Leise vor sich hinsingend, schwebte Tay durch die leeren Zimmer des großen Herrenhauses, mied dabei bewusst den Raum, in welchem seine sterbliche Hülle lag und seit fast sechs Jahren vor sich hin moderte. Vermutlich waren nur noch die Knochen da. Damals hatte er sich in dem Haus versteckt, nachdem er bei einer Messerstecherei eine Wunde im Bauchbereich zugefügt bekommen hatte. Nur das sein Körper danach nicht mehr aufwachte.
Genau in dem Moment, wo er an der Eingangshalle vorbeikam, öffnete sich die Eingangstür quietschend. Erschrocken schoß er ein paar Meter in die Höhe. Bisher hatte noch nie jemand das Haus betreten, er war also sicher gewesen.
„Schön ist das Haus ja, aber wir müssen da noch so viel machen. Bist du dir sicher, dass es das richtige für uns ist?“ Neugierig schwebte Tay näher an die beiden Männer. Sie wirkten wie Tag und Nacht. Einer blass mit blonden, fast weißen Haaren, zierlich und mit himmelblauen Augen. Der andere mit einer dunklen Hautfarbe, muskulös, schwarzen Haaren, dunkelblauen Augen und drei Köpfe größer als sein Begleiter.
„Wir sind beide handwerklich begabt und haben viele Leute, die uns helfen wollen. Zudem denke ich nicht, dass die Bausubstanz so schlimm ist, dass wir es einreißen müssen. Schauen wir doch einfach mal durch alle Räume, danach können wir immer noch entscheiden, ob wir es uns kaufen.“ Tay merkte deutlich, dass der Kleinere noch nicht überzeugt war, während sein Partner sich schon in das Haus verliebt hatte. Vermutlich würde sich das schlagartig ändern, wenn sie seine Überreste fanden.
Irgendwie verspürte Tay den Wunsch, sie in seinem Haus zu haben, etwas Leben in die leeren Räume zu bringen, damit die folgenden Jahre nicht so einsam wurden. Innerhalb von Sekundenbruchteilen war er vor dem Raum, die Tür war schon geschlossen, nun verriegelte er sie zusätzlich. Schon zu Anfang hatte er gemerkt, dass er mit Hilfe seines Willen zu jedem Punkt im Haus springen und Dinge bewegen konnte. Nun musste er seinen Körper nur noch so lange verbergen, bis die beiden Männer das Haus gekauft hatten. Wobei sie immer noch das dann wieder rückgängig machen könnten. Wenn es nur einen Weg gäbe, die Reste verschwinden zu lassen, doch er konnte das Haus nicht verlassen. Verzweifelt zerbrach er sich den Kopf, doch ihm fiel nichts ein.
Unzufrieden hockte er sich im Flur in den Schneidersitz knapp einen halben Meter über den Boden und wartete einfach ab. Lange dauerte es nicht, bis die beiden den Flur betraten, neugierig in jeden Raum hineinsahen, bis sie an der verschlossenen Tür rüttelten.
„Eigentlich sollten alle Türen offen sein, ich weiß nicht, warum die es jetzt nicht ist.“ Verwirrt beugte sich der Schwarzhäutige nach vorne.
„Lass mich mal ran.“ Resolut drängelte sich der Blonde nach vorne, zog etwas aus seiner Hosentasche und nur Momente später klickte das Türschloss. Um das folgende Desaster nicht miterleben zu müssen, hüpfte Tay hoch zum Dachboden, machte es sich wenige Zentimeter über einem staubigen Holzschrank bequem. Richtig schlafen konnte er nicht, aber er verfiel in eine Art Starre, die einem Dösschlaf ähnlich war.
Lärm ließ ihn aufschrecken. Obwohl er eigentlich nicht hatte gucken wollen, machte er es nun doch. Polizisten wuselten durch die Gänge. Abschätzig rümpfte Tay seine Geisternase, er mochte die Beamten nicht. Dadurch das er ein Straßenkind war, hatte er nur sehr wenige gute Erfahrungen mit ihnen gemacht. Dementsprechend wütend rauschte er durch die Gänge, ließ die verstaubten Bildern an den Wänden wackeln und Türen knallen, bis er in der Eingangshalle auf dem Kronleuchter, welcher protestierend klirrte, sich wieder beruhigte, kaum das Tay still hielt. Dafür hatte er für Angst gesorgt, viele Männer verließen das Haus bleich und ängstlich.
„Wir kaufen das Haus“, hallte begeistert durch die Gänge. Überrascht wechselte Tay den Platz, bis er sich direkt neben den zwei Männer befand, die das Ganze erst ins Rollen gebracht hatten. Enthusiastisch hüpfte der Blonde auf und ab, hatte richtig Feuer gefangen.
„Schon immer wollte ich in einem Geisterhaus leben. Wann können wir hier einziehen? Wetten es ist der Junge, der dort oben liegt? Zu gerne würde ich wissen, wer er ist und wie er hierher gekommen ist.“ Kopfschüttelnd stand der Dunkelhäutige nur daneben, hatte aber ein nachsichtiges Lächeln auf den Lippen. Damit hatte Tay absolut nicht gerechnet. Begeistert umtanzte er den Blonden, ließ dessen Haare fliegen und lachte dabei.
Von diesem Moment an war immer jemand im Haus. Der Hellhäutige hieß Adam, während sein Freund auf den Namen Hakim hörte. Jeden einzelnen Tag besuchten sie ihn, auch wenn sie immer noch nichts von ihm wussten.
Frustriert beobachtete Tay Adam dabei, wie dieser eine Wand im zukünftigen Schlafzimmer lila strich. Mühelos glitt die Farbrolle über die weiße Wand, färbte sie. Neben dem Farbeimer lag ein einsamer Pinsel. Dieser brachte Tay auf eine Idee. Warum er nicht früher darauf gekommen war, wusste er nicht. Ohne das Adam es bemerkte, schnappte Tay sich den Pinsel, tunkte ihn in die Farbe und gestaltete nun seinerseits die Wand. Etwas zögerlich und ungelenk schrieb er seinen Namen auf die Wand, erregte damit die Aufmerksamkeit Adams.
„HAAAKIII“, euphorisch rief er nach seinem Freund, der nur Sekunden später in den Raum stürmte, aprupt stopte, als er den Namen las. Um zu verdeutlichen, dass es sich nicht um das Werk von Adam handelte, malte er noch einen lächelnden Smiley dazu, setzte danach ab, nicht wissend, was er noch schreiben sollte.
„Wie alt warst du damals?“ Hakim dagegen schaltete schneller. Es dauerte etwas, bis Tay sich wieder daran erinnerte und eine etwas schiefe neunzehn unter seinen Namen setzen konnte. Wenn man auf der Straße lebte, gab es keine Geburtstagsfeiern, dort verschwamm ein Jahr mit dem Nächsten und es war schwer, noch den Überblick zu behalten, wie viel Zeit verstrichen war.
„Kannst du das Haus verlassen?“ Statt eines Namens, wählte Tay dieses Mal einen traurigen Smiley, in der Hoffnung, dass sie verstanden.
„Du hängst also fest. Ist es überhaupt in Ordnung, das wir in deinem Haus wohnen?“ Begeistert nickte Tay, vergaß für einen Moment, dass sie ihn nicht sehen konnten. Kaum das er sich dessen bewusst wurde, malte er ein großes Ja neben seinen Namen. Noch nie war er so froh gewesen, dass ihm einer der alten Penner unter der Brücke das Schreiben beigebracht hatte.
„Damit hätten wir wohl die Dreierbeziehung, die du dir immer erträumt hast Adam“, schnurrte Hakim, packte Adam, drückte ihn gegen die frisch verzierte Wand und küsste ihn. Was das für eine Beziehung sein sollte, wo sie ihn nicht einmal sehen oder hören konnte, war Tay schleierhaft, aber er nahm es hin, hauptsache er war nicht mehr alleine. Darum wirbelte er um die zwei herum, durch die Wand hindurch und wieder hinaus, erzeugte einen Wind, der Adam zum Lachen brachte. Tief in sich hoffte Tay, dass die Beiden lange leben und bis an ihr Lebensende zusammen bleiben würden, damit er nicht so schnell wieder alleine sein musste.
Ich wünsche mir doch nur ein einfaches Lächeln von dem kleinen Wolf. Jeder bekommt eines, nur ich nicht. Zärtlich gleitet mein Blick über die zierliche Gestalt, die roten, hüftlangen Haare, welche zu einem einfachen Zopf geflochten waren, die funkelnden, himmelblauen Augen und das glockenhelle Lachen, welches mich magisch anzieht. Schritt für Schritt nähere ich mich. Kaum bemerkt er mich, verstummt er, senkt schüchtern den Kopf und tritt einen Schritt zurück. Dabei möchte ich ein einziges, ehrliches Lächeln, möchte sehen, wie seine Augen erstrahlen, möchte wissen, dass dieses Lächeln nur mir gilt und keinem anderen.
Nervös hole ich das Buch hervor, weiß nicht, ob es das ist, welches er unbedingt möchte. Erstaunt sieht er mich an, fast ehrfürchtig berühren seine Finger den Einband und leise stammelt er ein Danke. Er ist so süß. Irgendwann wird er alleine mir gehören, dann wird er mir jeden Tag eines seiner einzigartigen Lächeln schenken. Resigniert ziehe ich mich zurück, ein neuer Plan muss geschmiedet werden. Wie schaffen die Anderen es, dass er sie anlächelt? Nachdenklich sitze ich auf einem Felsen, starre einfach nur die Bäume um mich herum an, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Meine Gedanken drehen sich im Kreis, mir will einfach keine Lösung einfallen. Seit Monaten schenk ich ihm fast täglich Kleinigkeiten, werbe um ihn, versuche geduldig zu sein, obwohl Geduld nicht meine Stärke ist. Aber bei meinem kleinen Wolf muss man langsam voran gehen, sonst flüchtet er. Wielange ich das noch durch halte, weiß ich selber nicht.
In der Nähe heult ein Wolf leise, fast nicht hörbar und trotzdem ist mir klar: er ist es. Er ruft mich. Bekomme ich jetzt mein Lächeln? Erlöst er mich endlich von meiner Sehnsucht?
Vorfreudig verwandel ich mich in einen weißen, großen Wolf und laufe los. Sein Geruch nach Früchten lockt mich regelrecht, zeigt mir den Weg. Nicht weit entfernt, direkt neben einem Bach, umgeben von weißen Blüten liegt er unter einer Decke. Nur sein Kopf ist zu sehen und auf seinen Lippen liegt ein scheues Lächeln, das auch seine Augen erreicht.
Ein Lächeln, das nur mir gilt.
Ein Lächeln, das mein Herz erwärmt.
Ein Lächeln, das auch mich dazu bringt, debil vor mich hin zu grinsen.
Endlich ist er soweit, mich näher an sich heran zu lassen.
Endlich wird er mir gehören.
Langsam werde ich zum Menschen, knie mich vor ihn und berühre seine Haare, lasse die seidenweichen Strähnen durch meine Finger gleiten und flüstere leise: „Mein kleiner Wolf.“ Er protestiert nicht und akzeptiert meine Besitzansprüche, macht mich zum glücklichsten Wolf auf Erden, mein kleiner wunderschöner Wolf, ganz alleine meiner.
Sehnsüchtig starrte Paulchen die Gummibärchen im Regal des Discounters an, doch er wollte abnehmen und endlich sein Übergewicht verlieren. Schon so viele Versuche hatte er gestartet, doch es war immer an der Verlockung von Süßigkeiten gescheitert. Dieses Mal schaffte er es, sich loszureißen, ob es das nächste Mal auch klappte, wusste er nicht. Mit hängenden Katzenohren schlich er weiter, packte stattdessen etwas Obst in seinen Einkaufswagen.
Vor dem Supermarkt ließ er seinen Einkaufswagen einen Moment aus den Augen, um sein Auto aufzuschließen. Als er sich umdrehte, erstarrte Paulchen. Neben seinem Obst lagen noch eine Tafel Schokolade, eine Packung Kekse und eine Packung Gummibären. Nervös huschten seine Blicke über den Parkplatz, doch ihm fiel keiner ins Auge, welcher ihm die Sachen in den Wagen gelegt haben könnte. Kurz überlegte er, ob er die Sachen einfach liegen lassen sollte, doch die Verlockung war zu groß. Schnell verräumte er den ganzen Einkauf, brachte den Einkaufswagen zurück und fuhr nachhause, in seine kleine Einzimmerwohnung mit dem Bad, welches ihn dazu gebracht hatte, die Wohnung zu kaufen. Neben einer Dusche gab es noch eine Eckbadewanne und eine Waschmaschine, absoluter Luxus in solch einer kleinen Wohnung. Sogar eine Spülmaschine existierte in der kleinen Küche. Damit besaß er alles, was er benötigte.
Schnell war sein Einkauf in der winzigen Küche verstaut, in der man sich gerade einmal um sich selbt drehen konnte. Alles war in einem schönen dunkelrot gehalten und die Schränke waren bis obenhin gefüllt mit gemischtem Geschirr, sodass er gar keinen Platz mehr darin hatte und trotzdem besaß er keinen Teller, der zu einem anderen passte. Durch die Tür kam man in sein Schlafzimmer, welches gleichzeitig Wohnzimmer war und nur ein großes Himmelbett, einen kleinen Glastisch, ein Bücherregal, einen roten Sitzsack und einen großen Fernseher beinhaltete. Sein Kleiderschrank war in die Flurwand integriert. Mehr brauchte er nicht zum Leben.
Sorgfältig legte er die Süßigkeiten unter sein Bett in eine weiße Kiste, warf sich danach in seinen Sitzsack und holte sich seinen Laptop, holte sich sein aktuelles Projekt in den Vordergrund. Für eine Firma sollte er ein Werbebanner gestalten, wobei es offiziell nicht von ihm stammen würde. Sein Chef ermöglichte ihm, dass er nicht mit den Kunden zusammenarbeiten musste. Viel fehlte nicht mehr und er hätte den letzten Entwurf fertig. Sobald dieses Projekt beendet war, würde er für drei Wochen in den Zwangsurlaub geschickt werden, damit er nicht mit Urlaub ins nächste Jahr startete und die letzten vier Monate im Jahr waren immer kritisch, da konnte keiner entbehrt werden, denn da kamen die meisten Werbeaufträge rein.
Genervt pustete er eine schwarze Strähne aus dem Gesicht. Er musste sie sich dringend mal wieder schneiden. Wegen seiner Katzenohren ließ er niemanden an seine Haare, dazu hatte er viel zu viel Angst davor, dass sie seine Ohren verletzten. Sie waren so empfindlich, dass er jede fremde Berührung als störend und unangenehm empfand.
Irgendwie hatte er gerade keine Lust auf den Auftrag, er machte ihm nur Hunger, da es ein Banner für eine neue Kekssorte war. Seufzend klappte er den Laptop zu und lief in sein Bad. Aus dem kleinen Spiegelschrank über dem knallroten Waschbecken holte er eine Schere heraus, zog sein schwarzes T-Shirt aus, legte ein Handtuch um seine Schultern und eines über das Waschbecken. Sorgfältig betrachtete Paulchen seine schwarzen Haare. Etwas wirr hingen sie ihm in die Augen, während seine schwarzen Katzenohren aufmerksam zuckten. Das Einzige was er wirklich an sich mochte, waren seine hellgrünen Augen. Ansonsten fand er seine Haare zu dunkel, seine Haut zu hell, seine Katzenohren würde er gerne gegen Menschenohren einteilen und er fand sich selber viel zu dick, deswegen mied er auch den Blick nach unten, während er Strähne für Strähne seine Haare kürzte, bis er einen frechen und pflegeleichten Kurzhaarschnitt besaß. Zufrieden fuhr er sich durch das Ergebnis, zuckte erschrocken zusammen, als das leise Summen seiner Türklingel durch die Wohnung hallte. Schon bei seinem Einzug hatte er den nervigen Türklingelton gegen das Summen ausgetauscht, denn sein Gehör war viel feiner als das eines normalen Menschen.
Zögernd, die Schere noch in der Hand, öffnete er die Tür. Niemand stand davor, dafür fand er einen kleinen Korb auf dem Boden, in dem mehrere lecker aussehende Muffins lagen. Der Geruch vernebelte ihm regelrecht den Verstand, nach einem versichernden Blick in den dunklen Flur schnappte er sich den Korb und brachte ihn in die Wohnung, stellte ihn auf den Glastisch neben seinen Laptop. Zwar lief ihm das Wasser im Mund zusammen, doch zuerst musste er äufräumen. Chaos wäre das Schlimmste auf so wenig Platz. Mit wenigen Handgriffen säuberte er das Bad und saugte auch die restliche Wohnung durch, setzte eine Maschine Wäsche an und saß schlussendlich in seinem Sitzsack, den Muffinkorb musternd. Noch konnte er sich zurückhalten und sich dagegen wehren, über die Leckereien herzufallen.
Zögernd nahm er schließlich einen Schokomuffin in die Hand. Der köstliche Geruch vernebelte ihm die Gedanken und ließ gar nicht zu, dass er nicht hineinbiss. Gerade noch so konnte er ein Stöhnen bei dem Geschmack unterdrücken. Als er den Muffin bis auf den letzten Krümel vernichtet hatte, kamen die Schuldgefühle hoch. Um sich abzulenken, öffnete er seinen Laptop und beendete seinen Auftrag problemlos, wobei sein Blick immer wieder zu dem Korb wanderte, bis er es nicht mehr schaffte und zögernd einen Vanillemuffin in die Hand nahm. Genau in dem Moment, wo er hineinbeißen wollte, schrillte seine Türglocke. Erleichtert und enttäuscht zugleich, legte er den Muffin zurück in den Korb und lief zur Haustür, schlug die Tür sofort wieder zu und war doch nicht schnell genug. Blitzschnell hatte sich ein Fuß dazwischen geschoben und ein schwerer Körper schob ihn von außen her auf.
„Das ist nicht nett, mein dickes Moppelchen.“ Schnurrend drang die Stimme seines Bruders durch den Flur. Panisch versuchte Paulchen zu seinem Bad zu kommen, doch sein Bruder drängte ihn unbarmherzig an die Wand.
„Nein, bitte nicht“, leise wimmernd ließ Paulchen jeden Muskel im Körper erschlaffen, sackte in sich zusammen. Auf einmal wurde sein Bruder von ihm weggezerrt, knallte gegen die gegenüberliegende Wand. Bedrohlich ragte ein dunkelhäutiger Mann über diesem auf und knurrte bedrohlich. Trotz seines feinen Gehörs konnte Paulchen die Worte kaum verstehen, schnappte nur den Wortfetzen „...in Ruhe lassen...“ auf. Hastig verließ sein Bruder die Wohnung, während der Mann sich über Paulchen beugte und ihn mühelos, trotz seiner vielen Pfunde hochhob, in sein Bett brachte. Sorgfältig wählte der Mann einen Zitronenmuffin aus dem Korb, hielt diesen an Paulchens Mund. Automatisch wollte Paulchen danach greifen, doch seine Hand wurde eingefangen und auf die Matratze gedrückt.
„Eigentlich wollte ich dich langsam verführen, doch das werden wir wohl nun abkürzen. Ich bin Jamal, dein zukünftiger Freund.“ Lächelnd fütterte Jamal Paulchen, bis der Muffin weg war, fing dann an, über die Katzenohren zu streicheln, bis Paulchen schnurrte und sich an ihn kuschelte.
„Mein süßer kleiner Naschkater. Auf dich passe ich für immer auf“, flüsterte Jamal leise, als Paulchen tief und fest eingeschlafen war.
Neugierig starrte Ceri den Spiegel an. Irgendwie wusste er nicht, warum alle immer vor diesem warnten.
Man sollte auf keinen Fall zu lange hineinstarren.
Man sollte sich nicht selber darin betrachten.
Man sollte sich nie in diesem bewundern.
Doch da war nichts, es war nur ein gewöhnlicher Spiegel, also warum warnte jeder aus seiner Familie vor ihm.
Mannshoch stand das Ungetüm vor dem Achtzehnjährigen, zeigte deutlich, wie mager dieser war. Jede einzelne Rippe konnte man erahnen. Blaue Flecken zogen sich über seinen ganzen nackten Oberkörper, zeugten davon, dass die Familie doch nicht so unschuldig war, wie diese sich immer gab, das hinter der makelosen Fassade wahre Abgründe lauerten, die keiner auch nur erahnte.
Schwarze, schulterlange Haare umrandeten ein schmales Gesicht, in dem die Wangenknochen hervorstachen. Violette Augen leuchteten regelrecht daraus hervor, machten klar, dass in Ceri nicht nur menschliches Blut floß.
Plötzlich kam Bewegung in die glatte Oberfläche des Spiegels. Ein großer Mann reckte sich gemütlich darauf, offenbarte einen makellosen Körper, mit dem er hätte Unterwäschemodel werden können. Wirklich realisieren tat Ceri das nicht, viel zu abgelenkt war er von den weißen Augen, die ihn von oben bis unten musterten. Langsam wurde aus der gleichgültigen Maske des Mannes eine wütende. Dann war er verschwunden, einfach so.
Kopfschüttelnd verließ Ceri den Raum. Vielleicht war der letzte Schlag gegen seinen Kopf einer zu viel gewesen, jetzt bildete er sich schon Dinge ein. Als ob wirklich jemand in dem Spiegel leben würde. Das war ja wohl eher eine Halluzination. Zwar gab es in dem Haus viele Dinge, welche passierten und die er nicht verstand, doch solch eine Sache wäre viel zu unglaublich. Als würde so etwas wirklich passieren.
Vielleicht sollte er sich schlafen legen, aber da war noch so viel zu erledigen. Bevor sein Vater nach Hause kam, musste die komplette Küche wieder glänzen. Seine Schwestern, der ganze Stolz seines Erzeugers, hatten versucht zu backen und dabei das ganze Zimmer in ein Schlachtfeld verwandelt. Natürlich durften sie das, denn sie hatten auch nicht ihre Mutter auf dem Gewissen. Jeden Tag machten sie das dem Achtzehnjährigen klar. Wäre er nicht, würde ihre Mutter noch leben und sich um alles kümmern.
Manchmal fragte er sich, ob es vielleicht gut wäre, wenn er einfach gehen würde. Vielleicht in die Freiheit oder in den Tod. Wobei ihm die zweite Option mehr zusagte, schließlich gab es da nichts, wohin er könnte und er kannte die Welt da draußen nicht einmal. Sterben würde er also so oder so, da reichten auch zwei saubere Schnitte, bei denen er nicht lange leiden musste.
Ihm tat alles weh von den letzten Schlägen. Sich davon nicht unterkriegen lassend, begann er, das Chaos zu beseitigen. Automatisch bewegte sich sein Körper, räumte die Schüsseln weg, wischte Schränke ab, scheuerte den komplett verschmutzten Backofen. Gerade noch rechtzeitig wurde er fertig. Schnell versteckte er seine Putzutensiellien an dem Platz, wo sie hingehörten, huschte selber durch eine kleine, schmale Tür aus der glänzenden Edelstahlküche. Dahinter befand sich ein Dienstbotengang. Natürlich würde man ihm nie einen Platz im Herrenbereich zugestehen. Er konnte schließlich von Glück sagen, dass man ihn nicht als Bastard brandmarkte und aus dem Haus jagte. Man bot ihm Obdach und hin und wieder etwas zu essen. Was brauchte er da mehr?
In seiner kleinen Kammer, in die gerade mal ein schmales Bett und eine kleine Kommode passte, rollte er sich in einer Ecke, zwischen Wand und Kommode zusammen. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Nur hier konnte er ihnen freien Lauf lassen, überall anders würde sein Vater es sofort erfahren und versuchen, diese weibische Angewohnheit auszuprügeln.
Ein Mann weinte nicht.
Ein Mann hatte alles stumm zu ertragen.
Doch Ceri fühlte sich nicht als Mann. Einsamkeit herrschte in ihm. Nachts träumte er von einem Retter, welcher kam und ihn aus dieser Hölle wegholte. Dieser winzige Hoffnungsschimmer erstarb aber langsam. Mit jedem Tag wurde er kleiner und kleiner, dafür wuchs die Resignation über seine Situation, die Hoffnungslosigkeit schnürte ihm die Kehle zu.
Er musste eingeschlafen sein, denn es war dunkel, als er das nächste Mal die Augen öffnete. Etwas hatte ihn geweckt. Leise, fast nicht hörbar schien sein Name durch die Gänge zu schweben. Jemand rief nach ihm. Von alleine bewegte sich Ceris Körper, gehorchte dem Befehl, ohne das sein Kopf etwas dagegen tun konnte. Niemand begegnete ihm auf den Gängen.
Vor dem Spiegel endete seine kleine Reise. Wieder stand der Mann darin, sah ihn einfach nur an, fesselte ihn mit seinem Blick.
„Mein kleiner Ceri, komm zu mir, sei auf ewig mein Gefährte. Leg deine Hand auf das Glas“, beschwörend flüsterte der Mann ihm diese Worte zu, krümmte den Finger leicht und lockte Ceri. Zentimeter für Zentimeter hob Ceri seinen Arm, nur wenige Milimeter trennten seine Finger von dem Spiegel ...
Schweißgebadet erwachte Ceri auf dem Fußboden. Jeder Knochen schmerzte und protestierte angesichts der unbequemen Haltung. Sich an der Wand abstützend, richtete er sich auf, schwankte hin und her. In seinem Kopf wirbelten die Bilder aus seinem Traum. War es real gewesen oder hatte er es wirklich nur geträumt? Irgendwie war ihm das nicht wie ein Traum vorgekommen. Verwirrt legte er sich in sein Bett, dämmerte über seinen Gedanken weg.
Pünktlich auf die Minute riss ihn sein Wecker aus dem Schlaf. Müde schlurfte er durch die Gänge in die Küche. Ohne darüber nachdenken zu müssen, bereitete Ceri den Frühstückstisch für den Rest der Familie vor. Jeder Handgriff saß im Schlaf. Nachdem er fertig war, führte sein nächster Weg in das Zimmer seiner ältesten Schwester, wo er das Licht aufdrehte, damit sie wach wurde, danach machte er dasselbe bei seiner anderen Schwester. Beide mussten später auf Arbeit. Ihn würde man niemals etwas anderes als den Haushalt machen lassen. Vermutlich wusste man draußen nicht einmal, das da noch ein Sohn da war. Man hatte ihn zu einem perfekten Haussklaven erzogen.
Mit einem Staubwedel bewaffnet und ein klein wenig wacher, machte Ceri sich daran, in einem der weniger stark frequentierten Bereiche des Hauses Spinnweben von den Wänden zu entfernen. Auch wenn hier selten jemand war, so musste es doch sauber sein, sollte mal Besuch da sein und sich dieser eine Hausführung wünschen. Alles musste vorzeigbar sein. Ungewollt geriet Ceri immer näher an den Raum mit dem Spiegel. Magisch zog dieser ihn an. Sich an seinen Traum erinnernd, trat er näher an diesen heran, doch natürlich war da nichts. Sich die Unterlippe blutig beißend, legte Ceri seine Hand auf das Glas, erwartete Kälte. Doch es war warm, fast schon heiß. Auf einmal zog ihn etwas weg, Schwärze empfing ihn.
„Hallo Ceri, willkommen bei mir“, flüsterte ihm eine Stimme zu. Etwas strich über seine Wange. Verwirrt drehte sich der Achtzehnjährige um. Wie durch einen Schleier konnte er den Raum erkennen, in dem der Spiegel stand. Tief in seinem Inneren wusste er, dass er nie wieder dorthin zurückkehren würde.
Sie hatten schwere Gewitter für die Nacht angesagt. Furchtsam schleppte Tairam seine Bettdecke und sein Kopfkissen in den Keller. Er konnte mit Gewittern nicht umgehen, sie machten ihm Angst. Das alte Haus knarzte bedrohlich und hörte sich an, als würde es jeden Moment auseinanderbrechen. Der Donner war für ihn, als würde die Welt auseinanderbrechen. Nur den Regen mochte er. Wenn es regnete, rollte er sich auf dem staubigen und dunklen Dachboden zusammen und lauschte dem Geräusch. Da er schon seit Jahren alleine mitten im Nirgendwo lebte, störte ihn dabei auch keiner. Hier hatte man keinen Handyempfang und man konnte nur über das Internet Kontakt zur Außenwelt aufnehmen. Doch es war perfekt, denn es gab keine Menschen, er roch keinen von ihnen und musste auch nicht mit ihren Erinnerungen leben.
Im Keller gab es einen schalldichten Raum, in dem nur eine einzelne Matratze lag, auf die er sein Bettzeug warf. Daneben gab es eine einzelne Kerze und eine Taschenlampe. Selbst wenn über ihm das ganze Haus zusammenbrechen oder abbrennen würde, in diesem Raum war er sicher, nichts konnte die dicken Wände und die Stalltür durchdringen.
Bevor der Sturm losging, wollte er noch unbedingt sich etwas zu essen holen. Halb im Kühlschrank verschwindend, holte er sich die letzten Reste eines Joghurts heraus, roch probehalber daran und befand ihn für gut. Morgen würde seine Putzfrau den Kühlschrank wieder auffüllen, während er entweder im Wald oder in seinem isolierten Raum verschwand.
Leise ertönte die Türglocke. Überrascht stockte Tairam mitten in der Bewegung. Er hatte nicht mitbekommen, dass sich jemand seinem Zuhause genähert hatte. Kein Geruch war bis zu ihm gedrungen und normalerweise roch er alles. Neugierig geworden, öffnete er seine Haustür, nicht wirklich daran glaubend, dass sich jemand davor befand. Doch kaum war die Tür offen, wurde er mit komplett weißen Augen konfrontiert, die ihn wissend musterten. Atemberaubende rote Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
„Hallo Tairam, ich bin Jakob, dein neuer Mitbewohner, denn du vom Führer des Tribes zugeteilt bekommen hast.“ An den Tribe hatte Tairam schon lange nicht mehr gedacht, obwohl dieser ihm das Leben am Rande der Zivilisation erlaubte. Im Tribe waren diejenigen Menschen, welche über besondere Fähigkeiten verfügten. Kaum war seine Begabung im Lesen der Vergangenheit anderer Menschen aufgetreten, hatte ihn der Tribe zu sich geholt und versucht, ihm beizubringen, wie er sie gezielt einsetzte, aber es war nie gelungen, die Begabung zu kontrollieren, dafür war sie zu stark.
Auffordernd streckte Jakob ihm seine Hand entgegen, doch Tairam scheute jegliche Berührung. Lachend schlang Jakob blitzschnell seine Arme um den zierlichen Körper Tairams, strich die schwarzen, schulterlangen Haare von dessem rechten Ohr weg und hauchte leise hinein: „Du wirst mich nicht lesen können, deswegen bin ich dein Mitbewohner.“ Das erklärte vieles. Nur die Erinnerung von Sturmabhängigen waren ihm nicht zugänglich, den Grund dafür kannte er nicht und wollte ihn eigentlich auch nie erkunden. Laut dem Führer könnte es mit seiner Gewitterphobie zusammenhängen.
Der auffrischende Wind riss Tairam aus seinen Gedanken. Ängstlich zog er Jakob ins Haus, schloss die Haustür und flitzte zur Kellertreppe. Ein Arm legte sich um seine Taille, riss ihn ruckartig zurück.
„Du versteckst dich nicht mehr vor so etwas Wundervollem. Keine Sorge, er kann dir nichts tun, solange du dich an mich klammerst.“ Wirklich beruhigend war diese Aussage nicht für Tairam. Lieber sprang er von einer Klippe, als bei einem Gewitter nicht in seinem Schutzraum zu sein. Aus seiner Hosentasche holte Jakob Handmanschetten hervor, befestigte diese geschickt an Tairams Handgelenken, der trotz seiner Bemühungen sich nicht aus Jakobs Griff befreien konnte. Dieser war einfach zu stark. Hinter Tairams Rücken verband Jakob die Manschetten miteinander, achtete aber darauf, dass Tairam keine Schmerzen hatte.
Verzweifelt riss Tairam daran, merkte schnell, dass es keinen Sinn hatte. Wütend starrte er den weißhaarigen Adonis an, versuchte sich nicht von dessen Schönheit ablenken zu lassen, wobei ihm da der immer näherkommende Sturm half. Mittlerweile ächzten die Balken des Fachwerkshaus unter dem stärker werdenden Böen. Aus der Ferne hörte man den Donner.
„Shht du Zwerg. Dir kann gar nichts passieren, ich passe auf, dass dir nichts passiert, also halt jetzt schön still und lass mich machen.“ Geschickt warf Jakob sich den sträubenden Kleineren über die Schulter und schleppte ihn nach draußen, direkt in den einsetzenden Regen. Erste Blitze zuckten über den Himmel.
„Der Sturm kommt schneller als geplant, wir müssen uns etwas beeilen, damit wir nicht zu spät kommen.“ Weit ausholend, eilte Jakob über die gerodete Fläche, erreichte den Waldrand und nur Minuten später einen schmalen Pfad, der auf ein Plateau führte. Von dort aus konnte man die ganze Ebene unter sich überblicken. Deutlich erkannte man das Fachwerkhaus, ansonsten gab es keinerlei Häuser und nur die schmale Straße zu seinem Haus existierte, ansonsten beherrschte die Natur das Bild.
Schweigend setzte Jakob Tairam ab, drückte ihn aber nah an seinen Körper, sodass dieser ihm nicht entkommen konnte. Lange dauerte es nicht, bis sie durchnässt waren und das Gewitter direkt über ihnen war. Blitze schlugen in den Stein ein, hinterließen schwarze kleine Löcher. Zitternd verkrallte Tairam seine Hände ineinander, vergrub sein Gesicht in dem weichen Stoff von Jacobs Hemd, bekam dadurch kaum mehr Luft. Es kam ihm vor, als würde er stundenlang in dem Sturm stehen, obwohl er nicht lange andauerte.
„Siehst du, so schlimm war das nicht und das nächste Mal kannst du dir das Spektakel auch angucken.“ Belustigt hob Jakob Tairams Gesicht und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. Erschrocken starrte Tairam in die weißen Augen, wusste, dass das die Strafe dafür war, dass er sich so zurückzog vom Tribe und von sich aus nur sehr wenig Kontakt suchte. Zwar hatte er gewusst, dass er damit dem Führer verärgerte, der darauf achtete, dass sich keiner abspalten konnte, aber er hielt es nicht aus dort. Jede Berührung brachte ihm neue Erinnerungen. Wohl um ihn nicht ganz zu überfordern, hatte man ihm einen Sturmabhängigen geschickt, der bei jedem Sturm rausmusste und ihn garantiert jedes Mal mitschleppte.
Wimmernd zog er an den Manschetten.
„Ach komm Süßer, so schlimm war das nicht und wir können jetzt auch aufs Sofa und uns gegenseitig warmkuscheln, wenn du willst.“ Zärtlich küsste Jakob den zwei Köpfe kleineren, lenkte damit Tairam ab.
Zehn Minuten später lagen sie nur mit Shorts bekleidet und eng aneinander gekuschelt auf dem schwarzen Sofa in Tairams Wohnzimmer.
„Wie lange hat der Führer dich mir auf den Hals gehetzt?“ Träge kuschelte Tairam sich zurecht. Hätte er gekonnt, er hätte angesichts der kraulenden Finger in seinem Haar geschnurrt.
„Solange bis du mehr Kontakt zum Tribe suchst. Da das aber wohl nicht in absehbarer Zeit passiert, wirst du dich mit mir vorlieb nehmen müssen und wenn du ganz brav bist, könnte ich über einige Zusatzleistungen nachdenken, die du garantiert genießen wirst.“ Angesichts dieses Versprechens konnte Tairam sich nicht vorstellen, in den nächsten Wochen oder Monaten Kontakt zum Tribe aufzunehmen, auch wenn er bei jedem Gewitter erneut eine Flucht probieren würde müssen.
Von weit oben sahen die Menschen wie eifrige kleine Ameisen aus. In Cocos Kopf herrschte angenehme Stille, während er sie beobachtete. Ihre Gedanken konnten nicht bis zu ihm dringen. Fast vierzig Stockwerke trennten sie voneinander, eine zu große Entfernung, als das seine Gabe funktionieren konnte. Darum liebte er diesen Ort so sehr. Nichts und niemand fand den Weg hierher, denn das alte Bürogebäude war leer. Niemand arbeitete mehr darin. Vor Jahren hatte ein Mörder sein Unwesen in diesem getrieben, man hatte ihn nie gefasst.
Wind fuhr durch Cocos braune Haare, ließ die schulterlangen Haare fliegen. In sich trug er den Geruch nach Regen. Schon lange hatte es nicht mehr geregnet, die Stadt dürstete nach Wasser. Aber Coco wusste, dass es zu viel werden würde, er ahnte es. Die Kanalisation würde die Wassermaßen nicht aufnehmen können und alles überlaufen. Darauf freute er sich schon, dann durfte er wieder die Gassen erkunden, ohne Angst haben zu müssen, dass zu viele Gedanken auf ihn einprasselten.
Jeder Regenguß trieb die Menschen in ihre Wohnungen, hielt sie regelrecht dort gefangen. Nur ganz wenige trauten sich nach draußen. Angeblich trieb der Mörder noch immer sein Unwesen im Regen. Damals hatte er nur gemordet, wenn es stürmte. Nach jedem Unwetter hatte man ein Opfer gefunden, kunstvoll arrangiert und ohne Blut in den Adern.
Erste Wolken zogen über den Himmel und Hektik brach aus in dem Ameisenhaufen. Alle rannten heim, keiner wollte draußen sein, wenn es losging. Ungeduldig hibbelte Coco herum. Warum dauerte es nur so lange? Er wollte endlich sich seine Beine vertreten und rennen. Rennen bis ihm alles wehtat und er nicht mehr konnte. Vielleicht konnte er irgendwo etwas zu essen abstauben. Zwar brauchte er keine Nahrung, doch hin und wieder mal wieder den Geschmack von dieser zu erleben, ließ er sich nicht nehmen.
Endlich fielen die ersten Tropfen zu Boden, verwandelten sich innerhalb von wenigen Sekunden in eine Sturmflut. Schnell zog er sich sein Oberteil aus, offenbarte einen schmalen Oberkörper, auf dem viele kleine Narben verteilt waren. Zeugnis davon, dass auch er sich einmal in der Hand des Mörders befunden hatte. Er sollte das nächste Opfer werden und war doch das letzte gewesen, nach ihm hatte er sich an keinen mehr vergriffen, sich nur mit den Worten: „Mein Schicksal, mein Leben, mein Engel“ von ihm verabschiedet.
Nach dieser schicksalhaften Nacht hatte sich für Coco alles verändert. Sie waren zu laut geworden, hatten ihn dazu gebracht, sich zurückzuziehen, er galt als einer der vielen Verschwundenen, welche es in dieser Stadt gab. Keiner ahnte auch nur im Entferntesten, dass er tatsächlich noch lebte. Wobei leben vermutlich nicht das richtige Wort war. Zwar schlug sein Herz, doch er veränderte sich nicht, brauchte keinen Schlaf, kein Essen. Auch hatte er keinerlei Körpergeruch mehr und eine Kraft, die selbst ihm unheimlich war. Unsterblich beschrieb ihn ziemlich gut.
Kichernd sprang Coco in die Tiefe, erfreute sich an dem freien Fall. Lautlos und leicht wie eine Feder kam er auf dem Boden auf, rannte sofort los. Nur die Schuhabdrücke auf der nassen Straße zeugten, dass er dort gewesen war. Menschen konnten ihn nicht wahrnehmen, dazu war er zu schnell. Jede Spur, die er hinterließ, verschwand sofort wieder, wurde einfach weggespült.
Begeistert stoppte er hinter einem Restaurant. Ein Bediensteter schmiss gerade etwas weg, bemerkte Coco nicht, obwohl er sich nervös nach allen Seiten umsah. Perfekt verschmolz Coco mit seiner Umgebung.
Hart hämmerten die Gedanken des Mannes gegen seine Schutzschilde, wollten eingelassen und gehört werden. Nur wenige Menschen beherrschten es, ihren Kopf abzuschirmen. Wer sollte auch ahnen, dass es da draußen etwas gab, was ihnen diese ganz einfach stehlen konnte. Hungrig auf den Geschmack seines alten Lebens durchwühlte Coco den Müllcontainer, fand eine volle, noch geschlossene Schachtel gebratene Nudeln.
Sofort drängte sich die Erinnerung an seinen letzten Tag als Lebender in seinen Kopf. Damals hatte er zur Mittagspause auch gebratene Nudeln gehabt, er hatte sich zu seinem zwanzigsten Geburtstat etwas gönnen wollen. Zusammen mit der Packung hatte er an seinem Schreibtisch im Büro gehockt und den Schlieren am Fenster zugeguckt. Draußen hatte ein Sturm getobt und es so gut wie unmöglich gemacht, weiter als fünf Meter zu gucken. Es war schon später Abend gewesen und eignetlich hätte er schon längst Feierabend gehabt, doch sein Chef hatte unbedingt noch die eine eine Präsentation für einen wichtigen Kunden haben wollen und somit war ihm nichts anderes übrig geblieben, als länger zu machen, was am Ende sein Todesurteil gewesen war.
Coco erinnerte sich nur noch daran, wie eine Hand sich auf seinen Mund gelegt und jegliches Geräusch erstickt hatte. Wie durch einen Schleier hallte in ihm die Erinnerung an Schmerzen, schlimmen Schmerzen.
Richtig erinnern tat er sich daran, dass er von einer leisen Stimme wieder geweckt wurde. Über ihm kniete ein vielleicht vierjähriger Junge, welcher diabolisch grinste und über seine Brust fuhr, etwas Blut aufnahm und es ableckte. Auf der anderen Seite von ihm kniete ein Mann, welchen Coco nicht hatte erkennen können, flüsterte ihm diese Worte zu: „Mein Schicksal, mein Leben, mein Engel.“
Nach dieser Nacht hatte man das Bürogebäude vollständig geschlossen, sein Verschwinden hatte man nie aufklären können, vermutlich hatte es auch keiner gewollt, viel zu groß war die Angst vor dem Mörder. Manchnmal hatte Coco das Gefühl, dass der Mörder tatsächlich noch da draußen war. Anscheinend nicht nur er, denn trotz der Tatsache, dass mittlerweile schon einige Jahre vergangen waren, hatten die Menschen Angst vor Unwettern, verbanden es immer noch mit den grausamen Verbrechen.
Sich wieder voll und ganz auf die Gegenwart konzentrierend, sprang Coco in die Höhe, landete auf dem Dach des Restaurants. Mühelos öffnete er das Schloss an dem kleinen Dachgarten, hockte sich unter das gläserne Dach und futterte die Nudeln. Genießerisch schlossen sich seine Augen bei dem Geschmack. Das vermisste er wirklich. Viel zu selten regnete es. Denn nur bei Regen konnte er seinen sicheren Hafen verlassen, selbst Nachts waren zu viele Menschen unterwegs, machten es ihm schwer, aus seinem selbstgewählten Gefängniss auszubrechen. Natürlich könnte er auch aufs Land ziehen, doch das wollte er nicht, dort konnte er nicht von ganz oben einen kleinen Einblick in das Leben der Anderen bekommen, konnte sich keine Geschichten zu den Ameisen ausdenken. Lieber wartete er auf den nächsten Regen, wenn sie alle sich zurückzogen. Vielleicht begegnete er auch irgendwann dem Mann, welchem er das zu verdanken hatte. Tief in seinem Inneren wünschte er sich das jeden Tag, wollte endlich wissen, wer dieser war und was es mit dessen Worten auf sich hatte. Irgendwann würde er es erfahren, da war Coco sich sicher.
Langsam sackte Nio an der Wand nach unten, hinterließ eine rote Spur. Sich selbst verwünschend, presste er eine Hand auf die Wunde an seiner Seite. Fast dreihundert Jahre hatte er in dieser Welt überlebt und nun sollte er wegen eines kleinen dummen Fehlers sterben? Nur weil er sich von einem Hintern, einem zugegebenermaßen sehr ansehlichen Prachtexemplares, hatte ablenken lassen, waren die Jäger überhaupt im Stande gewesen, ihn zu treffen und ihn so schwer zu verletzen, dass er nicht einmal mehr seine Flügel rufen konnte.
Das nervte ihn gerade so dermaßen, dass er am liebsten sich selbst in den Hintern getreten hätte. Er war nie der große Kämpfer gewesen, seine Stärke lag in der Flucht, darum waren seine schneeweißen Schwingen überlebenswichtig für ihn. Mühelos trugen sie seinen zierlichen, ein Meter sechzig großen Körper in den Himmel, außerhalb der Reichweite der Jäger, die es auf sein Leben und vorallem sein Blut abgesehen hatte. Denn wer es trank, errang Unsterblichkeit, ein sehr unschöner Nebeneffekt seiner unterwürfigen Natur. Nun war es wohl soweit, dass er jemanden diese Unsterblichkeit schenkte und er selber auf der Strecke blieb. Verzweifelt versuchte Nio wieder auf die Beine zu kommen, während das Blut unaufhörlich aus der Schusswunde floss. Die letzten Tage hatte er es vernachlässigt, Nahrung zu sich zu nehmen, das rächte sich in diesem Moment. Sein Körper hatte keine Reservern mehr, das Loch zu schließen.
Warm tropfte etwas auf ihn, linderte die Schmerzen, ließ sie in den Hintergrund treten, machte ihn müde. Bevor alles um ihn herum schwarz wurde, nahm er eine Gestalt wahr, die sich über ihn beugte.
Der Tod fühlte sich wirklich gut an. Unter ihm war etwas weiches, das sich perfekt an seinen Körper anpasste, an seinen Rücken schmiegte sich ein muskulöser Körper und Hände strichen hauchzart über seine Haut. So könnte er ewig liegen bleiben, befand Nio, das war wirklich das Paradies. Noch besser wurde es, als der Geruch von Früchten sich in der Luft ausbreitete. Erdbeeren, Kirschen, Mandarinen und noch viele andere konnte er wahrnehmen. Etwas stupste gegen seine Lippen. Ohne die Augen zu öffnen, biss er zu, hatte sofort den Geschmack eines Apfels im Mund, eines wirklich guten. Leises Lachen erfüllte den Raum, kroch in scheinbar jede Ritze, bescherte Nio eine Gänsehaut.
Die Idylle wurde gestört, als sich der Körper hinter ihm aufrichtete, Nio so die Wärme entzog. Murrend rollte er sich zusammen, versuchte sich selber das Gefühl von Sicherheit zu geben, welches zusammen mit dem Körper verschwunden war.
„Shht Engelchen, alles ist gut. Mach mal deine Augen auf und sieh mich an. Tut dir noch etwas weh?“ Lockend strichen Finger über seine Augenlider, doch noch war Nio nicht bereit, sich den Sensenmann anzugucken. Er hatte Angst, dass dann alles weg war und er alleine in dieser Gasse aufwachte oder gar nicht mehr. Dabei war es hier so schön. Als seine Mutter noch gelebt hatte, war es genauso gewesen. An dem Tag als die Jäger sie erwischt hatten, war es damit vorbei gewesen. Ein weiteres Mal wollte er das nicht erleben. Doch der Mann blieb beharrlich, ließ ihm keine andere Wahl.
Vorsichtig öffnete Nio erst ein Auge im Schneckentempo, als sich an seiner Situation nichts änderte, auch das zweite. Vor ihm kniete ein halbnackter Mann, der abgesehen von einer Jogginghose nichts trug, ihn amüsiert und gleichzeitig besorgt musterte. Das musste ein Traum sein. Verwirrt kniff Nio die Augen zusammen, öffnete sie wieder, doch das Bild blieb gleich. Kurzgeschorene schwarze Haare, ein perfekter Körper mit einer Rosenranke, die quer über die rechte Schulter, die Brust und den Bauch verlief, tiefblaue Augen und einen Teller mit Äpfeln zwischen ihnen. Hunger wallte in Nio auf, blitzschnell griff er sich den Teller, flüchtete sofort aus dem Bett und in eine Ecke, wandte dem Raum den Rücken zu. Er würde nicht teilen, auf gar keinen Fall, viel zu lange hatte er nichts mehr gegessen, nun forderte sein Körper Nährstoffe.
„Wie ich sehe, ist anscheinend alles in Ordnung. Bleib in deiner Ecke, ich hole noch noch etwas, du hast garantiert schon sehr lange nichts mehr gehabt, so schlecht wie deine Wundheilung ist. Hätte ich dich nicht rechtzeitig gefunden und mit meinem Blut geheilt, wärst du einfach verblutet, weil irgend so ein Depp meint, er müsse auf Engelsjagd gehen, wie blöd kann man bitte sein? Jeder weiß doch, das man sich damit zu einem Leben in der Höhle verdammt...“ Mehr verstand Nio nicht, weil der Mann sich entfernte. Wenige Momente später war er wieder bei ihm, reichte ihm einen Schüssel mit einer viel größeren Auswahl.
„Du kannst übrigens aus der Ecke kommen, ich werde dir garantiert nichts wegessen. Schließlich hast du es nötiger als ich.“ Belustigt hockte der Mann sich auf das Bett. So ganz realisierte Nio die Worte nicht, ihm war gerade nur wichtig, dass er etwas zu essen hatte und es auch noch gut schmeckte. Dieser Traum wurde von Minute zu Minute besser, hier wollte er nicht mehr weg.
„Verrätst du mir deinen Namen, Engel?“ Zwischen zwei Bissen nuschelte Nio seinen Namen, stopfte sofort noch ein Stück Banane in seinen Mund, schluckte sie fast ohne zu kauen runter. So viele verschiedene Sachen und sie waren alle frisch, nichts altes oder verfaultes. Nio besaß zu wenig Wissen, um einen Beruf der Menschen auszuüben und weil die Jäger immer dicht auf seinen Fersen waren, hatte er auch nie etwas erlernen können, obwohl er es gerne getan hätte. Deswegen war er immer darauf angewiesen gewesen, was die Natur ihm von sich aus gab, was vorallem im Winter ein Problem gewesen war. Deswegen war er selten lange an einem Ort geblieben, sondern immer dem Sommer gefolgt. Wo der Sommer sich befand, dort gab es Nahrung für ihn. Manchmal hatten ihm auch nette Menschen etwas Geld gegeben, damit er sich etwas kaufen konnte, doch viele hatten selber zu wenig um zu teilen und in den wärmeren Ländern hatte es ihm nie gefallen, sodass er nie in Betracht gezogen hatte, dort für länger zu bleiben. An diesem Ort konnte er es sich vorstellen, doch es war nur ein Traum und wenn er aufwachte, wäre er wieder alleine.
„Also Nio ... wie wäre es, wenn du länger bei uns bleibst und wir dich wieder auf die Beine bringen. Mir würde es nichts ausmachen, so etwas niedliches wie dich zu beherbergen. Vermutlich ist ein Beschützer nicht ganz verkehrt, die Jäger hätten dich beinahe erwischt und du scheinst auch nicht stark genug zu sein, deine Nahrung selber zu suchen. Jemand muss auf dich aufpassen und ich würde gerne diese Person sein, wenn du mich lässt?“ Verwirrt löste Nio seinen Blick von den Köstlichkeiten, strich sich eine seiner weißen, schulterlangen Strähnen hinters Ohr, flüsterte leise: „Das ist doch nur ein Traum?“
„Nein, ich habe dich wirklich von der Straße geholt und wäre gerne bereit, die Verantwortung für einen kleinen, uneigenständigen Engel zu übernehmen, einfach weil ich ihn absolut knuffig in seiner Verfressenheit finde und du sehr pflegeleicht zu sein scheinst, will ich, dass du bei mir bleibst, solange es dich hier hält.“
„Darf ich kuscheln?“ Langsam rutschte Nio auf dem Hosenboden näher zu dem Mann, starrte ihn von unten herauf an. Bestätigend und mit einem kleinen Lächeln in den Mundwinkeln nickte dieser. Sofort rutschte Nio näher heran, lehnte sich an das Bein von diesem, ließ dabei keine Sekunde lang die Schüssel los. Hier könnte er tatsächlich für immer leben.
Genüsslich streckte Marlon seine Arme über den Kopf nach hinten und ließ seine Gelenke knacken. Er war fast fertig mit seiner Arbeit, nur noch wenige Zeilen fehlten, dann konnte er den Bericht seinem Chef überreichen. Die tippte er schließlich auch noch schnell, druckte alles aus und schaltete den Computer aus.
Um ihn herum herrschte absolute Stille. Seine Kollegen waren alle schon seit Stunden im Feierabend. Selbst die Putzfrauen hatten ihren Job schon erledigt. Gerade einmal der Sicherheitsdienst befand sich noch im Gebäude.
Nach einem Blick auf sein Handy stellte Marlon fest, dass er nur noch zwei Stunden hatte, bis er wieder antreten musste. Also lohnte es sich nicht, heimzufahren. Schließlich brauchte er knapp eine dreiviertel Stunde, bis er ankam. Da konnte er sich gleich auf seinem Stuhl einrollen und etwas schlafen. Nachdem er seinen Wecker gestellt hatte, tat er genau das. Innerhalb von wenigen Sekunden schlief er tief und fest.
Wie immer betrat Andreas das Büro um Punkt sieben Uhr. Seine Mitarbeiter würden erst in einer Stunde kommen und somit konnte er die Ruhe noch etwas genießen und arbeiten, ohne dass ihn jemand störte.
Irritiert stoppte er und machte einen Schritt zurück. Am hintersten Schreibtisch, kaum sichtbar, hatte sich jemand in einem Stuhl zusammengerollt und schien zu schlafen. Beim Näherkommen erkannte er Marlon. Vor ihm auf dem Tisch lag der Bericht, welchen sein Mitarbeiter für ihn anfertigen sollte und den er heute auf dem Tisch hatte haben wollen. Wobei er damit gerechnet hatte, dass Marlon es nicht schaffte.
Er hatte seinen Mitarbeiter wohl unterschätzt. Vorsichtig hob er den schmalen Körper hoch, merkte dabei, dass sein Mitarbeiter fast kein Gewicht zu haben schien. Außerdem waren die schwarzen Haare sehr lang, sie gingen ihm bis zur Schulter und verliehen dem jungen Mann ein feminines Aussehen. Bisher hatte er ihn kaum wahrgenommen, nur im Vorbeigehen die Arbeit auf den Tisch fallen lassen und Anweisungen gegeben. Mit so einem Engagement hatte Andreas nicht gerechnet.
In seinem Büro gab es eine Couch, wo er normalerweise mit Vertretern von Lieferanten saß. Nun diente sie als Schlafstätte für den jungen Mann. Da er keine Decke da hatte, hüllte er den jungen Mann in seine Jacke. Dabei fiel ihm das Handy auf, welches Marlon in der Hand hielt. Obwohl er es eigentlich nicht gerne tat, entsperrte er es, ignorierte die eingegangenen Nachrichten und deaktivierte den Wecker. Er selber mochte es nicht, wenn jemand an sein Handy ging. Doch dieses Mal diente es einem höheren Ziel. Marlon sollte sich richtig ausschlafen, wenn er schon die Nacht durcharbeitete.
Nachdem das erledigt war, hockte er sich an seinen Schreibtisch und fing an, den Bericht zu lesen. Dabei musste er zugeben, dass es eine wirklich gute Zusammenfassung des Treffens war. Dabei hatte ein Teil des Gesprächs sogar auf Arabisch stattgefunden. Bei dem war Andreas sich sicher gewesen, dass er den Teil im Nachhinein ergänzen müsste. Selbst das hatte Marlon perfekt niedergeschrieben, ohne einen einzigen Fehler. Was nur den Schluss zuließ, dass Marlon diese Sprache beherrschte.
Mit einem Blick zu dem leeren Schreibtisch in dem Zimmer vor seinem Büro überlegte er tatsächlich, ob Marlon die richtige Besetzung wäre. Bisher hatte er nur Frauen im Vorzimmer gehabt, doch diese kapitulierten immer sehr schnell oder erledigten ihren Job nicht gewissenhaft genug. Vielleicht war es an der Zeit, etwas Neues zu probieren. Bei Marlon müsste er eventuell sogar aufpassen, dass er sich nicht überarbeitete und alles zu perfekt erledigte. Wobei genau diese Eigenschaft den unscheinbaren jungen Mann in sein Blickfeld gerückt hatte.
Allmählich wurde Marlon wach. Seine Augen geschlossen haltend, versuchte er, seine Umgebung zu erkennen. Denn er wusste noch ganz genau, dass er in seinem Stuhl eingeschlafen war. Außerdem fühlte er sich zu ausgeruht für nur zwei Stunden Schlaf. Ein einzelnes Tastaturklappern passte auch nicht so ganz zum Büro. Schließlich hob er seine Augenbrauen hoch und musterte seine Umgebung. Aus dem Blickwinkel konnte er den Schreibtisch seines Chefs erkennen. Dieser saß mit dem Rücken zu ihm, raufte sich dabei immer wieder seine grauen Haare. Draußen war es schon hell, also hatte er verschlafen. Vollkommen irritiert suchte Marlon nach seinem Handy. Als er es in der Hand hatte, bemerkte er, dass sein Wecker ausgeschaltet war. Dabei hatte er den definitiv gestellt.
Sein Chef drehte sich zu ihm um, lächelte ihn freundlich an. Noch nie hatte der Mann ihn angesehen oder angelächelt. Immer nur die Unterlagen auf den Tisch geworfen, Anweisungen gegeben und wieder verschwunden. Vielleicht träumte er ja noch.
„Tut mir leid, dass meine Anweisungen so blöd sind. Du hättest nicht die Nacht durcharbeiten müssen. Und deinen Wecker habe ich ausgeschaltet. Also alles in Ordnung.“ Ob wirklich alles okay war, wusste Marlon nicht. Denn die Decke, die auf ihm gelegen hatte, entpuppte sich als die teure Jacke vom Chef. Das Ganze wurde von Minute zu Minute komischer. Als nächstes bemerkte Marlon, dass die Tür geschlossen war und somit das Büro vom restlichen Geschehen abgeschirmt war.
Die erstaunlichsten blauen Augen, die er je gesehen hatte, wanderten unfokussiert durch den Raum, schienen alles zu betrachten. Andreas musterte selber sein Büro. Die sterilen weißen Wände, das eine große Fenster, welches sich in seinem Rücken befand und über die ganze Wand ging, die schwarze Couch mit dem gläsernen Tisch und den Schreibtisch aus Stahl, wo nur ein Stapel Papiere und sein Computer standen. Mehr gab es nicht. Ein kahler Raum ohne persönliche Akzente, einfach ein Ort zum Arbeiten.
Seine Assistentinnen hatten versucht, etwas Leben hinein zu bekommen, doch sie scheiterten immer. Er brauchte so etwas nicht.
„Ich sollte an meine Arbeit gehen“, murmelte Marlon leise, erhob sich und faltete die Jacke ordentlich zusammen, legte sie auf die Lehne. Andreas konnte ihn nicht einfach so ziehen lassen, er wollte ihn sofort auf dem Platz im Vorraum haben. Diese blauen Augen sollten ihn jeden Tag ansehen und bei seinem Anblick leuchten.
„Du bekommst einen neuen Schreibtisch und Arbeitsplatz. Hol deine Sachen und bring sie in mein Vorzimmer. Ab sofort bist du mein Assistent.“ Ein ungläubiger Blick traf ihn, weswegen Andreas noch einmal bestätigend nickte. Es dauerte etwas, bis ein begeistertes Funkeln in Marlons Augen erschien.
„Sobald du dich eingerichtet hast, kommst du bitte zu mir und wir besprechen kurz, was ich erwarte.“ Mit einem leisen gequietschten „Ok“ verließ Marlon den Raum.
Seine Kollegen bekamen nicht einmal mit, wie er aus dem Chefbüro kam. Für sie existierte er vermutlich nicht einmal. Das würde sich aber wohl ändern, wenn er wirklich die Stelle als Assistent der Geschäftsführung bekam. Jeder im Büro wollte sie, weil man da quer durch die Welt reiste und ein mehr als gutes Gehalt erhielt. Wobei es Marlon nicht auf das Geld ankam, sondern auf die komplexen Aufgaben. Bisher hatte er nur einmal als Schriftführer bei einer Konferenz im Haus teilgenommen, da es seit gut drei Wochen keine Assistentin mehr gegeben hatte. Die letzte war weinend rausgestürmt und nicht mehr zurückgekommen.
Abgesehen von seinem Rucksack und ein paar Tafeln Schokolade in einem Fach hatte. Alles einpackend lief er mit geducktem Kopf zu seinem neuen Platz. Nachdem er den Computer hochgefahren und sich kurz orientiert hatte, lief er, nach einem kurzen Klopfen und mit einem Klemmbrett unter dem Arm, wieder ins Chefbüro hinein. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, wartete er ab, bis Herr Schwarz fertig war mit telefonieren. Den Moment nutzte Marlon, um seinen Chef genauer zu mustern. Unter dem schwarzen Anzug verbargen sich garantiert Muskeln und ein Bart verdeckte das halbe Gesicht. Die fast schwarzen Augen konnten einen in Grund und Boden starren. Er war ein sehr schöner Mann.
Genervt tippte der Mann auf seiner Unterlage herum, versuchte eindeutig die Person am anderen Ende loszuwerden. Es klang nach einem Lieferanten.
Sich auf die Lippen beißend, beugte Marlon sich nach vorne, schrieb auf einen Notizzettel, dass der Anrufer einfach eine eMail schreiben sollte mit den wichtigsten Daten. Darunter notierte er die Adresse, welche er auf seinem neuen Computer entdeckt hatte. Herr Schwarz tat genau das, was Marlon ihm vorgeschlagen hatte und konnte das Telefonat innerhalb weniger Momente beenden.
„Danke, der Mann regt mich auf. Ständig will er alles neu verhandeln und höhere Preise für seine Produkte herausschlagen. Dabei gibt es in den letzten Wochen vermehrt Probleme mit der Qualität“, knurrte Herr Schwarz. Ohne Aufforderung setzte Marlon sich auf den Besucherstuhl, nahm das Klemmbrett und machte sich als erste Notiz, dass er jemanden beauftragen musste, Lieferanten miteinander zu vergleichen, um einen guten Ersatz zu finden.
Der halbe Tag verging für Andreas im Flug. So produktiv war er schon lange nicht mehr gewesen. Marlon nahm ihm alle unangenehmen Aufgaben ab, die meiste Zeit sogar ohne Aufforderung. Keine seiner Vorgängerinnen hatte das geschafft. Dabei war Marlon wie ein Geist gewesen. Nur die wirklich wichtigen Telefonate kamen in seinem Büro an. Von Moment zu Moment mochte Andreas Marlon mehr.
Er stellte sich als ein kostbarer Schatz heraus. Gerade saß Marlon auf dem Sofa und übertrug alle Termine in seinen eigenen Kalender. Dabei fielen ihm immer wieder die schwarzen Haare ins Gesicht. Auf einmal wurde Andreas klar, dass Marlon noch nichts gegessen hatte, schon den ganzen Tag nicht. Vermutlich hatte er gestern auch nicht wirklich was gehabt.
„Wenn du fertig bist, lade ich dich zum Essen ein. Das haben wir uns verdient“, bestimmte Andreas deswegen. Er wusste schon ganz genau, wohin sie gehen würden. Das kleine Restaurant befand sich ganz in der Nähe und noch ein Geheimtipp. Sie machten die beste Pasta der Stadt.
Ein skeptischer Blick traf ihn, dann machte Marlon weiter. Sein Assistent schrieb eindeutig mehr in den eigenen Kalender, als in Andreas seinem stand. Das wunderte ihn schon, da würde er nachher mal nachgucken.
Zwei Minuten später brachte Marlon ihm den Kalender zurück, interpretierte den Blick von ihm sofort richtig und gab auch seinen Kalender mit ab. Neben jedem Termin standen kleinere Notizen, was Marlon sich noch an Informationen raussuchen wollte. So stellte Andreas sich einen perfekten Assistenten vor. Er hätte schon eher mal in der eigenen Firma umschauen müssen. Der Goldschatz hatte direkt vor seiner Nase gearbeitet und er hatte Zeit mit dummen Frauen vergeudet.
Mit angehaltenem Atem wartete Marlon auf die Reaktion von Herrn Schwarz. Der lächelte zufrieden, nachdem er den Kalender durchgeblättert hatte. Für ihn schien es okay zu sein, dass Marlon so wenig Wissen hatte und erst alles rausfinden musste. Er hoffte wirklich, dass Herr Schwarz zufrieden mit ihm war, denn es machte richtig Spaß. Wobei er auf das Getuschel seiner Kollegen gerne verzichten würde. Sie hatten es nicht gerade subtil gemacht, als der Erste gemerkt hatte, dass Marlon nun die rechte Hand vom Chef war.
An seinem Computer fing Marlon an, alles zu speichern, was er im Laufe des Tages angefangen hatte. Seine Vorgängerinnen schienen den Computer nur als Zierde gesehen zu haben, denn es hatte sich keine einzige hilfreiche Datei darauf befunden. Also fing er bei null an und musste sich teilweise durch die Firma fragen. Was nicht sehr einfach war, denn viele kooperierten nicht mit ihm.
Als Herr Schwarz neben ihm auftauchte, seinen Mantel über den Arm drapiert, war Marlon fertig und bereit für den Feierabend. Heute Nacht würde er wirklich gut schlafen können. Und da morgen Samstag war und kein Termin anstand, durfte er sogar ausschlafen. Er würde sich jetzt daran gewöhnen müssen, dass er seine Arbeitszeiten an die von Herrn Schwarz anpassen musste. Wenn dieser also Meetings am Samstag hatte, so musste Marlon auch teilnehmen. Genauso wie an Geschäftsreisen. Und das alles am besten spontan. Zum Glück hatte er weder Freunde, Familie, noch Haustiere, wo ihn davon abhalten könnten. Keiner würde sich beschweren, wenn er kurzfristig an einem Samstag in die Firma musste.
„Fahr mir hinterher, wir treffen uns bei einem kleinen Restaurant in der Nähe. Ich lade dich ein und keine Widerrede“, befahl Herr Schwarz ihm. Bis zu dem Moment hatte Marlon es nicht ernst genommen, dass sie gemeinsam essen gehen würden. Aber ihm sollte es recht sein, denn er hatte wirklich Hunger und sein Kühlschrank war leer. Zwar war es erst sechzehn Uhr, doch er mochte es nicht, an einem Freitag einkaufen zu gehen.
Mit einem Lächeln setzte Marlon sich in sein Auto, freute sich auf die weitere Zukunft. Er machte Fortschritte in seinem Leben und das würde sich hoffentlich nicht so schnell ändern.
Frustriert starrte Pino in den Spiegel. In der letzten Nacht hatte er seine Volljährigkeit erreicht und sein magisches Erbe angetreten. Das wäre großartig, wenn er nun keine Katzenohren und einen Katzenschwanz hätte. Damit sah er einfach nur doof aus, fand Pino. Die schwarz-weiß gefleckten Ohren stachen aus seinen ansonst schwarzen Haare heraus. Und der Schwanz machte es wirklich ungemütlich, eine Hose zu tragen. Er musste nun in jede seiner Hosen ein kleines Loch schneiden.
Auch seine Augenfarbe hatte sich verändert. Das vorher eher matte grün war nun strahlend und leuchtete regelrecht. Zum Glück hatte er keine Schnurrhaare. Das wäre etwas zu viel gewesen.
Sich seinem Schicksal ergebend, holte Pino sich eine Jeans und eine Schere. Dabei merkte er, dass er es nicht alleine schaffte. Denn er konnte nicht einschätzen, wo das Loch hinmusste. Also blieb ihm nur noch eine Möglichkeit. Tief durchatmend zog er ein weites Shirt an, dass seine offene Hose verdeckte. Mit einer Hand hielt er sie fest und tapste dann los. Seine Haare waren nun länger und hingen ihm auch noch ins Gesicht. Hoffentlich hatte seine Tollpatschigkeit nun ein Ende. Katzen waren ja bekanntlich elegant unterwegs.
Vor der Haustür seines kleinen Hauses empfing ihn Sonnenschein und das fröhliche Plappern der Nachbarskinder. Zu ihnen wollte Pino auf gar keinen Fall. Ihre Mutter war ein unausstehlicher Drache. Im gegenüberliegenden Haus wohnte ein Mann, der ihm bisher immer geholfen hatte. Es war Pino zwar peinlich, ausgerechnet ihn zu fragen, doch er kannte alle anderen Nachbarn nicht gut genug, um sie um Hilfe zu bitten.
Kurz zögerte er noch, spürte überdeutlich die Blicke, welche auf ihm lagen. Die brachten ihn auch dazu, den Klingelknopf zu drücken. Es dauerte keine Minute, bis Adam öffnete, ihn kurz musterte und in den Flur zog. Ein Lächeln umspielte dessen Lippen.
„Ist es okay, wenn ich eine Freundin anrufe? Sie ist Schneiderin und kann dir sicher besser helfen mit deinem Hosenproblem.“ Der Mann schien ein Gedankenleser zu sein, denn er hatte sofort Pinos Problem erkannt. Gemeinsam liefen sie in die Küche, wo der Tisch für ein Frühstück gedeckt war. Adam holte einen zweiten Teller und eine Tasse, füllte diese direkt mit Milch.
Während Pino ein Brötchen mit Schokolade bestrich, holte Adam sein Handy raus und schrieb an jemanden. Die Antwort schien nur wenige Sekunden später zu folgen.
„Sie kommt in ungefähr einer Stunde vorbei, macht direkt zwei Hosen fertig und nimmt den Rest mit. Es wird auch nicht allzu teuer, da sie dir einen Freundschaftspreis berechnet“, informierte Adam ihn, lächelte dabei zufrieden. Mit vollem Mund nuschelte Pino ein leises „Danke“. Als sich Adam mit seinem Brötchen beschäftigte, nutze Pino den Moment, um ihn ganz genau anzusehen. Er war schon länger in ihn verliebt. Nicht nur das der Mann fantastisch aussah mit seinem Vollbart, den kurzgeschnittenen Haaren und dem kleinen Bäuchlein, für das er sich nicht schämte. Nein, der Mann hatte auch noch eine sympathische Art und nahm jeden für sich ein.
Fertig mit dem Frühstück liefen sie zu Pinos Haus und Adam wühlte sich sofort durch Pinos Schrank, warf alle Hosen auf einen Haufen. Kritisch musterte er jede einzelne, entschied sich schließlich für zwei Jeanshosen, die besonders eng waren und seinen Hintern betonten. Pino hätte andere gewählt, doch er würde Adam nicht widersprechen. Nervös zuckten seine Ohren hin und her. Es war seltsam, mit Adam in seinem Schlafzimmer zu sein und diesen seinen Kleiderschrank durchwühlen zu lassen.
Ein Klingeln an der Haustür rettete Pino aus seiner Situation. Fröhlich pfeifend marschierte Adam zur Tür und öffnete sie. Dank seines gesteigerten Gehörs konnte er das Gespräch an der Tür verfolgen, obwohl er sich noch im ersten Stock befand. Langsam tastete er sich die Treppe hinunter, kämpfte dabei gegen seine Nervosität an. Fremde Menschen hatten ihn schon vor dem Tag seiner Wandlung unruhig gemacht, das war nicht besser geworden. Er wusste nie, wie er sich verhalten sollte. Und seine neuen Körperteile würden seine Gefühlswelt gnadenlos verraten, da er sie noch nicht kontrollieren konnte. Sie führten ein eigenes Leben.
Schließlich stand er direkt hinter Adam, der sich mit der braunhaarigen Frau vor ihm unterhielt. Was sie schon einmal sympathisch machte, dass sie eine graue Jogginghose und ein schlappriges, rotes Shirt trug. Es spannte etwas an ihrem großen Busen, aber sie fühlte sich definitiv wohl darin.
„Das ist deine neue Katze? Niedlich. Na dann sehen wir mal, was wir machen können. Ab ins Wohnzimmer mit euch zweien.“ Sie stellte sich nicht vor, begrüßte ihn nicht, sondern übernahm sofort das Kommando und ließ Pino nicht zu Wort kommen. Während sie Pino ausmaß, redete sie die ganze Zeit mit Adam. Selbst nachdem sie fertig war, ignorierte sie Pino und machte sich direkt an die erste Hose.
Glücklich damit, hockte Pino sich im Schneidersitz auf seinen Lieblingssessel, beobachtete fasziniert Adam. Der gestikulierte beim sprechen lebhaft mit den Händen, schien jedes seiner Worte unterstreichen zu wollen. Schließlich hatte die Frau zwei Hosen fertig, reichte sie an Adam weiter und verabschiedete sich, verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war.
„Um die Bezahlung kümmere ich mich später und sag dir Bescheid. Komm mit zu mir rüber und wir kochen was zu Mittag. Du brauchst ein paar Kilo auf den Rippen.“ Verwirrt starrte Pino Adam an, da dieser ihn anscheinend gerade angesprochen hatte. Nur das Pino so in die Betrachtung von Adam vertieft gewesen war, dass er es nicht mitbekommen hatte. Aus großen Augen sah er zu Adam hoch, der direkt vor seinem Sessel stand.
„Verdammt, du bist so niedlich. Wie soll man da widerstehen?“ Fest packte Adam Pino im Nacken, zog ihn nach oben und küsste ihn.
„Mein kleiner Kater“, flüsterte Adam leise. Seine Hand glitt weiter nach oben, berührte die Katzenohren und kraulte Pino dahinter. Schnurrend drängte Pino sich näher an Adam, wollte mehr von dieser Berührung. Mit einem zufriedenen Laut schob sich die zweite Hand von Adam auf Pinos Hintern, streichelte den pelzigen Schwanz, der unruhig hin und her zuckte, zwang ihn so zum Stillstand.
„Ab sofort kümmere ich mich um dich. So einen süßen Kater darf man nicht alleine lassen. Schon vor deiner Wandlung warst du etwas Besonderes, doch jetzt bist du unwiderstehlich“, wisperte Adam. Mit großen Augen starrte Pino ihn an. Niemals hätte er mit so was gerechnet. Natürlich hatte er es sich erträumt, aber dass es Wirklichkeit wurde, war für ihn undenkbar gewesen und nun stand Adam direkt vor ihm, gestand ihm diese Dinge. Es war ein Wunder, welches er genießen würde. Adam hatte noch nie gelogen, also musste er auch dieses Mal die Wahrheit sagen. Sich über die Lippen leckend, streckte er sich etwas, stoppte unsicher ein paar Millimeter vor Adams Gesicht. Allen Mut zusammenkratzend, überwand er auch diese und küsste Adam. Allmählich drang es auch in seinen Kopf vor: Adam mochte ihn und sie hatten eine reale Chance auf eine gemeinsame Zukunft.
Gemütlich lag Oscar auf dem Sofa, tippte auf seinem Handy herum. In der Küche hörte er seine Mutter und seine Schwester lautstark irgendwelche Rezepte diskutierten. Aus dem Arbeitszimmer konnte man seinen Vater und dessen Bruder hören, wie sie sich über ein neues Projekt unterhielten. In der Eingangshalle rumorte der Butler des Hauses lautstark und verkündete so seinen Protest. So wie jedes Mal, wenn die Damen des Hauses seine Küche in Beschlag nahmen und kochten. Dabei konnten die zwei es wirklich gut. Nur das John ungern Arbeiten abgab.
Jemand zerwühlte seine Haare und lief weiter in die Küche. Schnaubend schüttelte Oscar seinen Kopf mit den grauen Haaren. Ein Fehler der Natur, den Oscar regelmäßig verfluchte. Tatsächlich hatte er schon überlegt, sie zu färben. Nur dass das viel zu viel Aufwand wäre und seine Haare kaputt machen würde. Seit er aus der Schule raus war, akzeptierte er seine Haarfarbe auch immer mehr. Auf seiner Arbeitsstelle sage keiner etwas dazu. Weder in der Ausbildung, noch jetzt, wo er fertig war. Man akzeptierte ihn so, wie er war. Selbst seine Homosexualität war nie ein Problem gewesen.
Eigentlich sollte er mal gucken, wer da gerade an ihm vorbeigegangen war. Seine Schwester und Mutter, sowie sein Vater und dessen Bruder diskutierten noch lautstark. Auch John rumpelte in der Eingangshalle fröhlich vor sich hin. Also musste eine weitere Person gekommen sein. Ihm fehlte allerdings definitiv die Motivation. Nachher würde er es schon erfahren.
Ächzend positionierte er seinen schmalen Körper neu. Da er nur einen Meter siebzig groß war, passte er super darauf, sogar mit ausgestreckten Beinen. Nachteil war definitiv, dass seine Arme zu kurz waren, um an die Schüssel mit den Chips zu kommen, welche auf dem Couchtisch stand. Ein behaarter Arm schob sich in sein Sichtfeld, reichte ihm das Gewünschte. Neugierig blinzelte Oscar durch ein paar seiner Strähnen seines Ponys nach oben. Ryke lehnte sich direkt über ihn, grinste ihn spitzbübisch an. Zum Glück hatte er sich das Erröten schon vor Jahren abgewöhnt. Er mochte den besten Freund seiner Schwester viel zu sehr. Der Mann gehörte zur Familie, da er schon als kleines Kind ständig bei ihnen gewesen war. Er sagte zu Oscars Mutter sogar Mom und sie hatte ihn quasi adoptiert. Er besaß einen eigenen Schlüssel, hatte ein Zimmer und feierte alle Feste mit ihnen.
„Danke“, nuschelte er leise, stopfte sich ein paar Chips in den Mund und konzentrierte sich wieder auf sein Handy, spielte weiter dieses sinnlose Spiel.
„Magst du mich nicht mehr oder warum werde ich ignoriert?“ Ryke hatte sich neben das Sofa gehockt und seine Arme auf der Sofakante überkreuzt, starrte Oscar aus halbgeschlossenen Augen an, als dieser ihm das zuflüsterte. Ein Schlafzimmerblick, vor dem Oscar spontan sofort flüchtete. Wobei er keine Lust auf seine Familie hatte und sich deswegen in sein Zimmer verkrümelte, dabei gekonnt ignorierte, dass Ryke nach ihm rief. Da er das dem Mann gegenüber schon öfters gebracht hatte, machte er sich auch keine Sorgen. Öfters mal hatte Oscar das Gefühl, dass Ryke ihn mit Absicht ärgerte.
Warum hatte die Natur nur so einen perfekten Mann erschaffen können? Genau die richtige Menge Muskeln, rote Haare, die so lang waren, dass er sie zu einem Zopf zusammenbinden konnte, ein Vollbart, ausdrucksstarke braune Augen und einen himmlischen Charakter. Leider lief Ryke gerne mal komplett nackt an Oscars Zimmer vorbei, sodass er auch noch genau wusste, wie gut dieser Mann nackt aussah. Eine super Vorlage für einsame Stunden. Allerdings wäre es sehr klischeehaft, wenn er etwas mit dem besten Freund seiner Schwester anfangen würde. Wobei der garantiert nichts von ihm wollte.
Manchmal überlegte Oscar, ob er nicht doch langsam mal ausziehen sollte. Schließlich war er schon einundzwanzig. Allerdings müsste er in dem Fall auf John verzichten und das wäre schon ein drastischer Schritt. Der Mann las einem leidenschaftlich gern jeden Wunsch von den Lippen ab und erfüllte ihn. Etwas widerwillig hatte er Oscar sogar die Grundlagen des Haushalts beigebracht, sodass Oscar überleben konnte, sollte er ausziehen.
Auf seinem Handy erschien eine Nachricht, dass er zum Essen kommen sollte. Zum Glück bestand niemand mehr auf das gemeinsame Essen an jedem Abend. Nur Sonntagabend mussten sie alle am Tisch erscheinen. Heute war Samstag und somit durfte man essen, wo man wollte. Oscar erwischte den perfekten Moment, um sich einen vollen Teller zu holen. Ryke wurde gerade von seiner Schwester Susann abgelenkt. Die hatte Ryke tatsächlich dazu gebracht, ihr die langen, braunen Haare zu flechten. Sie trug nur eine Jogginghose und einen BH, der ihre große Oberweite gerade so bändigte. Sie war das Ebenbild ihrer Mutter, nur das diese eher elegant gekleidet war. Sie hatten sogar dieselbe Größe.
Obwohl Ryke nach ihm rief, flüchtete Oscar an einem feixenden John vorbei zurück in sein Zimmer, schloss hinter sich die Tür ab. Zu trinken hatte er genug und ein eigenes Bad besaß er auch. Somit musste er erst morgen wieder hervorkommen und sich mit dem seltsamen Verhalten von Ryke auseinandersetzen. In letzter Zeit verschlimmerte sich das Verhalten von Ryke immer mehr, so als ob dieser mit ihm flirtete.
***
Am nächsten Morgen machte er sich schon in aller Frühe etwas zu essen. Bis auf John schliefen noch alle. Und der schrubbte die Küche, wirkte dabei absolut glücklich. Darum ließ Oscar ihn auch allein und verzog sich wieder. Im Schneidersitz machte er es sich auf seinem Bett bequem, vor sich seinen Laptop. Mit einer Hand löffelte er sein Müsli, mit der anderen klickte er sich durch die Posts einer Facebook-Gruppe, suchte sich die unterhaltsamsten heraus und las die Kommentare.
Kurz vor dreizehn Uhr öffnete sich die Tür und seine Schwester kam einfach rein, ließ sich neben Oscar aufs Bett fallen. Obwohl sie ein Tablett voll mit Sandwiches dabeihatte, ahnte Oscar schon, dass sie nicht deswegen bei ihm auftauchte. Hunger hatte er trotzdem und darum stürzte er sich auch gleich auf ein Sandwich.
„Mein allerliebstes Brüderchen: ich weiß ja, dass du nicht so der sozialste Mensch bist, aber könntest du bitte aufhören, Ryke aus dem Weg zu gehen?“ Es war so zuckersüß vorgetragen, dass Oscar es im ersten Moment nicht verstand, weil ihn diese Tonlage verwirrte. Wie ein kleines Mädchen, welches um einen Lolli bat.
„Ähm“, mehr fiel ihm dazu nicht ein. Er konnte seiner Schwester ja schlecht sagen, dass er in Ryke verknallt war und dieser ihn nervös machte. Oder sollte er es ihr sagen, damit sie Ruhe gab und ihn sich weiter verstecken ließ? Oder sie explodierte und machte ihn rund. Ganz genau konnte Oscar es bei seiner Schwester nicht sagen. Öfters mal reagierte sie komplett unerwartet und das nicht nur im positiven Sinn. Darum nickte er nur und widmete sich seinem nächsten Käsesandwich. Musste er sich halt etwas zusammenreißen und seine Gefühle besser verbergen. Blöderweise hatte er nächste Woche Urlaub und konnte sich so tagsüber nicht in die Arbeit verkrümeln.
Obwohl seine Schwester sichtlich nicht zufrieden war mit seiner Antwort, ließ sie ihn wieder allein. Nur das keine fünf Sekunden später Ryke reinspazierte und sich einfach mit aufs Bett fallen ließ, ein Sandwich nahm und auf den Bildschirm vom Laptop schielte. Gelangweilt wandte er sich ab und sah dafür zu Oscar auf. Sich auf seinen vorherigen Vorsatz konzentrierend, lenkte Oscar sich ab, obwohl er am liebsten einen kurzen Klobesuch vorgeschoben hätte, um aus dem Raum zu entkommen.
Wahllos klickte er sich weiter durch die Beiträge, tat so, als ob er was lesen würde. Dabei richteten sich seine ganzen Sinne eher auf den Mann neben sich, der ihm gerade über das Bein strich, dabei immer höher glitt. Dieses Mal konnte Oscar das Erröten nicht unterdrücken. Mit einem Sprung flüchtete er aus dem Bett und wollte zur Tür hinaus. Nur das seine grinsende Schwester diese vor seiner Nase zuschlug und von außen abschloss. Blieb also nur noch sein Bad, wenn die Beiden sich miteinander verbündeten. Allerdings hatte Ryke sich genau dazwischen positioniert und trieb ihn nun langsam rückwärts, bis Oscar zwischen Wand und ihm eingeklemmt war.
„Wir sollten ganz dringend reden. Unsere Familie schließt schon Wetten ab, wann du endlich mal mit der Sprache rausrückst und deine wahren Gedanken offenbarst.“ Immer enger drückte Ryke sich an ihn. Ryke legte seine Hände rechts und links von Oscars Kopf an die Wand und er beugte sich nach unten, sodass ihre Lippen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Langsam näherten sich ihre Lippen, bis sie sich berührten, sanft, vorsichtig, tastend.
„Jedem ist klar, dass wir zusammengehören, nur du sträubst dich, weil du viel zu verkorkst denkst.“ Rykes Hände wühlten sich in seine grauen Haare, brachten die Strähnen komplett durcheinander und hielten Oscars Kopf an Ort und Stelle, damit er nicht entkommen konnte. Wieder berührten sich ihre Münder und Ryke nahm ihn richtig in Besitz. Mit Nachdruck verschaffte sich dessen Zunge Zutritt, erkundete ihn.
„Mein kleiner Graukopf und jetzt können wir deiner Schwester schreiben, dass ihr Plan funktioniert hat, dann lässt sie uns vielleicht wieder frei.“ Obwohl die neuen Eindrücke ihn fast erschlugen, entschlüpfte Oscars Mund ein empörtes: „Blöde Kuh!“ Wobei er ihr dieses Mal dankbar sein konnte, wie er nach einem weiteren Kuss von Ryke feststellen musste. Würde er ihr natürlich nie sagen. Er liebte seine Familie trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb.
Halb auf dem Hals seines schwarzen Hengstes liegend, spielte Ed den halb toten Reisenden. Ein leichtes Ziel für Räuber. Dabei verbarg der schwarze Mantel seine Schwerter und Messer. Wobei man ihn trotz der Waffen nur zu oft für ein leichtes Ziel hielt. Er war für einen Mann sehr klein und zierlich. Selbst manche Frau überragte ihn. Da er aber nicht mit Kraft, sondern mit Technik kämpfte, merkten viele zu spät, dass sie ihr eigenes Todesurteil unterschrieben.
Unaufhörlich fiel der weiße Schnee auf ihn, bedeckte seinen Körper allmählich mit der weißen Schicht. Schon jetzt war um ihn alles herum weiß und die Geräusche gedämpft. Trotzdem hörte Ed die Schritte von ein paar Leuten rund um ihn herum. Sie positionierten sich für eine Falle und das mehr als nur etwas auffällig. Bei normalen Händlern und Reisenden mochte das funktionieren, doch bei ihm nicht. Da sein Gesicht unter der Kapuze verborgen war, brauchte er sein Grinsen nicht zu verbergen.
Seelenruhig stapfte sein Hengst den Weg entlang, schnaubte entspannt. Wenigstens verzichtete er darauf, seinen Kopf zu schütteln. Das wäre etwas ungemütlich geworden und hätte seine Tarnung gefährdet. Mit geschlossenen Augen konzentrierte Ed sich auf die Anzahl der Gegner. Insgesamt kam er auf zwölf. Genau das brauchte er: einen kleinen Kampf, um den Kopf freizubekommen. Seine Familie nervte ihn schon wieder, dass er sich eine Braut suchen sollte. Dabei mochte er Frauen nicht einmal, lieber wollte er einen Ehemann. In den Augen seines Vaters eine Sünde. Obwohl es mittlerweile tatsächlich ganz normal war. Für Allianzen und als Absicherung.
Mit einem Schlag senkte sich die Dunkelheit über die Umgebung, nahm einem jegliche Orientierung. So war es jeden Abend. Nun würden auch die dunklen Wölfe erwachen und sich ihre Beute suchen. Jeder Reisende rastete um die Zeit, entfachte Feuer zur Abschreckung der Tiere, welche die ganze Nacht brennen mussten. Sonst endete man schnell als Futter für die riesigen Wölfe. Sie heulten tatsächlich auch nicht weit entfernt. Ed mochte sie sehr gerne und seltsamerweise griffen sie ihn nicht an. Schon einige Male hatten sie die Chance gehabt, dies zu tun. Stattdessen ließen sie ihn in Ruhe und vernichteten die Überreste seiner Kämpfe. Auch heute würden sie ein Festmahl erhalten.
Da er nichts mehr sah, verließ er sich auf all seine anderen Sinne. Lautlos glitt er vom Pferd, landete im weichen Schnee. Seinen Umhang ließ er auf dem Rappen zurück. Eine leichte Berührung an der Flanke ließ ihn los galoppieren. Er würde später von ganz allein zurückkehren. Eine Fackel leuchtete direkt vor ihm auf, doch der Lichtschein erreichte ihn nicht. Aus seinem Stiefelschaft zog er ein kleines, schmales Messer. Mit der Klinge nach unten bewegte er sich am Rande des Lichts entlang. Immer darauf bedacht, dass die Dunkelheit ihn verdeckte.
„Wo ist er? Findet ihn! Allein sein Pferd ist ein Vermögen wert.“ Sekunden später hörte man von ihm nur noch ein Gurgeln. Lautlos hatte Ed sich ihm genähert und ihm die Kehle durchgeschnitten. Innerhalb von wenigen Sekunden hörte man das Knurren von Wölfen, welche den Körper wegschleiften. Die Männer versuchten noch, die Tiere mit Feuer zurückzudrängen. Dabei übersahen sie Ed, der sich direkt in ihrer Mitte befand. Innerhalb von wenigen Sekunden färbte das Blut eines weiteren Mannes den Boden rot. Die Wölfe nutzten die Lücke sofort aus. Einer stellte sich direkt an die Seite von Ed. Fast schien es so, als würde das Tier ihn schützen. Zaghaft berührte Ed den Kopf zwischen den Ohren, spürte überrascht, wie dieser sich näher drückte.
Am Rande seiner Wahrnehmung stand jemand, direkt neben seinem Pferd. Die Person gehörte nicht zu den Räubern, dazu wirkte sie viel zu ruhig. Als er den nächsten Räuber angreifen wollte, gab es keinen mehr. Der Moment der Unachtsamkeit war für die Wölfe lang genug gewesen, damit sie jeden töten konnten. Von Fackeln beleuchtet, fraßen sie hungrig die Leichen und es wurden immer mehr Wölfe. Interessanterweise störten sie sich gar nicht an dem Feuer oder seiner Anwesenheit. Tatsächlich blieb der eine Wolf sogar an seiner Seite, geleitete ihn zurück zu seinem Hengst und dessen Begleiter.
Erkennen konnte er nichts. In der Nacht waren seine Augen nutzlos. Da müsste er schon Feuer machen und so Licht verbreiten. Doch damit lenkte man auch Aufmerksamkeit auf sich und er gehörte zu den wenigen Menschen, die sich auf ihre anderen Sinne verlassen konnten, um nicht hilflos in der Dunkelheit zu sterben.
Hände umfassten seine schmale Taille und ehe Ed reagieren konnte, wurde er auf den Rücken seines Pferdes gehoben und diesem ein Klaps auf den Hintern gegeben. Es geschah so schnell, dass Ed gar nicht reagieren konnte und es einfach geschehen ließ. Begleitet von dem Wolf kehrte Ed in ihre Burg zurück. Kurz vorm Tor stupste der Wolf noch einmal gegen sein Bein und verschwand im Wald. Alleine betrat Ed den Innenhof, wurde dort schon von seinem Vater erwartet. Wortlos schwang Ed sich vom Rücken seines Hengstes, führte ihn in den Stall hinein und sattelte ihn ab. Dabei ignorierte er, dass sein Vater ihm hinterherging und genau beobachtete. Doch er sagte nichts, wartete ab, bis Ed seinen treuen Begleiter in die Box geführt und gefüttert hatte.
„Ab morgen sind diese Ausflüge vorbei, Eduard. Nachdem du heute wieder eine Bewerberin in die Flucht geschlagen hast, werde ich deinem Wunsch stattgeben. Morgen kommt der Lord des Eislandes und wird dich zu seinem Ehemann nehmen. Damit du nicht vorher die Flucht ergreifst, werden dich zwei Wachen die ganze Nacht beobachten. Die Trauung findet kurz vor der Mittagsstunde statt.“ Entsetzt starrte Ed seinen Vater an, konnte nicht glauben, dass dieser ihn an einen Mann verkaufte, der als grausam und barbarisch verschrien war. Natürlich würde diese Hochzeit eine Allianz schmieden, welche für Frieden sorgte. Sein Vater wusste ganz genau, dass er allein zuliebe der Bewohner ihres Reiches diese Ehe eingehen würde.
Der nächste Tag kam viel zu schnell. Mit dem Morgengrauen wurde er geweckt. Sein Diener warf ihn aus dem Bett und begann sogleich, all seinen Besitz einzupacken. Sogar die Waffen fanden einen Platz in einem der Koffer. Wobei diese tatsächlich den meisten Platz einnahmen. Sonst besaß er nicht viel, obwohl Ed der Sohn eines Lords war und man von ihm erwartete, dass er eine riesige Garderobe sein Eigen nannte. Nur das er nie etwas darauf gegeben hatte. Für ihn gab es Wichtigeres. Der Schutz ihrer Leute war eins der Dinge davon. Deswegen hatte er mit den Ausflügen in den Wald begonnen, um die immer größer werdende Flut an Räubern zu stoppen.
In eine schwarze, schmalgeschnittene Hose, bis zu den Knie gehenden Schnürstiefeln und einem schwarzen Hemd gekleidet, trat er aus seinem Raum. Man hatte ihm sogar die Haare ordentlich geschnitten und sein Gesicht untersucht, ob er mittlerweile einen Bartwuchs entwickelt hatte. Nur dass das nicht passiert war. Obwohl er mittlerweile zweiundzwanzig Sommer zählte, hatte er nie Haare an den Stellen entwickelt, wo es die anderen Jungen bekamen, wenn sie Männer wurden.
Sich seinem Schicksal ergebend, schritt er durch die Gänge und die Treppen hinab, bis er in der großen Halle stand. In absoluter Stille lief Ed den Gang zwischen den vielen Menschen hinab, auf seinen zukünftigen Ehemann zu. Von diesem konnte er nur den Rücken erkennen. Der Mann war riesig und trug ein Breitschwert auf seinem Rücken. Genauso wie Ed war er komplett in schwarz gekleidet. Davon abgesehen konnte Ed nur erkennen, dass der Mann graue Haare besaß.
Brav behielt er seinen Blick auf dem grauen Steinboden. Ab heute würde er der Bevölkerung zuliebe ein braver und gehorsamer Ehemann sein. Auch wenn er damit den Weg in ein unglückliches Leben beschritt. Wirklich viel bekam er von seiner eigenen Hochzeit nicht mit. Erst als er auf den Rücken seines Hengstes gehoben wurde, fing er wieder an, alles um sich herum wahrzunehmen. Gepanzerte Soldaten auf großen Schlachtrössern hatten rund um ihn Position bezogen, schirmten ihn von der schweigenden Hochzeitsgesellschaft ab. Von seinem Ehemann war nichts zu sehen. Vermutlich wurden noch letzte Vereinbarungen getroffen, bevor sie sich auf den Weg machten.
Dann tauchte der Mann auf. Zum ersten Mal konnte Ed ihn begutachten. Markante, kantige Gesichtszüge, die zur Hälfte von einem ungezähmten Bart verdeckt wurden. Stahlgraue Augen musterten ihn kurz interessiert, wandten sich aber fast sofort wieder den Männern um ihn zu. Mit seiner schwarzen Rüstung wirkte er wie der Teufel in Person. Dazu kam noch ein langer Mantel, den er sich nun überwarf. Aus einer Satteltasche holte er einen zweiten, saß dann auf und ritt direkt neben Ed. Mit Schwung warf er den schweren Stoff über Eds Körper, hüllte ihn komplett ein. Sogar die Kapuze streifte er über Eds Kopf.
„Ab heute werde ich auf dich aufpassen, meine kleine Schneeflocke.“ Also würde er Ed vermutlich in einen goldenen Käfig sperren und zu einem Leben als braven Ehemann verdammen. Ed würden die Ausflüge in den Wald definitiv fehlen. Irgendwie kam ihm das alles immer noch sehr surreal vor. Gestern noch hatte er ein freies Leben geführt und nun trug er einen Ehering, der ihn als Partner einer der gefürchtetsten Krieger der Welt auswies. Mit einem leichten Schenkeldruck ließ er sein Pferd lostraben.
Wenigstens hatte er noch etwas Zeit, um sich geistig auf ihre Hochzeitsnacht vorzubereiten. Ed hoffte, dass der Mann das nicht auf der Reise machen wollte, sondern wartete, bis sie dort ankamen. Gemütlich ritten sie den Weg entlang, hinein in den dunklen Wald. Keiner um ihn herum sprach ein Wort.
Je länger sie ritten, desto stärker wurde der Schneefall. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit stoppten sie und errichteten ein Lager. Aus langen Ästen und Planen bauten die Männer kleine Zelte unter den überhängenden Zweigen eines Baumes. Darunter gab es noch einen Bereich, der nicht eingeschneit war. Die Pferde kamen in einen extra abgezäunten Bereich. In der Mitte der Zelte hoben sie ein Loch aus, in dem sie Holz stapelten und es anzündeten. Während sie das taten, kümmerte Ed sich um seinen Hengst, sattelte ihn ab und brachte ihn zu den anderen. Sie beschnupperten sich kurz, machten sich dann gemeinsam über das Heu her.
Jemand hatte bereits einen Topf mit Schnee gefüllt und über das Feuer gehangen. Ein anderer packte Brot und Trockenfleisch aus, verteilte es. Eine besonders große Portion landete vor Ed und sein Ehemann setzte sich direkt neben ihn. Zusätzlich zu dem schweren Mantel über seiner Schulter schlang der Mann seinen Mantel um Ed, zog ihn dicht an seinen Körper.
„Mein Name ist übrigens John. Ich vermute mal, dass das etwas an dir vorbeigegangen ist, da die Hochzeit doch sehr kurzfristig vereinbart und vollzogen wurde. Ursprünglich sollte ich den Sohn eurer Nachbarn als Mann erhalten, doch der verunglückte vor wenigen Tagen in den Wäldern.“ Davon hatte Ed gehört. Wobei verunglückt doch eher die harmlose Version der Realität war. Der törichte, junge Mann hatte sich wohl beweisen wollen und sich mit den Wölfen angelegt. Natürlich hatte er verloren. Man hatte nichts mehr von ihm gefunden.
Apropos Wölfe: diese kamen gerade ganz langsam an. Einer von ihnen rieb seinen Kopf an Eds Schulter, bettelte um etwas zu essen. Mit einem Lächeln reichte Ed ihm ein kleines Stück Brot. Den Rest aß er selber. Dabei spürte er den Blick von John auf sich. Dieser beobachtete ihn dabei die ganze Zeit, strich ihm mit einer Hand durch die Haare am Hinterkopf, zerzauste diese komplett.
„Du warst letzte Nacht dort, oder?“ Aus dem Nichts kam die Erkenntnis in Ed hoch. Die Person in der letzten Nacht war John gewesen. Er wusste Bescheid über seine Aktivitäten in der Dunkelheit.
„Ja, schließlich musste ich auf meinen zukünftigen Ehemann aufpassen. Außerdem offenbarte es mir interessante Seiten an dir, die ich sonst vielleicht nie entdeckt hätte. Und sie gefallen mir viel besser als der brave Ehemann, den ich heute erlebt habe.“ Eines der Tiere leckte ihm über die Wange, bekam dafür sofort eine Kopfnuss von John. Leise lachend kuschelte Ed sich vorsichtig an seinen Ehemann, schloss seine Augen, um etwas zu dösen. Er hatte in der letzten Nacht nicht viel geschlafen und das rächte sich nun.
Mühelos hob John ihn hoch und brachte ihn in eines der kleinen Zelte. Zusammen kuschelten sie sich eng unter dem Mantel zusammen. Zum ersten Mal seit langem schlief Ed fast sofort ein. Ob es an John oder an seiner eigenen Müdigkeit lag, hätte Ed nicht sagen können.
Nach über zwei Wochen erreichten sie die schwarze Burg. Rund um sie herrschte der ewige Winter. In den letzten Tagen hatten die Männer ihm vieles erklärt und auch die Sprache des Eislandes beigebracht. So hatte Ed auch erfahren, dass John bereits einen Erben besaß. Die Mutter des Jungen war bei dessen Geburt verstorben. Seither hatte keine andere Frau es geschafft, das Herz des Mannes zu erobern. Stattdessen hatte er sich für eine Ehe mit einem Mann entschieden, um eine dauerhafte Allianz zu bilden.
Es hätte Ed verletzen sollen, doch er konnte die Gründe nachvollziehen. Derselbe, weshalb er sich nicht gegen die Ehe gewehrt hatte. Die Sicherheit der Untergebenen ging vor. Wenigstens hatte er das Glück, dass sein Ehemann ein netter Mann war, der sich wirklich gut um ihn kümmerte. Bereits am zweiten Tag seiner Reise hatte er ihm erlaubt, seine Waffen anzulegen. Kämpfen hatte er nicht gedurft. Das verhinderten die Soldaten von John, gemeinsam mit den Wölfen. Die machten sich einen Spaß daraus, ihm ständig im Weg zu stehen und ihn zu Boden zu werfen. Wobei sie ihm dabei lauter blaue Flecken verpassten, welche er sicherheitshalber vor John versteckte. Denn nach einem einfachen Kratzer hatte er festgestellt, dass John etwas sehr überfürsorglich sein konnte.
Direkt im Hof der schwarzen Burg hielten sie an. Bevor Ed überhaupt daran denken konnte, abzusteigen, stand John neben ihm, packte ihn an der Taille und hob ihn vom Pferd. Das würde sich wohl nicht so schnell ändern. Allerdings wollte Ed unbedingt einen Mantel, der ihm auch passte. In John seinem fühlte er sich wie ein Kind. Mit einem Lächeln streckte er sich etwas in die Höhe und gab John einen Kuss auf den Bart. Heute Nacht würde er seine Unschuld an ihn verlieren und ab morgen galt er als Burgherr, der sich um einen ganzen Haushalt kümmern musste. Wenigstens brauchte er kein Kind großzuziehen, denn der Sohn war bereits vierzehn Sommer alt.
Genau der tauchte in dem Moment auf, wo John ihn packte und richtig küsste. Ihre Lippen strichen übereinander und die Zunge Johns drängte in seinen Mund. Mit einem leisen Stöhnen gab Ed nach, ließ sich dominieren.
„Vater. Ich sage es nicht gern, aber es muss gesagt werden: solche Intimitäten bitte nicht vor den Augen deines Kindes. Dafür habt ihr einen eigenen Raum, in dem ich das nicht sehen muss. Oder kühlt euch bitte im Schnee ab.“ Leise lachend löste John sich, behielt dabei seine Hand im Nacken von Ed und ließ nur wenige Zentimeter Platz zwischen ihnen, sodass Ed jeden Atemzug auf seinen Lippen spüren konnte.
„Gewöhn dich daran. Frag mal die Älteren hier auf der Burg: mit deiner Mutter war ich genauso schlimm.“ Leicht drehte John seinen Kopf, lächelte seinen Sohn nachsichtig an.
„Und jetzt zeig meinem Mann sein neues Zuhause und stell ihn allen vor. Bitte sorge dafür, dass er sich wohl fühlt.“ Zärtlich streichelte John ihm noch einmal über den Kopf und schickte Ed dann zu seinem Sohn. Einen Moment lang musterte dieser ihn von oben bis unten, reichte ihm danach die Hand und zog Ed in eine Umarmung.
„Willkommen in unserer Familie. Ab sofort bist du dafür zuständig, dass mein Vater mich nicht mehr bemuttert und mir etwas Freiraum gibt.“ Diese Worte gaben Ed ein Gefühl von Heimat, was er bei seiner Familie nie gehabt hatte. Allmählich glaubte er daran, dass er hier ein gutes Leben haben könnte. Obwohl er die kommende Nacht noch etwas fürchtete, freute er sich auf sein restliches Leben in der Burg des Eislords.
Texte: Josephine Wenig
Bildmaterialien: emaria - Fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 06.01.2014
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