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Wüstenfuchs

Vor Kai erstreckte sich die Wüste. Von oben knallte die Sonne auf den Boden, heizte den Sand auf. Ein Sturz konnte sehr schmerzhaft sein, doch Kai musste da durch. Man erwartete von ihm, dass er die Medikamente zur Oase brachte. Und da nachts einige Räuberbanden unterwegs waren, konnte er auch nicht im Dunkeln den Weg hinter sich bringen. Zwar war Kai sich sicher, dass er es schaffte, aber seine Familie traute es ihm nicht zu. Wobei ihnen eigentlich sein Wohlbefinden egal war. Es ging eher darum, dass er der Einzige war, der entbehrlich war und den man deswegen regelmäßig durch die Wüste schicken konnte. Deswegen minimierten sie die Risiken.

 

Ein letztes Mal schloss Kai die Augen, konzentrierte sich auf den Weg vor ihm und sperrte jeden anderen Gedanken aus. In seinem Rücken spürte er die unbarmherzige Hitze der Sonne, die ihn schon jetzt quälen wollte. Seine weiße Kleidung reflektierte sie. Das weiche Leder schmiegte sich an seinen Körper und ließ ihn eins werden mit seiner Umgebung. Seine roten Haare verbargen sich unter einem weißen Motorradhelm. Auch seine Motorcross-Maschine hatte man in weiß gestrichen und die Reifen waren aus einem speziellen weißen Gummi. Er war also ein weißer Fleck in einer riesigen Wüste, der vom Rand aus knapp dreihundert Kilometer fahren musste und das nur mit einem alten, speziellen Kompass. Dieser richtete sich immer nach der Oase aus. Keiner wusste, wie dieser funktionierte. Es gab auch nur diesen einen.

 

Es nicht länger hinauszögernd könnend, gab Kai Gas. Im ersten Moment drehte der Hinterreifen durch, dann bekam er Haftung und Kai schoss über den Sand. Um möglichst wenig Zeit zu brauchen, beschleunigte er immer mehr. Durch das dunkel getönte Glas seines Visiers konnte er nur ein endloses Meer an Sand erkennen. Keinerlei Bewegungen, nicht einmal Vögel kreisten am Himmel. Das gefiel Kai überhaupt nicht. Normalerweise verfolgten die Wüstengeier ihn von dem Moment an, wo er seine Reise begann. Irgendwas stimmte absolut nicht.

 

Er schaffte es bis zur Oase, ohne dass etwas passierte. Allerdings verzichtete er vorsichtshalber auf jegliche Pause. Sein Körper protestierte dagegen. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen und er fühlte sich komplett erschöpft. Am liebsten würde er sich hinlegen und schlafen. Seine Zunge klebte am Gaumen und er konnte sich kaum noch auf die Palmen vor sich konzentrieren. Am Rande der Oase stellte er sein Motorrad im Schatten einer Palme ab, öffnete das Visier seines Helms und holte mit zitternden Fingern seine Wasserflasche raus. Langsam trank er einen Schluck, setzte danach ab. So machte er weiter, bis die Flasche zur Hälfte geleert war. Danach blieb er stillstehen, bis die schwarzen Punkte verschwanden und er sich wieder konzentrieren konnte.

 

Absolute Ruhe herrschte um ihn herum. Es verwirrte Kai, denn normalerweise rannten immer Kinder zwischen den flachen, weiß gestrichenen Häusern herum, welche sich rund um den kleinen See drängten. Man hörte auch die Frauen miteinander reden und dazwischen das Bellen von Hunden. Alarmiert zog Kai ein Messer aus der Scheide an seinem Stiefel, duckte sich in den Schatten einer Palme. Der Helm behinderte ihn, denn er schränkte seine Sicht ein. Leider besaß seine Motorradkleidung keine Kapuze. Wobei es im Schatten der Palmen gehen sollte.

 

Schritt für Schritt näherte Kai sich dem ersten Haus, sah durch ein Fenster hinein. Niemand hielt sich in dem Raum dahinter auf. Auch durch die anderen Fenster fand er keinen der Bewohner, weswegen er das Haus betrat. Keine Spuren von den Bewohnern und das setzte sich durch das ganze Dorf fort. Selbst die Tiere schienen verschwunden zu sein.

 

Gerade trat er aus dem letzten Haus, als eine Waffe sich an seine Schläfe legte. Sofort erstarrte er und verhielt sich ganz still. Aus den Augenwinkeln musterte er den Mann, der eindeutig nicht in die Oase gehörte. Er war ganz in schwarz gekleidet und sein Gesicht wurde zur Hälfte von einem karierten Tuch bedeckt. Die blonden Haare waren so lang, dass der Mann sie zu einem Zopf gebunden hatte. Dieser musterte ihn nun auch genau, hob seine Hand und strich über Kais rote Haare, nach unten zu seiner Hand und entwendete Kai das Messer, reichte es nach hinten zu jemanden. Eine weitere Person trat an ihn heran, packte seine Hände und fesselte sie mit etwas, dass sich wie Kabelbinder anfühlte, auf den Rücken, direkt unter seinen Rucksack. Keiner von ihnen sprach ein Wort, sie agierten mit einer Perfektion, die auf jahrelange Zusammenarbeit schließen ließ.

Ein Strohhut wurde ihm auf den Kopf gesetzt und dann brachten sie ihn zum Wasser hinunter. Aus dem Nichts tauchten weitere Männer auf. Sie hatten sich so gut versteckt, dass Kai sie nicht wahrgenommen hatte, obwohl er so genau auf seine Umgebung geachtet hatte. Vor einer Frau wurde Kai auf die Knie gezwungen. Die Hitze des Sandes brannte durch das dünne Leder seiner Hose. Für sowas war sie nicht designet. Trotzdem verkniff er sich jeden Schmerzenslaut und wartete ab. Darin war er wirklich gut. Stillhalten und warten, ohne Gefühle zu zeigen.

 

Die Frau musterte ihn, als wäre er Ware. Was viel über die Absichten der Leute aussagte. Vermutlich hatten sie die Oasenbewohner in die Sklaverei verkauft und hatten nun dasselbe mit ihm vor.

Schließlich lachte die Frau spöttisch auf und sagte irgendwas zu den Männern, welche anfingen zu lachen. Sie nutzten die Sprache der Wüstennomaden, die Kai nie hatte lernen dürfen. So etwas brauchte er nicht für Botengänge.

„Was bringt dich an diesen verfluchten Ort?“ Ein Mann hockte sich direkt vor ihn und versuchte seinen Blick einzufangen. Er sprach mit einem deutlichen Akzent.

„Meine Familie schickt mich regelmäßig hierher, wenn etwas benötigt wird. Dieses Mal haben die Oasenbewohner bestimmte Medikamente angefordert, da ihre Vorräte aufgebraucht waren“, erklärte Kai leise. Es würde nichts bringen, die Antwort zu verweigern. Bisher hatte keiner dem weißen Rucksack auf seinem Rücken Beachtung geschenkt, doch nun löste der Mann vor ihm den Brustgurt und schnitt die Träger an seinen Schultern mit einem Messer durch. Dabei ging er sehr behutsam vor und überraschte Kai damit.

 

Anerkennendes Raunen wurde um ihn herum laut, als die Männer den Inhalt des Rucksacks ganz genau inspizierten. Antibiotika und Schmerzmittel waren eine seltene Ware, die viel kosteten. Kais Familie hatte gute Kontakte, um es ziemlich günstig zu kaufen und dann umso teurer an die Oasenbewohner zu verkaufen. Diese zahlten mit speziellen Beeren, die nur in dieser Oase wuchsen und außerhalb als Delikatesse galten. Nur aus diesem Grund handelte seine Familie mit ihnen. Sie machten ein gutes Geschäft. Welches nun wohl ein Ende fand. Schließlich gab es niemanden mehr, der die Beeren ernten konnte.

 

Der Mann vor ihm erhob sich, drehte sich zur Frau und fing an, mit ihr zu diskutieren. Der Tonfall deutete auf eine ziemlich große Meinungsverschiedenheit hin.

Nach einem kurzen Blick auf sie, testete Kai vorsichtig seine Fesselung. Doch diese gab keinen Millimeter nach. Wenigstens war es nun bequemer ohne den Rucksack bedeutend bequemer. Allerdings merkte er die Hitze an seinen Knien immer deutlicher. Es fühlte sich an, als ob sich erste Brandblasen bilden würden. Das war vermutlich tatsächlich so und es würde sehr unangenehm sein, später die Hose auszuziehen. Darauf freute Kai sich überhaupt nicht. Außerdem bekam er allmählich Kopfschmerzen, der Strohhut war nur ein unzureichender Schutz.

 

Der Mann, welcher vor ihm gehockt hatte, schien nun ein Machtwort zu sprechen, denn alle verstummten. Dafür packte der Mann ihn und hob Kai in die Höhe. Mühsam verkniff Kai sich jeden Schmerzenslaut. Er hatte das Gefühl, dass seine Haut mit dem Leder der Hose verschmolzen war. Aus genau diesem Grund bestanden die Sohlen der Schuhe aus hitzeresistentem Material. Es gab auch Hosen aus dem selben Material, doch die waren sehr teuer und so viel war er seiner Familie nicht wert.

 

Selbst als er vorwärts geschubst wurde, schaffte Kai es nicht, seine Beine zur Mitarbeit zu bewegen. Eine Schmerzwelle nach der nächsten strahlte durch seinen Körper und sie schienen sich immer mehr aufzuschaukeln. Jemand packte ihn unter den Armen und Knien und hob ihn hoch. In einem der Häuser wurde er auf ein Bett gelegt und die Hose mit einer Schere entfernt. Laute Flüche zeigten Kai, dass es wirklich schlimm aussah.

 

„Warum hast du nichts gesagt? Du hast Verbrennungen zweiten Grades. Bei dem Wert, den du mit dir trägst, hätte ich etwas Besseres erwartet“, knurrte der Mann mit seinem wirklich tollen Akzent. Jemand spritzte ihm etwas in den Arm und schon Sekunden später schlief er ein und bekam nichts mehr mit.

 

 

 

Ungläubig behandelte Jarim die Verletzungen. Da fuhr der junge Mann mit wertvollen Gütern mitten durch die Wüste, die ein Vermögen wert waren und dann trug er nur minderwertige Kleidung. Mit einer heilenden Salbe versorgte er die Verbrennungen, fand dabei an den Oberschenkeln ganz feine Narben. So etwas hatte er bisher nur einmal gesehen und da hatten sich diese über den ganzen Körper gezogen. Um seine Vermutung zu bestätigen, öffnete er auch die Jacke, schob das weise T-Shirt hoch und fand dort weitere Narben. Außerdem war der junge Mann dünn. Man konnte jede einzelne Rippe erahnen. Da steckte eindeutig Vernachlässigung und Misshandlung dahinter. Vermutlich sogar von den Personen, die ihn zu der Oase geschickt hatten.

Sie selber hatten schon seit Monaten danach gesucht und sie nur dank ihrer Sandbändiger gefunden. Aber selbst das hatte gedauert, denn die Strömungen der Wüste waren eigensinnig und gaben ihre Geheimnisse ungern preis. Einzig ein Kompass führte direkt zur Oase. Und der war an dem weißen Motorrad befestigt. Bei dem handelte es sich auch um ein höherwertiges Exemplar. Nur den Fahrer hatte man nicht gut genug ausgerüstet. Vermutlich galt er als entbehrlich. Was bescheuert war, wenn man genauer darüber nachdachte. Denn ohne Fahrer ging auch alles andere verloren. Was nun auch der Fall sein würde. Er hatte beschlossen, den Rothaarigen zu behalten und das auch gegenüber seiner Schwester durchgesetzt. Die hatte ihn nämlich verkaufen wollen, wie alle Menschen aus der Oase. Diese hatten einen wirklich guten Preis erzielt. Mit dem Geld würden sie eine ganze Weile durchkommen. Dazu noch die Beeren, welche ein paar ihrer Leute gerade abernteten. Nun hatten sie auch noch den Kompass und würden die Oase mit ihren Leuten besetzen.

Denn sobald einer ihrer Sandbändiger den Ort verließ, verschleierte die Wüste den Standpunkt erneut und der Bändiger musste von vorne anfangen. Selbst GPS brachte nichts, denn technischen Geräte fielen alle aus. Man lebte quasi in der Steinzeit. Sobald sie diesen gottverfluchten Ort verlassen hatten, würde es ein großes Stäbchenziehen geben, wer hier leben musste.

 

Seine Schwester betrat den Raum, musterte den Körper und kicherte.

„Willst du dieses dürre Ding wirklich behalten? Auf dem Markt bekämen wir wenigstens etwas Geld. Rothaarige sind selten. Davon kannst du dir einen ordentlichen Sklaven holen, der auch schon erzogen ist.“

„Wie oft denn noch: wenn ich nein sage, dann heißt es nein. Er gefällt mir und ich denke mal, er braucht keine Erziehung. Wenn ich also nein sage, dann heißt es einfach nur nein. Keine Zwischennuancen, aus denen du ein ja rauslesen kannst.“ Diese Diskussion hatten sie schon oft genug gehabt. Sie stellte jede seiner Entscheidungen in Frage. Was sie bei anderen machen konnte, brachte bei ihm nichts. Sie mochte die Anführerin sein, doch er sah in ihr seine Schwester und nicht die Chefin. Deswegen konnte er auch ihre Befehle und Ratschläge ignorieren.

Augenverdrehend gab sie schließlich nach: „Na gut, dann behalte den Bengel. Aber du bist dafür zuständig, dass er nicht zur Gefahr wird. Und besorg ihm ordentliche Klamotten. Mit diesen billigen Fetzen kommt er nicht weit. Und bitte nichts in dieser schrecklichen Farbe.“ Angewidert hob Jasemyn einen Teil der weißen Lederhose hoch, musterte ihn kurz und warf ihn dann in eine Ecke.

„Dazu kann ich einfach nur nein sagen. Das geht überhaupt nicht. Selbst für Leute außerhalb der Wüste ist das Müll“, moserte sie weiter herum, während sie aus dem Raum stolzierte. Kopfschüttelnd versorgte Jarim weiter die Verbrennungen, die schon sichtlich besser aussahen. Innerhalb der nächsten zwei Tage würden sie ganz abheilen. Bis dahin würden sie in der Hütte bleiben und er sich um ordentliche Kleidung kümmern. Die Kleiderschränke der ehemaligen Bewohner waren prall gefüllt. Da musste einfach etwas dabei sein. Der Rothaarige hatte eine viel zu helle Haut, die mussten sie gut bedecken, damit es nicht zu weiteren Verbrennungen kam.

 

Seufzend machte Jarim es sich in einem Sessel neben dem Bett bequem und wartete ab. Das Betäubungsmittel sollte noch knapp zwei Stunden halten und dann wollte er ein paar Informationen haben. Vorhin hatte sich der Rothaarige schon kooperativ gezeigt und das blieb er hoffentlich weiterhin. Würde ihnen beiden sehr viel Ärger ersparen.

 

 

 

Orientierungslos schoss Kai in die Höhe und starrte eine weißgestrichene Wand an. Das letzte woran er sich erinnerte, waren seine schmerzenden Knie und das man ihn in ein Bett gebracht hatte. Danach verschwamm seine Erinnerung. Dafür spürte er den Schmerz nicht mehr wirklich. Jemand hatte ihn versorgt und dieser jemand schnarchte direkt neben ihm lautstark. Der Mann, welcher seine Sprache beherrschte, schlussfolgerte Kai. Neugierig musterte er ihn. Schwarze Haare, die mindestens schulterlang und zu einem Zopf gebunden waren. Ein sorgfältig gestutzter Vollbart bedeckte das halbe Gesicht und durch den geöffneten Mund konnte Kai perfekte weiße Zähne erkennen. Die muskulöse Gestalt steckte in einer engen schwarzen Lederhose und einem gleichfarbigen körperbetonten Shirt. Schnürstiefel vervollständigten das Outfit. Die kurzen Ärmel zeigten tätowierte Arme. Wieder bei dessen Gesicht angekommen, merkte er, dass dunkelblaue Augen ihn ansahen.

 

„Hallo Kleiner. Wieder unter den Lebenden?“ Ruckartig nickte Kai, machte nun von sich selber eine Körperinspektion. Er trug nur noch seine enge, weiße Boxershorts. Alles andere hatte man ihm ausgezogen oder vom Körper geschnitten. Auch die Handfessel hatte man entfernt, sodass er sich seine Handgelenke reiben konnte. Zwar merkte er nichts mehr, doch er brauchte diese Bewegung, um sich zu versichern, dass auch wirklich alles in Ordnung war.

Selbst die Verbrennungen schmerzten kaum noch. Probehalber bewegte er seine Beine, doch eine Hand legte sich auf seinen rechten Fußknöchel, stoppte ihn sofort.

„Langsam. Es ist zwar schon gut verheilt, doch es braucht noch einen Tag Ruhe. Morgen kannst du dich wieder normal bewegen. Bis dahin nur ganz vorsichtige und langsame Schritte, damit die frische Haut nicht reißt“, bremste ihn der Mann aus. Vom Boden hob er eine Wasserflasche und reichte sie Kai. Gierig trank Kai sie zur Hälfte aus. Dabei fragte er sich, wie lange er geschlafen hatte. So ausgeruht wie er sich fühlte, garantiert länger als seine üblichen vier Stunden. Nach denen hatte er nämlich oft das Gefühl, sich noch einmal hinlegen zu wollen und noch mal so lang zu schlafen.

 

„Mein Name ist Jarim und du wirst bei mir bleiben, denn damit erspare ich dir das Schicksal auf dem Sklavenmarkt verkauft zu werden. Versuche gar nicht erst zu flüchten. Unsere Sandbändiger fangen dich schneller ein, als du auch nur rennen kannst. Halte dich immer in meiner Nähe auf und dir wird nichts passieren. Entferne dich und es könnte dein Tod sein.“ Das klang besser als sein bisheriges Leben, befand Kai. Wenigstens schickte man ihn nicht mehr alleine durch die Wüste oder folterte ihn mit Messern für jedes noch so kleine Vergehen, welches er angeblich begangen haben sollte. Jedenfalls hoffte Kai das. Und weil es seine Familie aufregen würde, dass er nicht wieder auftauchte mit einem Rucksack voller Beeren, machte ihm die Entscheidung noch leichter.

„Ich heiße Kai und werde dir keine Probleme bereiten. Schlimmer als bei meiner Familie kann es mir bei dir nicht ergehen.“ Ergeben neigte Kai seinen Kopf. Auf seine Worte hin breitete sich ein Lächeln auf Jarims Gesicht auf und er deutete ihm, dass Kai ins Bad gehen sollte. Mehr Konversation schien der Wüstennomade nicht führen zu wollen. Das war Kai sogar recht. Seine Blase drückte nämlich unangenehm und er müffelte ziemlich stark. Ein Klo und eine Dusche waren ihm definitiv lieber als ein Gespräch.

 

Das spartanisch eingerichtete Bad mit den weißen Fließen war sauber und gut ausgestattet. Man hatte also nicht alles Brauchbare entfernt. Obwohl genau das den Wüstennomaden nachgesagt wurde. Sie sollten Häuser gründlich ausräumen und wirklich alles mitnehmen, was man irgendwie gebrauchen konnte. Oder vielleicht planten diese auch, die Oase neu zu besetzen, jetzt wo sie den Kompass besaßen. Daran hatten seine Eltern wohl nicht gedacht, als sie ihn ohne weiteren Schutz in die Wüste geschickt hatten. So viele Jahre war es gut gegangen, aber eigentlich war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis man ihn erwischte.

 

Kais Glück war einfach, dass er an einen Wüstennomaden geraten war, der ihn nicht verkaufen oder töten wollte. Somit hatte er eine Chance auf ein besseres Leben. Nun musste sich diese Hoffnung nur noch erfüllen.

 

Während er unter der Dusche gestanden hatte, hatte ihm jemand eine frische Leinenhose reingelegt, die so weit geschnitten war, dass sie ihm nicht an den Knien rieb. Der Mann musste eine wirklich gute und somit sehr teure Creme verwendet haben, damit die Heilung so schnell voranschritt. Sein Zeitgefühl funktionierte zwar nicht mehr richtig, doch er vermutete, dass er maximal einen Tag verschlafen hatte.

Im Zimmer wartete ein Tablett mit einem Krug Wasser und einer Schüssel Haferbrei auf ihn. Jemand hatte sogar Beeren in den Brei gemischt. Bisher hatte Kai diese nie probieren gekonnt und sich auch nicht getraut. Darum wusste er auch nicht, wie sie schmeckten. Er kannte nur die Erzählungen, laut denen sie so köstlich waren, dass man regelrecht süchtig danach wurde. Darum stieg auch ihr Wert immer mehr. Schließlich gab es nur eine begrenzte Menge. Und die Nomaden gaben ausgerechnet Kai, der ja eigentlich ihr Gefangener und auch Sklave war, ein paar der wertvollen Früchte ab. Das machte dieses Essen für Kai noch wertvoller.

 

Jeden einzelnen Bissen kostete er aus, ließ sich dabei Zeit. Schließlich hatte er genug Zeit, denn er wollte Jarim keinen Kummer bereiten und ganz brav im Bett bleiben, bis dieser ihm andere Anweisungen gab.

 

 

 

Zufrieden beobachtete Jarim seinen neuen Besitz von der Tür aus. Ihm gefiel schon jetzt die Vorstellung, Kai jeden Tag um sich zu haben. Alleine würde er ihn erst in ein paar Jahren fahren lassen, wenn das Grundvertrauen da war. Bis dahin würde der junge Mann hinter ihm auf dem Motorrad sitzen. Immer noch erklärte seine Schwester ihn für verrückt und wollte ihn dazu bringen, sich einen ordentlich ausgebildeten Sklaven auf dem Markt zu holen. Doch Jarim wollte keinen Sklaven, er wollte einen Gefährten. Kai hatte ihm auf den ersten Blick gefallen und er weckte seine Beschützerinstinkte.

 

Von hinten tippte ihn einer der Männer an, machte ein Zeichen dafür, dass er mit Jarim sprechen wollte und deutete auf die Tür nach draußen. Sorgenvoll runzelte sich die Stirn von Jarim. Das bedeutete keine guten Neuigkeiten.

„Es hat etwas gedauert, aber ich weiß jetzt, wenn wir da vor uns haben. Er gehört zu einer Adelsfamilie, die seit Jahrzehnten im Besitz des Kompasses ist. Sie würden ein Vermögen bezahlen, um den Kompass zurückzuerhalten, aber nichts für ihr eigenes Kind. Gerüchten zufolge misshandeln sie ihn sogar und hoffen darauf, dass er in der Wüste stirbt, da er aus einem Seitensprung der Mutter entstanden sein soll. Was die roten Haare und die blasse Haut auch unterstreichen, denn keiner in der Familie hat das. Sie sind allesamt braunhaarig und haben eher dunklere Haut. Also von der Familie her wird es keine Probleme geben, du musst nur ihn dazu bringen, dass er dir vertraut. Im Kompass haben wir übrigens einen Peilsender gefunden, der ab dem Moment ein Signal gesendet hätte, wo wir aus dem Schutzbereich der Oase raus wären. Wir haben ihn entfernt und zerstört“, erzählte ihm der Mann leise. Dabei strich er sich immer nervös durch die blonden Haare, was vermutlich damit zusammenhing, dass Jarims Schwester nicht weit entfernt stand und sie beide böse musterte. Wobei ihre Wut sich eher auf Jarim richtete, als auf den Mann.

„Gute Arbeit. Danke dir. Wir sehen uns dann morgen bei der Abreise“, entließ Jarim ihn. Danach schlenderte er entspannt zu seiner Schwester und stellte sich neben sie, imitierte ihre Haltung mit den verschränkten Armen und den breiter gestellten Füßen.

„Warum ausgerechnet so ein dürres Ding. An dem ist nichts dran. Dad wird dich umbringen, wenn du sowas nach Hause bringst. Kannst du dir nicht einen ordentlichen Mann suchen“, murrte sie auch direkt los. Dabei wirkte sie eher wie ein schmollendes Kind, dem man seinen Lolli weggenommen hatte. Sie war schon immer sehr beschützend gegenüber Jarim gewesen, obwohl sie nur ganze zwölf Minuten älter als er war.

„Wenn Dad was gegen ihn hat, ist das nicht dein Problem. Kai gefällt mir und er wird nur mir verpflichtet sein. Keinem anderen aus unserer Familie oder sonst jemanden auf der Welt. Ich suche schon so lange nach einem passenden Gefährten und er könnte es sein. Lass es mich probieren und gib ihm eine Chance“, bat Jarim seine Schwester erneut. Diese Diskussion hatten sie in den letzten Stunden wirklich zu oft gehabt.

„Nein, nein, nein. Einfach nur nein! Sieh doch mal genau hin! An ihm ist nichts dran! Er würde bei unseren Männern untergehen“, fauchte Jasemyn ihn an. Also endete diese Diskussion dieses Mal nicht so, dass sie ihm seinen Willen ließ. Sie hatte eindeutig ihre Periode, so oft wie sie ihre Meinung änderte und mit ihm diskutierte und auch nicht nachvollziehbare Argumente brachte. Klar war Kai sehr schmächtig, doch Jarim traute ihm durchaus zu, dass er sich durchsetzen konnte, wenn er wollte. Außerdem waren ihre Männer gar nicht so ungehobelt, wie Jasemyn sie gerade darstellte.

Seufzend strich er seiner Schwester eine Strähne ihres widerspenstigen schwarzen Haares aus dem Gesicht, beugte sich nach vorne und hauchte einen Kuss auf ihre Wange.

„Ich hab dich wirklich lieb. Doch irgendwann reicht es. Hör bitte auf deswegen zu diskutieren und lass Kai meine Sorge sein. Nicht du musst dich mit Dad auseinandersetzen und auch nicht du musst Kai vor den Männern beschützen. Gib ihm einfach eine faire Chance.“ Weitere Worte verschwendete Jarim nicht. Er beschloss für sich, dass er nicht weiter diskutieren würde. Sie drehten sich sowieso nur im Kreis. Stattdessen konnte er sich weiterhin um die Ausrüstung von Kai kümmern. Bisher hatte er nichts Passendes gefunden. Entweder waren sie weiß oder aber viel zu groß.

Da sie meist nachts unterwegs waren, würden die weißen Klamotten viel zu sehr auffallen. Sie verschmolzen nicht mit den Schatten der Dünen und dem Nachthimmel. Es frustrierte Jarim, dass er das nicht hinbekam. Jeden einzelnen Schrank hatte er durchwühlt. Es bedeutete, dass er jemanden losschicken musste, um Kleidung zu holen, denn ohne konnte er Kai nicht mitnehmen und ihn in der Oase zu lassen, war keine Option. Kai aus den Augen zu lassen, konnte schnell zu einer Katastrophe werden.

 

Zurück in dem haus fand er einen Kai vor, welcher im Bett saß und seine Knie anstarrte. So als ob er sie durch seinen bloßen Willen zum Heilen bringen konnte. Vermutlich hatte er schon jetzt die Nase voll vom Herumsitzen. Sie brauchten eine Aufgabe für ihn, solange er noch ans Bett gefesselt war. Wenigstens darum konnte Kai sich sofort kümmern. Von draußen holte er eine Schüssel mit Beeren und zwei leere, die noch sortiert werden mussten. Die schlechteren blieben in der Oase und nur die Guten würden eine Reise in die Welt außerhalb der Wüste antreten.

 

Kai schien auch sofort zu wissen, was er zu tun hatte. Links und rechts von sich stellte er je eine leere Schüssel hin, die volle nahm er auf seinen Schoss. Mit geübten Blick verteilte er die Beeren, arbeitete dabei viel effizienter als die Männer, welche das bisher machen mussten und er brauchte nicht einmal eine Einweisung, woran er erkennen konnte, in welchem Zustand sich die Beeren befanden. Den Moment nutzte Jarim gleich und schmierte noch einmal Salbe auf die Verbrennungen. Verbände ließ er weg. Diese würden nur die Wundheilung verzögern, da sie einen Teil der Salbe aufnahmen.

 

Sacht strich er über das rote Haar Kais, bewunderte dessen Weichheit. Danach verließ er den Raum, um eine Lösung für das Kleidungsproblem zu finden.

 

 

 

Am nächsten Abend hockte Kai im Schneidersitz auf dem Bett und staunte über die weiche haut an seinen Knie. Man sah nichts mehr von den Verbrennungen. Nicht einmal Narben waren zurückgeblieben. Das würde die Fahrt enorm erleichtern, denn in wenigen Minuten sollte die Reise in eine unbekannte Zukunft losgehen.

Kai wusste nur, dass der Hauptsitz der Nomaden sich im Norden der Wüste befand. Angeblich dominierten dort große Berge das Landschaftsbild. Es sollte eine karge Welt sein, die fast so lebensfeindlich wie die Wüste war. Aus diesem Grund gingen die Nomaden auch auf Plünderraubzüge.

Aber Kai würde sich davon nicht verrückt machen lassen. Zwar würde er das Meer und die Sandstrände vermissen, doch er konnte sich an alles gewöhnen, solange er nie wieder zu seinen Eltern zurückmusste.

 

„Leider gibt es hier nichts in deiner Größe. Deswegen haben wir vorerst deine übergebliebene Kleidung gefärbt. Es ist nur für den Heimweg. Dort wird ein Schneider dir was Ordentliches machen.“ Gerne hätte Kai gesagt, dass er nichts brauchte und die Kleidung passte, schließlich war er ein Sklave. Doch er würde Jarim nicht widersprechen und so dessen Zorn auf sich ziehen, weil er dessen Großzügigkeit ablehnte. Darum nickte er nur und ließ sich in die Kleidung helfen. Da Jarim seine Hose zerschnitten hatte, bekam er nun eine zu große, die jemand notdürftig kleiner gemacht hatte.

 

Man merkte den Moment ganz genau, als die Sonne endgültig hinter dem Horizont verschwand. Schlagartig kühlte es ab, die Temperatur fiel in den Bereich nahe null. Im Laufe der Nacht würde sie noch weiter sinken. Wer nicht aufpasste, konnte erfrieren. Aus dem Grund schlang Jarim vermutlich noch eine weitere Jacke um Kai, die viel zu groß war, aber trotzdem Schutz bieten würde. Bei den Handschuhen handelte es sich eindeutig nicht um seine. Das Leder fühlte sich viel dicker und strapazierfähiger an.

 

Draußen erkannte Kai sein Motorrad sofort, obwohl dieses nun schwarz war. Eine vermummte Person saß darauf, lehnte lässig auf dem Lenker und wartete wohl darauf, dass er eine Reaktion zeigte. Selbst die Augen waren hinter einer getönten Brille verborgen. Vermutlich versteckte sich darin komplizierte Technik, die es ermöglichte, in der Dunkelheit zu sehen und sich zu orientieren. Dafür musste man nur aus dem Einflussbereich der Oase kommen. Wenigstens funktionierten die Motoren der Motorräder einwandfrei. Man musste nur aufpassen, dass man genug Benzin tankte. Ging das aus, hatte man ein großes Problem.

 

Kai hing nicht an seinem Motorrad. Es war nur ein Ding, dass er zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Ohne eine Miene zu verziehen, ließ er zu, dass Jarim ihm den Helm auf den Kopf drückte, ihn richtig verschnallte und dann zu einem Motorrad schob. Obwohl Kai noch nie bei jemanden mitgefahren war, wusste er sofort, was Jarim erwartete und stieg hinter diesem auf, schlang seine Arme um den kräftigen Körper Jarims.

 

Mit einem Dröhnen erwachten über zwanzig Motorräder zum Leben. Eins nach dem anderen verließ die Oase, ließen einige wenige Menschen zurück. In einer Schlange rasten sie durch die Wüste, dabei nahm Jarim die Position an zweiter Stelle ein, direkt hinter der Anführerin. Über zwei Stunden blieben sie so, bis sich die Formation auf einmal veränderte. Nach und nach schwärmten die Nomaden nach links und rechts aus. Vermutlich funktionierten ab dem Punkt ihre Navigationsgeräte. Jarim blieb bei der Anführerin.

 

Fröstelnd schmiegte Kai sich noch enger an Jarim. Solche Temperaturen war er einfach nicht gewohnt. Mit Hitze konnte er einfacher umgehen als mit dieser Kälte. Aber das musste sich ändern, wenn er nicht wie ein Jammerlappen dastehen wollte. Vielleicht änderte sich das ja auch, wenn er passendere Kleidung erhielt.

 

Sie machten nur eine kurze Pause, um die Motorräder mithilfe von Kanistern aufzutanken. Dazu war ein Auto zu ihnen gestoßen, welches man bis auf den letzten Winkel vollgepackt hatte. Über so viel Organisation konnte Kai nur staunen. Bei der Pause hatte Jarim ihm eine Flasche mit Wasser gereicht und ihm befohlen, mindestens ein Viertel davon zu trinken. Brav hatte Kai das gemacht. Danach waren sie weitergefahren. Das Auto hatte sich in eine andere Richtung davongemacht.

 

Kurz vor dem Morgengrauen veränderte sich der Boden zu ihren Füßen. Der Sand wich immer mehr Stein. Zahlreiche Büche säumten den schmalen Weg, auf dem sie sich fortbewegten. Am Anfang waren sie noch niedrig, doch schnell wurden sie höher und schließlich zu Bäumen. Staunend betrachte Kai sie. Sowas hatte er bisher noch nicht gesehen. Auf seiner alten Seite der Wüste gab es nur flache Sträucher und Palmen.

Von einem Moment auf den anderen wurde es dunkel um sie herum. Erschrocken verfestigte Kai seinen Griff. Überall um sie herum war schwarzer Stein. Nur die Scheinwerfer erhellten ihn. Sie rauschten so schnell hindurch, dass Kai es als ein Wunder empfand, dass keiner verunglückte, denn der Tunnel machte enge Kurven, wurde schmaler und wieder breiter. Vor ihnen öffneten sich große Stahltore, die sich hinter ihnen wieder schlossen. Das Ganze war wie eine Festung aufgebaut, eine sehr gut gesicherte Festung.

 

Ihre Reise endete in einer großen Halle, wo schon viele andere Motorräder, Autos und sogar Panzer in Reih und Glied parkten. Sie reihten sich ein. Jarim und die Anführerin wurden sofort umringt und von allen begrüßt. Kai drängte man an die Wand und beachtete ihn gar nicht. Das änderte sich erst, als Kai seinen Helm absetzte und seine roten Haare zum Vorschein kamen. Sofort lagen alle Blicke auf ihm. Nervös wich Kai so weit zurück, wie er konnte. Am liebsten hätte er sich versteckt. Er mochte es nicht, im Mittelpunkt zu stehen.

 

 

 

Mit einem Knurren drängte Jarim sich durch die Menge. Da musste er definitiv etwas klarstellen. Gerne hätte er sich eine andere Situation für das gewünscht, was er gerade im Begriff war zu tun. Doch wenn er das jetzt nicht tat, würde jeder Kai weiterhin für seinen Sklaven halten. So konnte er gleich die Fronten klären, Kai hoffentlich klar machen, dass er mehr als nur sein Besitz war und jeden schocken. Je eher diese sich daran gewöhnten, desto besser war es für sie. Jarim hatte kein Problem, seine Position und somit auch Kai zu verteidigen.

 

Aus großen Augen starrte Kai ihn an. Sie weiteten sich noch mehr, als Jarim ganz nah an ihn herantrat. Zufrieden nahm Jarim den hektischer werdenden Atem wahr und auch das leichte Zittern des schmalen Körpers. Sich etwas nach unten beugend, legte er seine Lippen auf Kai seine, beließ es bei einer hauchzarten Berührung. Mehr konnte er seinem Kleinen nicht zumuten. Nur wenige Millimeter brachte er zwischen sie, sprach trotzdem laut und deutlich: „Es mag sein, dass ihr ihn als meinen Sklaven seht, doch er ist viel mehr als das für mich. Vergreift euch an ihm und ihr werdet es mit mir zu tun bekommen. Kai ist mein Gefährte. Denkt immer daran, wenn ihr mit ihm sprecht.“ Seine Stimme hallte durch den ganzen Hangar, erreichte jeden Winkel und auch seinen Vater. Der musste sich genau diesen Moment aussuchen, um sie mit seiner Anwesenheit zu beehren und er hatte ein seltsam zufriedenes Lächeln im Gesicht.

 

 

 

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Kai Jarim an. Er verstand nicht, was dieser zu den Menschen um sie herum sagte, doch er spürte noch immer die Lippen auf seinen. Noch immer strich dessen Atem über seinen Mund, vermischte sich mit seinem hektischer werdenden. Eine Hand legte sich auf seine Wange, streichelte ihn beruhigend und Jarim hielt die ganze Zeit Augenkontakt mit ihm. Plötzlich löste sich der Kontakt zwischen ihnen und Kai stand alleine an der Wand da, Jarims Rücken direkt vor sich. Der schirmte ihn komplett von den anderen Menschen ab und sprach mit jemanden. Die Worte klangen melodisch und dem Tonfall nach, begrüßte er jemanden, der ihm etwas bedeutete.

 

Eine Hand von Jarim berührte Kai an der Hüfte. Zögernd legte Kai seine darauf, suchte Halt. Ihn überforderte die ganze Situation im Moment. Da war es in der Oase einfacher gewesen, viel weniger Menschen und nicht diese Lautstärke. Jedes Gespräch schien ein Echo zu erzeugen, welches sich mit den anderen überlagerte.

Endlich packte Jarim seine Hand und brachte ihn aus der großen Halle raus in einen schmalen Gang und von dort aus in eine kleine Wohnung. Die Steinwände hatte man mit einer weißen Farbe gestrichen und die Einrichtung bestand nur aus einem Sofa und einem Tisch, mehr nicht. Ein grauer Teppich bedeckte den Steinboden.

Man sah deutlich, dass der Bewohner nicht oft da war und Jarim bestätigte es ihm: „Meist bin ich in der Wüste unterwegs und nur selten hier. Deswegen sieht es hier auch sehr karg aus. Sobald wir dich ordentlich eingekleidet haben, geht es weiter. Ich hoffe, du wirst das Leben in der Wüste genauso sehr lieben, wie ich es tue.“ Solange er nicht alleine gelassen wurde, würde er das schaffen und sich an jedes Leben anpassen.

 

Jarim zeigte ihm die Wohnung, welche nur aus Schlafzimmer, Bad, Küche und Wohnzimmer bestand. Alles sehr spartanisch eingerichtet und ohne jegliche persönlichen Gegenstände. Es war wirklich nur ein Raum zum Übernachten. Die ganze Zeit über suchte Jarim Körperkontakt. Hier mal eine Berührung der Hände, dort ein streicheln über den Kopf oder eine kurze Umarmung. Dabei redete Jarim fast ununterbrochen, wechselte auch manchmal unbewusst in seine Muttersprache. Kai bekam gar nicht mit, über was Jarim alles erzählte. Die Informationsflut erdrückte ihn gerade etwas. Doch er ließ sich nichts anmerken.

 

Als sie wieder im Wohnzimmer standen, hatte sich wie von Zauberhand der Tisch gefüllt. Lauter unbekannte Leckereien standen darauf. Jarim setzte sich auf das Sofa und zog Kai auf seinen Schoß. Nach und nach ließ Jarim ihn eine Sache nach der anderen probieren. Dabei erklärte er allerdings nicht, wie die einzelnen Sachen hießen oder was genau sie waren. Dabei schien er ganz genau auf die Reaktionen von Kai zu achten, denn nach der ersten Runde griff er nur nach Sachen aus bestimmten Schüsseln. Dazu gehörten kleine, weiße Brötchen, seltsam aussehende rote Beeren, ein Teiggebäck, welches wie ein Knoten geformt war und frittierte Fleischstücke.

 

Gesättigt ließ Kai sich vorsichtig gegen Jarim sinken, der erst jetzt selber aß. Fertig mit allem, brachte Jarim ihn in die Dusche. Langsam zog er Kai ein Kleidungsstück nach dem anderen aus, murmelte dabei Dinge in seiner Sprache. Verschämt verdeckte Kai seine Körpermitte mit den Händen, fixierte den Boden vor seinen Füßen. Er wusste zwar, dass Jarim ihn schon nackt gesehen hatte. Schließlich hatte der sich um ihn gekümmert, als er mit Verbrennungen dagelegen hatte.

 

„Du bist wunderschön, Kai. Deine Stärke, die sich in diesem zierlichen Körper versteckt. Der wache Verstand und diese ausdrucksstarken Augen. Dieser Körper, welcher sich auf dem Motorrad so perfekt an meinen schmiegt. Am liebsten mag ich deinen Mut und deine Art, wie du trotz der momentan doch schwierigen Umstände weitermachst.“ Unablässig strichen Jarims Hände über Kai seinen Körper. Dabei berührte er auch die Narben, welche Kai seinen ganzen Körper zierten.

 

Nur kurz löste Jarim sich, zog sich selber aus und schob sie dann beide in die Dusche, drehte das Wasser auf. Kühles Nass prasselte auf sie herab. Eine Wohltat nach den letzten Tagen der Hitze. Der ganze Sand wurde von ihnen abgespült. Mit einer Ruhe und leise summend fing Jarim an, Kai gründlich zu waschen, mit einer wohlriechenden Seife. Diese verwendete er sogar für die Haare. Sich selber wusch Jarim nebenher. Kai war immer noch überrumpelt von der ganzen Situation. Er wusste nicht, was er davon halten sollte.

 

Für was wollte Jarim ihm haben? Es kam ihm nicht vor, als ob es darum ging, dass er ein Sklave für den älteren Mann wurde. Dazu behandelte er ihn zu gleichberechtigt. So kam es Kai auf jeden Fall vor. Und das konnte er nicht einordnen. Bisher hatte ihn nie jemand so behandelt, als ob er was wert wäre.

Nach dem Duschen rubbelte Jarim ihn mit einem weichen Handtuch ab und zog ihm ein überdimensionales schwarzes Shirt über den Kopf, welches ihm bis zu den Knien ging. Gerade kam er sich wie ein Kind vor. Besonders als er in ein Bett gesteckt wurde, Jarim folgte ihm, nahm Kai in den Arm und schmiegte sich von hinten an ihn.

„Schlaf, morgen erkläre ich dir alles“, flüsterte Jarim ihm zu, hauchte einen Kuss auf Kais Hinterkopf. Müde von der langen Reise schlief Kai schnell ein, ließ sich von der Wärme einlullen.

 

 

Im Schneidersitz saß Kai auf dem Boden und nippte an einer Tasse Tee. Auf dem Sofa saß Jarim mit einem älteren Herrn, der ihm sehr ähnlich sah, nur das er graue Haare hatte. Die beiden unterhielten sich in ihrer Sprache und tranken dabei Kaffee. Auf dem Tisch vor ihnen standen noch die Reste des Frühstücks. Unter gesenkten Augenbrauen hindurch beobachtete Kai sie, wurde aus der Unterhaltung nicht schlau. Immer wieder warfen die Beiden ihm Blicke zu, die Kai nicht deuten konnte.

 

Am liebsten würde er sich zurückziehen, doch Jarim hatte ihn auf dem Boden platziert und deswegen blieb er dort. Wenigstens hatte er einen wirklich leckeren Tee, der ihn von innen heraus wärmte. Nachher sollte auch ein Schneider kommen, der ihn ausmaß für richtige Kleidung. Mehr hatte Jarim an diesem Morgen nicht erklärt, ihn nur auf später vertröstet. Auf diesen Moment wartete Kai, denn er wollte endlich wissen, woran er war. Wobei es eigentlich egal war: ob er nun als Sklave oder etwas anderes lebte. Denn es gab kein Zuhause mehr, zu dem er zurückkehren konnte. Wenn Jarim ihn irgendwann verstoßen sollte, würde er nichts mehr haben.

 

Erneut nippte er an dem Tee, senkte seinen Blick endgültig und begann sich auf seine innere Mitte zu konzentrieren. Er wollte nicht, dass seine Nervosität ihn in Schwierigkeiten brachte. Angst spürte er erstaunlicherweise nicht.

 

Ein Klopfen an der Tür unterbrach das Gespräch der zwei Männer und nach einem Wort Jarims betrat ein Mann in einem weißen Anzug den Raum und musterte sofort Kai. Mit einem Schwall an unbekannten Worten stürzte er sich sofort auf Kai, hob ihn mühelos hoch und stellte ihn auf seine eigenen Füße. Kai war froh, dass Jarim ihm am Morgen eine enge Boxershorts zum Shirt dazu gegeben hatte. Denn der Schneider riss ihm das Oberteil über den Kopf, sodass er nur noch in Boxershorts dastand und genau gemustert wurde. Dann kam das ein Maßband zum Einsatz und das an seinem ganzen Körper. Alles wurde ausgemessen und auf einem Klemmbrett vermerkt. So schnell wie der Wirbelwind kam, verschwand er auch wieder, zusammen mit dem älteren Mann.

 

Mit einem Fingerzeig bedeutete Jarim ihm, dass Kai sich mit aufs Sofa setzen sollte, legte sogleich einen Arm um Kai und drückte ihn an seinen Körper.

„Du musst dir über eine Sache klar sein: ich möchte keinen Sklaven. Du bist mir mehr wert als das. In Zukunft sollst du an meiner Seite bleiben und den Platz eines Gefährten einnehmen. Das ist in unserem Volk eine hohe Stellung. Für dich ist sie ganz besonders, denn meine Schwester ist die Anführerin und ich als ihr Bruder stehe somit in der Rangordnung sehr hoch. Deine einzige Aufgabe ist es, an meiner Seite zu sein.“ Ruckartig löste Kai sich und sah Jarim aus großen Augen an. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. An so etwas hatte er gar nicht erst gedacht, denn das klang einfach nicht real.

 

 

 

Unglauben sprach aus dem Blick von Kai. Es entlockte Jarim ein Lächeln. Zärtlich strich er über die weiche Haut der Wange, bemerkte freudig, dass Kai seinen Kopf neigte und sich enger an seine Hand schmiegte. So hatte er sich das gewünscht. Mit seinem Vater war auch schon alles besprochen: die offizielle Verbindung würde in drei Tagen stattfinden. Bis dahin sollte auch die Schutzkleidung fertig sein. Direkt danach konnten sie ihre erste gemeinsame Fahrt in Angriff nehmen.

 

Sein Vater freute es, dass er endlich einen Gefährten gewählt hatte. Dass Kai nicht aus ihrem Volk stammte, war dabei sogar nebensächlich. Hauptsache er blieb nicht mehr alleine und hatte jemanden, für den es sich lohnte zu leben. Wobei sein Vater sogar zugab, dass Kai etwas an sich hatte, dass ihn besonders machte. Somit hatte seine Schwester unrecht gehabt, was ihren Vater betraf. Der hieß Kai mit offenen Armen in der Familie willkommen. Und wenn ihr Vater das schon tat, dann würde es auch keine Probleme mit ihrer Mutter geben.

 

Es dauerte etwas, bis Kai sich wieder an ihn lehnte. Wobei er immer noch über Jarims Worte nachzudenken schien. Unbewusst fing Kai an, Kringel auf seinem Bauch zu malen. Unauffällig zog Jarim sein Shirt hoch, sodass Kai an seine Haut rankam und Kai machte weiter. Vielleicht merkte er es auch nicht, weil er so tief in Gedanken versunken war. Jarim ließ ihm die Zeit, die er brauchte. So viele Schocks auf einmal verdauen zu müssen, war nicht einfach.

 

Ohne anzuklopfen stürmte seine Schwester den Raum. Wutschnaubend blieb sie direkt vor ihnen stehen, stemmte ihre Arme in die Seite.

„Wie kannst du es wagen, so einen in die Familie zu bringen? Alles ist besser als dieser Wicht. Warum musst du ausgerechnet einen von denen auswählen? Hier gibt es so viele junge Männer, welche ein besserer Gefährte waren. Es ist ein Wunder, dass der sich überhaupt auf einem Motorrad halten kann...“ Sie wollte immer weiterschimpfen, doch Jarim stand auf, packte sie am Arm und drängte sie aus dem Raum. Auch wenn sie in ihrer Muttersprache gesprochen hatte, war Kai definitiv nicht der feindselige Unterton entgangen. Er hatte sich versteift und war in Abwehrhaltung gegangen. Er mochte kein Wort verstanden haben, doch er konnte definitiv den Klang einschätzen. Deswegen musste Jarim einschreiten und seine Schwester aus dem Zimmer entfernen.

 

„Wage es nie wieder, in seiner Nähe so aggressiv aufzutreten oder ihn so runterzumachen. Auch wenn er dich nicht versteht, so merkt er an deinem Tonfall, dass du ein Problem mit ihm hast. Das dulde ich nicht mehr. Sollte es so weitergehen, werde ich deine Gruppe verlassen und mich einer anderen anschließen. Du weißt ganz genau, dass ich da kein Problem haben werde“, knurrte er sie an. Dabei wirkte er wohl so ernst, dass er zu seiner Schwester durchdrang. Sie starrte ihn erschrocken an.

„Ja, ich würde Kai euch vorziehen. Denn ich habe keine Lust mehr auf deine Zickereien. Seit du die Führung inne hast, sind deine Launen kaum noch zu ertragen. Denn ich glaube nicht, dass es gegen Kai geht, sondern gegen mich. Wenn du mich loshaben willst, weil du mich als Gefahr für deine Position siehst, dann sag das. Ich habe kein Problem, zu gehen und mir eine neue Heimat zu suchen. Allerdings werden mir viele deiner Männer folgen.“ So lange hatte er diese Worte unterdrückt und jeglichen Frust runtergeschluckt. Vielleicht war es wirklich eine gute Idee, wenn er sich eine neue Familie suchte. Er hatte bei vielen Reisen einige Freunde gesammelt, unter anderem auch Anführer, die ihn aufnehmen würden. Jarim hatte kein Interesse daran, eine eigene Gruppe zu führen.

„Überlege dir gut, wie du weiter mit Kai und mir umgehst. Denn sonst kann es sein, dass wir weg sind und ich werde Dad ganz offen den Grund dafür sagen und dann wünsche ich dir ganz viel Spaß.“ Damit hatte er alles gesagt, was er loswerden wollte. Nun musste er nur noch den Schaden bei Kai begrenzen. Der Tag hatte so gut begonnen und nun das Desaster. Hoffentlich konnte er Kai davon überzeugen, trotzdem bei ihm zu bleiben. Sollte der Rothaarige gehen wollen, so wusste Jarim nicht, was er machen sollte.

 

Kai saß im Schneidersitz auf dem Sofa und sah ihn unsicher an.

„Es ist egal, was sie sagt. Ich stehe zu dir.“ Jarim kniete sich direkt vor Kai, nahm dessen Hände in seine, verschränkte ihre Finger miteinander. Um seine Worte noch zu unterstützen, beugte er sich nach vorne und küsste Kai sacht. Langsam lösten sich Kais Finger aus seinen, dafür schlangen sich Arme um seinen Hals und Kai öffnete seine Beine, sodass Jarim dazwischen rutschen konnte.

 

 

 

Als Jarim mit der Frau den Raum verlassen hatte, rechnete Kai damit, dass er bald auf dem Sklavenmarkt landen würde. Nicht damit, dass Jarim zurückkam, ihm erklärte, dass Kai bleiben durfte und dann küsste.

Kai wollte auf keinen Fall, dass das endete, weswegen er seine Arme um Jarim schlang. In seinem Bauch kribbelte es und in seiner Körpermitte zeigte sich Interesse an mehr. Doch Jarim brachte wieder Abstand zwischen sie beide. Sei Atem ging auch merklich schneller.

„Noch nicht. Erst nach der Bindung, nur noch wenige Tage“, entschuldigte Jarim sich, hauchte noch einen kurzen Kuss auf Kais Lippen und brachte dann Abstand zwischen sie.

 

 

 

 

 

 

Nervös strich Kai eine nicht vorhandene Falte in der schwarzen Stoffhose glatt. Die letzten Tage hatte er in der Wohnung verbracht und angefangen, die Sprache zu lernen. Viel konnte er noch nicht, nur so viel, dass er die Zeremonie ohne große Probleme hinter sich bringen würde. Wobei er in dem Moment nur das eine Wort noch wusste, welches er sagen musste. Er hoffte einfach, dass Jarim ihm helfen würde und er sich nicht blamieren würde.

 

Er wusste noch, dass man von ihm erwartete, dass er gleich in den Saal ging, sich direkt vor Jarim stellte und dann an einer Stelle der Zeremonie ja sagte. Alles was Jarim ihm sonst beigebracht hatte, war in diesem Moment verschwunden. Er konnte es einfach nicht mehr sagen.

 

Bevor er vor lauter Nervosität noch an die Decke gehen konnte, öffnete sich die Tür vor ihm. Um Ruhe bemüht, schritt er über den goldenen Teppich, welcher den Raum in zwei Bereiche teilte. Auf der einen Seite stand die Familie von Jarim, auf der anderen Freunde und Untergebene von der Familie. Jarims Schwester war als einzige nicht anwesend. Sie hatte sich auch nicht mehr mit Jarim unterhalten. Darum hatte dieser auch organisiert, dass sie am nächsten Tag zu einer anderen Gruppe umsiedeln würden.

 

Sich ganz auf Jarim konzentrierend, versuchte Kai alle anderen zu ignorieren. Sie würden ihn ganz genau mustern und dann anfangen zu lästern. Aber Jarim hatte sich um jedes Detail seines Aussehens gekümmert. Er trug einen schwarzen Anzug, mit einer roten Krawatte, die farblich perfekt auf seine Haare abgestimmt war. Dazu noch ein weißes Hemd und keine Schuhe. Ein Friseur hatte seine Haare in Form gebracht. Jarim bildete das Gegenteil zu ihm. Er trug einen weißen Anzug mit einer schwarzen Krawatte. Auch er war barfuß. Das bildete einen wichtigen Aspekt der Zeremonie. Direkt an der Frontseite des Saals gab es einen Kreis, der mit roten Steinen eingerahmt war. Innerhalb dieser Steine lag Sand und dort würde die Bindung vollendet werden. Man musste den Sand unter seinen Füßen spüren, damit eine von den Nomaden anerkannte Bindung wurde.

 

Noch einmal atmete Kai tief durch, dann nahm er die Hand von Jarim. Der wartete mit einem Sandbändiger schon im Kreis und holte nun Kai mit dazu. Sie stellten sich gegenüber, hielten sich an den Händen und schlossen die Augen. Sie sollten nur sich gegenseitig, den Sand und die Worte des Bändigers wahrnehmen. Alles andere sollte außerhalb des Kreises bleiben.

Melodisch durchdrang die Stimme des Bändigers die Luft, webte einen Zauber um sie herum. Das Atmen fiel Kai immer schwerer, als immer mehr Sandpartikel sich in die Luft erhoben. Sie legten sich ganz eng um Jarim und ihn, durchdrangen ihre Kleidung. Um ihre Hände bildeten sich Bänder aus Sand, die sich verhärteten, bis sich schwere Ketten um ihre Hände befanden. Das war die Stelle, wo sie ihre Zustimmung mit einem Wort geben mussten. Kai konnte sich nicht erinnern, doch er schien es gesagt zu haben, denn es gab keine Unterbrechung.

Mit dem letzten Ton des Bändigers fielen die Ketten auseinander. Je ein Armreif zierte jedes Handgelenk von ihnen. Links ein rotes, rechts ein schwarzes.

 

Applaus holte sie in die reale Welt zurück. Doch Kai wollte Jarim nicht loslassen. Er hatte Angst, dass dann alles vorbei war. Für den Moment brauchte er den Halt von Jarim, denn so etwas hatte er noch nie erlebt. Noch immer fühlte er den Sand rund um sich herum. Überall rieselte er von ihm herunter.

„Atme, mein Kleiner“, flüsterte Jarim ihm zu. Eng zog Jarim ihn an seinen Körper und umschlang Kai mit seinen Armen. Sich auf seine Atmung und den Geruch von Jarim konzentrierend, versuchte Kai sich zu fangen.

 

 

 

Zärtlich streichelte Jarim seinem Gefährten sanft über den Rücken. Für jemanden, der noch nie die Magie der Wüste gespürt hatte, musste das Ganze beängstigend sein. Zum Glück hatte er mit solch einer Reaktion gerechnet und das auch mit seinem Vater besprochen. Sie hatten abgesprochen, dass sein Vater alle aus dem Saal bringen würde, um ihnen ein paar Minuten Ungestörtheit zu geben. Viel Zeit hatten sie nicht, doch Jarim hoffte, dass er Kai beruhigen konnte.

 

Schnell ließ das Zittern nach und Kai lehnte sich noch mehr an ihn. Viel fehlte nicht mehr und Kai würde in ihn hineinkriechen.

„Können wir die Feierlichkeiten nicht ausfallen lassen? Die würden uns vielleicht gar nicht vermissen. Schließlich können sie sich auch ohne uns vergnügen“, schlug Kai auf einmal leise vor. Kurz zog Jarim es in Betracht, doch er wollte es sich trotzdem nicht mit seinem Vater verscherzen.

„Eine Stunde müssen wir es ertragen, dann können wir gehen.“ Resigniert seufzte Kai und löste sich von ihm.

 

Händchenhaltend betraten sie den Festsaal. An der Stirnseite standen zwei Stühle mit hoher Lehne, davor ein liebevoll gedeckter Tisch. Links und rechts hatten je zwei Personen Platz. Die Plätze links waren schon besetzt, rechts saß keiner. Dort hätten eigentlich seine Schwester und ihr derzeitiger Partner sitzen sollen. Doch diese blieben fern. Ein sehr deutliches Statement, welches sie nicht mehr zurücknehmen konnte. Wobei ihr das vermutlich nicht bewusst war. Aus einer sicheren Quelle wusste Jarim, dass seine Schwester immer noch nicht glaubte, dass er wirklich gehen würde. Ihrer Meinung nach tat er nur so, als würde er bald für immer abreisen und es schon nach ein paar Tagen bereuen, dass Kai nun sein Gefährte war.

 

Besitzergreifend umfasste Jarim die schmale Taille Kais. Die Stühle waren ihm in dem Moment sogar zu weit auseinander. Er wollte sofort mitbekommen, wenn es Kai zu viel wurde. Schon nach den paar Tagen hatte er gemerkt, dass Kai seine wahren Gefühle sehr gut hinter einer Maske aus Gefühllosigkeit verstecken konnte. Wenn sie alleine waren, zeigte Kai alles. Doch sobald andere Menschen mit da waren, verschwanden die Gefühle hinter einer Maske. Man musste ganz genau auf jede einzelne Regung achten.

 

Sein Vater grinste nur darüber und sagte sonst nichts dazu. Er konnte nicht widerstehen, als er den Nacken von Kai direkt vor sich hatte. Sanft knabberte er daran, genoss die Gänsehaut, die sich sofort bildete. Heute Nacht würde er diese Empfindlichkeit noch mehr austesten. Darauf freute er sich schon besonders.

 

Gerade als die Vorspeise reingebracht wurde, stürmte ein Sandbändiger den Raum, wandte sich sofort an ihn: „Ein Sandsturm zieht auf. Er ist gigantisch und deswegen müsstet ihr sofort aufbrechen. Sonst hängt ihr hier sehr viele Tage fest.“ Fluchend stellte Jarim Kai auf seine Füße, nahm dessen Hand. Formvollendet verneigte er sich vor seinem Vater, verabschiedete sich so. Wenigstens war es keine Trennung für immer, denn ihr neues Zuhause befand sich nur knapp drei Stunden Fahrt entfernt. So konnten sie sich jederzeit besuchen. Wobei sie ausgemacht hatten, dass sein Vater zu ihnen kam, solange seine Schwester so durchdrehte.

 

Zum Glück hatte der Schneider die Kleidung für Kai schon fertiggestellt und sie schon alles Nötige gepackt. Viel war es nicht.

Keine zehn Minuten später saßen sie zusammen auf dem Motorrad. Kai hatte einen großen Rucksack auf seinem Rücken und klammerte sich an Jarim fest. Er trug nun perfekt sitzende, schwarze Lederkleidung. Auch einen neuen Helm hatte er bekommen, dessen Visier sich automatisch an die Helligkeit anpasste. Kurz drückte Jarim noch einmal die verschränkten Hände von Kai, hob eine davon zu seinem Mund und küsste sie zärtlich. Dann klappte er das Visier seines eigenen Helms nach unten und fuhr los, in eine gemeinsame Zukunft bei einer kleinen Gruppe, die auch kein Problem mit Kai und seinem ungewöhnlichen Aussehen haben würden. Schon beim ersten Telefonat hatte der Anführer klargestellt, dass es auf den Charakter und nicht auf das Aussehen ankam. Der Anführer freute sich schon auf sie und hoffte, dass Jarim ihm bei der Führung half und seine rechte Hand wurde. Die Zukunft würde viel für sie bereithalten und sie würden es gemeinsam schaffen. Irgendwann würde Kai sein eigenes Motorrad bekommen, doch das hatte noch viel Zeit. Viel zu sehr genoss er den schmalen Körper, der sich an seinen Rücken schmiegte.

Impressum

Texte: Josephine Wenig
Bildmaterialien: Pixabay, Bearbeitung: Josephine Wenig
Tag der Veröffentlichung: 13.05.2018

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