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Unfall ins Glück

Mit geschlossenen Augen bemühte sich Sam, möglichst flach zu atmen. Eine seiner schulterlangen roten Strähnen kitzelte ihn an der Nase, aber wenn er sich jetzt bewegte, würde er sich an einer der scharfen Kanten schneiden. Das ganze Auto hatte sich um ihn herum verbogen. Irgendwie hatte er Glück gehabt bei dem Unfall und war nun in einem winzigen Kokon gefangen. Obwohl er auch verletzt sein könnte und es einfach nur nicht spürte, weil das Adrenalin durch seine Adern rauschte. Bei der Schwere des Unfalls war es durchaus möglich, dass irgendwo in seinem schmächtigen Körper ein Stück des Autos steckte. Darum versuchte er auch gar nicht erst, sich selbst zu befreien, hoffte lieber darauf, dass irgendwer die Feuerwehr rief.

Endlich zuckten blaue Lichter um ihn herum auf und Stimmen wurden rund um ihn herum laut. Verstehen tat Sam nichts, das Rauschen in seinen Ohren übertönte alles und es schien immer lauter zu werden. Dabei hatte er nur von seiner Arbeit in Harpers Ferry zurück in sein Zuhause fahren wollen. Keine fünfzehn Meilen lagen dazwischen.

 

***

 

Ruhig betrachtete Alex das Wrack, versuchte herauszufinden, wie sie am besten an den eingeschlossenen Fahrer kamen. Währenddessen kontrollierte sein Kollege den LKW. Doch dessen Fahrer hatte sich schon befreien können und wurde bereits vom Notarzt untersucht. Er hatte das kleine Auto mit voller Wucht erwischt und es gegen einen Brückenpfeiler gedrängt. So wie es aussah, müsste der Fahrer eigentlich tot sein, doch Alex konnte den sich hebenden und senkenden Brustkorb sehen, die Bewegung des Adamsapfels und das Zucken unter den geschlossenen Augenlidern. Blut floss über die blasse Wange, ausgehend von einem Schnitt über dem rechten Auge. Von seinem Standpunkt aus erkannte er außerdem, dass ein großer Glassplitter in der rechten Schulter steckte.

Sein Kollege sprach aus, was er dachte: „Verfluchte Scheiße. Das wird eine schwere Bergung.“ Viele scharfkantige Teile befanden sich nahe dem Körper und jeder falsche Handgriff konnte eine schwere Verletzung nach sich ziehen. Sie mussten extrem vorsichtig und vorausschauend arbeiten. Und trotzdem schnell, da sie nicht wussten, wie schwer seine Verletzungen waren. Gemeinsam begannen sie die Blechbüchse Schritt für Schritt auseinanderzunehmen. Dabei versuchte Alex, mit dem jungen Mann zu sprechen, doch der reagierte überhaupt nicht. Würde er die Atmung nicht sehen, hätte er geglaubt, der junge Mann wäre schon tot.

 

Nach über einer Stunde schaffte er es endlich, den schmalen Körper genauer zu untersuchen. Ganz hatten sie ihn noch nicht befreit. Abgesehen von der Wunde am Kopf und dem Splitter in der Schulter fand er nichts. Wobei sie auch noch die Beine befreien mussten. Routiniert arbeiteten sie weiter, bis sie ihn schließlich bergen konnten. Als Alex ihn vorsichtig aus dem Auto zog, öffneten sich zum ersten Mal seine Augenlider. Wunderschöne, blaue Augen sahen ihn an, die Iris ungewöhnlich geweitet. Absoluter Schock und Angst sprach aus ihnen.

„Alles ist gut, wir haben dich. Ganz ruhig.“ Geduldig sprach Alex auf ihn ein, versuchte ihm etwas von der Angst zu nehmen. Der Blick blieb auf ihn fokussiert und eine Hand griff nach seiner Jacke. Panisch zuckte der Verletzte vor der Hand des Notarztes weg, hin zu ihm. So als erwartete er Schmerzen. Sofort begann Alex beruhigend auf ihn einzureden, versuchte ihn irgendwie zu beruhigen. Von der Seite tauchte eine Sanitäterin mit einer Spritze auf, griff nach seinem Arm. Nur, dass es wieder eine unkontrollierte Bewegung zur Folge hatte, bei der sich der Glassplitter tiefer in die Schulterhineinbohrte.

Sofort trat Alex einen Schritt zurück, brachte Abstand zwischen sie. Das mussten sie anders angehen. Mit einer Kopfbewegung bedeutete er dem Notarzt, sich zurückzuziehen, lief zur Trage und legte den Mann darauf.

„Gebt mir eine Spritze mit Beruhigungsmittel. Die kann ich ihm auch setzen.“ Es dauerte keine zwanzig Sekunden, bis er das Gewünschte hatte. Routiniert suchte er eine Ader am Arm und verabreichte ihm das Mittel. Interessanterweise zuckte das Opfer nicht zusammen, es starrte ihn nur weiter an. Langsam schlossen sich seine Augen und die Hand löste sich langsam von Alex‘ Jacke. Sofort waren Notarzt und Sanitäter da, kümmerten sich um die Verletzungen.

 

***

 

„Hey Alex!“ Die laute Stimme seines Chefs hallte durch die ganze Halle. Genervt verdrehte Alex die Augen. Im Moment hatte er wirklich keine Lust auf Small Talk. Seit der kniffligen Rettung am Vortag, drehten sich seine Gedanken nur noch um den rothaarigen Mann. Er hoffte wirklich, dass dieser keine schweren Verletzungen davongetragen hatte und es ihm gut ging. Vor seinen Augen sah er immer noch diese riesigen, verängstigten Augen. Am liebsten würde er ins Krankenhaus fahren und nach ihm sehen. Doch er war nach der Schicht am Vortag ins Bett gefallen und musste heute am frühen Morgen wieder beginnen, da er mit einem Kollegen getauscht hatte.

 

„Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass der Mann von gestern so weit in Ordnung ist. Er muss aber noch ein paar Tage im Krankenhaus zur Beobachtung bleiben. Netterweise hat die Spedition des Fahrers bereits zugesichert, für alle Kosten aufzukommen. Pack deine Sachen und fahr ins Krankenhaus. Überzeuge dich von meinen Worten. Man sieht ja, dass du in Gedanken noch immer bei dem Einsatz hängst. Sollte das nicht reichen, musst du zum Psychologen. Einen geistig angeknacksten Feuerwehrmann kann ich nicht rausschicken.“ Mit einer Handbewegung unterstützte sein Chef die Freistellung. Ein zweites Mal ließ Alex sich das nicht sagen. Im Eiltempo zog er sich um und verließ das Feuerwehrgebäude. Fahrig strich er sich immer wieder durch seine kurzgeschnittenen schwarzen Haare. Nervosität beherrschte ihn vollkommen. So hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Dabei kannte er den jungen Mann doch gar nicht und wusste nicht einmal, wie dieser drauf war. Vielleicht war er auch ein arroganter und eingebildeter Mensch oder egoistisch.

 

Von seinem Chef hatte er im Vorbeigehen noch einen Zettel mit der Adresse des Krankenhauses und den Namen des Mannes erhalten. Erst im Auto sah Alex darauf, las zuerst den Namen. Sam Collister. Irgendwie passte der Name zu seinem Aussehen. Das Krankenhaus kannte er und brauchte deswegen das Navi nicht. Tatsächlich musste er nur wenige Blocks fahren, denn es war das nächstgelegene.

 

Keine zwanzig Minuten später betrat er lautlos das Krankenzimmer. Nachdem er kurz erklärt hatte, dass er am Vortag als Feuerwehrmann an der Rettung beteiligt gewesen war, gab es keine Probleme und man hatte ihm sofort den Weg beschrieben. Große, blaue Augen richteten sich auf ihn und es blitzte Erkennen in ihnen auf. Ein schüchternes Lächeln spielte um Sams Lippen und er strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dadurch lenkte er Alex‘ Blick auf das große Pflaster oberhalb seines rechten Auges. Auch konnte er ein weiteres an der Schulter erkennen, welches etwas über das Krankenhaushemd hinausging.

 

***

 

Obwohl Sam nicht mehr viel vom Abend vorher wusste, erinnerte er sich an den Mann. Dieser hatte die ganze Zeit mit ihm gesprochen und ihn aus dem Wrack geholt. Nur hatte Sam am Vortag nicht wahrgenommen, wie attraktiv der Feuerwehrmann war. Den dunklen Bart würde er gerne mal auf seiner Haut spüren, wie er einfach nur darüberstrich. In den Haaren könnte er sich festkrallen, wobei sie dafür einen Ticken zu kurz waren. Die linke Seite hatte der Mann sogar ganz kurz rasiert. Dazu gehörte ein ungefähr zwei Meter großer, muskulöser Körper. Zurück bei dessen Augen merkte Sam, dass der Mann ihn ebenfalls musterte. Sofort errötete Sam und senkte seinen Blick auf seine Finger, die er in die weiße Decke gekrallt hatten.

 

„Hallo Sam. Ich bin Alex und wollte nach dir sehen. Wie geht es dir?“ Klang da wirklich Nervosität in der Stimme mit? Sam war sich nicht sicher, doch es gab ihm etwas Sicherheit.

„Soweit ganz gut, sie haben mir ein paar Splitter aus dem Körper geholt. Ansonsten hatte ich Glück und bin mit Prellungen und kleineren Schnittwunden davongekommen. Wobei sie mich dabehalten wollen, um eine Kopfverletzung zu hundert Prozent ausschließen zu können.“ Bei dem letzten Satz wollte Sam automatisch an das Pflaster an seinem Kopf greifen, doch eine große Hand umfasste sofort sein Handgelenk und hinderte ihn daran.

„Dein Schutzengel hat Überstunden geleistet.“ Ein sanftes Lächeln zierte das Gesicht von Alex, als er eine Hand an Sams Wange legte. Die Augen schließend, lehnte Sam sich hinein. Für ihn fühlte es sich gerade richtig an. Wobei der Ort nicht wirklich passte und auch Alex schien das zu merken.

„Wäre es für dich okay, wenn ich dir eins meiner alten Handys vorbeibringe und dich zu einem Date ausführe, wenn sie dich entlassen?“ Überrascht öffnete Sam seine Augen wieder und schielte zu Alex. Dass sein Handy kaputt gegangen war, hatte er noch gar nicht mitbekommen. Wobei das keine Überraschung sein sollte, denn er hatte es in einer Halterung an der Frontscheibe hängen gehabt. So ein Smartphone hielt nicht viel aus.

„Gerne, darüber würde ich mich freuen.“ Vermutlich leuchteten seine Wangen wie eine Leuchtboje. Wenigstens war er an kein Gerät angeschlossen, welches seinen Herzschlag überwachte. Davon hatte man ihn bereits am Morgen befreit. Sonst hätten sie wohl jetzt mehrere Krankenschwestern und Ärzte im Raum stehen, so schnell schlug Sams Herz. Noch immer lag Alex‘ Hand an seiner Wange. Sacht bewegten sich dessen Finger. Auf einmal erhob Alex sich, wechselte die Seite und setzte sich mit auf das Bett. Sacht schob er Sam nach vorne, platzierte seinen Arm hinter ihm und half Sam, sich gegen ihn zu lehnen.

„Was hältst du davon, wenn du zu mir kommst, ich uns was leckeres koche und wir dann einen Film ansehen?“ Bestätigend brummte Sam. Das klang für ihn nach einem perfekten Date. Gleichzeitig würde es die Zeit im Krankenhaus noch länger machen. Vor allem, da er nicht wusste, wie lange die Ärzte ihn dabehalten wollten. Dazu hatte sich noch keiner geäußert, immer nur unspezifisch von ein paar Tagen gesprochen.

 

Finger streichelten sanft über die Seite seines Gesichtes und der Arm stützte seinen Körper perfekt. Im Moment spürte er keine Schmerzen, was nicht nur an den Medikamenten lag. Alex gab ihm ein Gefühl von Geborgenheit und er roch auch noch so gut. Erdig mit einem Hauch von Rauch. Für den Moment brauchten sie keine Worte, das konnte bis zu ihrem Date warten.

 

Eine Krankenschwester betrat das Zimmer, in ihren Händen ein Tablett mit Essen. Mit einem Lächeln stellte sie es in die entsprechende Halterung, kontrollierte noch einmal den Tropf neben dem Bett und die dazugehörige Nadel in Sams Hand. Danach wandte sie sich an Alex: „Im Moment ist nur vorsichtiges Kuscheln erlaubt. Ohne Schmerzmittel würde er dich wohl aus dem Raum jagen.“ Zwar bezweifelte Sam das, aber er widersprach der Frau nicht. Die verschwand mit einem letzten verschmitzten Zwinkern aus dem Raum. Leise lachend zog Alex das Tablett heran und untersuchte das Essen. Dabei verzog er das Gesicht. Verübeln konnte Sam es ihm nicht. Obwohl es erst sein zweites Krankenhausessen war, hatte das Frühstück genauso wenig appetitlich ausgesehen.

„Hoffentlich darf ich bald hier raus.“ Da er Hunger hatte, traute Sam sich, zu probieren. Es schmeckte fad, war aber gerade noch genießbar. Ruhig nahm Alex ihm die Gabel ab und begann, ihn damit zu füttern. Sam war wirklich froh darüber, denn sein rechter Arm kooperierte noch nicht so ganz und der Arzt hatte ihm gesagt, dass er ihn unbedingt schonen musste. Der Splitter hatte nur dank viel Glück nichts Wichtiges verletzt, aber die Wunde könnte trotzdem noch Probleme bereiten, wenn sie nicht richtig verheilte. Vielleicht sollte er später fragen, ob er eine Schlinge haben könnte, um seinen Arm zu fixieren.

 

Alex saß zu seiner Linken, umarmte ihn und reichte ihm das Essen mit der linken Hand. Dabei unterbrach er seine Bewegung mit der rechten Hand nicht. Beruhigend strich er konstant über Sams unverletzten Arm. Als er fertig war, blieben sie einfach ruhig beieinander sitzen. Bis ein Arzt zu ihnen kam und Alex bat, zu gehen, da die Besuchszeit zu Ende war. Überrascht sah Sam zur Uhr. Tatsächlich war Alex über fünf Stunden bei ihm gewesen. Wehmütig verabschiedete er sich von Alex. Ihm hatte dessen Gesellschaft gefallen und es hatte ihn entspannt. Noch nie hatte er sich so schnell in der Gegenwart eines Fremden wohlgefühlt. Normalerweise brauchte er viel Zeit, um jemand anderem zu vertrauen und ihn so nah an sich heranzulassen. Selbst dem Arzt würde er gerne aus dem Weg gehen und sofort fluchtartig aus dem Krankenhaus türmen. Seiner Gesundheit zuliebe ertrug er es jedoch. Aus den bruchstückhaften Erinnerungen des Vorabends wusste er, dass sich sein Auto komplett um ihn herum verschoben und verbogen hatte.

 

***

 

Alex hatte sich extra für diesen und die nächsten zwei Tage freigenommen.

Die Ärzte hatten Sam eine ganze Woche bei sich behalten und täglich irgendwelche Tests gemacht, wobei nur ihm aufzufallen schien, dass Sam von Tag zu Tag nervöser und fahriger wurde. Nur in den Momenten, wo Alex ihn in den Arm nahm, wurde er ruhig. Den Berührungen von anderen Menschen wich er eher aus. Leider hatte Alex nicht jeden Tag zu Sam gekonnt. Gerade einmal ein weiteres Mal hatte er es geschafft, um Sam das Handy und ein paar Klamotten aus dessen Wohnung holen zu können. Ansonsten waren seine Schichten immer mit den Besuchszeiten kollidiert. Dafür hatten sie jeden Tag geschrieben und auch miteinander telefoniert.

 

Umso mehr freute er sich, dass er Sam heute aus der Klinik abholen durfte. Von den Ärzten hatten sie grünes Licht bekommen, aber Sam sollte es trotzdem langsam angehen. Auch das Autofahren war noch gestrichen, obwohl Sam von der Spedition ein neues Auto erhalten hatte. Der Chef von denen überschlug sich fast vor Freundlichkeit, besonders nachdem herausgekommen war, dass der Fahrer unter Alkoholeinfluss gestanden hatte. Und das nicht zum ersten Mal.

 

Kaum hielt Alex direkt vor dem Eingang, stieg Sam ein, verstaute seinen Rucksack im Fußraum und schnallte sich an.

„Fahr los! Bevor sie auf die Idee kommen, mich ein weiteres Mal zu piesacken und mit Nadeln zu durchlöchern.“ Lachend befolgte Alex den Befehl. Anscheinend hatte es wohl noch eine Abschlussuntersuchung gegeben. Gut, dass er zu Hause bereits alles vorbereitet hatte, sodass sie gleich zu Mittag essen konnten. Der Auflauf musste nur noch in den Ofen geschoben werden. Da Sam ihm gegenüber bereits gestanden hatte, dass er kochen abgrundtief hasste, hatte Alex sich darum gekümmert. Er fand das überhaupt nicht schlimm. Im Gegenteil, er fand es sogar toll, denn so behielt er die Küche als sein Reich und niemand quatschte ihm rein. Sam würde kein Problem damit haben, an der großen Kücheninsel zu sitzen, ihm zuzusehen und gelegentlich etwas zum Probieren zu bekommen. Das hatte mit seinen Exfreunden immer wieder zu einigen Spannungen geführt.

 

Dafür war er froh, wenn jemand ab und zu seinen Hund übernahm und mit ihm eine Runde drehte. Als er Sam einige Bilder von seinem Schäferhund geschickt hatte, waren nur Smileys mit Herzaugen zurückgekommen. Bei ihrem darauffolgenden Telefonat hatte er dann gestanden, dass er schon immer gerne einen Hund hatte haben wollen. Doch früher hatten es seine Eltern nie erlaubt und jetzt durfte er keine Hunde in seiner Wohnung halten. Darum war es immer ein Traum geblieben und er hatte bisher kaum Kontakt zu Hunden gehabt.

 

Als sie vor seinem kleinen Haus ankamen, wollte Sam sich vorbeugen, um alles zu sehen. Sofort blockierte Alex die Bewegung, drückte ihn leicht nach hinten.

„Pass auf deine Verletzungen auf. Du sollst dich noch schonen.“ Als Antwort bekam er eine Grimasse, die ihn lachen ließ. Genau das hatte er erwartet. Schnell stieg er aus, eilte um das Auto herum und nahm Sam den Rucksack ab.

„Bitte pass etwas auf! Du hast dich nicht in dem Wrack gesehen, doch ich habe es und der Anblick verfolgt mich. Selten haben wir ein so verformtes Auto gesehen, aus dem der Fahrer mit so wenigen Verletzungen herausgekommen ist. Selbst der Gutachter hat geschluckt und es als Wunder bezeichnet. Also pass bitte besser auf dich auf und übertreibe es nicht!“ Sofort erschien ein reumütiger Ausdruck in Sams Gesicht. Entschuldigend kuschelte er sich an Alex, ließ widerstandslos zu, dass dieser ihm den Rucksack abnahm.

 

***

 

Es war schon seltsam, dass Sam heute hier stand. Vor nicht einmal acht Tagen hatte er ein ganz anderes Leben gehabt. War jeden Tag brav auf Arbeit gefahren, danach zurück in seine kleine, leere Wohnung, um dort den Abend allein vor dem Computer oder Fernseher zu verbringen und schließlich ins Bett zu fallen. Zu Essen hatte es immer belegte Brote und Obst gegeben. Ansonsten war er nur draußen gewesen, wenn er einkaufen musste oder ein Termin anstand.

Jetzt folgte er einem Typen in dessen Haus, den er gerade einmal seit einer Woche kannte und ließ sich von diesem bekochen. Für Alex hatte er zum ersten Mal WhatsApp genutzt und er war der erste Mensch, mit dem er wirklich jeden Tag gerne sprach. Dazu hatte ihm dieser noch erklärt, dass er gern öfters zu Besuch gekommen wäre. Doch seine Schichten hatten sich überschnitten. Was für Sam nicht schlimm gewesen war. Irgendwie hatte ihm dieser Abstand auch bewusst gemacht, dass er es probieren wollte. Auch wenn es mit Alex am Ende nur eine kurze Geschichte werden würde, wollte er es dennoch wagen und sich auf ihn einlassen. Zu einem kleinen Teil spielte auch mit rein, dass er Alex in Feuerwehruniform sehen wollte. Und wenn der Unfall ihn eines gelehrt hatte, dann, dass es schneller vorbei sein konnte, als man dachte. Ein betrunkener LKW-Fahrer reichte da schon.

Darum bereute er seinen letzten Kommentar sofort. Tatsächlich hatte er sich bisher geweigert, Bilder von den Überresten seines Autos anzusehen. Wobei es wohl auch ein Foto gab, wie Alex ihn da rausholte. Nur, dass Sam richtig Angst davor hatte, dass er es nicht vergessen würde und es in seinen Träumen wieder erlebte. Leider war er mit Schwung in ein Fettnäpfchen getreten.

 

Ein Arm von Alex legte sich um seine Taille, darauf bedacht, den rechten Arm nicht zu berühren. Die ganze Zeit schon achtete Alex darauf, dass er sich auf der linken Seite von Sam aufhielt und somit die Schulter nie berührte. Der Mann nahm so viel Rücksicht auf ihn, dass es schon fast unheimlich war. Während Sam aufgrund der Wirkung der Schmerzmittel immer wieder mal vergaß, dass er unzählige Prellungen und Schnittwunden hatte, glaubte er mittlerweile fast, dass sich Alex jede einzelne eingeprägt hatte und darauf Rücksicht nahm. Ein faszinierendes Gefühl. Nicht einmal seine Eltern hatten sich zu Lebzeiten so um ihn gesorgt.

 

Ruhig und bestimmend dirigierte Alex ihn durch die Tür des kleinen, weißen Hauses ins Innere. Man befand sich sofort in einem großen Raum, der nur durch mehrere Säulen unterbrochen wurde, die vermutlich die ganze obere Etage trugen. Rechts von ihnen gab es eine große, gemütliche Sitzecke mit Fernseher und rechts eine riesige Hochglanzküche, die optisch durch eine Insel vom Rest abgetrennt war. Geradeaus befand sich eine Glaswand, durch die man einen direkten Blick in den Garten hatte. Der Platz davor war mit einem gemütlichen Teppich ausgelegt, voll mit Hundespielzeug. Nur auf der rechten Seite hatte ein kleiner Esstisch Platz gefunden. Von dort kam auch ein großer, schwarzer Hund angesprungen, bremste direkt vor ihnen und wartete mit heftig wedelndem Schwanz ab.

„Sam, das ist mein Schäferhund Lion. Ihr könnt euch miteinander bekannt machen, während ich mich um das Essen kümmere.“ Schon ließ Alex ihn allein mit dem Hund. Etwas hilflos hielt Sam ihm erst nur die Hand hin, nicht wissend, was er machen sollte. Aus Alex‘ Erzählungen wusste er, dass Lion ganz lieb war und er keine Angst haben musste. Eine nasse Nase schnupperte an ihm und schon schob Lion seinen Kopf unter seine Finger, forderte Sam eindeutig dazu auf, ihn hinter den Ohren zu kraulen.

Nach einem kurzen Blick zu Alex lief Sam zum Sofa und setzte sich darauf. Sofort saß Lion neben ihm und präsentierte ihm seinen Bauch. Begeistert kraulte Sam darüber. Kurz darauf gesellte Alex sich dazu und machte dasselbe bei Sam, nur dass er Sams Kopf kraulte und nicht den Bauch.

 

So verbrachten sie die Zeit, bis ein schriller Alarmton sie aufschreckte. Mit einem muskulösen Arm fixierte Alex Sam an seinem Körper, sodass dieser nicht nach vorne zuckte.

„Na komm, mein kleiner Engel. Essen ist fertig.“ Als Sam sich umdrehte und zum Tisch sah, verschlug es ihm erst einmal die Sprache. Alex hatte nicht nur das Essen vorbereitet, sondern auch den Tisch liebevoll gedeckt. Wie bei einem richtigen Date. Mit einer einzelnen roten Rose und zwei weißen Kerzen links und rechts. Wobei diese noch nicht brannten. Dazu gab es rote Unterlagen, auf denen das Besteck drapiert war. Nur die Teller fehlten noch. Während Sam bereits zum Tisch lief, nahm Alex eine kleine Fernbedienung vom Couchtisch. Mit einem Knopfdruck schoben sich schwere Vorhänge vor die komplette Glasfront, verdunkelten den Raum. Abgesehen von einem kleinen Licht in der Küche herrschte nun absolute Dunkelheit.

Neben einer Kerze fand Sam ein Feuerzeug, zündete die Kerzen an. Von einem Moment zum anderen war es egal, dass die Uhr kurz vor zwölf Uhr mittags anzeigte. Es wirkte wie ein romantisches Abendessen und war somit perfekt für ein erstes Date.

 

Begeistert schnupperte er in der Luft und Lion machte es ihm nach. Gemeinsam konnten sie es kaum erwarten, dass Alex das Essen servierte, welches herrlich roch. Kurz darauf stellte Alex einen Teller direkt vor Sam und einen weiteren auf seinen Platz.

„Einen Moment, mein Engel! Ich bin ein schlechter Gastgeber und habe dir noch gar nichts zum Trinken angeboten. Cola, Wasser, Limo oder lieber ein Fruchtsaft?“ Abwartend sah Alex ihn an.

„Cola bitte und ein Glas Wasser für Lion.“ Verschmitzt grinste Sam zu Alex nach oben. Der schüttelte nur amüsiert mit dem Kopf, drehte sich um und lief zurück in seine Küche. Aus dem Kühlschrank holte er eine Flasche und aus einem Schrank zwei Gläser. Beide schenkte er voll, brachte sie zum Tisch, um danach erneut in die Küche zu laufen. Mit einem Messbecher voller Wasser und einer Schüssel Hundefutter kam er zurück. Mit einem Pfiff befahl er Lion zu sich und verwies ihn auf einen Platz etwas vom Tisch entfernt. Es war eindeutig der feste Platz des Hundes, denn neben einem großen Hundebett stand dort auch eine Futterbar, in der bereits eine Schüssel steckte. In die goss Alex das Wasser. Den zweiten Napf platzierte er direkt daneben in der Bar.

 

Anschließend kam er wieder zu Sam und setze sich auf den gegenüberliegenden Platz.

„Lass es dir schmecken, kleiner Engel.“ Nach einem Schluck aus seinem Glas, tat Sam genau das. Fürsorglich hatte Alex ihm den Auflauf so auseinandergepflügt, dass er nur noch die Gabel in die Nudeln stechen musste. Bereits beim ersten Bissen stöhnte er leise auf. Es schmeckte himmlisch. Absolut göttlich und er musste definitiv mit Alex zusammenzubleiben, da er noch nie so etwas Gutes gegessen hatte. Kein Wunder, dass Lion bettelte. Am liebsten hätte Sam sich über den Teller gebeugt und alles in sich reingeschaufelt. Doch er beherrschte sich, blieb gerade sitzen und aß ganz gesittet die komplette Portion auf.

Die ganze Zeit über spürte er den Blick von Alex auf sich, doch dieser ließ ihn ganz in Ruhe essen. Nachdem er fertig war, lehnte Sam sich zurück, strich über seinen vollen Bauch. Für ein Dessert war definitiv noch Platz, dafür reichte es leider nicht für eine zweite Portion vom Auflauf. Sonst würde er vielleicht platzen und das wäre für ein erstes Date suboptimal.

 

Sich über die Lippen leckend, betrachtete er Alex ganz genau. Gerne würde er über die dunklen Haare an den Armen streicheln und sich an den starken Körper kuscheln. Zu diesem Teil kamen sie hoffentlich später, wenn sie fertig mit Essen waren. Alex hatte ihm schließlich Filme und Entspannung versprochen. Irgendwann wollte er unbedingt gemeinsam mit ihm ins Kino. Seine Gedanken schweiften in die Zukunft, wobei er auch an nicht jugendfreie Dinge dachte. Die würden aber definitiv warten müssen, bis er gesund war. Blaue Flecken und Schnittwunden waren nicht sexy und Sex mit schmerzendem Körper auch nicht.

 

Nachdem sie in aller Ruhe noch je ein großes Stück Schokoladenkuchen mit Erdbeereis und Sahne gegessen hatten, schickte Alex ihn mit Lion zusammen aufs Sofa. Während Sam und Lion kuschelten, räumte Alex schnell und effizient auf. Dabei herrschte eine ruhige Stimmung, die nur von Lions Hecheln und gelegentlichem Bellen unterbrochen wurde.

„Ist es okay, wenn wir eine Serie ansehen? Dann müssen wir in zwei Stunden keinen neuen Film suchen.“ Fragend schielte Sam zu Alex.

„Gern, such dir etwas aus. Ich ertrage alles, was du mir antust. Nur bitte keine Animationsfilme.“ Damit konnte Sam leben. Nachdem Alex den Fernseher angeschaltet und Netflix gestartet hatte, reichte er die Fernbedienung an Sam weiter.

„Weißt du, was mir an unserem ersten Date am besten gefällt? Dass du die Stille nicht mit Worten füllen willst.“ Überrascht löste Sam sich von der unendlichen Auswahl an Serien und drehte sich leicht zu Alex um. Für ihn war es selbstverständlich, denn es würde stören, wenn sie krampfhaft ein Gespräch aufrechterhalten wollten. Das hatten sie schließlich genug in den Telefonaten getan. Im Moment wollte er nur die Anwesenheit von Alex genießen und ihn später vielleicht dazu überreden, in Uniform zu posieren.

„Kuscheln wäre mir jetzt viel lieber.“ Frech zwinkerte Sam Alex zu. Der verstand sofort und half Sam dabei, sich zwischen seine Beine zu setzen und sich an ihn zu lehnen.

„Ohne dein Shirt wäre es noch besser.“ Mit einem grollenden Lachen richtete Alex Sam etwas auf, zog sein Shirt aus. Zufrieden brummelte Sam. Kurz legte er die Fernbedienung ab, nahm Alex‘ Hand in seine und schob sie unter sein Oberteil. Gerne würde er auch die andere fühlen, doch mit seiner kaputten Schulter musste er für den Moment akzeptieren, dass Alex sie auf die Lehne der Couch ablegte. Nachdem sich Sam entschieden hatte, rutschte er noch etwas tiefer und erklärte zufrieden: „Das ist das perfekte erste Date, welches wir unbedingt noch viele Male wiederholen müssen.“

„Später wird es noch besser. Nur für dich werde ich in meine Uniform schlüpfen und sie dann ganz langsam wieder ausziehen“, flüsterte Alex ihm leise ins Ohr und leckte provozierend darüber. Gänsehaut breitete sich über Sams ganzen Körper aus. Vorsichtig drehte er seinen Kopf, fing die Lippen von Alex ein. Hauchzart streiften ihre Münder übereinander. Wieder und wieder, bis Alex den Kuss vertiefte. Schließlich musste Sam den Kuss lösen, da sein Genick protestierte.

Mit einem Kuss auf Sams Scheitel schnappte Alex sich die Fernbedienung und spulte zurück an den Anfang. Glücklich verflocht Sam seine linke Hand mit der von Alex. Von allein schlossen sich seine Augen zur Hälfte. Hinter sich Alex und Lion zu seinen Füßen, der ihn wärmte. Es würde ein ausgedehntes erstes Date werden, das Sam definitiv nicht so schnell beenden wollte. Deswegen hatte er sich auch eine Serie mit neun Staffeln ausgesucht. Da Alex in Greifweite Cola und Süßigkeiten platziert hatte, würden sie es wirklich eine ganze Weile in ihrer kleinen Blase aushalten.

„Und keine Angst! Ich verspreche, noch unzählige Dates mit dir zu verbringen. Wenn du willst, können wir auch jedes als erstes bezeichnen. Hauptsache, wir verbringen sie gemeinsam.“ Fast schien es, als ob Alex Sams Gedanken lesen konnte und darauf antwortete. Sein Versprechen besiegelte Alex mit einem kleinen Biss, seitlich von Sams Hals.

 

Impressum

Texte: Josephine Wenig
Bildmaterialien: Caro Sodar
Lektorat: Caro Sodar
Tag der Veröffentlichung: 11.06.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Lieben Dank an Caro Sodar für das tolle Cover und das Korrigieren :)

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