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Schwarz zu Weiß

Sich im Schatten haltend, tappste Kyle an der Lagerhalle entlang. Unablässig bewegten sich sein Kopf und seine Ohren, nahmen jedes Geräusch in seiner Umgebung auf. Hinter einem Müllcontainer verwandelte er sich zurück in einen Menschen, zog die Jogginghose unter dem Container hervor, dazu noch einen alten, roten Rucksack. Sich mit einem Rundumblick versichernd, dass keiner in der Nähe war, huschte er hinaus in die Nacht. Nicht weit entfernt war ein neutrales Gebiet, wo kein Gestaltwandlerrudel herrschte. Dort konnte er sich ein Lager für die nächsten Tag suchen. In der Stadt gab es selten Wandler, also keinen, der ihn einfangen und in irgendein Heim sperren konnte. Nur einmal im Monat ging er das Risiko ein, um seiner tierischen Seite ihr Recht zu geben. Ansonsten hielt er sich bedeckt, achtete sorgfältig darauf, nicht aufzufallen.

Trotzdem würde es bald schwierig werden, denn die Stadtverwaltung hatte eine Säuberung angekündigt. Somit musste er mit den anderen Obdachlosen raus in die Wälder, bis sich die Wogen wieder glätten würden und sie zurück konnten. Zweimal war das bisher in den letzten zwölf Jahren passiert. Jedes Mal war es reines Glück gewesen, dass die Rudel ihn nicht entdeckt hatten. Das und weil seine Freunde manchmal etwas ungewaschen rochen und seinen Geruch überdeckten.

 

Schnell verschwand er zwischen den Hallen, in Richtung der hell leuchtenden Skyline. Direkt vor ihm rannte eine Ratte über die Straße und hinter ihm raschelte es. Ein Schuss löste sich, die Ratte wurde einige Meter weit geschleudert und blieb tot auf dem dreckigen Asphalt liegen. Etwas Blut floss aus dem kleinen Körper. Instinktiv rannte Kyle los, hielt auf die scheinbare Sicherheit der Stadt zu, lauschte auf verräterische Geräusche. Schon nach hundert Metern wurde ihm klar, dass ihm keiner folgte. Darauf hoffend, dass er nur in das Gebiet irgendeines Verrückten geraten war, drängte Kyle das Erlebnis aus seinem Kopf. Damit er nicht erwischt wurde, nutzte er jedes Mal einen anderen Punkt, um in das Gebiet der Leoparden zu schlüpfen und sich im Wald auszutoben.

 

 

 

Belustigt schnaubte Rafael, kreuzte seine weißen Pfoten mit den schwarzen Flecken und legte seinen Kopf darauf. Glaubte der Bär wirklich, sie würden es nicht bemerken? Der einzige Grund, warum sie ihn sich nicht schnappten, war einfach, dass er bisher gut alleine zurecht gekommen war. Aber sie hielten sich bereit, im Ernstfall einzugreifen. Bisher ließen sie ihm immer wieder Geld zukommen. Ihre menschlichen Angestellten fragten nicht einmal mehr danach, wenn sie losgeschickt wurden. Wenn es kälter wurde, ließen sie ihm über eine Hilfsorganisation immer besonders warme Decken zukommen.

Zwar drängte sein Alpha darauf, dass sie den Bären zu sich holten und ihm den Halt eines Rudels gaben, doch irgendwie war Rafael sich sicher, dass das genau die falsche Vorgehensweise war. Vermutlich wären sie nur noch mit Bärenfangen beschäftigt. Keine besonders schöne Vorstellung für ihn. Allerdings dauerte es nicht mehr lang bis zum achtzehnten Geburtstag von diesem und dann würde Kyle von selbst zu ihm kommen. Gefährten konnten sich nicht dagegen wehren. Sein Geruch haftete überall in ihrem Revier, der Bär würde ihm nicht widerstehen können. Wenige Tage noch, bis es soweit war. Bis dahin genoß er den Anblick der schmalen Gestalt mit den nachtschwarzen Haaren und den schwarzen, mit einem rotschimmer überzogenen Augen. Dazu diese weiße, porzelanartige Haut mit ein paar kleinen, süßen Sommersprossen auf den Wangen. Einfach nur zum Ablecken.

 

 

 

Wie jedes Mal nach einer solchen Nacht verschlief Kyle einfach die nächsten zwei Tage, so sehr hatte er sich ausgepowert. In dieser Zeit ließen ihn die anderen Straßenbewohner in Ruhe und passten auf ihn auf. Nie hatten sie ihn gefragt, wohin er verschwand oder was er tat, um so erschöpft zu sein. Sie vertrauten darauf, dass es etwas war, was ihnen nicht schadete.

Gähnend kratzte er sich am Hintern, schlurfte unter der Brücke hervor, unter der sie es sich gemütlich gemacht hatten. Es war ein alter Wasserlauf, in dem eigentlich kein Wasser mehr floss, aber pünktlich zur Säuberung würde er geflutet werden.

 

„Zwerg. Pack dein Zeug, in einer Stunde fluten sie!“ Laut hallte der Ruf von den Wänden wider. So schnell hatte Kyle nicht damit gerechnet. Statt darüber nachzudenken, griff er sich seine Tasche, half den Anderen und eilte mit ihnen los, trug eine Tasche von einem der Älteren. Man half sich gegenseitig, niemals würden sie einen freiwillig zurücklassen. Selbst die herrenlosen Hunde folgten ihnen.

 

Drei Stunden später erreichten sie die Höhlen. Keiner beschwerte sich über den Fußmarsch, schließlich waren sie lange Strecken gewöhnt. Keiner investierte erbetteltes Geld in ein öffentliches Verkehrsmittel. Lieber machte man einen langen Spaziergang, egal bei welchem Wetter. Keiner besaß Elektronik, die dabei kaputt gehen konnte. Sie hatten sich an die Straße angepasst.

Als einer der Letzten betrat Kyle das Höhlensystem, rannte prombt in einen vor ihm hinein. Es hatte sich ein kleiner Auflauf gebildet. Grummelnd rieb er sich über die Nase, verstand nicht so ganz, was los war. Schließlich waren sie schon einige Male hier gewesen. Endlich ging es etwas weiter und Kyle entdeckte, was das Problem war.

An der Höhlenwand lagen Matratzen und auf diesen warme Decken. Daneben je ein kleines Paket mit Lebensmitteln. Vorsichtig schnupperte Kyle, roch deutlich Leoparden, mehrere davon. Als hätten sie gewusst, dass die menschliche Regierung etwas plante und sie hierher flüchten würden, weg von ihren Einnahmequellen und somit der Gefahr ausgesetzt, keine Nahrung zu bekommen. Somit konnten sie wenigstens mehr als die üblichen zwei Tage hier bleiben. Zudem konnten sie die Decken dann mitnehmen, denn schon jetzt fielen die Temperaturen nachts in den einstelligen Bereich. Bald würde der erste Schnee kommen. Jeder von ihnen wusste es und die Plätze in den Notunterkünften waren begrenzt. Meist überließen sie diese den Älteren und Kranken.

 

Neugierig wagte Kyle sich tiefer hinein. Durch Gänge waren die natürlichen Räume miteinander verbunden. In diesen war nichts verändert, aber ansonsten fand man überall dasselbe wie im ersten Raum. Eigentlich wäre es perfekt für den Winter, wenn das Essen bis zum Ende von diesem reichen würde. Tat es aber garantiert nicht, es waren nur kleine Care-Pakete, die vielleicht eine Woche reichen würden, mehr wenn sie den Hunden nichts gaben. Aber diese hungern lassen, das brachte keiner von ihnen übers Herz. Schließlich kannten sie dieses Gefühl und wollten es keinem Lebewesen antun, wenn sie etwas dagegen machen konnten.

 

Lautlos suchte Kyle sich einen Schlafplatz weit weg vom Haupteingang, in der Nähe eines schmalen Spaltes, durch den man im Notfall flüchten konnte. Nachdem er seine Tasche abgestellt hatte, suchte er den Besitzer seines zusätzlichen Gepäckstückes, fand ihn auch schnell. Gerührt hockte dieser auf einer Matratze, berührte fassungslos eine der warmen Decken. Wortlos platzierte Kyle die Tasche neben dem Mann, huschte nach draußen. Solange sie hier waren, stellten sie Wachen auf. Schließlich waren sie im Gebiet der Leoparden und wussten nicht, ob diese ihnen wohlgesonnen waren.

Wobei Kyle ahnte, dass diese ihnen nichts Böses wollten. Anders konnte er sich diese Aktion nicht erklären. Abgesehen von den Hilfsorganisationen, half ihnen keiner so richtig aktiv. Man gab ihnen ein paar Dollar und damit war es für die meisten Menschen getan. Zum ersten Mal

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Josephine Wenig
Bildmaterialien: Bildmateralien: pixabay.com, Malestockphoto.com, Bearbeitung: Caro Sodar
Lektorat: Seth Ratio
Tag der Veröffentlichung: 16.11.2015
ISBN: 978-3-7396-2439-6

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