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Flucht

Ihr weißes Haar hatte sie komplett unter einer einfachen Pelzmütze, die hier fast jeder trug, verborgen und die Kopfbedeckung tief ins Gesicht gezogen, damit man sie nicht erkennen würde. Ein hellblauer Strickschal sollte ihren Hals vor der eisigen Kälte schützen, genauso wie der dicke Pelzmantel, der ihr kaum Bewegungsfreiraum ließ. All diese Kleidungsstücke dienten aber nur einem Zweck – der Tarnung. Es lag in ihrer Natur, keine Kälte zu empfinden und so fühlte sie sich denkbar unwohl. Sie liebte es den frostigen Wind auf ihrer Haut zu spüren, doch auf ihr Befinden konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Würde sie erkannt werden, musste sie ihr Leben selbst beenden, dessen war sie sich bewusst. Die Sonne ließ den Schnee, der die ganze Gegend bedeckte, hell leuchten und machte es schwierig, etwas genau zu sehen. Definitiv ein Vorteil für sie. Entlang der Straße, die sie gerade entlang lief, reihten sich unzählige kleinere Holzhütten, die bei jedem stärkeren Windstoß einzustürzen zu drohten. Kaum zu glauben, dass in diesen Behausungen tatsächlich jemand wohnte, jedoch blieb der armen Bevölkerung wohl auch nichts anderes übrig. Mit schnellen Schritten stapfte sie durch den hohen Schnee, der von niemandem von der Straße geräumt wurde. In etwa einem Kilometer sollte der Bahnhof des kleinen Bauerndorfs sein, so hatte man es ihr zumindest beschrieben. Ein kurzer Blick auf ihre Uhr verriet ihr, dass sie gut in der Zeit lag. Sie würde ihren Zug erreichen. Als ihr ein Schwall heruntergekommener Menschen entgegen kam, zog sie den Schal wieder über ihren Mund, um ihr Gesicht zu verhüllen. Es war zwar sehr unwahrscheinlich, dass irgendjemand hier etwas in der Zeitung gelesen hatte und sie erkennen würde, aber das Gegenteil wollte sie auch nicht bewiesen haben.

 Nachdem sie den anstrengenden Fußmarsch hinter sich gebracht hatte, sah sie sich in der Vorhalle des schäbigen Bahnhofs um. Ein Ausgang zu dem Gleis befand sich direkt gegenüber dem Eingang. Ein paar Sitzgelegenheiten waren wohl irgendwann einmal in die Mitte gebaut worden, jetzt waren nur noch ein paar Überreste davon zu sehen. Die Uhr an der rechten Wand funktionierte sicherlich auch schon seit Jahren nicht mehr. Da ihr Zug in fünf Minuten auf dem einzigen Gleis des Bahnhofs halten würde, begab sie sich wieder nach draußen und bemerkte mit Zufriedenheit, dass es begonnen hatte zu schneien. Sie richtete ihren Blick gen Himmel und konnte die kühlen Wasserkristalle auf ihrer Haut spüren. „Freiheit“, schoss es ihr durch den Kopf. In diesem Moment traf der Zug mit ohrenbetäubendem Lärm ein und hielt mit quietschenden Bremsen direkt vor ihr. Sie hatte es geschafft. Sobald sie im Zug war hatte sie es tatsächlich geschafft und würde in wenigen Minuten außerhalb des Landes sein. Ein letztes Mal blickte sie sich um und betrat anschließend den verkommenen Zug. Glücklich ließ sie sich in einen der ehemals grünen Polstersitze sinken und entspannte sich augenblicklich. Ein Pfeifen verkündete, dass die Fahrt nun weitergeführt werden würde. Als sich die Eisenbahn in Bewegung setzte, blickte sie wehmütig durch das Fenster. Sie liebte ihre Heimat, doch sie würde nie wieder zurückkehren können, zu mindestens nicht, solange er lebte. Er würde sie töten, würde er sie in die Hände bekommen. Er hatte es mit ihrer Mutter gemacht, mit ihrem Vater, mit ihrer Schwester – mit ihrer ganzen Familie, nur sie war übrig geblieben. Ihr Überleben verdankte sie Unbekannten, denen wohl etwas an ihrem Leben lag. Viele Male hatte sie während ihrer Flucht gezweifelt, ob diese Fremden sie nicht verraten würde. Aber nun saß sie im Zug nach Terestia. Von dort aus würde sie weiter in den Norden fliehen. Irgendwohin, wo es immer Schnee gab und die Temperatur nicht über 0° Celsius stieg. Vermutlich würde sie ihr Leben dort alleine verbringen, aber nach all der Gewalt und dem Hass, den sie zwischen Menschen erlebt hatte, wollte sie es auch nicht anders. Eine kratzige Stimme, die aus einem der Lautsprecher kam, verriet ihr, dass sie nun außerhalb des Landes waren. Die letzte Anspannung fiel von ihr ab und es dauert keine Minute, bis sie in ihrem Sitz eingeschlafen war.

 Sie schreckte auf. In ihrem Traum kam ihre ganze Vergangenheit hoch, die sie doch so schnell wie möglich vergessen wollte. Mit einem Blick auf die Uhr erkannte sie, dass sie nur noch wenige Minuten Fahrt vor sich hatte, bevor sie an ihrem vorläufigen Ziel ankam. Sie betrachtete ihre Spiegelung in dem dreckigen Fenster und erkannte sich kaum mehr. Unter ihren Augen hatten sich tiefe Ringe gebildet und ihre Wangen stachen knochig hervor. Sie hatte bestimmt zehn Kilo abgenommen, seitdem sie auf der Flucht war. Der Zug wurde langsamer und hielt schließlich ganz an. Als sie sich erhob, merkte sie erst wie all ihre Glieder schmerzten. Die Tür ließ sich nur mit roher Gewalt öffnen und raubte ihr ihre letzten Kräfte. Am liebsten wäre sie direkt am Bahnhof umgefallen und hätte einfach geschlafen.

Ein Mann in einem bodenlangen schwarzen Mantel wartete bereits auf sie, genau wie ausgemacht. Langsam und mit gesenktem Kopf lief sie auf ihn zu. Er umarmte sie überschwänglich, was ihr nach der langen Zeit des Alleine-Seins sehr befremdlich vorkam. „Sie haben es tatsächlich geschafft. Ich werde sie jetzt erst Mal an einen sicheren Ort führen und wenn sie sich ausgeschlafen haben, bringe ich sie zu demjenigen, der ihre komplette Flucht geplant hat. Folgen Sie mir“, sagte er in einem beruhigenden Ton zu ihr. Sie lief ihm willenlos nach, wollte einfach nur noch in ein warmes Bett fallen. Vor dem Gebäude parkte eine schwarze Limousine, in die beide einstiegen. Im Inneren war es unsagbar warm, was dazu führte, dass es ihr kurzzeitig schwarz vor Augen wurde. Mit ihren Fingerspitzen fuhr sie über das Leder des Sitzes, was sich trotz der Hitze noch angenehm kühl anfühlte. Dann wagte sie einen Blick durch die getönte Scheibe und sofort flammte ein stechender Schmerz des Heimwehs in ihr auf. Hier war alles so andere. Graue Betonklötze erhoben sich zu Hunderten in den trüben Himmel, ließen kaum Platz zum Atmen. Auf den Straßen herrschte Leere. Kein Mensch war zu sehen und das Auto, in dem sie saß, war das einzige. In wenigen Minuten erreichten sie eine Tiefgarage, die die schwarze Limousine verschluckte. An einem der hinteren Parkplätze hielt der Fahrer schließlich an und öffnete ihr die Tür. Mit letzter Kraft erhob sie sich aus dem Auto, danach wurden ihre Knie jedoch weich und sie brach zusammen.

 Sie fühlte etwas Weiches unter ihren Finger, die Augen musste sie noch geschlossen haben, denn alles war schneeweiß. Sie wollte bleiben, wollte weiterhin ihre Umgebung spüren, aber nicht sehen. Doch sie wusste, dass es Wichtigeres gab als ihr Befinden. Mit einem tiefen Atemzug öffnete sie die Augen und blickte an eine reich verzierte Decke. Wo war sie hier überhaupt? Mit einem weiteren Atemzug setzte sie sich auf, um das ganze Zimmer in Augenschein zu nehmen. Sie lag in einem großen Bett, das beinahe den ganzen Raum für sich einnahm. Von hier aus konnte sich durch die gläserne Fassade über die ganze Stadt sehen, die in ihrem Einheitsgrau gen Himmel strebte. Hässlich, mehr hatte sie für das Ungetüm nicht übrig. Langsam erwachten ihre Lebensgeister wieder und sie wollte nun endlich wissen, wem sie ihre Flucht verdankte. Mit einem Ruck schlug sie die warme Decke zurück und wurde von ihrer geliebten Kälte empfangen. Sie trug nur noch eine graue, ausgewaschene Jeans und einen hellblauen Kaputzenpullover, der zuvor von dem großen Pelzmantel verdeckt worden war. Mit zwei Schritten war sie an der Tür und konnte die eisigen Fliesen unter ihren blanken Füßen spüren. Vor der Tür wartete bereits ein großgewachsener Mann in einem hellgrauen Anzug. Mit einem Nicken bedeutete er ihr ihm zu folgen. Neugierig blickte sie sich während sie lief in dem engen Flur um. Die Wände waren in einem geschmacklosen lila gestrichen, was alles nur noch bedrückender wirken ließ. Inzwischen hatten sie den Fahrstuhl am Ende des Gangs erreicht und die Türen taten sich mit dem üblichen „Bling“ auf. Der Mann drückte auf die schwarze Taste, auf der eine weiße 21 leuchtete. Das Licht über ihr flackerte, was sie unruhig werden ließ. Nervös knetete sie ihre Finger. Mit einem weiteren „Bling“ hatten sie das gewünschte Stockwerk erreicht und der Mann trat vor ihr aus dem Aufzug in einen einzigen riesig großen Raum. An einem schlichten Glasschreibtisch, der zugleich das einzige Möbelstück war, saß eine schlanke Frau in einem weißen Ledersessel. Ihr rabenschwarzes Haar hatte sie zu einem strengen Zopf gebunden, was ihrem Auftreten etwas Unbeugsames gab. Sie erhob sich und gab somit den Blick auf einen perfekten Körper, der in ein eng geschnittenes schwarzes Kleid gehüllt war, frei. In langsamen Schritten durchquerte sie den Raum und blieb direkt vor ihr stehen.

Im nächsten Augenblick lagen sich beide weinend in den Armen.

„Du…du…du…lebst“, brachte sie schluchzend hervor.

„Ja, Schwester“, sagte die Schönheit, die jetzt all ihre Strenge verloren hatte. 

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Tag der Veröffentlichung: 20.03.2013

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