine plauderte während des ganzen Frühstücks fröhlich über dies und das. Danach gingen wir in ihren Salon und setzten uns dort gemeinsam auf eines der Sofas.

„Was rasselt da denn eigentlich an deinem Arm?“, fragte sie schließlich neugierig.

„Das ist eine Holzrassel, die ich vor einer Weile gefunden habe. Um ehrlich zu sein hatte ich gehofft, dass du mir vielleicht sagen könntest, was die Gravur bedeutet.“

„Ich kann es versuchen“, meinte sie und ich reichte ihr die Rassel.

Zu meiner Überraschung sog sie zuerst tief die Luft durch ihre Nase ein.

„Das ist sibirische Lärche“, stellte Régine überrascht fest.

„Woher weißt du das?“, fragte ich mindestens ebenso überrascht.

„Dieser Baum wächst auch in der Mongolei und sein Harz hat einen sehr charakteristischen Geruch. Temüdschin sagte immer, dass dieser Geruch bedeutete, dass er seine Heimat bald erreichen würde. Meine Brüder und ich haben auch auf seinem Grab eine sibirische Lärche gepflanzt.“

„Das ist eine faszinierende Geschichte. Und was bedeutet der Schriftzug?“

Régine strich einmal sanft darüber und runzelte daraufhin leicht die Stirn.

„Kyrillische Schriftzeichen“, stellte sie fest, „da bin ich mir nicht sicher, ob ich dir helfen kann, mein Russisch ist schon etwas eingerostet und die meisten anderen Sprachen, die kyrillische Schriftzeichen verwenden, spreche ich nicht.“

„Versuchst du es trotzdem?“; fragte ich vorsichtig,

„Aber natürlich.“

Régine fuhr bedächtig über die eingebrannte Schrift und verweilte immer wieder einen Moment auf gewissen Buchstaben. Einige Minuten herrschte Stille und in dieser Zeit malte ich mir selbst aus, was der Schriftzug bedeuten könnte.

Ich war mir ziemlich sicher, dass es eine Rassel für ein Baby war, alles andere wäre unsinnig. Wahrscheinlich war es ein kurzes Gedicht oder Spruch, dass die Liebe der Eltern zu ihrem Kind verdeutlichen sollte. Das wiederum warf die Frage auf, ob die Rassel für das Kind des Vampirjägers gewesen war, dem das Sichere Haus auf der Insel einmal gehört hatte. Eine Familie als Vampirjäger zu haben war gefährlich und ich fragte mich, was passiert war, weswegen das Sichere Haus an die Vampirjägervereinigung gegangen war. Hoffentlich hatte das Kind, dem die Rassel gehört hatte, überlebt.

„Ich glaube, ich hab es“, unterbrach Régine meine Gedanken und ich horchte auf, „aber ich weiß nicht, was es bedeuten soll: 'Tochter der Nächte, Wesen des Tages, wirst mit fünfundzwanzig Jahr' den Kreislauf wieder in Gang setzen, auf dass du bringst den ew'gen Schlaf zu uns zurück.'“

Régine hielt einen Moment inne.

„Weißt du vielleicht, was das bedeuten soll? Das passt einfach nicht als Spruch auf eine Babyrassel“, meinte Régine verwirrt.

„Ich verstehe es auch nicht. Das klingt mehr.....nach einer Prophezeiung. Einer bizarren noch dazu.“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Du hast Recht, das hört sich wirklich nach einer Prophezeiung. Wahrscheinlich die Prophezeiung des Babys. Wo hast du die Rassel denn gefunden? Das könnte uns helfen mehr herauszufinden! Ich erlebe so selten hier auf der Burg etwas wirklich Spannendes“, meinte Régine enthusiastisch, aber ich konnte ihr schlecht sagen, dass ich es in einem Sicheren Haus eines Vampirjägers gefunden habe.

„Im Haus von Bekannten. Sie haben mir erlaubt die Rassel zu behalten.“

„Weißt du, woher sie sie hatten?“

„Tut mir leid“, meinte ich entschuldigend, „es könnte sogar sein, dass die Rassel schon in dem Haus war, bevor sie es gekauft haben.“

Régine verzog traurig das Gesicht.

„Das ist schade, aber wir können trotzdem versuchen herauszufinden, was es bedeutet.“

„Von mir aus“, stimmte ich zu, denn es interessierte mich auch.

Régine fuhr wieder über die ersten Worte auf der Rassel.

„Also, der Spruch beginnt mit 'Tochter der Nächte'.“

„Das ist eigentlich die Bezeichnung für eine weiblichen V....“

Ich erinnerte mich daran, dass Régine dieses Wort vermied und verkniff es mir im letzten Moment. Régine lächelte schwach.

„Ein weibliches Wesen Meinesgleichen.“

„Genau“, meinte ich erleichtert.

Régine fuhr weiter mit dem Finger die Rassel entlang.

„'Wesen des Tages', das wäre dann ein Mensch.“

„Aber schließt Deinesgleichen zu sein nicht Mensch-Sein aus?“, fragte ich verwirrt.

„Ja“, meinte Régine und ihr Gesicht leuchtete plötzlich auf, „aber jeder von uns war einmal ein Mensch.“

Eifrig strich sie über den nächsten Teil des Spruches.

„'Wirst mit fünfundzwanzig Jahr''“, sprach sie und verzog auch schon wieder verwirrt das Gesicht.

„Das passt schon wieder nicht, schließlich altert Meinesgleichen nicht“, meinte sie enttäuscht.

Ich wurde nachdenklich, aber auf die Schnelle fiel mir auch keine Lösung ein.

„Lass uns doch erst einmal weiter machen, vielleicht klärt es sich ja auf.“

Régine nickte und fuhr den nächsten Abschnitt entlang.

„'den Kreislauf wieder in Gang setzten'. Die Person aus der Prophezeiung wird also dafür sorgen, das etwas passiert.“

„Wieder passiert“, verbesserte ich Régine, „sie wird vorhergegangene Zustände wieder in Kraft setzten, zumindest verstehe ich das so.“

Régine nickte und fuhr über den letzten Teil der Rassel.

„'auf dass du bringst den ew'gen Schlaf zu uns zurück.'“

Régine und ich schwiegen einen Moment nachdenklich. Ich war mir sicher, dass wir beide im ersten Moment dasselbe in diesen Worten verstanden, doch zumindest mir erschien es widersinnig.

„Sicher, dass es 'zu uns' heißt?“, fragte ich Régine und diese nickte.

„Das wundert mich auch.“

Da kam es mir plötzlich.

„Was, wenn unsere erste Annahme schon falsch war?“

„Du meinst mit 'Tochter der Nächte'?“

„Genau, ich meine, wenn es jemand Deinesgleichen wäre, wäre dann die richtige Formulierung nicht 'Wesen der Nächte, Tochter des Tages'? Aber die Formulierung ist umgekehrt und die Erwähnung 'mit fünfundzwanzig Jahr'' deutet darauf hin, das die gemeinte Person sterblich ist. Ich glaube, das die Prophezeiung eher von einem Vampirjäger handelt.“

Régines Augen leuchteten ebenso auf, wie die meinen zuvor.

„Das klingt plausibel! Aber auch hier bleibt die Problematik mit 'zu uns'.“

„Nein, nicht, wenn mit 'zu uns' die Welt gemeint ist.“

„Also lautet die Prophezeiung auf der Rassel: Eine Vampirjägerin wird mit fünfundzwanzig Jahren den Tod zurück auf die Welt bringen und damit ist wohl gemeint, dass sie Meinesgleichen tötet.“

„Also wollten ihre Eltern, wovon einer sicher ein Jäger war, dass sie mit fünfundzwanzig ins Familiengeschäft einsteigt.“

„Das arme Ding“, meinte Régine mit traurigem Gesicht.

„Wieso?“, fragte ich sie überrascht.

„Weil ihre Eltern ihr keine Wahl lassen, was ihre Zukunft betrifft. Sie muss werden, was diese für sie vorgesehen haben. Ich frage mich nur, wie alt diese Rassel ist und ob ihre Eltern sie schon zu diesem Schicksal gezwungen haben.“

Da hatte sie eine Prophezeiung vor sich, die ankündigte, dass es eine mächtige Vampirjägerin geben würde und alles, worum sich Régine sorgte war, ob dieses Mädchen auch wirklich eine Jägerin werden wollte.

Ich schüttelte nachsichtig lächelnd den Kopf.

„Ich weiß nicht, wie alt diese Rassel ist, tut mir Leid. Sie kann auch schon im Haus meiner Bekannten gewesen sein, bevor sie dort eingezogen sind.“

Régine zog, nach einer sehr menschlichen Angewohnheit, eine Schnute.

„Das ist schade, ich hätte unser kleines Rätsel nur zu gerne weiterverfolgt.“

„Ja“, stimmte ich ihr zu und meinte es wirklich ernst, wobei mich diese ganze 'Prophezeiung' nicht so sehr überraschte wie Régine.

Schließlich hatte ich diese Holzrassel in dem Sicheren Haus eines Vampirjägers gefunden. Vielleicht aber, kam mir gerade in den Sinn, war es nicht ein Versteck für den Notfall, sondern das Heim seiner Familie, die er versteckt hielt, gewesen. Mich hatte dieses Gespräch mit Régine um einiges in dieser Hinsicht weitergebracht, denn nun wusste ich mit ziemlicher Sicherheit, dass der Vampirjäger, dem das Sichere Haus auf der Insel gehört hatte, eine Familie hatte. Ich bewunderte ihn dafür, dass er versucht hatte diese beiden Teile seines Lebens zu vereinen und ich hoffte, dass er seines Ruhestands wegen das Sichere Haus der Vampirjägervereinigung vermacht hatte und es nicht wegen seinem Tod an sie übergegangen war.

„Oh!“, rief Régine plötzlich auf und ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder ihr zu.

„Was ist?“

„Ich glaube, ich weiß, auf wen sich diese Prophezeiung bezieht!!“

„Woher?“, fragte ich überrascht.

„Wo lebten deine Bekannten?“

„In Amerika“, antwortete ich, ohne nachzudenken.“

Erfreut klatschte Régine in die Hände.

„Es gab vor 30 Jahren eine wahrhaft legendäre Jägerin in Amerika. Man nannte sie nur 'Child's Death', weil sie es vornehmlich auf jüngere Meinesgleichen, wie sie hauptsächlich in der neuen Welt zu finden sind, abgesehen hatte. Es war ein offenes Geheimnis, dass auch ihre Eltern schon Jäger gewesen sind. Für mehrere Jahre erfüllte sie uns mit Angst und Schrecken, doch dann, von einem Tag auf den anderen, war sie plötzlich fort und seitdem drang nicht einmal die kleinste Nachricht über ihren Verbleib zu uns vor.“

„Du glaubst, die Prophezeiung war für sie bestimmt?“, hakte ich nach und Régine nickte.

„Es passt: Ihre Eltern waren wegen der Vampirjagd nach Amerika ausgewanderte Russen und sie hat meine Welt wirklich in Angst und Schrecken versetzt.

„Was glaubst du ist mit ihr passiert?“, fragte ich vorsichtig.

„Ich weiß es wirklich nicht“, gab Régine zu, „hätte einer Meinesgleichen sie getötet, dann hätte er sicher darüber nicht geschwiegen. Vielleicht wollte sie sich einfach einem ruhigeren Leben zuwenden, vielleicht war sie auch einfach nur der Jagd müde.“

„Denkst du wirklich, man kann als Vampirjäger je wieder in ein normales Leben zurückkehren?“, fragte ich sie und dachte dabei an mich.

„Hmm“, überlegte Régine, „ich glaube nicht, dass es allen möglich ist.“

Es erwischte mich eiskalt, dass sie meine Vermutung bestätigte. Régine war sonst immer so hoffnungsvoll, warum jetzt nicht?

„Wieso glaubst du nicht, dass es allen möglich ist?“

„Nun, ich beziehe mich hier auf die Jäger, die wegen...eines bedauerlichen Zwischenfalls in ihrem Leben dazu geworden sind. Viele von ihnen sind nicht in der Lage den Schmerz loszulassen, denn das würde für sie bedeuten, dass sie die verlorenen Personen verraten würden. Viele von ihnen sind der Meinung, dass sie es nicht verdient hatten zu überleben und durch das Töten Meinesgleichen glauben sie, Gerechtigkeit zu schaffen.“

Régines Stimme hatte während dieses kleinen Vortrags sehr traurig geklungen und, und das hatte mich noch viel mehr überrascht, meine Gefühle genau auf den Punkt getroffen. Doch eine Sache beschäftigte mich noch mehr.

„Woher weißt du das so genau?“

„In meinem langen Leben konnten mich meine Brüder nicht vor allen schlechten Eindrücken in dieser Welt beschützen, so sehr sie es auch versuchten. So bin ich in meinem Leben vielen solchen Jägern begegnet. Sie haben sogar unter sich eine eigene Bezeichnung dafür: famulus, beziehungsweise famula.“

„Was heißt das?“, fragte ich die Ahnungslose spielend.

„Diener des Hasses auf die Vampire.“

 

Kapitel 39 – Schläfer

Es klingelte am anderen Ende der Leitung und ich trommelte nervös mit den Fingern auf der Lehne des Sofas in meinem Salon.

„Geh schon ran“, murmelte ich.

Es klingelte noch ein paar Mal, bevor Luca endlich abhob.

„Was ist los, Luna? Ist etwas passiert?“, fragte er angespannt.

„Nein, ich hätte da nur eine Frage an dich.“

„Schieß los“, meinte er skeptisch.

„Kannst du mir etwas über Child's Death erzählen?“

„Nicht viel. Sie stammt von einer langen Reihe passionierter Vampirjäger ab und hat in Amerika sehr erfolgreich Jugendvampire gejagt, daher auch der Name. Wieso?“

„Weil ich glaube etwas auf der Insel gefunden zu haben, das ihr gehört hat.“

„Was?“, fragte er nun ernsthaft interessiert.

„Ein Holzring, genauer gesagt eine Babyrassel.“

„Eine Babyrassel?“, fragte Luca wieder skeptisch.

„Es ist eine Inschrift eingebrannt.“

„Ach ja?“, horchte er auf, „Was besagt sie?“

„Es scheint eine Art Prophezeiung zu sein. Sie lautet: 'Tochter der Nächte, Wesen des Tages, wirst mit fünfundzwanzig Jahr' den Kreislauf wieder in Gang setzen, auf dass du bringst den ew'gen Schlaf zu uns zurück.'“

Einen Moment herrschte Schweigen, während Luca über die Bedeutung der Worte nachdachte.

„Sie hat ihr Leben vorausgesagt, aber das war bei ihrer Familienvorgeschichte auch nicht weiter schwer zu erraten. Warum erscheint dir das ganze denn so wichtig?“

„Weil sie unter dem Boden eines Schrankes in einem Sichere Haus versteckt war.“

„Das ist wirklich bizarr, aber hast du schon einmal darüber nachgedacht, ob sie vielleicht einfach durch einen Spalt zwischen den Brettern nach unten gefallen ist?“

„Unmöglich“, meinte ich fest überzeugt, „dafür ist die Rassel viel zu breit, sie hätte nie zwischen die Bretter fallen können.“

„Dann kann ich mir leider auch keinen Reim darauf machen, tut mir leid.“

„Was wurde eigentlich aus Child's Death?“

„Das war vor meiner Zeit, ich bin mir nicht sicher, aber viele der heres kehren zu einem normalen Leben zurück, wenn sie glauben ihren Teil zur Rettung der Menschheit beigetragen zu haben.“

„heres?“

„Du hast den Begriff noch nie gehört? Das ist das Gegenstück zu famulus, also zu uns. Die, deren Vermächtnis, deren Erbe die Vampirjagd ist.“

„Weißt du wenigstens ihren echten Namen?“

„Tut mir leid, wenn von ihr erzählt wurde, hat man den Namen, den ihr die Vampire gegeben hatten, adaptiert.“

„Das ist schade. Ich weiß nicht, aber irgendwie lässt mich diese Sache nicht los. Irgendwas stimmt damit einfach nicht.“

„Aber für jetzt solltest du es noch einmal zurückstellen, schließlich haben wir momentan andere Prioritäten.“

„Stimmt, wie hast du dir die ganze Sache eigentlich vorgestellt? Ich meine, du hast mir eigentlich nichts gesagt, bevor du mich hier her geschickt hast. Ich habe dir bei dieser Sache einfach vertraut.“

„Was hältst du von den Ledoux-Geschwistern?“, fragte Luca mich, anstatt mir zu antworten.

„Vampire wie sie hab ich noch nie zuvor erlebt. Ich verstehe nicht, wieso Pascal auf der Abschussliste steht.“

Luca seufzte am anderen Ende der Leitung schwer.

„Ich selbst halte ihn auch nicht für so ein großes Übel.“

Diese Aussage verwirrte mich.

„Warum musst du ihn dann so unbedingt töten?“

„Das habe ich den Vampirjägerrat auch gefragt und ich denke es ist an der Zeit, es auch dir zu sagen.“

Luca atmete tief durch.

„Bei dieser ganzen Aktion geht es nicht um Pascal, es geht um Oswald, einen Vampir, der ganz Mittel- und Westeuropa kontrolliert, doch an ihn kommt man nicht so leicht heran. Er ist uns immer einen Schritt voraus und unmöglich zu finden. Die Ledoux-Brüder waren seine wichtigsten Stellvertreter, aber schon jetzt, ohne Malo, wird er nachlässiger. Wenn auch noch Pascal stirbt, werden wir die Gelegenheit bekommen, die wir brauchen, um Oswald endlich töten zu können.“

„Und was dann?“

„Ich verstehe nicht, was du meinst?“, fragte er verwirrt.

„Wer wird das Machtvakuum füllen, das Oswald hinterlässt?“

„Darüber müssen wir uns keine Gedanken machen, darum kümmert sich der Rat.“

Einen Moment schwieg ich und dachte nach. In letzter Zeit hatte ich viel zu viel blind vertraut. Nicht nur auf Luca, sondern auch auf die Vampirjägervereinigung im Allgemeinen. Ich hatte bis jetzt daraus niemanden außer den Vampirjägern, die mich gerettet hatten, und Luca kennengelernt. Bisher hatte ich mich auch nie gefragt, wer diese Menschen waren, die entschieden, welche der echten Vampire gejagt wurden. Ich erinnerte mich nur noch dunkel an das Gespräch mit Darius, in dem er mir erklärt hatte, dass Jugendvampire eigenständig gejagt werden durften, während man bei den Alten Hilfe anfordern musste, wobei es häufig zu der Bewertung 'Momentan außerhalb ihrer Möglichkeiten' kam.

„Luca, kennst du eigentlich jemanden aus dem Vampirjägerrat?“

„Persönlich? Ein paar, aber nur von den regionalen Räten. Die Mitglieder des Großen Rates sind geheim.“

„Und wer trifft die Entscheidungen über die Alten?“

„Du meinst, welche sofort gejagt werden?“

„Ja.“

„Das entscheidet der Große Rat, aber mich wundert, dass du erst jetzt danach fragst.“

„Vorher hat mich der Grund für die Jagd nicht interessiert. Ich glaube, ich war einfach zu wütend und mein einziger Gedanke galt der Rache“, gab ich zu, „Jetzt hatte ich etwas Zeit zur Ruhe zu kommen und nachzudenken.“

„Ich hätte dich nicht in deinem noch so frühen Stadium mit Alten in Kontakt bringen dürfen, es tut mir Leid.“

„Warum?“, fragte ich nun ernsthaft verwirrt.

„Diese ganze....Unschlüssigkeit hätte dir nicht während eines Auftrags begegnen sollen sondern in Gegenwart deines Mentors. Das ist in der Regel die Person, die einem in dieser Verwirrung am besten helfen kann.“

„Du meinst, als wie menschlich die Alten anzusehen sind? Ja, ich muss gestehen, das bereitet mir gerade große Probleme.“

„Aber du bist doch schon auf Constantin getroffen. Meinen Informationen nach ist er ein Paradebeispiel für Alte. Halte dich auch bei Alten wie Pascal und Régine an das Bild, das du von ihm hast, denn das entspricht eher ihrer wahren Natur.“

Ich atmete tief durch.

„Also streiche ich die Bilder der Ledoux-Geschwister aus meinen Gedanken und konzentriere mich auf Constantin und Oswald.“

„Genau, Kollateralschäden sind leider unvermeidbar.“

Da fiel mir etwas ein.

„Du hast mir noch immer nicht gesagt, wie wir jetzt vorgehen werden.“

„Kennst du den Begriff eines Schläfers?“

„Ja“, meinte ich zögerlich.“

„Das bist du.“

„Schläfer sind manchmal jahrelang an ihrem Einsatzort, bevor sie zuschlagen!“, rief ich entsetzt aus.

„Keine Sorge“, besänftigte Luca mich sofort, „so lange wird es auf keinen Fall dauern, aber du solltest mit einigen Wochen rechnen.“

„Und was machst du in dieser Zeit?“

„Ich bereite alles auf unseren großen Schlag vor. Du konzentrierst die auf die Routinen auf der Burg, wann wie viele Personen zugegen sind etc.“

„Bei Pascal wird das schwer, er wird häufig in Oswalds Auftrag abkommandiert, wie ich mitbekommen habe.“

„Das weiß ich, aber er wird seine Schwester nicht sofort mit einer neuen Gesellschafterin alleine lassen, da bin ich mir sicher. Deswegen haben wir aber auch ein Zeitfenster für unseren Plan, von dem wir leider nicht wissen, wie lange genau es offen bleibt. Das wird eine heikle Sache.“

„Luca, darf ich dich noch etwas fragen?“, meinte ich zögerlich.

„Klar.“

„Warum wurde nach deinem......Versagen kein anderer Vampirjäger auf Pascal angesetzt?“

„Weil er, als es mir nicht gelang ihn zu töten, als 'Momentan nicht zu töten' eingestuft wurde, bis ein Vampirjäger mit größerem Talent als dem Meinen nachkommen würde.“

„Verstehe, du möchtest deine Position, als....wie sagt man...talentiertester Vampirjäger verteidigen.“

„So in der Art“, meinte er und ich hörte das Lächeln in seiner Stimme.

„Dann sollte ich wohl einmal in meine Schläferrolle zurückkehren, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.“

„Gute Nacht, Luna.“

„Gute Nacht, Luca.“

Ich legte auf und lehnte mich auf dem Sofa zurück. Schläfer.... So hatte ich mir diese Sache ganz und gar nicht vorgestellt. Je länger ich hier blieb, desto schwerer würde es mir sicherlich fallen die Ledoux-Geschwister zu verraten. Ob sich so wohl auch Doppelagenten fühlten?

Idotischerweise musste ich dabei an James Bond denken und fing an unkontrolliert zu kichern, was sich zu einem handfesten Lachanfall steigerte. Es tat mir gut. Für einen Moment waren alle Fragen wie weggewischt und ich lachte einfach herzlich, bis ich Seitenstechen bekam und aufhören musste.

Ich fühlte mich befreit und gestattete mir an zuhause zu denken. Amerika war so weit entfernt von hier. Ich hatten in dem kurzen letzten Monat mehr von der Welt gesehen, als in meinem ganzen vorherigen Leben, doch jetzt wäre es schön wieder zurückzukehren. Ich erschrak fast selbst über mein eigenes Heimweh, doch ich versprach mir selbst, dass ich spätestens in einem Jahr wieder zuhause sein würde. Das gab mir genügend Zeit sowohl die Sache hier in Frankreich, als auch Constantin zu erledigen, zumindest versuchte ich mir das einzureden. Eine leise Stimme in meinem Kopf flüsterte, dass ich vielleicht nie wieder zurückkehren würde, weil ich einen Kampf mit Constantin nicht überleben würde, doch ich erstickte sie im Keim. Ich musste einfach daran glauben, dass ich es schaffen würde und dass mich die Vampire dann auch weitgehend in Ruhe lassen würden.

Ich nahm mein Handy wieder zur Hand und starrte einfach auf den dunklen Bildschirm. Schließlich fasste ich einen Entschluss und tippte eine Nummer ein, die ich nur allzu gut kannte. Ich schloss die Augen und atmete tief durch, bevor ich die Anruftaste drückte und den Hörer ans Ohr hob.

Ich wusste, dass ich mit diesem Anruf ein großes Risiko einging, aber aus dem gleichen Grund, warum Verbrecher nach ihrer Flucht aus einem Gefängnis Kontakt zu ihren Familien aufnahmen, obwohl sie wussten, dass diese als erste von der Polizei überwacht wurden, tätigte ich auch diesen Anruf: Weil die Menschen, die ich liebte keine Sekunde daran zweifeln sollten, dass ich sie liebte und nie einfach so verlassen würde.

Ich hörte das Klicken in der Leitung, das verriet, dass jemand am anderen Ende abgehoben hatte und mein Herz machte einen nervösen Satz.

„Ja?“, fragte eine Stimme abwesend am anderen Ende der Leitung.

„Hallo Nala.“

 

Kapitel 40 – Der letzte Traum

Nala antwortete nicht sofort und ich hörte, wie sie am anderen Ende der Leitung nach Luft schnappte.

„Sam?“, brachte sie schließlich hervor, „bist du das wirklich?“

„Ja“, hauchte ich und hörte, wie Nala aufschluchzte.

„Oh mein Gott, ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht! Geht es dir gut? Was ist passiert? Darius meinte bloß, du bist weg und er wisse nicht, wann und ob du wiederkommst“, plapperte sie schluchzend drauf los.

„Schhhh“, versuchte ich sie zu beruhigen, „mir geht es gut. Tut mir leid, dass ich mich nicht früher gemeldet habe.“

„Aber was ist denn passiert?“, schniefte sie etwas ruhiger.

„Es gab einen Zwischenfall“, wich ich ihr aus.

„Bei deiner komischen Sache, wo du nächtelang weg warst?“

Wie hatte ich nur glauben können, dass Nala so etwas nicht auffallen würde.

„Ja“, gab ich zu, „ich musste untertauchen.“

„Was ist das überhaupt für eine Sache?“

„Das kann ich dir leider nicht sagen.“

„Darf ich dann wenigstens erfahren, wann du wiederkommst?“

„Ich weiß es nicht.“

„Sam, dein Notar war bei mir und hat mir vorübergehend die Leitung über die Baufirma deines Vaters übertragen. Mit der Option auf endgültige Übergabe, solltest du nicht zurückkommen.“

„Du hast all deine Praktika in der Firma gemacht und einen Bachelor in Bauingenieurwesen. Ich bin mir sicher, dass du zurecht kommst und außerdem wusstest du, dass es so in meinem Testament steht.“

„Ja, aber ich dachte, dass es nie zum tragen kommen würde!“, meinte sie aufgebracht.

„Warum?“, fragte ich verwirrt.

„Weil, wenn du Kinder haben wirst die Firma natürlich an sie gehen wird, aber darum geht es jetzt nicht, Sam. Ich weiß, dass du viel durchgemacht hast, glaub mir, ich weiß das besser als jeder andere. Ich war nach dem Tod deiner Familie jeden Tag bei dir im Krankenhaus und habe jede Krankengymnastik-Übung mit dir gemacht, die empfohlen wurde, ich war für dich da und du hast es zugelassen. Doch als ein halbes Jahr später du, Jamie und die anderen überfallen wurden, da hast du dich verändert und damit meine ich nicht nur durch den Schmerz, du hast dich wirklich tiefgreifend verändert. Ich weiß, es hört sich vielleicht dämlich an, aber das Leuchten in deinen Augen, das war nicht mehr dasselbe und du hast dich vor mir verschlossen.“

Nein, es klang gar nicht dämlich für mich, ich wusste ganz genau, was sie meinte. An dem Tag, als die Vampirjäger zu mir ins Krankenhaus kamen und mir erklärten, was da genau an den Dünen geschehen war, da hatte ich aufgehört für mich selbst zu Leben. Mein Lebenswille band sich von da an allein an die Vampirjagd.

„Danach ging alles sehr schnell mit dir. Du hast dein komplettes Leben umgekrempelt und nur das Studium und mich beibehalten, aber wenn du von da an mit mir gesprochen hast, war ein entscheidender Faktor ganz anders: Du warst mir gegenüber nicht mehr vollkommen ehrlich. Ich hab es gespürt, aber ich hatte Angst du würdest mich auch noch aus deinem Leben streichen, wenn ich etwas sagen würde, so leicht, wie du es mit allem anderen getan hattest.“

Nala stoppte und ich hörte, wie sie um ihre Fassung rang.

„Ich könnte dich niemals aus meinem Leben streichen. Seit meine Eltern und Brüder tot sind bist du meine ganze Familie.“

„Wenn wir eine Familie sind, dann sag mir, was hier vor sich geht!“, meinte Nala verzweifelt.

„Ich...ich kann nicht“, meinte ich hilflos.

„Denkst du etwa, du kannst mir nicht vertrauen?“

„Nein“, meinte ich schnell, „so ist das nicht. Ich will dich nur nicht in Gefahr bringen.“

„Ich kann gut auf mich selbst aufpassen und das weißt du auch.“

„Krav Maga wird dir in diesem Fall nicht helfen können.“

„Du weißt, dass mir mein Vater viel mehr beigebracht hat.“

„Nala, bitte glaub mir einfach, es ist das Beste, wenn du nichts weißt.“

„Für dich würde mein Vater seine alten Beziehungen wieder aufleben lassen.“

„Nala, hör auf.“

Ich hörte, wie sie am anderen Ende der Leitung wieder zu weinen begann.

„Ich möchte doch nur, dass du wieder zurückkommst.“

„Ich würde nichts lieber tun, das kannst du mir glauben, aber dafür muss ich erst noch eine Sache erledigen.“

„Und wie lange wird das dauern?“

„Ein Jahr, zwei Jahre, den Rest meines Lebens. Ich weiß es einfach nicht.“

Einen Moment war es still.

„Was hast du getan?“, fragte sie mich, wie Mr Kosloff zwei Wochen zuvor.

Meine Antwort blieb dieselbe.

„Ich weiß es wirklich nicht, aber ich weiß, was ich jetzt tun werde: Die Jäger zu Gejagten machen.“

Danach sprachen wir nicht mehr viel und legten relativ rasch auf. Nala war zwar ungemein froh ein Lebenszeichen von mir zu bekommen, ertrug und verstand es aber nicht, dass ich trotzdem fort bleiben musste. Ich hingegen verstand sie nur zu gut. Wir waren gemeinsam aufgewachsen, ihre Mutter war an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben, als sie noch ein kleines Mädchen war. Daraufhin war sie mit ihrem Vater in unsere Straße gezogen und wir hatten uns auf Anhieb gut verstanden. Vor einem halben Jahr hatte sich der Alzheimer ihres Vaters extrem verschlimmert und es gab Tage, an denen er seine eigene Tochter nicht erkannte. Auch wenn Nala es nicht zugab, so litt sie doch sehr darunter. Ich war alles, was sie an Familie noch hatte und jetzt war auch ich nicht mehr da. Es tat mir Leid sie auf diese Weise verletzt zu haben, ich hatte wirklich keine Intention dazu gehabt, aber jetzt stand erst einmal das Geraderücken meines eigenen Lebens im Zentrum meiner Aufmerksamkeit.

Womit ich wieder beim Thema war. Lucas Plan gefiel mir überhaupt nicht, er machte mich nervös. Er hatte Recht, denn in dieser Situation hätte ich Darius' Rat gut gebrauchen können, doch das Gespräch mit Nala, und wenn ich auch kein Wort über meine Zweifel ihr gegenüber verloren hatte, hatte mehr gebracht, als es hundert Gespräche mit Darius hätten tun können. Nun wusste ich, dass man tun muss, was getan werden musste, das war mir während des Gesprächs klar geworden. Luca hatte Recht gehabt mit den Kollateralschäden. Sie waren zwar tragisch, aber man musste immer an das Gesamtbild denken. Trotzdem hätte ich gerne genauer gewusst, was da auf mich zukam, denn sonst wäre ich am Ende der zu beklagende Kollateralschaden.

Mit einem schweren Seufzer erhob ich mich vom Sofa und tappte erschöpft ins Bad. Heute wollte ich mich nicht weiter mit den Dilemmata in meinem Kopf beschäftigen und schob die ganze Sache, mal wieder, auf. Als ich schließlich unter die Decke meines Bettes kroch wünschte ich mir nicht sehnlicher als Schlaf.

Doch wieder einmal ließ Constantin das nicht zu. Diesmal waren wir an einem See, der so weit war, dass ich das andere Ufer nicht erblicken konnte. Ich spürte, wie der Kies am Boden sich in meine nackten Fußsohlen bohrte und der kühle Wind mir die Haare aus dem Gesicht blies. Als ich mich umblickte lag vor mir nichts als grüne Weiten die sich bis zum Horizont erstreckten. Ich trug kein Kleid, sondern einfache handgewebte Wollhosen und eine weite Tunika aus demselben Material. Als ich mich wieder zu dem See umwandte, stand an dessen Ufer plötzlich Constantin und wirkte mit seinem Anzug wieder vollkommen deplatziert in der Szenerie.

„Wo sind wir hier?“, fragte ich ihn, damit er seine Aufmerksamkeit von dem See abwandte.

„In meiner Heimat.“

Ich hatte vieles erwartet, doch sicher nicht das.

„Warum?“, fragte ich schließlich.

„Ich komme gerne hierher um nachzudenken.“

„Und worüber denkst du dieses Mal nach?“, fragte ich, als er nicht weitersprach und nun wandte er mir auch endlich sein Gesicht zu und blickte mich direkt an.

„Dich.“

„Muss ich dazu wirklich hier sein oder darf ich schlafen?“

„Mit wem bist du unterwegs?“

„Das werde ich dir nicht sagen?“

„Sind es andere Vampirjäger?“, fragte er, während er mir scharf in die Augen sah.

„Nein“, schnaubte ich verächtlich.

„Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass du dich mit gewöhnlichen Menschen zusammengetan hast.“

„Hab ich auch nicht“, meinte ich spöttisch, „sondern mit ein paar Zwergen und Halblingen und dem Rest der Fabelwelt. Du verpasst echt was, bei uns geht die mega Sause.“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass es keine Halblinge gibt“, meinte Constantin mit einem Lachen in der Stimme.

„Es gibt euch, wieso nicht auch sie?“

„Weil wir nicht dem Gehirn eines Menschen entsprungen sind.“

„Da wäre Bram Stocker aber anderer Meinung.“

„Wenn, dann schon eher John Polidori. Du musst bei Gelegenheit sein Werk lesen. Mir persönlich hat es sehr gefallen, auch wenn es wenig mit der Realität zu tun hat.“

„Wieso reden wir über so belanglose Dinge?“

„Weil du mir auf meine richtigen Fragen keine Antworten geben willst und wie gesagt, Unterhaltungen mit dir sind überraschend erfrischend.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Ich verstehe dich einfach nicht. Du weißt, dass ich nichts sagen werde, also lass mich bitte einfach in Frieden.“

„Nicht, bevor ich herausgefunden habe wer du bist.“

Er war nicht der einzige, der das wissen wollte. An allererster Stelle stand ich selbst.

„Soweit es meine Einschätzung betrifft bin ich ein normaler Mensch.“

„Vampirjäger sind keine normalen Menschen, dafür sind sie viel zu nervtötend.“

„Das Kompliment gebe ich gerne zurück.“

„Dein Humor ist so schwarz wie deine Seele“, meinte Constantin mit einem schiefen Lächeln und vollführte eine spöttische Verbeugung.

„Komisch, im Moment könnte man fast glauben du wärst ein Mensch.“

„Das liegt an der Traum-Realität.“

Ich legte den Kopf schief und zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.

„Vampire sind nicht emotionslos, unsere emotionalen Regungen spiegeln sich aber nur noch minimal auf unseren Gesichtern und in unserem Verhalten wider. In der Traum-Realität ist es so gut wie unmöglich emotionale Regungen zu unterdrücken, weil sie viel enger mit unserem Unterbewusstsein verbunden ist. Trotzdem muss ich dich auf die Ungenauigkeit deiner Annahme hinweisen.“

„Und die wäre?“

„Du setzt bei deiner Annahme voraus, dass ich als Mensch emotionaler war, was nicht unbedingt der Fall hätte gewesen sein müssen.“

Ich schnalzte mit der Zunge und verdrehte die Augen.

„Darf ich jetzt wieder schlafen?“, meinte ich genervt.

Zwar hatte mich diese Sache mit der Traum-Realität sehr interessiert, aber das musste ich Constantin nicht unbedingt wissen lassen.

„Nein“, meinte Constantin schlicht.

Okay, das nervte mich jetzt. Ich verschränkte die Arme hinter dem Rücken, atmete tief durch und konzentrierte mich auf die Luft, die ich mit meinen Händen umfasste.

Dieses Mal hatte ich mehr Glück als die Nacht zuvor mit der Bank.

Ich umfasste die materialisierte Waffe fester mit der rechten Hand und atmete noch einmal tief ein.

„Sag bloß, du strafst mich jetzt mit Schweigen?“, fragte Constantin amüsiert.

Anstelle einer Antwort atmete ich ruhig aus, zog die Waffe mit einer schnellen geübten Bewegung hinter dem Rücken hervor und schoss Constantin mit der Walther P99 direkt zwischen die Augen. Für einen Moment weiteten sich diese vor Überraschung, als das Profil tatsächlich in seinen Kopf eindrang.

Einen Sekundenbruchteil wurden seine Augen trüb, sein Körper jegliche Spannung verlor und er sackte auf den grünen Weiten seiner Heimat zusammen, den toten Blick noch immer ungläubig auf mich gerichtet.

 

Kapitel 41 – Der Tod und das Mädchen

Wie vom Schlag getroffen fuhr ich aus dem Schlaf hoch. Ich war, wenn möglich, noch überraschter als Constantin, dass das 9x19mm-Kaliber in seinen Schädel eingedrungen war. Das hätte nicht funktionieren dürfen. Die Patrone hätte eigentlich nur vorübergehend seinen Schädel eindrücken dürfen, da das Projektil zu breit war, um die Haut eines Vampirs zu durchdringen. Stattdessen hatte sie Constantin getötet. Die Frage war jetzt nur: Wenn man in einem Traum getötet wurde, war man dann auch in der Realität tot? Schließlich war es ja kein gewöhnlicher Traum und es wäre eine Erklärung für das abrupte Ende und Constantins fassungslosen Blick. Ich wünschte mir auf jeden Fall, dass die Walther P99 seinen endgültigen Tod besiegelt hatte. Wenn ich mir nur hätte sicher sein können.

Luca hatte mir schon gesagt gehabt, dass er sich selbst mit der ganzen Sache mit dem Traumbesuch nicht sicher gewesen war, bis ich es ihm bestätigt hatte. Aber vielleicht gab es noch mehr Theorien, die sich als wahr erweisen würden.

Ein schneller Blick auf die Uhr verriet mir, dass es drei Uhr Morgens war, doch ich zögerte nicht einen Augenblick, als ich nach meinem Handy griff und Lucas Nummer eintippte.

Nach ein paar Mal klingeln hob Luca verschlafen ab.

„Weißt du wie viel Uhr es ist Kleines?“

Ich ging jedoch überhaupt nicht darauf ein und kam direkt auf den Punkt.

„Diese Traumbesuche, kennst du noch weitere Theorien darüber?“

Ich hörte, wie Luca sich mit einem Stöhnen aufsetzte.

„Um was geht es denn?“

„Ich möchte wissen, was die Geschichten dazu sagen, was mit dem Träumer passiert, wenn er während des Traumes getötet wird.“

„Soll das etwa heißen...?“, fragte Luca fassungslos.

„...dass ich Constantin mit einer Walther P99 eine Kugel in den Schädel geschossen habe? Ja.“

„Und er ist daran gestorben?“

„Das hat mich auch gewundert.“

„Wieso hast du mit einer Pistole auf ihn geschossen?“, fragte er noch immer völlig neben der Spur.

Es wunderte mich, dass Luca die Bestätigung der Traumbesuche-Theorie einfach so hinnahm, aber vielleicht hatte diese Fähigkeit für ihn schon lange im Bereich des Möglichen gelegen.

„Ich wollte, dass er den Traumbesuch beendete. Als er auf meine Bitte nicht reagierte wollte ich ihr auf meine Art Nachdruck verleihen.“

„Okay“, meinte er und ich sah es beinahe vor mir, wie er scharf nachdachte.

„Es gibt tatsächlich eine Theorie dazu, oder vielmehr eine Legende, allerdings wird dort nie wörtlich erwähnt, dass es sich dabei wirklich um einen Vampir handelt.“

„Erzähl sie mir“, bat ich schlicht.

„Vor langer Zeit soll eine Frau gelebt haben, ewiglich jung und so wunderschön, dass sich jeder, der sie erblickte, sofort in sie verliebte. Doch eine schöne Gestalt bedeutet nicht sofort ein gutes Herz. Sie liebte es ihre Schönheit für ihre Zwecke einzusetzen, wie ihr langes flammenfarbenes Haar über die Schulter zu werfen oder mit ihren smaragdgrünen Augen zu bezirzen. So kam es, wie es kommen musste: Eines Tages kamen zwei Krieger auf dem Weg zurück in ihre Heimat an der Hütte der Frau vorbei und klopften mit der Bitte um ein Nachtlager an ihre Tür. Als sie ihnen öffnete waren sie ihr sofort verfallen. Aus Respekt voreinander, da die beiden Krieger wie Brüder waren, beschlossen sie, dass derjenige die Frau bekommen solle, dessen Avancen sie nachgab. So wohnten sie einige Zeit friedlich im Haus der Frau, halfen ihr bei der anfallenden Arbeit und versuchten ihr Herz für sich zu gewinnen, so wie sie es mit denen der Krieger so leicht getan hatte. Doch nach wenigen Tagen wurde es der Frau langweilig die Freunde gegeneinander auszuspielen, weil sie in ihrem Vertrauen zueinander nicht zu erschüttern waren, also ging sie einen Schritt weiter: Sie schlich sich in ihr Zimmer, als sie schliefen und sprach eine alten Zauber, der die Träume der beiden Männer verband. Dann legte sie sich zu ihren Füßen nieder und begab sich ihrerseits in den Traum. Die Krieger waren klug und bemerkten sofort, dass sie sich nicht in der Wirklichkeit befanden, sondern in einem Traum. Das wurde zu ihrem Verhängnis. Die Frau kam zu ihnen und forderte sie auf, sich um sie zu duellieren. In der Wirklichkeit hätten die Krieger nie das Schwert gegeneinander erhoben, aber dies war ja nur ein Traum und so glaubten sie gefahrlos die Sache um die Frau entscheiden zu können. Ohne Rücksicht auf Verluste gingen sie aufeinander los und schon nach wenigen Schlagabtauschen traf einer der Krieger den anderen ins Herz. Als er sein Leben aushauchte beendete die Frau lachend den Traum und schickte sie alle zurück in die Realität. Doch der im Traum getötete Krieger erwachte nicht wieder und als seinem Freund klar wurde, dass er ihn getötet hatte, stürzte er sich in sein eigenes Schwert. Noch immer lachend nahm die Frau ihm den letzten Lebensfunken und ergötzte sich an dem Schmerz und der Trauer, die daran anhafteten.“

„Dass ist eine grausame Geschichte.“

„Ja, das ist wahr. Mir läuft jedes Mal ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich auch nur an die Geschichte denke.“

„Du glaubst also, dass die Frau in der Geschichte eine Vampirin war?“

„So hört es sich für mich zumindest an.“

„Die Frage ist, ob mit dem 'Zauber' wirklich das gleiche gemeint ist, wie mit den Traumbesuchen.“

„Das ist das einzige Beispiel, das mir auf die Schnelle eingefallen ist, tut mir leid.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Mich würde nur interessieren, woher du diese Geschichte überhaupt hast.“

„Natürlich aus dem Archiv der Vampirjäger. Ich hab dir ja schon einmal erzählt, dass ich schon vor meiner offiziellen Einführung und dem Erhalt der Tätowierung Vampire auf eigene Faust gejagt habe. Der Rat war nicht sonderlich begeistert und in dem Versuch mich davon abzuhalten musste ich bei der Archivierung der Bestände an Legenden, Geschichten und handfestem Wissen etc. helfen. Diese Legende war darunter.“

„Strafarbeit?“, fragte ich ungläubig.

„Könnte in Zukunft auch auf dich zukommen, du böse Vampirjägerin.“

Ich lachte amüsiert.

„Woher stammt diese Legende?“

„Aus China, genauer gesagt Tibet. Diese Legende wird in einigen Dörfern an der Grenze zu Nepal erzählt. Bei einigen der Dörfer geht die Angst vor dieser Geschichte sogar so weit, dass sie Frauen mit rotem Haar und grünen Augen vertreiben oder gar versuchen zu töten. Für sie ist diese Frau ein böser Dämon, eher in die Richtung Sukkubus könnte man sagen.“

Eine Weile sagte keiner von uns ein Wort.

„Glaubst du wirklich, dass er tot ist?“

„Ich habe definitiv etwas gespürt, als er zu Boden ging, aber was genau....das weiß ich nicht.“

„Es wäre einfach zu unglaublich, wenn es so einfach wäre.“

„Vielleicht ging es aber auch nur, weil wir in seinem Traum waren. Ich meine, wo ist man verletzlicher, als in seinem eigenen Unterbewusstsein?“

„Wir Menschen können an einem Schock sterben, Vampire vielleicht auch, wenn er tief genug geht.“

„Wie eine Kugel, die sich einem tatsächlich in den Schädel bohrt.“

„Genau.“

„Und was denkst du jetzt, ist er tot?“

„Nun, ich denke das ist ganz leicht herauszufinden: Warte einfach eine Weile. Es würde auf keinen Fall spurlos an dem Gefüge der Vampirwelt vorbeigehen, wenn Constantin endgültig tot wäre. Außerdem würde er dich sicherlich wieder in deinen Träumen aufsuchen, oder?“

„Du hast Recht, danke.“

„Kein Problem“, meinte Luca und wir legten auf.

Er hatte Recht. Wäre Constantin noch am Leben würde er sich bei mir melden, ich musste nur warten.

Aufgeregt wegen meiner neuen Idee legte ich mich wieder hin und versuchte zu schlafen, doch ich war einfach zu angespannt.

Irgendwann schlief ich dann doch ein, aber in meinen Träumen tauchte Constantin nicht auf. Ich war wieder zuhause, in meinem längst zerstörten Elternhaus und saß auf dem Teppich des Wohnzimmerbodens und spielte mit einer Puppe. Mein Vater saß seitlich von mit auf dem Sofa und las Zeitung. Da wurde mir klar, dass es sich hier um keinen gewöhnlichen Traum, sondern eine Erinnerung handelte. Ich war zu diesem Zeitpunkt vielleicht drei Jahre alt gewesen. Das wusste ich, weil mir meine Mutter in dieser Zeit meine Haare immer zu einer hohen Palme frisiert hatte und ich gerade spürte, wie deren Spitzen mir über die Wangen strichen, als ich mich vorbeugte und meine kleinen Hände versuchten die Haare der Puppe in dieselbe Form zu bringen. Auch wenn ich durch die Augen meines jüngeren Ichs sah, so konnte ich die Bewegungen doch nicht steuern und war ganz und gar ein stummer Zuschauer.

Es klingelte an der Tür. Mich schien das wenig zu interessieren, doch mein Vater legte seine Zeitung beiseite, um die Tür zu öffnen. Im Vorbeigehen strich er mir kurz liebevoll übers Haar, doch mein jüngeres Ich war vollkommen auf die Frisur der Puppe fixiert und schien diese kleine Berührung nicht einmal wahrzunehmen. Mein jetziges Ich aber sehr wohl und ich genoss diesen kleinen Ausdruck der Zuneigung in vollen Zügen. Dann war er im Flur verschwunden, doch ich hörte, wie er die Tür öffnete.

„Was machen sie hier?“, hörte ich meinen Vater im Hintergrund aufgebracht zischen.

Die Antwort der Person in der Tür konnte ich nicht hören, denn in diesem Moment quiekte mein jüngeres Ich erfreut über den Erfolg mit der Frisur bei der Puppe. Im nächsten Moment war ich auch schon aufgesprungen und rannte in den Flur.

„Papi! Papi! Schau mal!“, rief ich aufgeregt.

Auch wenn der Blick meines jüngeren Ich nur einen kurzen Moment über die Gestalt in der Tür strich, bevor sie meinen Vater fokussierte, prägte sich der Fremde in mein Gedächtnis ein. Er war groß, über 1,80m, und seine schlanke Gestalt steckte in einem klassischen dunkelgrauen Anzug mit weißem Hemd, bei dem der oberste Knopf offen gelassen worden war. Sein hellblondes Haar reichte ihm fast bis zur Taille und war am Oberkopf zusammengefasst. Der Rest fiel ihm wie ein Wasserfall über die Schultern und umrahmte sein spitzes Gesicht mit den geschwungenen Brauen und stechend hellgrünen Augen, die mein jüngeres Ich in sich aufzusaugen schienen.

Sofort als mein jüngeres quietschendes Ich vor ihm auf und ab hüpfte legte mein Vater sanft eine Hand auf meinen Kopf und lächelte mich, wenn auch gezwungen, an.

„Das hast du ganz toll gemacht, mein Schatz.“

„Sie haben wirklich eine ganz entzückende Tochter, Robert.“

Ich merkte, wie sich die Hand meines Vaters auf meinem Kopf versteifte und auch endlich mein jüngeres Ich die Anwesenheit des Fremden bemerkte und sich zu ihm umwandte.

„Mein Papi heißt nicht Robert. Mein Papi heißt Scott“, meinte ich unschuldig.

Der Fremde lächelte etwas zu breit und beugte sich zu mir vor.

„Aber natürlich, du hast Recht meine Kleine. Was für ein dummer Fehler, danke, dass du mich berichtigt hast.“

Ich spürte das fröhliche unschuldige Kinderlächeln, das sich auf meinen Lippen ausbreitete.

„Bist du ein Freund von meinem Papi?“, fragte ich neugierig geworden.

„Nur ein alter Bekannter von der Arbeit.“

„Schätzchen, möchtest du die Puppe nicht auch noch vielleicht Mama zeigen?“, schaltete sich mein Vater ein und ich drehte mich freudestrahlend zu ihm um.

„Au ja!“, quietschte ich und flitzte die Treppe hinauf.

Im Hintergrund hörte ich noch einen Satz von meinem Vater:

„Das ist mir egal, jetzt ist sie meine Tochter.“

 

Kapitel 42 – Niemals

Als ich am nächsten Morgen vom Klingeln des Weckers erwachte, hatte ich diesen Traum schon fast wieder vergessen, wie es mit echten Träumen nun mal so ist. Ich stand auf, frühstückte und ging dann erst einmal in den Stall zu Lueur. Man merkte sofort, dass dem Hengst sein Leben lang eine liebevolle Behandlung zugekommen war, denn als ich zu ihm in die Box kam, drückte er vertrauensvoll seinen Kopf gegen meine Schulter. Lächelnd vergrub ich mein Gesicht an seinem Hals und verweilte einen Moment in dieser Position, bis Lueur offensichtlich keine Lust mehr hatte und mir ins Haar schnaubte. Ich klopfte ihm schmunzelnd auf den Hals und machte mich daran die Box auszumisten, während Lueur an dem Heunetz knabberte, das ich ihm hingehängt hatte. Auf der Stallgasse hörte ich ab und zu Evangeline, Nicole und Bernadette sowie Christian und Paul, die die anderen Pferde versorgten.

Während ich noch arbeitete, lehnte sich jemand in meinem Rücken an die Boxentür. Seufzend drehte ich mich um, doch es war nicht Paul, sondern sein Bruder Christian.

„Guten Morgen Luna.“

„Guten Morgen Christian“, antwortete ich höflich, wenn auch leicht verwirrt und wandte mich wieder meiner Arbeit zu.

„Und, hast du dich schon eingelebt?“

Ich unterbrach meine Arbeit erneut.

„Ganz gut, es gefällt mir hier sehr. Danke der Nachfrage.“

„Wie ich mitbekommen habe, hat Paul dich schon zur Seite genommen. Das tut mir Leid.“

Allen Anscheins nach wollte Christian irgendetwas herausbekommen, ich musste nur noch herausfinden was.

„Ach, wir haben uns nur ein wenig unterhalten, nichts wofür man sich entschuldigen bräuchte.“

Es war augenscheinlich nicht die Antwort, die er erwartet hatte.

„Dann ist ja gut“, meinte er kurz angebunden, nickte rasch, klopfte mit der flachen Hand gegen die Boxentür und ging zurück an seine Arbeit.

Kopfschüttelnd machte auch ich mich daran die Box zu Ende auszumisten. Als ich fertig war drückte ich Lueur noch einen Kuss auf die Nüstern, bevor ich noch einmal rasch auf mein Zimmer ging um mich zu duschen und umzuziehen, bevor ich zu Régine ging. Diese stand wieder vor dem Fenster und blickte mit ihren blinden Augen in die Sonne.

„Ich weiß nicht, ob das gut für dich ist, egal ob blind oder nicht.“

Ein feines Lächeln breitete sich auf Régines perfekten Lippen aus.

„Ich habe nicht Xeroderma pigmentosum“, meinte sie nur.

„Was?“, fragte ich überfordert nach.

„Weißt du, was Mondscheinkinder sind?“

Ich schüttelte den Kopf, bevor ich mich daran erinnerte, dass Régine blind war und verneinte.

„Hierbei handelt es sich um eine Krankheit, bei der der Kontakt von UV-Licht mit der Haut Entzündungen und sogar maligne Hautkrebsformen hervorrufen kann. Die Patienten müssen folglich jegliches Sonnenlicht meiden und die meisten der Betroffenen sind Kinder.“

„Also der menschliche Gegensatz zum Aberglauben über die Vampire.“

Régine nickte.

„So könnte man es bezeichnen.“

Einen Moment genossen wir beide schweigend die Sonne auf unserer Haut.

„Wird das Gefühl eigentlich stärker, je länger du in der Sonne bist?“

„Ja, es steigert sich mit jeder Sekunde.“

„Und doch treten dein Bruder und du ihr entgegen, als wäre es nichts.“

„In solchen Moment kämpfen zwei Gefühle in einem an: Der Zwang aus dem Licht zu treten und das Bedürfnis die Sonne auf der Haut zu spüren. Solange das Zweite größer ist, ist es kein Problem.“

Eine Weile sprachen wir wieder nicht.

„Und was machen wir heute so?“, fragte ich sie schließlich.

„Wie wäre es mit einem Ausritt über die Ebenen?“

„Gern“, meinte ich nickend.

Dann warf ich einen Blick auf Régines Kleidung. Natürlich war das Kleid wieder grün. Geschnitten war der tannengrüne Stoff wie ein Uniformrock, die Knöpfe waren golden mit komplizierten eingravierten Mustern und die Nähte waren so blutrot wie der Rollkragenpullover, den sie darunter trug, und die kniehohen Strümpfe, die in stilistisch passenden schwarzen Halbschuhen steckten.

„Willst du dich vorher noch umziehen?“, fragte ich sie skeptisch.

„Wieso?“

„Dein Kleid, das willst du doch sicher nicht schmutzig machen.“

Versonnen lächelnd strich Régine über den festen Stoff des Kleides.

„Das Kleid hat den Originalschnitt der Uniformröcke der Gardes-Françaises aus dem 17./18. Jahrhundert, aber welchen Sinn hat es ein solches Kleid zu besitzen und es dann nicht zu tragen?“

„Brauchst du noch eine Jacke?“

Régine schüttelte lächelnd den Kopf.

„Kälte macht mir wenig aus, aber ich werde mir Reitstiefel anziehen.“

„Sind sie hier oder in den Stallungen?“

„In den Stallungen.“

„Kommst du mit meine Jacke holen oder treffen wir uns bei den Pferden?“

Régine lächelte nachsichtig.

„Ich finde ohne Probleme allein zu den Stallungen. Wir sehen uns dann dort.“

„Okay“, meinte ich und ging zurück in mein Zimmer, um meine Winterjacke zu holen.

Nachdem ich mich umgezogen hatte machte ich mich auf den weg in die Stallungen. Régine hatte Forêt schon gegenüber der Sattelkammer angebunden und striegelte das Fell des langbeinigen Rappen. Neben dem Pferd wirkte sie noch zierlicher und würde neben ihm verschwinden, wenn ihr hoher blonder Pferdeschwanz nicht einen so starken Kontrast zum Fell des Pferdes bilden würde. Als ich Lueur aus der Box holte und neben Forêt anband war der Kontrast perfekt.

„Ich muss gestehen, ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie du das mit dem Reiten auf den offenen Ebenen machst. Wie findest du den Weg zurück zum Schloss?“

„Nun, eigentlich verliere ich die Orientierung nicht, aber selbst wenn, dann würde Forêt den Weg für mich zurück finden.“

Régine verschwand kurz in der Sattelkammer und kam mit zwei Tuben Huffett zurück. Eine davon gab sie mir und ich trug eine dicke Schicht zum Schutz vor dem Schnee auf Lueurs Hufe auf. Ich hatte auch leichtsinnigerweise geglaubt, dass Régine meine Hilfe beim Satteln von Forêt brauchen würde. Doch tatsächlich schien das Satteln des großen Rappen ihn nicht die geringsten Probleme zu bereiten, ebenso wie das Aufzäumen. Sie war sogar noch vor mir fertig. Anschließend führten wir die Pferde gemeinsam zum großen Tor, das Régine mit einem Code öffnete und als wir auf der Brücke waren stieg ich mithilfe des Brückengeländers auf.

Um die Muskeln der Pferde aufzuwärmen ritten wir am langen Zügel erst ein Stück den Weg entlang. Der Atem der Pferde entwich als weiße Wölkchen ihren Nüstern und ich spürte schon jetzt den Wind eisig auf meinen Wangen. Régine schien von alldem nichts mitzubekommen. Sie lächelte einfach in die Sonne und schien dem Rest der Welt keine Beachtung zu schenken. Nach einigen Minuten spürte ich, wie Lueur sich in die Zügeln zu legen begann: Er wollte endlich laufen.

„Lassen wie die Pferde ein wenig laufen“, meinte Régine da plötzlich und gab im nächsten Moment schon die Zügel frei.

Forêt schoss los und Lueur spannte sich sofort an, rannte aber erst los, als ich ihm auch die Zügel freigab und so galoppierten Régine und ich über die schimmernden schneebedeckten Ebenen. Ich genoss jeden der weiten Galoppsprünge des kraftvollen Pferdes unter mir und viel zu schnell war es wieder Zeit Lueur zu versammeln und am langen Zügel nach Hause zu reiten.

„Das hat Spaß gemacht“, meinte Régine fröhlich und tätschelte Forêts Hals.

„An so etwas könnte ich mich wirklich gewöhnen.“

„Richtig schön wird es erst, wenn der Frühling da ist und die Ebenen aufblühen. Man hört die Bienen summen und riecht den Duft der Blumen. Es ist einfach fantastisch.“

„Ich freue mich schon darauf“, meinte ich, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass ich zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr hier sein würde.

„Gehören diese ganzen Ebenen eigentlich euch?“

„Ja, sonst dürfte ich mich hier nicht frei bewegen. Offiziell gibt es mich und Pascal ja überhaupt nicht.“

„Ihr habt auch keine falsche Identität?“, fragte ich überrascht.

„Natürlich, aber es ist immer besser es nicht darauf ankommen zu lassen. Besonders bei mir, da eine falsche Identität immer nur wenige Jahre hält.“

„Das war früher sicher um einiges einfacher.“

„Sollte man meinen, aber nein. Zwar gab es nicht die Ausweisungsproblematik, aber dafür sahen sich die Leute früher die Menschen um sich herum viel genauer an. Denen fiel es noch auf, wenn eine Person nach zwanzig Jahren unverändert wieder aufgetaucht ist.“

„Was war eigentlich deine liebste Zeit?“, fragte ich neugierig.

Régine legte nachdenklich den Kopf schräg.

„Das ist schwer, jede Zeit hatte ihre vor und Nachteile, aber ich denke man liebt seine eigene Zeit immer ein kleines Bisschen mehr, einfach, weil man in ihr groß geworden ist.“

Ich hörte aus der Ferne ein Motorengeräusch und wandte den Blick überrascht der Geräuschquelle zu. Da sah ich, wie ein schwarzer, teuer aussehender Wagen förmlich aus der Burg hervorschoss und mit einer unglaublichen Geschwindigkeit aus unserem Sichtfeld raste.

„Wer war das?“, fragte ich Régine fassungslos.

„Dem Fahrstil nach zu schließen, kann es nur Pascal gewesen sein. Keiner der anderen würde mit solch einer Geschwindigkeit über die vereisten Straßen rasen.“

„Was war das für ein Wagen? Ich konnte ihn nicht zuordnen.“

„Das ist so, weil es ein Maybach Exeleros ist, von dem es offiziell nur einen einzigen Prototypen gibt.“

„Ich schätze einmal, das ist nicht der offizielle Prototyp?“, schloss ich aus Régines Formulierung.

„Genau. Wir haben viel Geld für den Nachbau dieses Wagens bezahlt, aber er hat eben nicht das offizielle Maybach-Emblem. Es ist die einzige Auffälligkeit, die sich mein Bruder leistet, warum auch immer es ausgerechnet dieser Wagen sein muss, frag mich nicht.“

Egal aus welchem Jahrhundert die Männer stammten, ein Fable für Autos hatten sie alle. Ich verdrehte amüsiert die Augen und kicherte.

„Und wo ist er denn so eilig hin gebraust?“

Plötzlich schien Régine sich unwohl zu fühlen und fuhr sich mit der Hand nervös durch ihren Pferdeschwanz. Doch mehr musste sie gar nicht tun.

„Er..“, begann sie und brach erst einmal wieder ab und atmete tief durch, bevor sie weitersprach, „er ist nach Caen gefahren, um....zu jagen“, brachte sie schließlich hervor.

Nervös nestelte sie an Forêts Zügeln herum und ich biss mir auf die Lippe. Ich war dabei gewesen zu vergessen, was sie waren, doch dieser gestotterte Satz brauchte mich wieder vollkommen zurück in die Realität und mein ganzer Aufenthalt hier zerplatzte wie eine rosa Seifenblase. Ich war geblendet gewesen von ihrer faszinierenden Welt und ihrem so menschlich wirkenden Verhalten und hatte dabei den Haken an der Sache ganz vergessen.

„Und du begleitest ihn nicht?“, brachte ich schließlich hervor.

„Nein“, meinte Régine mit fester Stimme.

Sie umfasste Forêts Zügel fester und wandte mir ihre blicklosen grünen Augen in dem perfekten Gesicht zu.

„Niemals.“

 

Kapitel 43 – Drachentöter und geheime Zimmer

Ich stellte Régine keine weiteren Fragen und wir ritten in drückender Stille zurück auf die Burg. Auch in den Stallungen herrschte eisiges Schweigen, während wir uns um die Pferde kümmerten. Zum Glück war es danach Zeit zum Mittagessen und während Régine auf ihr Zimmer ging fand ich mich mit den anderen Menschen im Esszimmer ein. Gegessen wurde wie immer schweigend und ich hatte immer wieder das Gefühl, dass mich jemand mustern würde, doch jedes Mal, wenn ich aufblickte, waren alle ihrem Essen zugewandt.

Nachdem ich Susette beim Abwasch geholfen hatte ließ es sich nicht weiter aufschieben und ich ging zu Régine in den Salon. Sie saß auf einem der Sofas, ein Buch auf dem Schoß, über dessen Einband sie strich. Ich setzte mich schweigend neben sie. Kurz darauf schob sie das Buch hinüber auf meinen Schoß.

„Würdest du mir daraus vorlesen?“

„Aber natürlich“, meinte ich und schlug das alte in Leder gebundene Buch auf.

Ich brauchte einen Moment, um die schon etwas vergilbten Lettern zu entziffern, doch nach einem Moment begann ich zu lesen:

„Erstes Abenteuer, wie Kriemhilden träumte.

Viel Wunderdingen melden / die Mären alter Zeit

Von Preiswerten Helden, / von großer Kühnheit,

Von Freud und Festlichkeiten, / von Weinen und von Klagen,

Von kühnen Recken Streiten / mögt ihr nun Wunder hören sagen.“

Ich setzte ab und wandte mich an Régine.

„Was ist das für ein Buch?“

„Das ist das Nibelungenlied.“

„Also ein Gedicht?“, fragte ich noch immer keinen Schritt weitergekommen.

„Man nennt es Heldenepos. Das Nibelungenlied ist der Nationalepos der Deutschen, könnte man sagen.“

„Aber du bist doch Französin.“

„Durch Oswald hatte ich immer eine starke Verbindung zum deutsch Volk und mir hat auch immer ihre Literatur sehr gefallen. Ich liebe das Happy End, versteh mich jetzt nicht falsch, aber in meinem langen Leben habe ich festgestellt, dass es meistens nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte.“

„Also hat das Nibelungenlied kein gutes Ende?“

„Zumindest nicht im klassischen Sinne. Am Ende sind fast alle tot, aber Kriemhild konnte Rache für den tödlichen Verrat an Siegfried nehmen, bevor sie starb.“

„Also ist die Aussage, dass man zwar Rache nehmen kann, aber auch dass wenn sie gerechtfertigt ist, sie schwere Folgen nach sich zieht?“

Régine lächelte schmal.

„Das war für mich beim Nibelungenlied eigentlich nie so wichtig, ich bin eigentlich nur von Schreibstil des Autors unheimlich begeistert.“

„Oh“, stellte ich kopfschüttelnd fest und suchte die Stelle im Text.

„Es wuchs in Burgunden / solch edel Mägdelein,

Daß in allen Landen / nichts Schönres mochte sein.

Kriemhild war sie geheißen / und war ein schönes Weib,

Um die viel Degen mußten / verlieren Leben und Leib.“

Ich las Régine noch fast zwei Stunden vor, bevor sie meinte, dass ich für heute Schluss machen könnte. Ich nutzte Pascals Abwesenheit, um mich auf der Burg etwas umzusehen, besser gesagt, um sein Zimmer zu suchen. Ich war mir ziemlich sicher, dass es nicht im Erdgeschoss oder 1.Stock lag, also versuchte ich mein Glück im 2.Stock. Keine einzige Tür, an die ich herantrat, war verschlossen, was mich nun schon ein wenig verwunderte. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es auf dieser Burg nichts gab, das eine verschlossene Tür erforderte.

Bei der fünften dachte ich doch eine verschlossene Tür gefunden zu haben, doch sie hatte nur ein wenig geklemmt, denn als ich mich dagegen stemmte, stand ich plötzlich in einer kleinen Bibliothek. Nicht nur die Regale waren vollkommen mit Büchern überladen, auch um den großen Ohrensessel herum und auf dem kleinen Tischchen waren sie gestapelt, nicht zu vergessen die im Raum verteilten weiteren Stapel. In diesem Raum befanden sich sicher an die zweitausend Bücher und in dem undurchsichtigen Ordnungssystem glaubte ich Pascals Signatur zu erkennen. Nachdem ich mir einige Buchumschläge angesehen hatte, war ich mir relativ sicher, dass diese Bibliothek Pascal gehörte, da eigentlich fast alle Titel auf Pferdezucht oder ähnliches schließen ließen.

Ich strich über eine Reihe besonders alt aussehender Bücher. Die Titel auf ihren Rücken waren weder auf Englisch, noch Französisch, da war ich mir sicher. Ich zog eines der Bücher interessiert aus der Reihe, doch auch ein weiteres Durchblättern brachte mir weder über dessen Sprache noch Inhalt Aufschluss. Enttäuscht schob ich es zurück an seinen Platz. Da die Bücher eng aneinander gedrängt dastanden musste ich die Lücke aufhalten und das Buch mit einem doch etwas größeren Kraftaufwand hinein drücken. Nach einem kurzen Moment glitt das Buch zwischen die anderen bis zur Wand und dann, zu meiner großen Überraschung, noch weiter in sie hinein, bis ich auf einen weiteren Anstoß traf, woraufhin ein leises Klicken ertönte. Ich musste einen Satz zurück machen, als wie in einem schlechten Film das Bücherregal nach außen aufschwang. Jedoch kam nicht der klischeehafte Gang zum Vorschein, sondern ein kleines, fensterloses Zimmer, in dem sich nichts befand außer ein schmales Bett. Nicht einmal eine Lampe war an der Decke und das einzige Licht kam aus der kleinen Bibliothek.

Ich überlegte, ob wohl Pascal hier schlief und fragte mich im gleichen Atemzug, warum er das hier in diesem Kabuff und nicht in einem der vielen schönen Zimmer sein sollte. Da sah ich etwas über dem Bett an der kahlen Wand, das ich zuvor in den Schatten nicht gesehen hatte: ein Kruzifix. Es war nicht besonders groß, aus schlichtem Holz und schien sehr sehr alt. Mich hätte es nicht gewundert, wenn es noch aus den Lebzeiten der Ledoux-Geschwister gestammt hätte. Alles in allem machte der Raum den Eindruck einer Klosterzelle aus derselben Zeit und mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Es gab aberhunderte Möglichkeiten einen geheimen Raum sinnvoll zu nutzen, doch diese schien mir keine davon zu sein. Der Raum musste einfach noch etwas anderes enthalten. Diese Vermutung verstärkte sich noch, als ich beim umsehen bemerkte, dass weder der Boden, noch das Bett von einer Staubschicht bedeckt waren. Dieser Raum wurde also regelmäßig genutzt, aber wozu?

Ich schloss für einen Moment die Augen und versuchte mir den ungefähren Grundriss der Burg vorzustellen. Dann ordnete ich die kleine Bibliothek und dieses merkwürdige Zimmer darin ein und suchte nach dem fehlenden Raum. Es war so einfach, dass ich mich selbst hätte dafür ohrfeigen können nicht früher darauf gekommen zu sein: In Richtung Gang fehlten mehrere Quadratmeter Raum und mich hätte es nicht gewundert, dort ein weiteres Geheimzimmer zu finden. So tastete ich die Wand gegenüber dem Bett sorgfältig ab, fand zu meiner Enttäuschung jedoch nichts. Da kam mir eine Idee und ich stellte mich auf den Rahmen des Bettes, um an das Kruzifix heranzureichen und es in die Wand hinein drücken zu können. Es verschwand im Mauerwerk und an der erwarteten Wand schwang ein Stück der Mauer auf. Das, was ich dahinter erblickte, überraschte mich mehr, als es ein Berg Leichen getan hätte. Ungläubig sprang ich vom Bett und betrat einen Raum, etwa ebenso groß wie das Zimmer mit dem Kruzifix. Doch in diesem Zimmer waren die Wände wieder mit Regalen bedeckt, auf denen dem Rücken nach zu schließen Bücher vom Mittelalter bis in die Gegenwart standen. Auch in diesem Raum befanden sich mehrere hundert Bücher, die sich trotz ihres Altersunterschiedes vom äußeren Erscheinungsbild alle ähnelten: Keines hatte einen Titel oder Verzierungen, weder auf dem Rücken, noch auf dem gesamten Einband. Verwundert nahm ich eines der neuer wirkenden Bücher in die Hand, musste mit ihm aber wieder ein Zimmer zurück gehen, da ich in der Dunkelheit das Geschriebene nicht lesen konnte. Zurück im Licht machte ich mich wieder daran, stoppte doch sogleich wieder überrascht. Zwar verstand ich den Inhalt nicht, jedoch konnte ich zwei Dinge an diesem handgeschriebenen Buch zweifelsfrei feststellen: Erstens, die Sprache, in dem es verfasst war, war Französisch und zweitens, dieses Buch, sowie sicherlich alle anderen in diesem versteckten Raum, war ein Tagebuch.

Einen Moment lang war ich mir nicht sicher, ob ich vor Freude in Ohnmacht fallen würde, und eigentlich war ich gar nicht der schwächliche Typ, aber dieser Fund würde das Wissen über Vampire auf ein völlig neues Level bringen. Doch solange Pascal noch lebte, konnte ich keines der Bücher entwenden, denn jeden Verlust würde er bemerken, da war ich mir sicher. So stellte ich das kleine Büchchen vorsichtig zurück an seinen Platz und trat einen Schritt zurück. Es verursachte mir beinahe innere Schmerzen diesem wertvollen Schatz hier zurückzulassen. Was, wenn Pascal merkte, dass jemand hier gewesen war und die Bücher fortschaffte? Wenigstens eins sollte ich doch wenigstens retten. Da fiel es mir ein und ein Lächeln trat auf mein Gesicht: Pascal war auf der Jagd und ich war mir ziemlich sicher, dass er vor morgen nicht zurückkommen würde. Ich konnte also getrost eines der Büchchen mit in mein Zimmer nehmen und die Seiten abphotographieren, bevor ich es morgen früh wieder hierher zurück brachte.

Glücklich wie ein Honigkuchenpferd schnappte ich mir das Büchchen von zuvor wieder und ging zurück in dem Raum mit dem Bett. Nun stand ich vor dem Problem, wie die Tür wieder zu schließen war. Mit schief gelegtem Kopf betrachtete ich den geöffneten Teil der Wand und lehnte mich dann entschlossen dagegen. Es benötigte nicht viel Kraftaufwand die Wand wieder zurück an ihren Platz zu schieben und ein leises Klicken verkündete mir, dass die Wand wieder an ihrem Platz war. Ein rascher Blick zum Kruzifix zeigte mir, dass auch dieses wieder wie zuvor hing und so trat ich aus dem Geheimraum hinaus zurück in die kleine Bibliothek, wo ich auch das Bücherregal zurück an seinen Platz schob. Das Büchchen konnte ich nirgends verstecken, doch kleine in schwarzes Leder gebundene Taschenbücher besaßen nicht gerade Seltenheitswert, deshalb behielt ich es einfach in der Hand und machte mich so auf dem Weg zurück in mein Zimmer. Trotz allem war ich froh, dass ich auf dem Weg dorthin niemandem begegnete. Erleichtert ließ ich mich auf das Sofa fallen, nahm das Handy vom Tisch und begann die Seiten abzuphotographieren. Dabei merkte ich, dass die Einträge im Wochenabstand geschrieben worden waren, kein einziger fehlte, und die Ereignisse in diesem Buch waren laut Datum drei bis vier Jahre her.

Ich fragte mich, was wohl Pascal in der Zeit getan hatte, als meine Welt begonnen hatte auseinanderzubrechen. Es war wirklich schade, dass ich kein Französisch sprach. So musste ich wohl oder übel darauf warten die Fotos Luca zeigen zu können. Sie ihm zu schicken traute ich mich nicht, schon die Telefonate waren risikoreich genug.

Ich musste meine Arbeit unterbrechen, als es Zeit für das Abendessen wurde. Da ich nicht zu hektisch wirken wollte ließ ich mir mit dem Essen Zeit und half danach wieder mit dem Abwasch, auch wenn ich darauf brannte wieder zurück in mein Zimmer zu kommen. Nachdem endlich auch das letzte Teller wieder trocken im Schränkchen stand, ich verstand einfach nicht was Susette gegen den Geschirrspüler hatte, machte ich mich erleichtert auf den Weg in den ersten Stock. In meinem Zimmer setzte ich mich nach dieser Unterbrechung endlich wieder an die Arbeit.

Als ich endlich fertig wurde, war es schon spät, doch ich hatte das Bedürfnis mich wenigstens noch ein wenig zu entspannen, also machte ich mir einen hohen Dutt und probierte die Whirlpoolbadewanne aus. Es war einfach ein wundervolles Gefühl und ich stieg erst wieder aus der Wanne, als meine Haut schon ganz schrumplig war. Seufzend hüllte ich mich in ein großes Badetuch und warf dabei die Flasche mit dem Badeschaum vom Beckenrand. Zum Glück war sie aus Plastik und ich beugte mich vor, um sie aufzuheben. In diesem Moment glaubte ich den Holzboden im Nebenzimmer knarzen zu hören und richtete ich mich überrascht auf. Doch ich hörte kein weiteres Geräusch, also stellte ich die Flasche zurück auf den Beckenrand und tapste in den Salon. Ich sah mich um, doch alles schien an seinem Platz zu sein, also zuckte ich mit den Schultern und schlurfte müde ins Schlafzimmer, wo ich mir rasch etwas anzog und dann unter die Decke meines Bettes kroch. Doch trotz meiner Müdigkeit wollte der Schlaf sich nicht sofort einstellen. So drehte ich mich auf den Rücken, damit ich den Sternenhimmel noch etwas betrachten konnte. Leider war es eine recht neblige Nacht und Sterne waren kaum zu sehen, doch der Mond leuchtete hell am Firmament und tauchte alles in sein weißes Licht.

„Vollmond“, murmelte ich noch, bevor ich lächelnd einschlief.

 

Kapitel 44 – Vollmond im Halo

Obwohl ich sonst bei Vollmond, im Gegensatz zur Mehrheit der Bevölkerung, sehr gut schlief, wachte ich in dieser Nacht auf. Wobei aufwachen vielleicht das falsche Wort ist, denn im einen Moment schlief ich noch und im Nächsten saß ich aufrecht im Bett. Mein Unterbewusstsein sagte mir, dass irgendetwas nicht stimmte und wollte mich deshalb partout nicht mehr weiterschlafen lassen. Also stand ich auf um hinauszugehen, in der Hoffnung, dass etwas kalte Nachtluft mich wieder zur Ruhe kommen ließe. Ich schlüpfte nur schnell in ein Paar Ballerinas und zog über das dünne schwarze Spaghettiträgernachthemd nur noch schnell meine weiße Skijacke an, schließlich hatte ich nicht vor lange draußen zu bleiben.

Auf den Gängen der Burg war es totenstill, aber nicht halb so beängstigend, wie ich vermutet hatte. Entspannt schlenderte ich die Treppe hinunter und ging auf direktem Wege zur Tür. Als ich sie öffnete kam mir gleich ein kalter Windstoß entgegen und fast wäre ich umgekehrt, um wieder in mein warmes Bett zu schlüpfen. Aber dann wäre ich nur wachgelegen, also riss ich mich zusammen und trat hinaus in die kalte Winternachtluft. Das Pflaster des Innenhofes war von einer dünnen Frostschicht bedeckt, welche sanft im Licht des Mondes schimmerte. Vorsichtig, um nicht auszurutschen, setzte ich einen Fuß vor den anderen und kam so der Bank beim Brunnen, auf der ich schon zusammen mit Régine gesessen hatte, immer näher. Dort angekommen hob ich den Blick vom Boden und stellte überrascht fest, dass das Tor hinaus in den Zwinger nicht geschlossen war. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit und ich schlich besorgt in Richtung Tor. Als ich hindurchlugte sah ich zu meiner großen Überraschung Pascals Wagen davorstehen. Dass er schon wieder zurück war versetzte mir einen großen Schock und ich war kurz davor zum Haupthaus zurückzurennen, um das Buch wieder an seinen Platz zu stellen, als mir eine Kleinigkeit auffiel und ich stockte. Wieso hatte Pascal den Wagen nicht in die Garage im umgebauten Erdgeschoss des ehemaligen Bedienstetenhauses gefahren? Das Tor war ja schon offen. Langsam stellten sich meine Nackenhaare auf, doch ich schlich trotzdem um den Wagen herum. Er war eindeutig leer, soviel erkannte ich im Schein des Mondes und auch die leichten Fußabdrücke im Frost, die in Richtung Stallungen führten.

Jetzt musste ich mich entscheiden. Entweder ich ging zurück ins Haupthaus und ignorierte das alles einfach bis zum Morgen oder ich sah jetzt nach, was in den Stallungen los war. Aber eigentlich hatte ich gar keine Wahl und so schlich ich so leise wie möglich auf das Holztor zu. Plötzlich hörte ich, wie Metall auf Steinboden knallte und alle Vorsicht war vergessen: Ich rannte los, riss das Holztor auf, stürmte in die Stallgasse und wäre fast über etwas gestolpert, das auf dem Boden auf mich zurollte. Hastig stolperte ich zur Seite und sah nach, was denn da über den Boden kugelte. Zum Glück hatte ich zum Abendbrot nicht viel gegessen, denn zu meinen Füßen lag Pascals Kopf.

Ich selbst hatte die Methode des Köpfens nie sonderlich gemocht, schon allein, weil es mir als ein unnötig hoher Kraftaufwand erschien und ich mit meiner geringen Körpergröße sowieso damit bei den meisten meiner Opfer ein gewisses Problem gehabt hätte. Dass es so eine Sauerei machte war mir gar nicht erst in den Sinn gekommen, denn als ich nun langsam meinen Blick von dem abgetrennten Kopf hob, sah ich, dass der Boden der Stallgasse über den gesamten Weg hin mit Blut bespritzt war. Am Ende der Gasse, wo selbst die Boxentüren beinahe schwarz vor Blut waren, lag der Rest von Pascal, über ihm Stand Christian mit einer schweren antiken Kriegsaxt in den Händen, selbst über und über mit Pascals Blut bespritzt.

„Was ist hier geschehen?“, brachte ich schließlich hervor und Christian schien erst jetzt zu bemerken, dass ich überhaupt da war.

„Ich habe den Mörder meines Bruders getötet.“

Überrascht sah ich von Christians Gesicht zu Pascals Körper und wieder zurück.

„Das ist Pascal gewesen? Woher weißt du das?“

„Ich bin nicht so naiv und leichtgläubig wie mein Bruder, ich hab es schon lange vermutet, aber Gewissheit habe ich erst, seit ich es in dem Buch, das bei dir im Salon liegt, gelesen haben.“

Entsetzt riss ich die Augen auf.

„Was hast du in meinen Räumen verloren gehabt.“

„Nicht nur Paul ist aufgefallen, was du bist. Er und ich gehen nur unterschiedlich mit diesem Wissen um. Ich wollte mich erst selbst davon überzeugen, welche Art von Vampirjäger du bist, bevor ich dich darauf anspreche.“

„Aber dann hast du in dem Buch gelesen“, schlussfolgerte ich und Christian nickte verbittert.

„Ja, dann hab ich es gelesen und konnte mich einfach nicht mehr länger zurückhalten. Er musste sterben.“

„Wie hast du es fertiggebracht?“, fragte ich erstaunt, da ich fest davon überzeugt gewesen war man könne einen so alten Vampir nicht überraschen.

„Wenn man eine Weile für einen Vampir arbeitet, dann erkennt man seine Schwächen und lernt, in welchen Situationen sie ihre Vorsicht fallen lassen. Ich hab ihn angerufen und erzählt, dass irgendetwas mit Phantôme nicht stimme. Natürlich ist er sofort zurückgekommen. Als er dann in den Zwinger fuhr hab die die Stute angstvoll wiehern lassen und er ist sofort und ohne sich umzusehen zu ihrer Box geeilt. Meine Anwesenheit in den Stallungen hat er auch erwartet, also hat er sich nicht weiter nach mir umgesehen.“

„Und wieso eine Kriegsaxt?“

„Ich schätze, ich habe eine Schwäche für Theatralik“, meinte er und lächelte schaurig.

„Du kannst hier nicht bleiben“, wechselte ich zu einem wesentlich wichtigeren Thema.

„Ja, da hast du wohl recht, aber wohin soll ich denn gehen? Alles, was ich noch habe ist Paul und der ist nicht mehr zu retten.“

„Dann komm mit mir“, meinte ich spontan und Christian zog skeptisch eine Augenbraue in die Höhe.

„Ich weiß nicht.“

„Die Vampirjägervereinigung würde dich sicher mit offenen Armen begrüßen, besonders nachdem du dich der Sache mit Pascal angenommen hast. Über die Gründe müssen wir ihnen ja nicht unbedingt allzu viel verraten.“

„Warum willst du mir so unbedingt helfen?“

„Weil ich noch weiß wie verloren ich mich gefühlt habe, als ich mich an niemanden mehr wenden konnte.“

Christian überlegte einen Moment, dann nickte er.

„Ich werde mit dir kommen. Dafür sollte ich aber noch ein paar Dinge aus der Burg holen.“

„Das sollte ich auch. Und wir müssen auf jeden Fall Pascals Leiche verbrennen. Wer weiß ob sich so ein alter Vampir am Ende doch noch von so etwas erholen kann.“

„In der Sattelkammer dürfte noch eine Flasche Absinth stehen.“

Fragend zog ich die Augenbraue, ging jedoch nicht weiter darauf ein.

„Und hast du auch eine Ahnung, wo wir ihn verbrennen können?“

„Aus den Stallungen führt ein unterirdischer Geheimgang nach draußen. Wir können ihn dort anzünden.“

Ich nickte.

„Das hört sich gut an. Wenn du das allein erledigen kannst bereite ich schon einmal alles auf unsere Abreise vor.“

„Kein Problem, geh. Wir treffen uns dann an Pascals Wagen.“

Einen Moment blieb ich noch zögernd stehen, dann zog ich meine Jacke aus und legte sie über eine der Boxentüren.

„Damit man wenigstens nicht gleich sieht, was du gerade gemacht hast.“

Mit diesem Worten wandte ich mich dem Ausgang zu, drehte aber dann nochmal um und kniete mich neben Pascals toten Körper, um seine Taschen zu durchsuchen.

„Was machst du da?“, fragte Christian skeptisch.

Anstatt eine Antwort zog ich das kleine in schwarzes Leder gebundene Taschenbuch aus der Innentasche seines Jacketts und hielt es ihm kurz hin bevor ich zurück zum Haupthaus eilte. Der spontanen Eingebung folgend ging ich aber nicht sofort in mein Zimmer sondern in die kleine Bibliothek im zweiten Stock. Aus dem Mülleimer nahm ich den leeren Plastikbeutel heraus und öffnete die beiden Geheimtüren, damit ich in das Zimmerchen mit den Tagebüchern kam. Ich räumte so viele wie möglich davon in den Plastikbeutel, den Rest klemmte ich mir notdürftig unter die Arme und eilte zurück in mein Zimmer. Als erstes räumte ich genau diese Bücher in den Koffer und packte so viele von den Winterklamotten wie möglich dazu. Dabei fiel mir auch erst auf, dass Pascals Blut an mir klebte und ich reinigte mich in einer eiligen Katzenwäsche davon. Als ich mich umgezogen hatte machte ich mich mit dem Koffer so leise wie möglich auf den Weg nach unten und lief, so schnell ich es mir über das rutschige Pflaster zutraute, über den Innenhof zum Wagen. Obwohl Christian sich noch um Pascals Leiche hatte kümmern müssen wartete er dort schon auf mich.

„Wie hast du es geschafft noch vor mir da zu sein?“, fragte ich ihn überrascht während er meinen Koffer verstaute.

„Mir war klar, dass ich heute Abend noch fliehen muss, nur noch nicht mit wem.“

Dann setzte er sich hinters Steuer, während ich auf dem Beifahrersitz Platz nahm.

„Und wohin jetzt?“, fragte er mich, als er wendete und von der Burg weg fuhr.

„Im Dorf wartet ein weiterer Vampirjäger auf uns. Ich muss ihn noch schnell benachrichtigen, dazu hatte ich noch keine Zeit, aber keine Sorge, er ist immer aufbruchsbereit.“

Ich warf einen Blick aus dem Fenster und betrachtete den Mond, dessen Schein von den schneebedeckten Ebenen reflektiert wurde und für fast taghelles Licht sorgte.

„Der Halo hat uns Glück gebracht.“

Verwirrt wandte ich mich an Christian.

„Was ist ein Halo?“

„Das ist der kreisrunde perlmuntfarbene Schein um den Mond, der wie ein Heiligenschein aussieht.“

„Und der bringt einer Legende nach Glück?“, fragte ich sinnierend.

„Einer längst vergessenen nach, ja. In der heißt es, dass die Nacht des Vollmondes, der von einem Heiligenschein umkränzt ist, dazu geschaffen wurde Dämonen und böse Geister von dieser Welt zu tilgen.“

Ein kleines Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus.

„Wie passend.“

Ich riss mich vom Anblick des Mondes los und zog mein Handy aus der Tasche, um Luca anzurufen. Schon nach kurzem Klingen nahm er ab.

„Machst du es dir etwa jetzt zur Angewohnheit mich Nachts zu wecken?“, grummelte er ins Telefon.

„Pack deine Sachen, wir kommen wohl doch besser in unserem Zeitplan voran, als geplant. Wenn wir so weiter machen haben wir Oswald und Constantin erledigt, bevor der Sommer anfängt.“

„Willst du damit sagen...?“, stammelte Luca.

„Genau, Pascal ist tot und unser Team um einen Vampirjäger reicher.“

„Wie das?“, fragte Luca nun völlig aus der Fassung gebracht.

„Wir sind in einer Viertelstunde bei dir. Pack deine Sachen und mach den Wagen startklar, Deutschland wartet auf uns.“

 

Epilog: Ungefähr drei Jahre zuvor

Als er das Klopfen an der Tür vernahm, machte sich Wut in ihm breit. Ein jeder wusste, dass es niemandem erlaubt war ihn zu stören, wenn er sich erst einmal zurückgezogen hatte. Er würde den töten, der seine Ruhe gestört hatte.

Mit einem Ruck zog er die Türe auf und der Bote davor zuckte nervös zusammen.

„Lass es lieber wichtig sein, oder du wirst die nächste Minute nicht mehr erleben“, fauchte er.

„Mutter ist angekommen“, brachte der Bote schließlich mühsam hervor.

Einen Moment war er vor Schock gelähmt.

„Bring sie in den Audienzsaal, ich komme sofort.“

Ohne auf eine Antwort zu warten schloss er die Tür und legte rasch einen schwarzen Anzug mit schwarzem Hemd und schwarzen Schuhen an, bevor er sich auf den Weg machte. Ein ungewohntes Gefühl von Anspannung machte sich in ihm breit. Mutter verließ ihre Residenz nur im äußersten Notfall, nur wenn es keine andere Wahl mehr gab. Das konnte nichts Gutes bedeuten.

Doch er ließ sich nichts anmerken und vor dem Audienzsaal hielt er keinen Moment inne, bevor er die Türen öffnete und eintrat.

Auf dem Thron, auf dem einst die Zaren von Russland gesessen hatten, befand sich nun eine alte Frau, deren Haut keine einzige glatte Stelle mehr aufzeigte. Der größte Teil ihres Körpers wurde von einem langen mitternachtsblauen Samtkleid verdeckt, ihr langes Haar kunstvoll aufgesteckt und mit Perlen durchflochten, wovon auch einige dicke Stränge um ihren Hals hingen. Ihre ehrfurchtsgebietende Haltung wurde nur von dem altersgebeugten Rücken gemindert, doch ein Blick in ihre scharfen mitternachtsblauen Augen genügte, um jeden einen Tölpel zu strafen, der dachte ihr Geist sei vom Alter nicht mehr ganz klar oder verlangsamt.

Vor dem Thron fiel er auf die Knie und beugte seinen Kopf.

„Mutter, was verschafft mir diese Ehre?“

„Ich möchte, dass du jemanden für mich findest.“

„Ich werde sofort einen Spurenleser losschicken.“

„Nein.“

Verwundert sah er auf und in die Augen von Mutter.

„Ich möchte, dass du dich selbst dieser Sache annimmst.“

Ihr Blick zeigte deutlich, dass sie keinen Widerspruch duldete, so nickte er.

„Und wo soll ich mit meiner Suche beginnen?“

„In Seattle, Amerika.“

Nun war er verwirrt.

„Dann habt ihr die Person doch schon gefunden.“

„Fast. Finde ihn in Seattle und sorge dafür, dass weder er noch seine Familie je wieder das Licht der Sonne erblicken.“

Er zögerte kurz und fragte sich, ob er so weit gehen durfte. Doch er hatte unterschätzt, wie viel älter Mutter war und dass sie es natürlich sah.

„Ja?“

„Wer ist er, dass er eurer Aufmerksamkeit verlangt?“

„Er ist der Vampirjäger Robert.“

„Er wurde gefunden?“

Mutter nickte und auf die Überraschung folgte ein Lächeln.

„Es wird mir eine Ehre sein ihn zu eliminieren.“

 

ஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆ

 

Schon bevor er sein klingelndes Telefon abhob, wusste er, wer am anderen Ende der Leitung sein würde.

„Mutter hat von ihrem Misserfolg gehört.“

„Es war kein Misserfolg, er ist tot.“

„Mutter wünschte den Tod der ganzen Familie. Nun wird die Vampirjägervereinigung sie schützen.“

„Ich werde mich ihrer annehmen, keine Sorge.“

„Beeilen sie sich lieber, Mutter verzeiht keine Fehler.“

„Ich weiß.“

 

ஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆ

 

Der Mann, der vor ihm kniete, winselte vor Schmerz, seine Locken von fast schwarzem Blut verkrustet.

„Wie konntest du sie dort mit ihnen zurücklassen?!“, fauchte er und versetzte dem knienden Mann einen Tritt in die Magengrube.

Ein Knacken verkündete, dass er ihm einige Rippen gebrochen hatte und der Kniende krümmte sich vor Schmerz.

„Es tut mir leid Herr“, flüsterte er schmerzerfüllt mit leicht erhobenem Kopf, sodass er die vom Blut geschwärzten Zähne sehen konnte.

Er wollte ihm gerade einen weiteren Tritt versetzen, als sein Telefon klingelte. Wütend nahm er ab.

„Ja?“

„Mutter hörte von dem erneuten Zwischenfall.“

„Der Schuldige erhält gerade seine Strafe.“

„Das ist nicht mehr nötig.“

„Was?!“

„Es gibt eine kleine Planänderung: Mutter möchte die Frau jetzt lebend. Ihr könnt jedoch nicht weiter euren Pflichten fern bleiben. Mutter hat schon Ersatz zu ihnen nachgeschickt. Ihr Flug zurück geht noch heute Abend.“

Dann hörte er ein Klicken in der Leitung und er war wieder mit dem knienden Mann allein.

„Steh auf, wir gehen zum Flughafen.“

 

ஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆஜஆ

 

„Ich schicke dich an meiner Stelle nach Amerika. Du bist der einzige, dem ich zutraue das zu vollenden, das ich nicht geschafft habe“, meinte er an den hünenhaften Mann gewandt.

„Es ist mir eine Ehre meinem Schöpfer zur Seite zu stehen“, meinte der Hüne mit einer tiefen Verbeugung.

„Und versuch herauszufinden, warum Mutter ein so großes Interesse an ihr hegt.“

„Ich werde sie auf dem schnellstmöglichen Weg zu euch bringen.“

„Bis wir herausgefunden haben, um was es bei ihr geht, wird Mutter nicht informiert.“

„Herr?“, fragte der Hüne mit einem unwohlen Gefühl.

„Was Mutter so beunruhigt sollte auch uns Sorge bereiten. Ich will wissen, mit wem wir es zu tun haben.“

 

Impressum

Texte: Yarra Mekian
Bildmaterialien: http://abcartattack.deviantart.com/art/Resistor-345528450
Tag der Veröffentlichung: 26.04.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meinen Bruder und schärfsten Kritiker

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