Entspannt joggte Leon am Ufer des Sees entlang. Dabei genoss er die Ruhe, welche um fünf Uhr morgens hier herrschte. In wenigen Stunden würden die ersten Familien auftauchen und die Umgebung unerträglich laut machen. Das Wetter dazu war auch perfekt. Es waren Temperaturen von bis zu vierzig Grad angesagt und keine einzige Wolke war am Himmel zu sehen. Trotzdem wollte Leon den ganzen Sonntag hier verbringen und somit seinen Mitbewohnern entgehen.
Wenigstens war der See riesig und er hatte eine Ecke gefunden, wo es nicht danach aussah, als ob sich dort viele Menschen aufhalten würden. Es führte nur ein Trampelpfad hin und der kleine Strand war von Bäumen umgeben. Es gab fast nichts, was darauf hinwies, dass oft jemand diesen Flecken Erde betrat. Nur vereinzelte Fußspuren im Sand.
Leon hatte bereits sein kleines Zelt genau dort aufgebaut und war mit seiner Husky-Hündin Hope eine Runde joggen gegangen.
Er wollte die knapp fünfundzwanzig Kilometer rund um den See schaffen, bevor es dafür zu warm und voll wurde. Viel fehlte nicht mehr, bis er wieder am Ausgangspunkt ankommen würde. Wobei auch Hope schon jetzt keine Lust mehr hatte, da die Temperaturen rapide anstiegen und es bereits zu der frühen Stunde fast schon unerträglich warm war.
Nach knapp fünfzehn Minuten war er zurück bei seinem Zelt. Es stand direkt am Fuß einer großen Weide, deren Äste bis zum Boden hingen, sein Zelt so verbargen und den ganzen Tag Schatten spenden würde. Seinen Bollerwagen mit dem roten Planendach, mit dem er alles hierher transportiert hatte, stand direkt neben dem Zelt. Er hatte eine Rückwand entfernt und eine kühlende Unterlage für Hope reingelegt. Sie sprang auch sofort hinein und rollte sich ein. Sicherheitshalber stellte Leon ihr eine Schüssel mit Wasser hin, damit sie was trinken konnte, was sie auch annahm.
Geduldig wartete er, bis sie aufhörte, um danach die Schüssel auf einer Stelle mit Moos zu platzieren. Da sie versorgt war, genehmigte er sich eine halbe Flasche Wasser. Von denen hatte er mehrere mitgebracht und sorgfältig in eine kleine, selbstgegrabene Grube gelegt. Darüber befand sich eine dicke Schicht Moos, um alles etwas zu kühlen. In einer Kühlbox hatte er zusätzlich Sandwiches und Hundefutter dabei.
Gähnend zog Leon Schuhe und Shirt aus, machte sich auf den Weg zum Wasser. Nach wenigen Metern wechselte das Gras zu Sand. Noch fühlten sich die Sandkörner unter seinen Füßen kühl an und das Wasser war ein eiskalter Schock. Bibbernd tauchte Leon komplett unter. Prustend kam er wieder in die Höhe und schwamm los. Es dauerte nicht lang, bis ein Körper sich an die Temperatur gewöhnte.
So hatte er sich seinen Tag am See vorgestellt. Nun konnte er nur noch hoffen, dass der restliche Tag so weiterging. Wobei vermutlich alles besser war, als seine Mitbewohner, die eine Sommerparty veranstalteten und dabei auf nichts und niemanden Rücksicht nahmen. Leon wollte gar nicht wissen, wie oft heute die Polizei bei ihnen vor der Tür stehen würde. Genau aus dem Grund hatte er sich aus dem Staub gemacht. Sonst müsste er als Hauptmieter dafür geradestehen. Außerdem hatte er diese Riesenparty nicht seiner Hündin antun wollen. Betrunkene Leute waren nicht gerade die angenehmsten Zeitgenoßen.
***
Gemeinsam mit seinen zwei Brüdern betrat Viktor ihren kleinen, persönlichen Strand. Bisher hatten sie nie jemanden getroffen, wenn sie sich hier eine Auszeit gönnten. Als Söhne eines reichen, russischen Geschäftsmannes hatten sie so gut wie nie Freizeit und viel zu tun. Da musste man es ausnutzen, wenn einem der Vater außnahmsweise mal frei gab.
Nur dieses Mal hatten sie Gesellschaft. Wie angewurzelt blieb Viktor stehen, als sich ein junger Mann aus dem Wasser erhob und das Wasser aus seinen schwarzen, schulterlangen Haaren strich. Dabei bewegten sich feine Muskeln unter der blassen Haut. Er war nur mit einer knielangen, schwarzen Short bekleidet. Wenn er es richtig einschätzte, war der Mann knapp anderthalb Köpfe kleiner wie er. Was allerdings nicht schwer war, da Viktor zwei Meter und drei Zentimeter groß war. Seine Brüder standen ihm da in nichts nach.
Die zwei positionierten sich gerade neben ihm und grinsten simultan. Sie kannten seine Vorlieben und der junge Mann entsprach allen. Wenn er nun noch Tiere mochte und sich führen ließ, wäre er sein Traumprinz.
Genau in dem Moment kam unter der Weide am Waldrand ein Husky hervor und sprintente ins Wasser. Mit einem lauten Platschen und Bellen machte er seinen Besitzer auf sich aufmerksam. Dieser tauchte lachend unter und tobte mit dem Husky herum. Dabei konnte Viktor den Namen Hope heraushören. Es zauberte ihm ein Lächeln ins Gesicht. Gerne würde er den jungen Mann kennenlernen und sehen, wie er charakterlich drauf war.
In dem Moment traf ihn ein Blick aus grünen Augen. Sie weiteten sich überrascht und die Wangen röteten sich. Mit einem verschmitzten Lächeln drehte er sich zur Seite und bedeutete seinen Brüdern, dass sie ihr Lager aufbauen sollten. Glücklicherweise machten die sich auch direkt daran und enthielten sich jeglicher Kommentare.
Obwohl er der jüngste Sohn war, kam er sich manchmal wie der Älteste vor. Augenverdrehend half er ihnen, während er nebenbei den Mann beobachtete. Mit etwas Glück blieb dieser noch den ganzen Tag und er hatte mehr als genug Gelegenheit, ihn kennenzulernen.
„Statt zu starren, solltest du ihn ansprechen. Wir werden auch ganz diskret hierbleiben und euch in Ruhe lassen. Den Herzchen in deinen Augen nach, hat es dich ziemlich übel erwischt. Ich schreibe unseren Eltern schon einmal, dass du heute den Schwiegersohn in Spe gefunden hast.“ Gezielt trat Viktor gegen das Knie seines Bruders Dimitri und schlug mit der Hand gegen den Kopf von Alexej. Beide amüsierten sich eindeutig viel zu gut auf seine Kosten. Wenn sie so weitermachten, würde er ihnen jedes einzelne ihrer blonden Haare abrasieren. Denn das würde sie am meisten treffen.
Kurz schloss Viktor seine Augen, atmete tief ein und strich sich selber noch einmal über den Kopf. Glücklicherweise hatte er heute Morgen seine blonden Haare zu einem perfekten Irokesen geformt. So sah er nicht schlampig aus. Sicherheitshalber kontrollierte er auch noch einmal seine Kleidung. Da der junge Mann immer noch im Wasser war, zog er seine Turnschuhe und das Shirt aus, sodass er auch nur noch in Badehose dastand. Er war sich bewusst, dass er gut aussah mit seinen Muskeln und der großen Tätowierung über seiner Brust. Im Gegensatz zu seinen Brüdern rasierte er sich nicht alle Haare am Körper ab. Seiner Meinung nach trug ein echter Mann Pelz und nur Poser entfernten alles. Damit ärgerte er auch gerne seine älteren Brüder. Die nannten ihn dafür einen Bären.
***
Unter den Strähnen seines Haares hervor beobachtete Leon die Männer. Sie sahen alle gut aus, doch der Mittlere übertraf alle anderen. Und er hielt genau auf ihn zu. Bei jeder Bewegung des Mannes wirkte der tätowierte Drache, welcher sich über die rechte Seite, den Bauch und die Brust entlang schlängelte, als ob er leben würde. Der ganze Mann war ein Raubtier und er schien seine Beute entdeckt zu haben. Hope hatte ihn auch entdeckt und schwamm neugierig zu ihm. Da Leon mit starren beschäftigt war, schaffte er es nicht, sie zurück zu rufen. Sein Gehirn hatte sich komplett verabschiedet.
Um einen klaren Kopf zu bekommen, ließ er sich einfach nach hinten fallen und tauchte komplett ab. Er hatte wirklich keine Lust, sich zu blamieren und das würde er garantiert. Noch nie hatte er mit gutaussehenden Männern ohne Stottern oder Blackouts sprechen können. Sie verunsicherten ihn einfach. Darum war er auch froh, in seinem Job als Buchhalter einer kleinen Firma keinen persönlichen Kontakt zu Kunden zu haben. So musste er sich im beruflichen Bereich nicht auf solche Peinlichkeiten gefasst machen. Im Privaten war er eher der ruhige und introvertierte Typ, der viel mit seiner Hündin unterwegs war. In seinem bisherigen Leben hatte es keinen einzigen Mann gegeben, der mehr als nur ein Freund gewesen war. In der Zeit, wo andere Jugendliche sich ausprobierten, hatte er mitten in der Ausbildung gesteckt und dazu noch zwei Nebenjobs gehabt, um über die Runden zu kommen. Da hatte es keine Zeit für irgendwelche Flirtereien gegeben. Und jetzt mit dreiundzwanzig hätte er zwar Zeit, fühlte sich aber zu unsicher dafür.
Prustend kam er wieder hoch und hatte direkt die Brust des Mannes vor sich. Errötend stolperte er einen Schritt zurück, was ihn beinahe wieder unter die Wasseroberfläche beförderte. Ein starker Arm griff um ihn herum und hielt ihn an der Taille fest. Sacht wurde er wieder auf seine eigenen Beine gestellt. Genau aus dem Grund vermied er solche Begegnungen. Vielleicht sollte er seine Sachen packen und einen anderen Platz suchen. Es konnte nur richtig peinlich für ihn werden.
Im Gegensatz zu ihm hatte Hope keine Berührungsängste. Gemütlich kam sie angepaddelt und stupste den Mann an. Langsam löste sich der Arm, so als ob der Mann sich versichern musste, dass Leon richtig stand. Erst danach widmete er sich Hope und kraulte sie hinter den Ohren. Somit hatte er sofort die Freundschaft von ihr gewonnen. Unauffällig wollte Leon den Moment nutzen und flüchten. Nur das eine Hand ihn am Arm festhielt.
„Nicht flüchten. Ich möchte dich noch kennenlernen.“ Ein strahlendes Lächeln traf ihn und trieb ihm noch mehr Röte in die Wangen. Mittlerweile musste sein Kopf glühen. Er blamierte sich gerade auf ganzer Linie. Sanft strichen Finger über seine heiße Wange, löste eine seiner nassen Haarsträhnen von der Haut und wickelten sie auf.
„Du bist wirklich süß und unschuldig. Lass uns an Land gehen und etwas reden.“ Gegen das süß würde er gerne protestieren. Aber gegen das unschuldig konnte er nicht einmal etwas einwenden. Wenn er nur seinen Mund aufbekommen würde. Doch der fühlte sich staubtrocken und wie zugeklebt an. Ohne Gegenwehr ließ er sich aus dem Wasser und in Richtung seines Zeltes ziehen. Mit einer Hand öffnete der Mann eine kleine Lücke zwischen den Ästen und bugsierte ihn hindurch.
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Bisher hatte der junge Mann keinen einzigen Ton von sich gegeben. Was wohl auch daran lag, dass er komplett verschüchtert wirkte. Wenigstens hatte er keinen Ring am Finger und auch sonst wies nichts darauf hin, dass er einen Freund hatte. Unauffällig hatte Viktor ihn gemustert und keinerlei Knutschflecken oder sonstige Markierungen entdecken können. Das konnte er nun genauer erfragen und der Lagerplatz gab ihm eine gewisse Privatsphäre vor seinen Brüdern. Dazu war es hier noch etwas kühler.
„Mein Name ist Viktor und ich bin mit meinen zwei bescheuerten Brüdern hier. Wie heißt du?“ Obwohl er gerne weiterhin die weiche Haut berührt hätte, nahm Viktor etwas Abstand, setzte sich direkt im Schneidersitz ihm gegenüber. Erneut kam die Hündin zu ihm, wedelte aufgeregt mit dem Schwanz und bettelte eindeutig um Streicheleinheiten. Die gab er ihr natürlich. Wenn sein Vater ihm mehr Freizeit zugestehen würde, hätte er schon längst einen eigenen Hund. Am Halsband klimperten zwei Marken, die er sich interessiert ansah, während er auf eine Antwort wartete. Die eine war eine einfache Steuermarke und auf der anderen waren zwei Namen und eine Adresse eingraviert. Neugierig las Viktor sie.
„Leon also. Und die süße Maus heißt Hope. Zwei sehr schöne Name.“ Ihm musste es einfach gelingen, die Schüchternheit zu überwinden und Leon zum Sprechen zu bringen.
„Wie alt ist Hope und woher kommt sie?“ Viktor hoffte, dass Fragen zu Hope genau die richtige Strategie waren.
„Circa anderthalb Jahre. Ich habe sie aus Rumänien adoptiert.“ Tierschutz. Das gefiel ihm noch besser. Wenn das so weiterging, konnte er Leon gar nicht mehr gehen lassen. Schon jetzt verliebte er sich Stück für Stück mehr in den jungen Mann. Selbst seine Exfreunde hatten ihn am Anfang nicht so fasziniert. Bei Leon konnte er sich sogar vorstellen, diesen mit zu seinen Eltern zu nehmen. Und das hatte er bisher nie gemacht. Nun brauchte Leon nur noch etwas mehr Selbstbewusstsein. Er wollte dessen Augen sehen, die immer noch den Boden fixierten.
Die Finger von Leon verknoteten sich nervös ineinander und lösten sich wieder. Beruhigend legte Viktor eine Hand darüber, hielt sie so still. Mit Worten konnte er ihn anscheinend nicht beruhigen, aber vielleicht mit Hautkontakt und Geduld. Darum strich er einfach nur mit seinen Fingern über die von Leon und wartete ab.
Um sie herum stieg die Temperatur langsam an und Hope verkrümelte sich in den Bollerwagen. Vermutlich hatte Leon da irgendwas drin liegen, damit die Hündin nicht unter der Hitze litt. Darum war auch die Platzwahl von Leon perfekt. Hier würde es den ganzen Tag schattig bleiben und die Weide sorgte für eine Abkühlung der Luft. Nicht viel, aber es machte die Hitze erträglicher. So konnte er auch länger darauf warten, bis das nervöse Zittern langsam weniger wurde und Leons Finger sich entspannten. Obwohl er den Blick noch gesenkt hielt, nahm Viktor das als Fortschritt hin. Schließlich kannte Leon ihn überhaupt nicht und er hatte den jungen Mann quasi überfallen und ihm gar keine Wahl gelassen.
Vorsichtig löste Leon sich von ihm, krabbelte etwas zur Seite und hob Moos an. Darunter holte er zwei Flaschen Wasser hervor, bot ihm schüchtern eine an. Wobei er ihm immer noch den Augenkontakt vermied.
„Danke, Leon.“ Bevor Leon sich ihm wieder gegenübersetzen konnte, zog Viktor ihn direkt neben sich, drückte dessen Kopf an seine Schulter. Lange würden sie das bei den Temperaturen nicht machen können, doch für den Moment war es perfekt.
„Als was arbeitest du? Und was machst du in deiner Freizeit gerne?“ Minutenlang herrschte Schweigen, sodass Viktor befürchtete, dass Leon nicht mehr antworten würde. Bis er mit fast unhörbarer Stimme antwortete: „In der Buchhaltung einer Textilfirma. Meistens bin ich mit Hope draußen und jogge. Ansonsten lese ich oder wir schauen Serien auf Netflix an.“
„Vielleicht können wir demnächst mal eine Runde zusammenlaufen? Entweder morgens oder abends, wenn es nicht ganz so heiß ist. Oder vielleicht einen gemütlichen Filmabend mit ganz viel Eis.“ Mit einem Seitenblick konnte Viktor sehen, wie Leon sich auf seine Unterlippe biss. Viel fehlte nicht mehr und es würde bluten. Darum berührte er sie, zog sie vorsichtig von den Zähnen weg.
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Wie erstarrt ließ Leon es geschehen. Viktor verwirrte ihn komplett. Er bewies eine Geduld mit ihm und suchte dauernd Kontakt. Statt mit seinen Brüdern Spaß zu haben, blieb Viktor bei ihm. Als ob er wirklich interessiert war und sich nicht von seinem krampfhaften Schweigen vertreiben ließ. Denn die Brüder hatten definitiv Spaß. Man hörte sie lachen und scherzen.
Gerne würde Leon normal sprechen, doch er hatte das Gefühl, als ob es eine Blockade zwischen seinem Gehirn und seinem Mund gab. Dazu klopfte sein Herz noch unnatürlich laut und schnell. Es dröhnte regelrecht in seinen Ohren. Wie sollte man da eine vernünftige Unterhaltung führen, die einen nicht wie einen Trottel dastehen ließ? Genau aus dem Grund hielt er sich von attraktiven Männern fern. Warum ausgerechnet das am besten aussehende Exemplar der Spezies Mensch sich an einem Sonntagmorgen an einen verlassenen Strand verirren musste, an dem genau er gerade war, erschloss sich Leon nicht. Das musste eine grausame Ironie des Schicksals sein. Oder eine glückliche? So ganz konnte Leon sich nicht entscheiden. Für den Moment fühlte es sich tatsächlich richtig an. Darum ließ er zögerlich seinen Kopf auf die Schulter von Viktor sinken. Sofort verflocht sich eine Hand in seinem Haar.
Leider wurde es von Minute zu Minute unerträglicher mit der Wärme, sodass er sich schließlich lösen musste. Sein Herz schlug auch allmählich etwas langsamer. Ganz beruhigen würde es sich wohl nicht. Vielleicht half eine kleine Abkühlung, schließlich befanden sie sich direkt am See. Direkt gefolgt von einem Frühstück, denn sein Magen knurrte zu allem Überfluß auch noch. Da er direkt nach dem Aufstehen seine Sachen gepackt und hierhergekommen war, hatte er noch nicht gefrühstückt.
Deutlich merkte er den Blick auf seinem Hintern, als er sich bückte und durch die Zweige kämpfte. Auf der anderen Seite musste er sich erst einmal den neugierigen Blicken der Brüder stellen. Nur das die auf einmal ganz schnell in eine andere Richtung sahen. Verwundert drehte Leon sich um und konnte noch den Ansatz eines bösen Blickes sehen. Dabei musste er den Kopf in den Nacken legen, sonst hätte er nur die Brust vor seiner Nase. Ein hauchzarter Kuss auf seine Stirn ließ ihn erröten und den Kopf wieder senken. Nur das Viktor eine Hand unter sein Kinn legte und dieses anhob. Federleicht legten sich ihre Lippen aufeinander. Wieder und wieder streiften ihre Münder übereinander. Mit einer Hand umfasste Viktor Leons Hinterkopf, hielt ihn so davon ab, nach hinten auszuweichen. Die andere lag um seine Mitte und hob ihn etwas hoch.
In Leons Kopf herrschte gähnende Leere, dafür schlug sein Herz mit dreifacher Geschwindigkeit und ihm wurde langsam schwindelig. Glücksgefühle strömten durch seinen Körper und ließen das Ganze richtig erscheinen. Nur das mit einem Mal sein Kopf laut rief, dass er diesen Mann noch nicht einmal zwei Stunden kannte. Trotzdem küsste der ihn und hielt ihn besitzergreifend fest.
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So war das eigentlich nicht geplant gewesen. Aber Viktor hatte einfach nicht widerstehen können. Als Leon mit seinen wunderschönen grünen Augen zu ihm aufgesehen hatte, war es um ihn geschehen. Er musste einfach eine kleine Kostprobe nehmen. Nach den ersten Sekunden entspannte sich der schmale Körper in seinen Armen und Leon wurde nachgiebig. Wobei er an seinen Fingerspitzen spürte, wie der Puls raste. Irgendwie hatte Viktor das Gefühl, dass noch niemand diesen Goldschatz geküsst hatte.
Wenigstens hielten seine Brüder die Klappe. Nicht dass sie ihm noch alles versauten. Um Leon nicht zu überfordern, beendete er langsam den Kuss. Nun hieß es, eine kurze Abkühlung zu nehmen und danach für etwas zu essen zu sorgen. Das Magenknurren verriet ihm nämlich, dass Leon heute vermutlich noch nichts gegessen hatte oder es schon länger her war. Das konnte er so nicht durchgehen lassen. Zum Glück hatten sie Unmengen an Essen von ihrer Haushälterin mitbekommen. Fein säuberlich mit Kühlpacks in ihren isolierten Rucksäcken verpackt.
Mit einer nachlässigen Handbewegung scheuchte er seine Brüder weg, damit diese sich nicht einmischten. Sie platzten fast vor Neugierde und wollten am liebsten sofort alles wissen. Auch wenn sie es ungern zugaben, so passten sie doch immer auf ihn auf und wollten nicht, dass er verletzt wurde. Jeder seiner Exfreunde hatte durch ein Verhör gehen müssen und bis auf einen hatte keiner bestanden. Leon war viel zu verschüchtert, um das zu überstehen. Da brauchte es noch etwas Aufbauarbeit und er würde auf jeden Fall dabeibleiben.
Fest verschränkte Viktor ihre Hände miteinander, brachte Leon dazu, ihm ins Wasser zu folgen. Im ersten Moment war das Wasser eiskalt. Auch für Leon musste es unangenehm sein, denn er zuckte richtig zusammen. Mit etwas Schwung zog er Leon an seinen Körper und tauchte sie gleichzeitig unter. Sofort schlangen sich Arme um seinen Hals und Beine um seine Hüfte. Wie ein kleiner Klammeraffe hing Leon an ihm, bis sie auftauchten. Zu Viktors Bedauern löste Leon sich, schwamm ein paar Meter weg. Wieder hielt er den Kopf gesenkt, was für Viktor eindeutig ein Schritt in die falsche Richtung war. Darum näherte er sich ihm. Dadurch dass sie schon etwas weiter im See waren, er gerade noch so Boden unter den Füßen hatte und Leon auf der Stelle paddelte, befanden sich ihre Köpfe auf derselben Höhe. Erneut schlang er seine Arme um den Kleineren und küsste ihn erneut, streifte ihre Lippen immer wieder übereinander, bis sich Leon in seine Richtung drängte und nicht mehr wegwollte.
***
Es war wirklich seltsam. Obwohl er den Mann kaum kannte, genoss er dessen Küsse und wollte mehr. Nach nur zwei von diesen! Dabei wusste er nicht einmal, was sein würde, wenn sie den Strand verließen und in das reale Leben zurückkehrten. Er hatte keinerlei Informationen über Viktor, außer dass dieser gut aussah, zwei Brüder hatte und anscheinend bei seinem Vater in der Firma arbeitete. Trotzdem hielt der Mann ihn im Arm, als ob da mehr wäre und hatte ihm seinen ersten Kuss gegeben.
Überrascht keuchte er auf, als Viktor seine Hand unter seinen Hintern schob und ihn zurück zum Zelt brachte. Dort wurde er sacht auf die Matratze im Zelt gelegt. Errötend robbte Leon etwas nach oben, setzte sich im Schneidersitz hin.
„Warte kurz hier“, befahl Viktor ihm und kroch wieder nach draußen. Vermutlich präsentierte er dabei mit Absicht seinen Hintern. Nur zwei Minuten später kam er zurück und hielt ihm einen Pappteller mit Sandwiches hin. Sofort schob sich die Nase von Hope aus ihrem Bollerwagen hervor und sie schnupperte in ihre Richtung. Bevor Leon an sich selber dachte, erhob er sich und füllte den zweiten mitgebrachten Napf mit dem Hundefutter. Schließlich sollte seine Süße nicht hungern. Allerdings gab er ihr nur die Hälfte der normalen Portion. Bei dem Wetter fraß sie bedeutend weniger als sonst und bei der Wärme wurde Futter schnell schlecht.
Nachdem sie versorgt war, nahm er wieder Platz und erhielt von Victor ein Käsesandwich. Mit einem vorsichtigen Seitenblick zu Viktor klappte Leon es auf, angelte die Tomatenscheibe runter. Leise lachend nahm Viktor ihm die einfach ab und aß sie. Stille senkte sich über sie und selbst das Gelächter der Brüder störte ihre Zweisamkeit nicht. Von weiter entfernt konnte man auch die anderen Seebesucher hören, die langsam ankamen und sich ausbreiteten.
Obwohl Leon froh war, dass Viktor nicht mit ihm sprach, hätte er gern mehr über ihn erfahren. Besonders eine Frage lag ihm auf dem Herzen: ob er nur ein Zeitvertreib für einen langweiligen Sonntag war oder ob sie sich auch am nächsten Tag wieder trafen.
„Gib mir mal bitte dein Telefon.“ Überrascht hob Leon seinen Kopf, hatte direkt vor seiner Nase die offene Hand von Viktor. Unter einer Ecke der Matratze holte Leon das Gewünschte hervor, entsperrte es und reichte das Handy an Viktor weiter. Der tippte etwas ein und wartete dann ab. Als weiter entfernt ein Handy klingelte, ahnte Leon, was Viktor da getan hatte. Er hatte seine Nummer eingetippt und sich selbst angerufen. So hatten sie die Nummer des jeweils anderen.
„Für mich ist das heute nichts Einmaliges. Sieh es als ein erstes Date. Morgen können wir gerne zusammen joggen gehen und übermorgen einen gemütlichen Abend am Pool verbringen. Am liebsten würde ich dich jetzt jeden Tag treffen und Zeit mit dir verbringen. Doch letztendlich ist es deine Entscheidung. Solltest du es nicht wollen, musst du es mir nur sagen und ich ziehe mich zurück. Mit viel Bedauern, aber ich werde mich an mein Wort halten.“ Viktor sah ihn so ernst an, dass Leon schon etwas Angst hatte, dass Viktor einfach verschwand, wenn er nichts sagte. Dabei würde er den Mann schon gerne kennenlernen. Wenn nur seine verdammte Schüchternheit nicht wäre. Seine Zunge fühlte sich wie festgeklebt an und er wusste nicht, was er sagen sollte. Da war eine große Blockade zwischen seinem Gehirn und seinem Mund, die verhinderte, dass er auch nur ein Wort hervorbrachte. Leider schien Viktor das Schweigen falsch zu interpretieren und zog sich zurück.
Reflexartig streckte Leon seine Hand aus und hielt ihn fest. Dabei hielt er den Blick gesenkt und fixierte den Boden. Noch während er das tat, fragte er sich, wann Viktor wohl genug hatte von seiner verflixten Schüchternheit. Warum konnte er nicht so eloquent und erfahren im Flirten sein, wie seine Mitbewohner. Die ließen nichts anbrennen und hatten auch schon versucht, ihm das beizubringen. Doch es hatte nichts gebracht.
***
Ein breites, glückliches Lächeln zierte Viktors Gesicht. Auch wenn er noch viel Geduld mit Leon haben musste, so würde es sich am Ende auszahlen. Man konnte in dem jungen Mann fast schon einen verängstigen Welpen sehen, der trotzdem Zuwendung haben wollte. Heute hatte er noch fast einen ganzen Tag, um ein erstes Grundgerüst an Vertrauen aufzubauen und in den nächsten Wochen würde er ein immer stabileres Netz um Leon herum aufbauen, in das dieser sich fallen lassen konnte. Erst wenn dieses stark genug war, würde er Leon offiziell der Familie vorstellen. Vorher musste er unbedingt sicherstellen, dass seine Brüder nicht ihr übliches Horrorverhör durchzogen.
Glücklich lächelnd hauchte er einen sanften Kuss auf die Schläfe Leons und verschränkte ihre Finger miteinander. Zu mehr Körperkontakt war es mittlerweile wirklich zu heiß. Nachher sollten sie unbedingt noch ins Wasser springen und dort konnte er unauffällig kuscheln. Ein Gähnen von Leon zeigte ihm allerdings, dass erst einmal ein kleines Schläfchen angesagt war. Ohne das Leon seine Hand losließ, rollte er sich auf der Matratze in sich zusammen und schloss seine Augen, döste mit einem Lächeln auf den Lippen ein.
Obwohl Viktor niemals ein erstes Date so geplant hätte, war es das Beste, was er je gehabt hatte. Kein einziges Mal hatte er überlegen müssen, ob Leon sich nur so gab oder ob er wirklich so war. Das was er vor sich hatte, war der reale Leon. Ein verschüchterter, aber zauberhafter Rohdiamant. Sein Herz hatte sich schon jetzt für Leon und Hope entschieden. Bisher hatte er nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt, doch das Schicksal hatte ihn eines Besseren belehrt. Nun mussten nur noch seine Brüder ihre zweite Hälfte finden, damit sie ihn in Ruhe ließen.
Texte: Josephine Wenig
Bildmaterialien: Pixabay
Cover: Josephine Wenig
Tag der Veröffentlichung: 04.05.2020
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