F.W.G. Transchel
Die Unwürdigen
Ein Fall für Frederick Wiemersbach
Bookrix Edition
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Gratis-Exemplar von Misa Vebilettis erstem Abenteuer BURST (Teil I)
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Als er die Augen öffnete und den widerwärtigen simulierten Geruch wahrnahm, wusste er sofort, dass etwas nicht stimmte.
Süßlich-muffig war das Aroma der Baracke, in der er lag. Verwesung und Schweiß und Blut und Tränen. Er erkannte es sogleich wieder. Selbst eine Ewigkeit später war die verräterische Mischung aus Tod und Elend und Atmosphäre des Lagers so präsent, dass …
Fehlfunktionen kamen vor, doch dies hier … war anders.
Routiniert drehte er den knochigen, abgemagerten linken Arm auf die Innenseite, um an die Bedienelemente des ultraflachen Armbands heranzukommen.
Er erstarrte und blickte mit vor Angst aufgerissenen Augen die brennende Tätowierung an, die stattdessen auf dem Arm prangte. Wusste, was es war: eine Häftlingsnummer.
Er richtete sich von seinem brüchigen Lager auf und musterte die finstere Stimmung des fensterlosen Raumes, in dem es kein Licht, kein Entkommen und erst recht keine Hoffnung gab. Sah die verschlossenen Fensterläden, die niemals geöffnet wurden. Wähnte die lebenden Toten um sich herum. Würgte.
Hörte, wie die kraftvollen Schläge an die Tür pochten.
Er zitterte instinktiv. Wusste genau, was folgen würde, doch verstand es noch immer nicht. Eben war er zu Hause gewesen … was hatte er falsch gemacht? Wieder drehte er den Arm, suchte die Kontrollen. Nichts.
»Morgenappell!«, rief der Mann in der braunen Uniform, als er krachend die Türen aufriss.
Er wusste, dass er nichts zu essen bekommen würde, aber sein Magen hatte andere Dinge zu tun, als sich zu vergegenwärtigen, dass er von einem Moment auf den anderen vollkommen ausgehungert wirkte.
Ihm tat alles weh, als er mühsam von der Pritsche aufstand und die schmalen Lichtstrahlen sah, die die eingepferchten Menschen – er dachte ganz deutlich das Wort Menschen, nicht Juden, und erinnerte sich doch daran, dass er Juden hätte denken müssen und wusste nicht, warum er das plötzlich wusste – und sah die anderen geisterhaften Gestalten aus der Baracke schlurfen.
»Nicht trödeln«, rief der Mann den vorbeischleichenden Gestalten zu und grinste. »Wir haben heute etwas ganz Besonderes vor.«
Der Aufseher machte eine bedeutungsvolle Pause, als müsse er überlegen, ob er schon die Überraschung verraten dürfe. »Wer Glück hat, darf duschen gehen.«
Natürlich wusste er, was das bedeutete, und er sah genau, dass auch die ausgemergelten Männer es wussten.
Als er den Durchgang erreicht hatte, sah er einen grauen, polnischen Himmel die aufgehende Sonne verdecken und wähnte überall, was er gehofft hatte, niemals mehr erleben zu müssen.
Auschwitz.
Die hohen Wachtürme mit MG-Halterungen und Scheinwerfern, heller als die Sonne. Die endlosen Barackenreihen; selbst an der frischen Luft der nimmer endende süßliche Verwesungsgeruch.
Er hatte zuvor gewusst, was es war, doch nicht, wieso und warum. Sollte er nicht am Strand von Izmir liegen?
Nur die Tätowierung auf dem Arm. Testweise berührte er sie. Es fühlte sich absolut echt an. Beinahe wollte er kratzen und sehen, ob darunter nicht doch die Kontrollen waren.
Dann sah er an sich hinunter.
Sah die knochigen Beine und die Haut, die in Fetzen von den Knochen hing. Er fühlte sich wie hundert und sah doch, dass er kaum dreißig sein konnte. Das ergab doch keinen Sinn. Er war fünfundneunzig und fühlte sich auch so, aber all das hier … das lag weit in der Vergangenheit, oder nicht?
Und selbst wenn nicht, wie kam es, dass er mit den Juden marschierte?
Es war nicht leicht zu verstehen, wie die Todgeweihten gleichermaßen bewegungsvoll reglos und dabei indifferent bleiben konnten, doch routiniert und gleichgültig stellten sie sich in der bekannten Formation auf. Selektion.
Er erkannte den Arzt. Joseph Mengele würde wieder einmal selbst die Selektion durchführen.
Die Mienen der Soldaten schwankten stets zwischen perverser Vorfreude und vorgehaltener Scham. Niemals hatte er verstanden, was sie wirklich dachten. Was er wirklich dachte. Dann kam der Tross näher.
Interesse vorschützend und von zwei Soldaten mit Karabiner im Anschlag eingerahmt musterte der Arzt jeden einzelnen.
»Du.«
»Du nicht.«
»Du schaffst noch.«
»Du auch nicht.«
»Du solltest auch mal wieder duschen.«
Er hatte das Gefühl, dass er Gänsehaut bekommen wollte, doch sein Körper dazu nicht fähig war. Ihn fröstelte, doch statt eines Schauers auf dem Rücken fühlte es sich an, als wurde er kopfüber in ein Fass Eiswasser gehalten.
»Er auch nicht«, sagte der Arzt gelangweilt und blickte ihn überhaupt nicht an.
»Sind Sie sicher?«, fragte einer der Soldaten. Er war jung. Zu jung.
Er erschrak. Er kannte den Mann. Sehr gut sogar.
Er zitterte, als er begriff, dass er sich selbst in die Augen sah. Vor fünfundsiebzig Jahren musste er so ausgesehen haben.
Aufmüpfig fuchtelte er mit seinem Gewehrlauf herum. Begriff, dass er angestarrt wurde und musterte den dreckigen Juden, der es wagte, ihn anzusehen. Räusperte sich.
»Herr Doktor«, sagte er, »sind Sie sicher, dass dieser hier nicht auch duschen sollte?«
Walter erstarrte. Nein. Nicht duschen. Nicht in die Gaskammer.
»Nein«, rief er. »Ich schaffe es schon.«
Wimmerte.
Der Arzt sah in mitleidig an. »Wissen Sie, ich glaube, Sie haben Recht.«
Walter ließ die Schultern hängen, mehr noch als zuvor.
»Na los«, sagte der junge Walter und deutete wieder mit dem Gewehr auf ihn. »Zu den anderen.«
Starr vor Angst und dem Gefühl der Orientierungslosigkeit blickte er den Soldaten ausdruckslos an.
»Was willst du?«, fragte der Soldat. »Soll ich dich etwa abknallen? Freu dich gefälligst.«
Walter sagte nichts, dachte nichts, fühlte nichts. Der musste doch wissen, was passieren würde. Warum tat niemand etwas?
Dann, wie automatisch, spürte er, wie seine schweren Beine auch ohne Entschluss begannen, sich zu bewegen. In eine weiche Wolke aus Ignoranz gewickelt, sah er, wie sein schwacher Körper zu den anderen ging. Zu den Juden, die vergast werden sollten.
Ratlos und zitternd standen sie da, während der Morgen graute und die Kälte des Spätwinters sie hilflos frieren ließ. Ob sie wussten, was passieren würde? Walter vermutete es, hatte es immer vermutet, doch er vermochte ihre Gesichter nicht zu lesen.
Traumwandlerisch drehten sie sich um, als die fernen deutschen Stimmen der Bewacher zu vernehmen waren.
Sie gingen zu den Krematorien. Wie zynisch es war, sie als Duschräume zu tarnen. Walter spürte Galle in seinem Mund. Dazu die Erinnerung an nicht allzu lang zurückliegenden Schweinebraten. Nicht in Auschwitz, sondern in einer anderen, unendlich ferneren Welt. Doch die Krämpfe seines Magens sagten ganz und gar, dass er tagelang nichts gegessen haben konnte.
Die braunen Wege waren matschig von langsam schmelzendem Schnee, und die Kälte unter den nackten Füßen unerträglich. Walter spürte seine Zehen nicht, doch wenn er ehrlich war, spürte er eigentlich überhaupt nichts. Verwirrt darüber, wie um alles in der Welt er nur hierhergekommen war, folgte er stumm der Totenprozession, unfähig, aufzubegehren. Der Irrtum würde sich schon aufklären. Und dann dieser Wächter … er selbst oder nicht er selbst, der hinter ihnen allen ging, mit dem Karabiner im Anschlag … er musste ihn doch erkennen, musste sehen, dass etwas falsch lief … oder nicht?
Der Leichengeruch wurde kräftiger, schien wie unheilvoller Nebel über dem Lager zu liegen. Walter wusste um die Massengräber, alle wussten um die Massengräber. Grotesk, wie sie alle dabei halfen, die, die vor ihnen gekommen waren, zu verbuddeln, während die, die nach ihnen kamen, bald sie verscharren würden.
Walter hielt inne und konzentrierte sich auf das, was davor gewesen war. Wie ein Traum schien ihm plötzlich, dass er ein hohes Alter erreicht hatte und glücklich gewesen war. Doch hier endete alles. Auf einmal.
Sie hatten das Haus erreicht, in dem sie vergast werden sollten.
»Im Vorraum entkleiden«, sagte der junger Walter mit dem Karabiner im Anschlag. Walter konnte die Angst in seinen Augen sehen, dass sich jemand widersetzen würde. Er wusste nicht, was er getan hätte, wenn jemand auf ihn zugekommen wäre. Wenn jemand sich geweigert hätte. Walter hatte niemals schießen müssen und er wusste auch nicht mehr, ob er es getan hätte.
»Dann langsam in die Duschen gehen«, fügte der Junge hinzu. »Nicht trödeln.«
Walter wagte es erneut, dem jungen Mann, seinem jungen Selbst, in die Augen zu blicken und sah nichts als Angst und Verzweiflung. Nein, er würde nicht da hineingehen so wie die anderen. Sehenden Auges in den eigenen Untergang. Wer tat so etwas?
»Hier gibt es ein Missverständnis«, sagte er schließlich, seiner Lage scheinbar völlig gewahr. »Ich bin gar kein Jude.«
»Natürlich bist du einer«, sagte der ältere Wachmann. »Und schmutzig bist du auch. Ab in die Duschen.«
»Nein!«, rief Walter dem jungen Walter zu. »Ich gehöre nicht hierher! Das müsst ihr doch sehen!«
»Ruhe jetzt«, zischte der junge Walter zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Geh schon.«
»Nein«, schrie Walter und sah die ganze Ausweglosigkeit seiner Situation. Sah die anderen, die sich längst ausgezogen hatten und nicht wagten, ihre Stimme zu erheben. Nackt und ausgemergelt warteten sie, dass er zu ihnen kam.
Niemand sprach ein Wort.
Walter zitterte am ganzen Körper und wusste, dass er nicht hineingehen durfte, dass es sein Tod wäre und dass der hier draußen auch wartete.
»Ihr könnt mich nicht brechen«, schrie er und, selbst überrascht über das letzte Aufflammen von einem fernen Echo von etwas, das einmal Lebenswille gewesen sein mochte, begann er, aus vollem Leib zu laufen.
Er hörte die Rufe, doch er verstand sie nicht.
Hörte die Schüsse, doch sah sie nicht.
Spürte den Schmerz, doch fühlte ihn nicht.
Bemerkte distanziert, wie er zu Boden fiel, wie ihm heiß und kalt und schwummerig wurde.
Sah den Schatten seiner selbst im Dreck von Auschwitz verbluten. Sah, wie der junge Walter ihn hasserfüllt anstarrte. Nicht, weil er leben wollte, sondern weil er ihn gezwungen hatte, zu töten. Weil er beinahe dafür gesorgt hatte, dass er sich selbst vergaß.
Und dann war es dunkel, und alles und nichts war vorbei und es gab keinen einzigen Walter mehr.
Frederick Wiemersbach gähnte und nahm noch einen Schluck Kaffee aus seinem schicken, beheizten Akkubecher.
Er hatte die Haltestelle erreicht, faltete die Morgenpost zusammen und stieg aus der U-Bahn. Genoss das Rauschen des geschäftigen Morgens und machte sich auf an die Oberfläche des Molochs, den sie Hamburg nannten und der, so schien es ihm, in der auf dem Wasser reflektierten Morgensonne gleichermaßen gähnte.
»Morgen, Fred«, sagte jemand von der Seite.
»Hallo, Ralf«, sagte Wiemersbach und musterte Ralf Rathmeier, den Karikaturisten.
»Früh heute, was?«, sagte er lustlos, da Ralfs seltene Anwesenheit ihn daran erinnerte, dass Redaktionskonferenz war.
»So früh wie jede Woche, oder?«
»Schon recht«, sagte er und bemühte sich, bis hinauf zu schweigen. Rathmeier war es recht, er verstand sich aufs Zeichnen besser denn aufs Reden.
Sie fuhren gemeinsam in den elften Stock des verspiegelten Reflektor-Hauses, das den beabsichtigt futuristischen Charme als Erbe seiner Erbauer nicht hatte einfangen können.
Am Eingang des Seminarraumes lagen die frischen Magazine, die am Samstag erschienen waren.
Wiemersbach verabschiedete Rathmeier, der seinen üblichen Platz bei den Feuilletonisten einnahm, und wandte sich nach rechts zur Fensterseite.
Es roch nach Kaffee, Schweiß und Keksen.
»Morgen, Fred«, sagte Sven Larsson. Wiemersbach kannte ihn nur flüchtig. Larsson war Skandinavien-Korrespondent und auch eher selten am Platz. Umso erstaunlicher, dass er ihn ansprach. Aber Frederick Wiemersbach wusste, wieso. Vier Wochen Undercover machten die Leute interessiert.
Er nickte Larsson zufrieden zu und setzte sich hin, wobei er seine Morgenpost wieder ausrollte, damit er nicht noch mehr gestört würde. Las irgendetwas über LKW-Karambolagen bei Moorfleet und Drogenrazzien auf St. Pauli. Langweiliges Hamburg.
»Hab gehört, der Co. war ganz zufrieden mit der Wojcek-Story.«
Wiemersbach drehte den Kopf nach rechts und blickte geradewegs in die orangefarbene Sonne über den Elbbrücken. Ismail Güslem stand, in ein grotesk unpassendes Halo aus schmuddeligem Hamburger Licht getaucht, vor der Stuhlreihe und nickte ihm freundschaftlich zu.
»Das werden wir wohl bald herausfinden«, sagte Wiemersbach, doch er musste grinsen. Güslem hatte recht. Die Zugriffszahlen der Online-Ausgabe waren phänomenal gewesen.
Eigentlich machte er das ja nicht, aber zu so einer Gelegenheit musste auch er seine Scores checken. Siebenhundertfünfzig Kommentare. Dreitausend Likes. Ungewöhnlich, selbst für eine Enthüllungsstory.
»Hmm-hmm.«
Das Flüstern und Raunen im Saal erstarb auf der Stelle.
»Guten Morgen allerseits.«
Mit ernster Miene stand Hilde Fornstweigh am Kopfende des Seminars und blickte erwartungsvoll in die Runde.
Wiemersbach spürte ein Zwicken am Hals und kratzte sich so unauffällig wie möglich. Nachdenklich stierte er in seinen Kaffeebecher und wartete.
»624.328«, sagte die Chefredakteurin.
Augenblicklich schwoll das Gemurmel wieder an.
Fornstweigh hob die Hände und lächelte – ein Ausdruck, den Wiemersbach nur selten gesehen hatte.
»Herzlichen Glückwunsch, alle zusammen.«
Erst zögerlich, dann schneller, schließlich stürmisch schwoll der Beifall an. Er hatte die Zahlen nicht alle im Kopf, aber das Ergebnis musste das beste im letzten halben Jahr sein. Mindestens.
»Wir wollen«, begann Fornstweigh wieder, »nicht vergessen, wo wir herkommen. Der Reflektor hat sicher schlechtere Zeiten erlebt, doch ganz fraglos auch bessere. Ich bin immer stolz auf das gewesen, was wir geleistet haben, und wir sollten nicht vergessen, dass jede Nummer neu verdient werden muss. Heute gibt es keine Manöverkritik, aber das bedeutet nicht, dass wir nicht Kleinigkeiten hätten besser machen können.«
Wiemersbach blickte nach links, nach rechts, zurück nach vorn. Keine öffentliche Kritik an Artikeln, die nicht gut angekommen waren? Rasch nahm er noch einen Schluck Kaffee. Das Ergebnis musste also sehr gut sein, wenn das übliche Auspeitschen der rituellen Sündenböcke Politik und Investigativ ausblieb. Unmerklich entspannte sich sein Nacken. Eine Woche … Galgenfrist?
Ismail Güslem drehte sich zu Wiemersbach um. »Ich nehme nicht an, dass die Ressortkonferenz auch ausfällt?« Er feixte.
»Du kennst doch Ruhmckorff«, sagte Wiemersbach so leise wie möglich und rollte mit den Augen.
Güslem nickte. »Er wird die Gelegenheit nutzen, meinst du nicht?«
Wiemersbach nickte. Der Ressortleiter Investigativ würde sich gewiss nicht auf einzelnen Erfolgen ausruhen und keinesfalls gelten lassen, dass der Titel, der immerhin von ihnen stammte, maßgeblich zum Erfolg beigetragen haben musste. Nein, er würde ganz sicher darauf hinweisen, welche »sachdienlichen Unzulänglichkeiten» die Kommentarspalten und Forumstrolle in den letzten zwei Tagen zusammengetragen hatten, und die Gelegenheit nutzen, seine Redakteure trotzdem herunterzuputzen.
»Wiemersbach! Güslem!«
Erwin Meier winkte vom hinteren Ende des Raumes. Er war aufgeregt … nein, man konnte sagen, richtiggehend verängstigt.
Mit finsterer Miene bedeutete er beiden, die Stuhlreihen zu verlassen.
»Hab Ruhmckorff gerade gesprochen«, sagte er finster. »Scheint nicht gerade gute Laune zu haben.«
»Also alles wie immer«, meinte Güslem.
»Schhh«, machte Meier unruhig und erinnerte die beiden Kollegen daran, dass er, kaum dem Volontariat entstiegen, noch kein dickes Journalistenfell hatte, dessen Ressortleiterimprägnierung einen erfahrenen Investigativen vor allzu harscher Chef-Schelte schützen konnte.
»Nu mach dir nicht ins Hemd«, sagte sogleich Güslem, während sie sich mit den anderen Redakteuren aus dem Seminarraum zwängten. »Der Artikel ist von Fred, also kriegt er's auch ab.«
Meier seufzte. »Er sollte lieber eine Flasche Schampus aufmachen.«
Frederick Wiemersbach lachte. »Das würde er nicht mal, wenn der Artikel von ihm wäre.«
»Vorsicht«, sagte Güslem, »was ihn betrifft, ist er das ja.«
»Natürlich«, brummte Wiemersbach matt. Es stand zwar im Print und Online sein Name darunter, doch hausintern wurde sein Chef nicht müde zu betonen, wer die Struktur und Vorgehensweise ›koordiniert‹ hatte, was nichts anderes bedeutete, als dass er seine Investigativen so sehr bevormundete, dass es geradezu erstaunlich war, welch Erfolg in derartig eingeschränkter Arbeitsweise möglich war.
»Gehen wir?«, fragte Erwin Meier.
»Ich will ma' noch eine rauchen«, verkündete Güslem. »Wenn der Alte ohne mich anfängt, kann er ja auch ohne mich schimpfen.«
»Das macht er sicher ohnehin«, bestätigte Wiemersbach.
»Na klar«, meinte Güslem und verschwand im gläsernen Aufzug hinter einem halben Dutzend Online-Redakteuren.
»Hat gut reden«, sagte Meier. »Noch drei Wochen Deadline.«
»Du bist nächste Woche dran?«, fragte Wiemersbach.
»Hmm-hmm.«
»Ja, cool.«
Meier sagte nichts.
Ruhmckorff war natürlich schon da.
Wie ein angebundener Tiger stolzierte er um die Flipchart-Staffelei herum. Hinter ihm zeigte die Elbe die verwaschenen Einzelheiten des Zollhafens im braunen Brackwasser und spiegelte mit diesem Bild seinen eigenen Geisteszustand perfekt wieder – zumindest fühlte es sich in Wiemersbachs Kopf so an .
»Guten Morgen, meine Herren, guten Morgen«, sagte er mit gespielter Freundlichkeit. »Hoffe, die Chefin hat Ihnen ordentlich Zucker in den Hintern geblasen.«
Erwin Meier nahm sein Tablet heraus und setzte sich, ohne etwas zu erwidern.
»Mit Sahne«, sagte Wiemersbach und blickte Ruhmckorff streitlustig an.
»Außerordentlich witzig«, sagte der Ressortleiter. »Möchten Sie die große oder die kleine Hafenrundfahrt?«
Meier sah den Chef angewidert an. Wiemersbach zuckte mit den Schultern und hob lediglich eine Augenbraue. »Sie sagen, wo's lang geht.«
»Das will ich auch meinen«, sagte Ruhmckorff ohne jede Gefühlsregung. »Wo bleibt eigentlich der Taugenichts Güslem?«
»Ich bin hier, Chef, danke der Nachfrage«, antwortete der Deutschtürke, der betont gelassen in den Besprechungsraum schlenderte – wissend, dass ihn hier und heute niemand dafür zurechtpfeifen würde, nicht einmal der cholerische Abteilungsleiter.
Wiemersbach wusste, dass nur die ersten Minuten nach der Zigarette so entspannt waren, und beneidete ihn irgendwie darum, im Angesicht eines solchen Vorgesetzten so etwas sagen zu können.
Insgeheim hatten sie gemeinsam beschlossen, Ruhmckorff nach Kräften zu unterstützen, egal, was er vorhatte. Auch wenn er die Zuneigung niemals erwidern würde, so schien es ihnen doch ein guter Plan, ihn wegloben zu lassen.
›Intrige bei Reflektor Investigativ‹, hatte Güslem getitelt, und Meier und Wiemersbach hatten leise gekichert. Montagmorgens in der Ressortkonferenz jedoch weichte die feine Linie zwischen einem leichten Spaß von Kollegen und der bitteren Notwendigkeit der Redaktionsrealität gefährlich auf. Wiemersbach bedachte Güslem mit einem bedeutungsschwangeren Blick, doch der feixte, als er sich endlich hingesetzt hatte, nachdem er im Nikotinüberschwang eine halbe Ewigkeit damit verbracht hatte, das viel zu große Fenster anzukippen, um vor allem ihm, aber auch den anderen bitter nötigen Sauerstoff zu verschaffen.
»Können wir dann?«, fragte Ruhmckorff unnötigerweise und brummte etwas Undeutliches. »Also schön.«
Erwartungsvoll sah er in die Runde der drei Redakteure. Wehmütig erinnerte sich Wiemersbach daran, dass einmal zehn oder mehr Menschen diesem Ressort angehört hatten, doch Digitalisierung und Niedergang des Journalismus hatten ihnen nach und nach die Lebensgrundlage entzogen – selbstverschuldet, wie manch einer kleinlaut zugegeben hätte, doch damit mochte er sich nicht aufhalten. Er sah, wie Ruhmckorffs ohnehin finstere Miene sich noch weiter verdüsterte und er langsam wie ein mit militärischer Präzision ausgerichteter Artillerielauf Wiemersbachs Nasenspitze ins Visier nahm.
»Man hört, dass das Haus mit der Wojcek-Story recht zufrieden ist …«, setzte er an. »Ich bin es natürlich nicht.«
Wiemersbach versteifte sich unwillkürlich. Ein drohendes Unwetter vorauszusehen, war eine Sache. Es dann zu erleben … er erschauderte. Unterwürfig deutete er ein Nicken an, doch erstarrte er augenblicklich wieder, als sein Chef fortfuhr.
»Die Struktur ist zwar besser als zuvor, doch insgesamt fehlt mir der Spannungsbogen. Die Enthüllung kommt einmal mehr viel zu früh. Wie oft habe ich schon gesagt, dass die Indizien nach und nach eingestreut und erst am Ende zum Luftröhren-zuschnürenden Gesamtpaket verwoben werden sollen?«
Wiemersbach sah seine Kollegen betreten zu Boden blicken. Er nickte jetzt heftig.
»Ich dachte ...«
»Genau das ist das Problem«, keifte Ruhmckorff. »Anstatt meine Anregungen aufzunehmen, denken Sie sich was anderes aus, dessen einzig vermeintlich positive Eigenschaft stets darin besteht, dass es von Ihnen ist.« Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn.
Wiemersbach fand es unvorstellbar, wie sich jemand über einen guten, aber nicht perfekten Artikel so aufregen konnte.
»Für die Zukunft in aller Deutlichkeit: Staatssekretäre gehören gefoltert, nicht exekutiert. Merken Sie sich's.«
Wiemersbach nickte noch einmal heftig und wagte kurz, sich zu entspannen …
»Soooo …«, sagte Ruhmckorff, als taxiere er die nächste Feuerleitlösung seiner Geschütze. »Güslem?«, fragte er.
»Es sieht folgendermaßen aus ...«
»Ich habe noch keinen Entwurf gelesen«, sagte er. »Heute Nachmittag.«
Fasziniert, mit der widerlich objektiven Distanz des Reporters sah Wiemersbach, wie Ismail Güslem sich am ganzen Körper verspannte, bis er wie eine kaputte Puppe über dem Stuhl hing und zu schwitzen begann.
»Heute Nachmittag …«, begann er vorsichtig, »… habe ich einen Termin bei ...«
»Is' mir egal«, knallte die Ruhmckorff'sche Artillerie. »Neunzehn Uhr. Damit ich es zum Feierabend lesen kann.«
»Ja, Chef«, sagte Güslem und ließ die Schultern, für Sekundenbruchteile einziger beweglicher Teil seines Körpers, noch weiter hängen.
»Und Meier.«
Augenblicklich änderte er seine Blickrichtung. »Ihren Entwurf habe ich bekommen.«
Der junge Redakteur schluckte. Wiemersbach würdigte innerlich, dass der Mann noch nicht so abgestumpft war und, auch wenn es sich um vergebliche Mühe handelte, immerhin wieder und wieder versuchte, das Feedback, das unzweifelhaft folgen würde, ernst zu nehmen …
»Gequirlte Scheiße.«
Erwin Meier sank in seinem Stuhl zusammen.
»Höflich wie eine alte Hausdame bei den Windsors versuchen Sie der Stuttgarter Raiffeisen nachzuweisen, dass die Bilanzen von 2015-17 frisiert sind. Finden Sie nicht, dass der Ton die Musik macht?«
Meier sagte nichts, sondern starrte Ruhmckorff aus großen, beinahe kindlich unschuldigen Augen an.
Wiemersbach wusste die Ironie zu schätzen, dass ausgerechnet Ruhmckorff über die Wirkung von Betonung und Aufmachung hinwies, aber er wagte es nicht, einen solchen Einwurf, wie er bei sprachaffinen Teams eigentlich Anklang hätte finden müssen, anzubringen.
Wie ein Irrer starrte Ruhmckorff Erwin Meier an. »Wenn wir ihnen am Zeug flicken wollen, dann müssen wir das auch tun, indem wir ihnen am Zeug flicken und nicht, indem wir ihnen die Hemden bügeln, verstanden?«
Meier sagte nichts. Ruhmckorff schien dennoch mit sich und dem Monolog zufrieden und tat, was unausweichlich folgen musste – er wandte sich wieder Wiemersbach zu.
»Sie brauchen natürlich ein neues Projekt«, flötete er.
Wiemersbach machte, was er immer unternahm, wenn sein Chef rhetorische Fragen stellte. Er nickte und blickte so freundlich drein, wie es jemand ohne Schauspielausbildung in dieser Situation eben konnte.
»Ich hatte darüber nachgedacht, im Zuge der Wojcek-Sache noch mal beim Innenministerium zu suchen. Ich meine, irgendjemand dort muss eigentlich von den Zahlungen gewusst haben. Und wenn wir es schaffen könnten zu zeigen, dass der Minister ...«
Ruhmckorff grinste raubtierhaft. Bleckte die Zähne und schien aufrichtig zu genießen, was folgte, als er in Zeitlupe den Kopf schüttelte.
»Es gibt da ein kleines Dorf im Landkreis Vechta«, sagte er. »Hummel von der Online-Redaktion West hat mich darüber informiert, dass dort vor zwei Tagen offenbar bekannt geworden ist, dass ein uralter Mann sozusagen posthum als KZ-Aufseher identifiziert wurde. Da scheint einige Aufregung deswegen zu sein. Eine der letzten Gelegenheiten, Nazisuppe mit echten Zutaten zu kochen.«
»Aber ...«
Wiemersbach hasste Ruhmckorffs Idee jetzt schon. Er hasste die Provinz und er hasste die Nazikeule. Seit das Magazin vor einer, nein, gefühlt bald zwei Ewigkeiten mit den Tagebüchern diesen Mist verzapft hatte …
»Was ist der Aufhänger?«, fragte er betont gelangweilt.
»Die Dorfgemeinschaft veranstaltet da wohl so eine Art Hexenjagd. Vermutet irrsinnigerweise ein ganzes Nest von Altnazis bei sich.«
»In-te-res-sant.«
»Ganz genau. Zwei Wochen, mehr nicht.«
Wiemersbach schluckte. Doch bevor er etwas erwidern konnte, war die Redaktionskonferenz auch schon vorbei und Ruhmckorff nur noch ein Echo der Vorstellung eines hinauseilenden Rückens.
Güslem legte entspannt die Füße auf den Tisch und atmete mit laut rasselnder Raucherkehle aus. »Lief ganz gut, hmm?«
Erwin Meier nickte resigniert. »Das war ungefähr, was ich erwartet hatte. Fred?«
Wiemersbach taxierte die Elbausläufer und schüttelte den Kopf. »Ich hasse die Provinz.«
»Du meinst Ruhmckorff.«
»Ich meine alles.«
Obschon er nach der Redaktionssitzung noch einmal ausführlich über die Aufgabe in der Provinz geklagt hatte, war Frederick Wiemersbach dann doch irgendwie zufrieden, der Enge des Reflektor-Hauses gleich wieder entfliehen zu können. Er musste außerdem nicht durch die ganze Republik kurven, sondern hatte nur ungefähr eineinhalb Stunden Autobahnfahrt vor sich.
Nicht einmal ein Hotelzimmer brauchte er, und abends nach Hamburg zurückkehren zu können, ließ ihm die Aufgabe doch erträglicher erscheinen.
Bevor er sich jedoch auf den Weg machen konnte, musste er sich die genauen Umstände der Geschichte besorgen.
Vier Stockwerke unter dem Ressort Investigativ lag die geballte Ladung der Online-Lokalredaktionen – oder das Großraumbüro namens Masthalle, dessen Spitzname nicht von ungefähr kam, denn entweder die herangezogenen Journalisten wurden aussortiert wie unzureichende Zuchtbullen oder weiterverteilt an die – Wiemersbach hielt in Gedanken belustigt inne – »komplexeren» Ressorts. Eingepfercht in ein aus wenige Quadratmeter großen Bürozellen bestehendes Großraumbüro arbeiteten vor allem Praktikanten und Volontäre daran, Nachrichten, die nicht von deutschlandweitem Interesse waren, in die entsprechenden Sektionen einzustellen – und nicht selten mehrere Dutzend am Tag.
Wiemersbach wusste das natürlich, obschon ihm das seltene Privileg zuteilgeworden war, als abgeworbener Volontär aus Süddeutschland der Tretmühle zu entgehen, und entschloss sich aus genau diesem Grund, nicht eine Mail zu schreiben oder anzurufen, sondern Marcel Hummel persönlich aufzusuchen.
Zuständig für Westfalen und den Teil Norddeutschlands westlich der Elbe, tippte dieser eifrig an den Kommentaren einer Fotoserie über die Bauarbeiten am Jade-Weser-Port, als Wiemersbach den nach Schweiß und Überstunden und längst vergessenen Hoffnungen riechenden Raum betrat.
Routiniert stellte er sich bei Hummel vor. Natürlich gab es erhobene Augenbrauen hier und da, denn zweifellos war er seit der letzten Ausgabe einer der neuen Helden der jungen, unverbrauchten Idealisten hier unten.
»Ich mache eine Story über den SS-Mann aus Vechta, der posthum ganz schön Furore macht, wie man hört«, sagte er freundlich.
»Ah ja?«
Hummel war ein schlaksiger Volontär, der der Ordnung auf dem Schreibtisch nach zu urteilen noch nicht lange dabei sein konnte – trotzdem war sein Rücken bereits krumm und die Augen von Schlafmangel gezeichnet.
Wiemersbach wusste, dass seine eigenen Arbeitszeiten nicht viel anders aussahen, doch immerhin fühlte sich Enthüllungsjournalismus besser an. Der junge Mann zog eine Grimasse. »Und?«
»Ich wüsste gerne alles, was Sie darüber haben«, sagte Wiemersbach freundlich und betont zurückhaltend. Er hätte auch Ruhmckorff erwähnen und die Hierarchie ausnutzen können …
»Äh. Nichts.« Verwirrt blickte Hummel den gewissermaßen übergeordneten Wiemersbach an. »Soll ich Ihnen die Pressemitteilung der … äh, Oldenburgischen Volkszeitung ausdrucken?«
Dankbar nickte Wiemersbach. Das war doch ein Anfang. Er spürte Ärger über Ruhmckorff aufsteigen, doch er belehrte sich selbst, dass es den Zorn kaum wert war.
Mit einer Mischung aus Langeweile und schlafentzugsbedingtem Stress auf der kraftlosen Miene hielt Hummel ihm das Papier hin.
»Da.«
»Danke schön«, sagte Wiemersbach. »Ich weiß, dass Sie nichts dafürkönnen, aber mehr haben Sie ganz bestimmt nicht dazu?«
Ratlos nickte der Volontär und strafte ihn mit einem Blick, der deutlich zum Ausdruck brachte, dass er Wiemersbach für offensichtlich überschätzt hielt, wenn er so unwissend seine nächste Story begann. »Ganz bestimmt nicht.«
Und hatte er unrecht? Jetzt ärgerte er sich doch über seinen Ressortleiter. Diese ganze Geschichte, wurde ihm klar, war eine Bestrafung, nichts weiter.
Wiemersbach verabschiedete sich so höflich, wie es eben ging, und überließ Hummel und die anderen ihrer Tretmühle und den düsteren Gedanken der Masthalle.
Grummelig ließ er sich von seinem Padphone die ganze Fahrt über sämtliche Ticker-Nachrichten über den verstorbenen SS-Aufseher vorlesen.
So langsam manifestierte sich ein bestimmtes Bild über den Aufruhr in Wiemersbachs Verstand, doch je mehr er hörte, desto weniger war er überzeugt, dass die Geschichte dahinter etwas hergab, das ihn fordern würde.
Er dachte nicht mehr an Ruhmckorff, sondern sorgte sich darum, etwas Interessantes aus dem Umstand zu machen, dass einer der letzten Täter des dritten Reiches gestorben war und damit die Republik noch ein letztes Mal leise daran erinnerte, dass so etwas wie Kollektivschuld – obgleich für seine politische Ausrichtung schon immer fragwürdig – endgültig der Vergangenheit angehören musste.
Wenig überraschenderweise fand er genau solche Blogposts und Twitter-Nachrichten, die sarkastisch kommentierten, dass sich niemand darum scheren müsse, und innerlich stimmte er zu – allein, das gab keinen guten Reflektor-Aufmacher ab. Nein, Wiemersbach besaß genug Berufsethos, den Artikel nicht zu schreiben, bevor er wenigstens gesehen hatte, was es zu sehen gab.
Die Straßen wurden nach Süden hin schlechter, doch das kannte er von anderen Reisen durch Niedersachsen. Bei Bremen stand er natürlich am Kreuz, doch der nicht enden wollende Eindruck der kompletten Belanglosigkeit lenkte ihn, für ihn selbst unfassbar, lange genug ab, dass er vollkommen unbefangen war, als er die Autobahn verließ und im Nichts zwischen Bremen und Osnabrück ein kleines Dorf namens Varrelhövede ansteuerte.
Ein vages Echo des Journalisten-Anstands in ihm fragte heimlich, warum er nicht Gesprächstermine mit den wichtigen Persönlichkeiten des Dorfes vereinbart hatte, doch Wiemersbach begnügte sich damit, dass das »in der Provinz» schon noch leicht herauszufinden wäre. Er war lange genug dabei, dass er daraus, wie die Leute miteinander umgingen, schließen konnte, wen zu fragen sich lohnte.
Vor dem Ortsschild bereits war ein erstes Transparent an die die Straße einfassenden Bäume gespannt.
»Varrelhövede – Für immer Nazi-frei»
Interessiert musterte der Journalist den Text. Bedachte den Bindestrich mit einem kritischen Blick und sauste darunter hinweg. 'Also, wenn die wirklich glauben, dass es reicht, einen 95-jährigen Alt-Nazi nicht zu ersetzen, dann ist hier einiges im Argen.‹
Konnte also doch interessant werden.
Wiemersbach fuhr auf den Hof des weitläufigen Geländes vor einem Supermarkt gleich im sogenannten Industriegebiet des Ortes, der laut Wikipedia kaum 4000 Einwohner hatte. Sein Smartphone hatte die Demographie Varrelhövedes noch nicht prüfen können, doch die Dichte an Seniorenwagen auf dem Parkplatz am späten Vormittag hinterließ nicht gerade einen jugendlichen Eindruck.
Einerlei.
Er stieg aus und steuerte das in den Supermarkt integrierte Bäckerei-Bistro an. Die Erfahrung des Enthüllungsjournalisten diktierte, dass es hier Information aus erster Hand gab. Lauwarm vielleicht nur, doch immerhin aus der Nähe.
Der Supermarkt war bis auf ein paar Rentner und einräumende Angestellte vollkommen leer. Genau richtig, um Smalltalk in der Bäckerei zu führen.
Doch natürlich war Reden nicht alles. Zuerst kaufte er von einem Fleischberg von Verkäuferin namens ›H. Vollmer‹ einen Kaffeepott und zwei Zimtschnecken, die ihn bis über den Mittag bringen würden. Das Lokalblatt nahm er in einer nachträglichen Eingebung noch dazu.
»Mächtig Wind wegen dieser Nazi-Geschichte«, sagte er beiläufig und raschelte mit dem Leitartikel, der keine neuen Informationen enthielt, wohl aber persönlichkeitsrechtlich bedenkliche Bilder der armen Angehörigen zur Schau stellte.
»Mach'n Sie Witze?«, fragte Frau Vollmer. »Die ganze Stadt redet von nichts anderem.«
»Ich ...« Wiemersbach räusperte sich. »Bin nur geschäftlich hier. Aus Hamburg. Ich möchte nicht respektlos erscheinen. Woher die Aufregung?«
»Tja ...« Die Bäckerei-Wuchtbrumme wischte sich mit dem hygienebedingt vorgeschriebenen Plastikhandschuh die Nase ab. Wiemersbach erschauderte, als er darüber nachdachte, dass sie wahrscheinlich die nächsten Brötchen so einpacken würde, doch er sagte nichts.
»Wie bitte?«, fragte er stattdessen.
»Tja«, sagte die Frau erneut, »schätze, die Nachricht, dass ein waschechter KZ-Aufseher in ihrer Mitte gelebt hat, schmeckt den Varrelhövedern nicht so recht.«
Jetzt kapierte er es. Die Frau war nicht aus dem Ort.
»Das kann man schon verstehen, was?«
Die Frau machte ein gequältes Gesicht. »Alles katholisch hier.«
»Wie bitte?«
Wiemersbach vermutete zwar, was sie damit sagen wollte, doch die lokale Lesart war wichtig.
Die Frau zuckte die Schultern. »Ich glaube, es hat mit der Beichte zu tun.«
Er blickte sie fragend an. 'Investigative Aushorchtaktik par excellence', dachte er belustigt. Und bei einer Bäckereiverkäuferin allemal wirksam.
Frau Vollmer blickte ihn fassungslos an. »Sie sind wirklich nicht von hier, ne?«
Wiemersbach schüttelte dankbar den Kopf.
»Außerhalb von Bayern und… na ja, dem Vatikan, finden Sie kaum eine katholischere Gegend. Und wenn man dann sowas hört ...«
Der große Bauch unter dem Schildchen von ›Fr. H. Vollmer‹ bebte auf und ab und war Wiemersbach ein großartiger Beweis seiner Menschenkenntnis. Wenn die Frau recht hatte, dann würden nicht viele andere Leute so auskunftsfreudig sein. Und es ergab Sinn. Düster erinnerte er sich an die Worte eines alten Kollegen, der ihm stets eingeschärft hatte, dass religiöser Eifer nicht weit von faschistoider Ideologie zu finden sei. Ein KZ-Aufseher, und wenn er auch alt und klapprig war, war ein Affront gegen die vorherrschende gute Welt, in der jeder in den Himmel kam.
»Der SS-Mann erinnert sie daran, dass wir alle fehlbar sind«, sagte Wiemersbach ins Unreine und begriff erst nachträglich, dass er Frau Vollmer gerade eine besonders gute Zeile seines Artikels diktiert hatte.
»So genau weiß ich das nich'«, sagte die Frau und begann gelangweilt, den Tresen mit Spülmittel zu bestäuben, um ihn daraufhin blank zu wischen. Wiemersbach wusste, dass das Gespräch für sie vorbei war, doch er hatte auch genug erfahren.
»Sagen Sie … wo finde ich die Wortführer dieses … Aufruhrs?«
Wieder gezuckte Schultern. »Hammelbach hat sich der Sache angenommen, sobald die Zeitung was geschrieben hat. Muss er ja wohl.«
Hammelbach … Wiemersbach hatte den Namen schon aufgeschnappt. Doch wie genau …
»Der Bürgermeister«, sagte Frau Vollmer.
»Natürlich. Danke.«
»Da nich' für.«
Wiemersbach nickte, packte die zweite Zimtschnecke zurück in die Tüte und nahm den letzten Schluck Kaffee.
'Hammelbach‹ gab er auf dem Weg zum Auto ins Smartphone ein. Und wo war eigentlich das Rathaus?
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Varrelhövede war ein, wie er aus der Wikipedia lernte, sogenanntes Angerdorf. In der Mitte des Ortes fand sich ein relativ breiter Platz mit der unvermeidlichen Kirche, in diesem Falle geweiht dem Heiligen Bonifatius.
Wie es im südlichen Teil Westniedersachsens üblich war, bestand die Kirche aus einem einschiffigen Grundriss, der sich am Ende zu einem Querschiff verbreiterte, in dem die Sakristei untergebracht war. Nicht, dass Frederick Wiemersbach das interessiert hatte, aber dieser eine Artikel über manipulierte Grundbucheinträge im Osnabrücker Raum von vor ein paar Jahren kam einfach immer wieder in seinen Verstand, wenn er sich in der Gegend aufhielt.
Insgesamt war der Stadtmensch Wiemersbach von den Ausmaßen und der Bescheidenheit eher unterwältigt, doch machte er sich darauf gefasst, dass er, obwohl vor langer Zeit aus steuerlichen Beweggründen ausgetreten, den guten Christen mimen musste, wenn er beim überalterten Landvolk ankommen wollte.
Das Rathaus lag gegenüber dem kleinen Teich hinter der Kirche, zumindest glaubte er das.
Obschon er es bereits an der Bäckerei bemerkt hatte, war die Luft ganz anders, als er es aus Hamburg kannte. Es roch nach geschnittenem Gras und dem zugewachsenen Teich nebenan, doch Wiemersbach argwöhnte, dass der Hauptgrund für sein Stutzen das fehlende Salz in der Luft war.
Klein und unscheinbar verputzt lag das moderne Rathaus versteckt im Schatten der Kirche. Ein vergilbtes Schild bescheinigte ihm, sich vor einem Ort mit der amtlichen Bezeichnung 'Varrelhövede, Stadt Vechta, Büro des Ortsbürgermeisters, Sprechzeiten nach Vereinbarung‹ zu befinden. Er versuchte gar nicht erst, Sinn aus dem niedersächsischen Beamtendeutsch zu machen und klopfte kurz entschlossen an die Tür.
Keine Antwort. Warum auch. Schließlich war Ortsbürgermeister kein Vollzeitjob.
Wiemersbach seufzte und zog sein Smartphone wieder aus der Jackentasche. Vielleicht konnte er es den zweifellos vielen anderen Journalisten gleichtun und eine Handynummer des Bürgermeisters herausbekommen.
Er fand schließlich die Webseite der Stadtverwaltung Vechta.
›In dringenden Fällen wenden Sie sich bitte an das zentrale Rathaus‹, stand da an der Stelle, wo er Kontaktinformationen über Hanns-Peter Hammelbach zu finden gehofft hatte.
Wiemersbach ärgerte sich, dass er sich nicht besser vorbereitet hatte, und beschloss, sich das Dorf ein wenig näher anzusehen. Vielleicht fand sich ja jemand, den er fragen konnte.
Wobei … vielleicht war es auch nützlich, erstmal den Bürgermeister genau zu durchleuchten. Wenn er schon nicht seine persönliche Nummer haben konnte, so konnte er sich immerhin informieren.
Hammelbach war, ohne dass Wiemersbach überrascht gewesen wäre, eine Art lokale Größe. Chef eines kleinen mittelständischen Unternehmens, regierte er sein Dorf nicht nur als ehrenamtlicher Bürgermeister, er war natürlich auch Vorsitzender des Sportvereins und der Gemeindeverwaltung.
Wiemersbach hatte so etwas schon dutzende Male zuvor gesehen. Er wusste, wie es auf dem Land zuging. Wenn einer sich kümmert, dachte er, kann er sein eigenes kleines Reich haben.
Dutzende Artikel der Lokalpresse fanden sich. Hier etwas gespendet, dort engagiert. Vordergründig mochte das alles sehr positiv sein, doch Wiemersbach roch nur eines: rücksichtlosen Opportunismus. Er steckte das Telefon wieder weg und begann, die Hauptstraße hinunter zu spazieren. Zwei Wochen hatte Ruhmckorff ihm gegeben. Das Schreiben des Artikels würde ein paar Stunden dauern, aber nur, wenn er bis dahin etwas zu erzählen hatte. Und nur eine Provinz-Posse über alte Nazis war ihm zu platt. Nicht, dass es nicht geklappt hätte oder er handwerklich nicht in der Lage gewesen wäre, über das wenige, was er bis jetzt wusste, vier bis fünf Reflektor-Seiten zu füllen – er sah es als seine journalistische Pflicht an, Hintergründe zu bieten, die über das, was man sehen konnte, hinausgingen. Und bisher, vermerkte er stolz in Gedanken, hatte es auch eigentlich immer geklappt.
»Hammelbach Konserven«, diktierte sein Gedächtnis der Suchmaschine. Schnell hatte er eine Nummer gefunden.
Der jugendlichen Stimme nach hatte eine Praktikantin den Telefonhörer abgenommen, doch es handelte sich dem Vernehmen nach um seine Sekretärin.
Einerlei.
»Ich würde gerne mit Herrn Bürgermeister Hammelbach sprechen«, sagte Wiemersbach. »Wegen der Nazi-Sache, genau … Nein, nicht am Telefon … Vom Reflektor, meine Dame … Ja, ich habe heute Nachmittag Zeit.«
Verdattert blickte er auf sein Telefon. Die Frau klang gestresst und überaus bemüht. Abgesehen von der Pressemitteilung würde er keine Auskunft bekommen, hatte sie gesagt und das bedeutete schlechterdings, dass er etwas anderes vorziehen musste, ehe er Hammelbach noch einmal bearbeitete: Den 'Tatort‹ zu besichtigen.
Als er die Straße zu jener Autobahnauffahrt nahm, die näher bei Vechta und weiter von Hamburg entfernt lag, wunderte er sich. Walter Kwasniewski musste für sein Alter noch ziemlich rüstig gewesen sein, wenn er allein den Weg zur Spielhalle auf sich nahm, und das alles für ein wenig Zerstreuung.
Von weitem war die große, wenigstens 20 Meter hohe Werbebande zu sehen, die mangels Interessenten ihre eigenen Dienste auf einer ›50 m² großen Plane‹ anbot. Autobahnwerbung hatte sich ihm niemals erschlossen, und hier, mitten im Niemandsland zwischen Ruhrgebiet und Hamburg, sollte sich so etwas lohnen?
Daneben, etwas dezenter zwar, doch noch immer überlebensgroß und mühelos von der Autobahn aus zu erkennen, eine dralle Plastikblondine, die sich um einen Fahnenmast räkelte. Der Autohof verfügte über ein Hotel, einen Erotikshop, zwei Fastfood-Restaurants und Wiemersbachs eigentliches Ziel, die Spielhalle namens »Venus Virtual«, deren Benennung auch ausländischen Kraftfahrern klarmachen sollte, dass alle Arten von Programmen zum Repertoire gehörten.
Wiemersbach schauderte, als er sich zwang, genauer darüber nachzudenken, was die virtuelle Realität mit der Erotikbranche gemacht hatte. ›Medienrevolution‹ nannten es die einen, und er erinnerte sich düster, wie es BUNT genannt hätte – »Die Masturbarevolution ist da.«
Er war sich nicht sicher, welcher Ramschblattredakteur Urheber des Begriffes war, allein, er musste eingestehen, dass es nicht weit davon entfernt war, zu stimmen. Der schick verklinkerte, achteckige Grundriss der Spielhalle zeugte davon, Geld für architektonische Extrawürste übrig zu haben.
Erst ein einziges Mal hatte er eine VR-Brille aufgehabt, und das auch nur zu Demo-Zwecken auf der CeBit. Als er den Laden betrat, schwappte ihm eine Woge viel zu künstlichen Plastikgeruchs entgegen, der ihn vage an frisch aus der Packung geschälte Laptops erinnerte. Was genau hatte er hier vor?
Zweifellos war der VR-Laden in den letzten Tagen von Journalisten belagert worden. Zufrieden macht er sich klar, wie nützlich es mitunter sein konnte, als investigativer Journalist nicht immer mit dem Strom schwimmen zu müssen. Nein, manches Mal war es besser, die Abfälle der abgezogenen Kollegen wie ein Archäologe auf ihre Nützlichkeit zu untersuchen.
»Was kann ich für Sie tun?«
Ein dicker Mann mit Halbglatze in einem abgetragenen Nadelstreifenanzug kam aus einem Raum hinter dem Tresen hervor.
»Ich ...« Wiemersbach zögerte. Vielleicht war es hier nützlicher, den neugierigen Laufkunden zu geben.
»Ich möchte mich etwas entspannen.«
Der Mann musterte ihn mit jener Art vielsagendem Blick, den er sonst nur von Zuhältern und Drogendealern kannte.
»Oh«, lachte er, »nicht die Art von Entspannung. Nur mal reinschauen. Landschaftlich interessant. So was.«
Der Mann nickte und blickte Wiemersbach auf eine Art an, die ihm zu verstehen gab, dass er wirklich kein Porno-Programm bekam. »Schon verstanden.«
»Wunderbar.«
»Halbe Stunde? Stunde?«
Verwirrt musterte er das Preisplakat. Darüber hatte er jetzt noch gar nicht nachgedacht.
»Was kostet das?«
»Halbe Stunde 39 Euro, ganze Stunde 75.«
Wiemersbach seufzte. Konnte er im Zweifelsfall eher nicht als Spesen abrechnen. »Ich nehme das Einstiegsprogramm.«
»Wunderbar«, sagte der Mann, ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken und zeigte wieder sein schmieriges Lächeln. »Haben Sie eine genauere Vorstellung davon, was Sie sehen möchten, oder möchten Sie den Katalog anschauen?«
Wiemersbach hatte keine Lust, immer gleich aufgebaute Hochglanzfolien durchzublättern, die am Ende doch alle wie schlecht gemachte Reiseprospekte aussahen. »Empfehlen Sie mir einfach etwas.«
Der Mann nickte, doch man konnte ihm ansehen, dass er sich aus irgendeinem Grund damit schwertat.
»Momentan wollen alle unser Marmaris-Programm sehen. Ist aber, wenn Sie mich fragen, etwas ausgenudelt. Wie wäre es mit dem Taj Mahal?«
»Marmaris?«
»Südwesttürkei. Azurblaues Wasser, Strände, und so.«
»Aha.« Wiemersbach zögerte. Gab es eine Möglichkeit, diskret herauszubekommen, was Walter Kwasniewski gesehen hatte?
»Wieso ist dieses Programm so beliebt?«, fragte er.
Der Mann hinter der Theke hob die Schultern in die Höhe und ließ sie theatralisch wieder fallen. »Wir haben vor ein paar Tagen … sagen wir, einen Zwischenfall gehabt.«
Er machte ein Gesicht, als würde ihm jemand Nase und Mund zugleich zuhalten. »Ein ziemlich alter Kunde ist an einem Herzanfall gestorben. Und dann stellte sich heraus, dass es darum ein ziemliches Medien-Bohei gab.«
Mit keinem Wort erwähnte er den Grund für die Aufregung. Wiemersbach wusste, warum, doch er war überrascht, dass man in der Provinz so schnell die Tragweite des Todes des letzten KZ-Aufsehers begriffen hatte. Mhh.
'Der letzte KZ-Aufseher.‹
Wiemersbach nahm den Begriff aus seinen Gedanken und drehte ihn ein paar Mal im Kopf herum. Das war ein prima Arbeitstitel – und, wenn sich nichts Besseres fand, auch Artikelname. Nicht schlecht.
»Oh, ich glaube, ich habe davon gehört«, antwortete Wiemersbach schließlich arglos. »Die Technik ist aber sicher, oder?«
Der Verkäufer nickte heftig. »Der Typ war uralt. Hat nichts mit dem Holodeck zu tun.«
»Na gut …«, meinte Wiemersbach und täuschte falsche Zweifel vor. »Dann nehme ich dieses Marmaris.«
»Wunderbar.«
Der Mann entspannte sich und reichte Wiemersbach einen dieser Transponder, die wie eine Art Gestenerkennungsfernbedienung funktionierte. Nachdenklich blickte er auf das kleine Plättchen in der Hand.
»Ich, äh … bin zum ersten Mal hier«, sagte er.
»Kein Problem«, antwortete der Betreiber. »Da vorn ...« Er deutete auf eine Art Anzeigetafel vor einer Sitzgruppe, die mehr wie ein Arztwartezimmer anmutete. »Da vorn werden Sie aufgerufen, wenn eine Kabine frei wird. Wir haben leider immer noch eines der Holodecks von der Polizei gesperrt. Wegen der Ermittlungen.«
Wiemersbach nickte mitfühlend. Als Journalist wusste er nur zu gut, dass am Ende des Tages auch negative Aufmerksamkeit eben doch Aufmerksamkeit war, und zweifelte nicht daran, dass die Spielhalle seit dem Zwischenfall praktisch ausgebucht gewesen war. »Ha ja«, sagte er uninspiriert und ging zu einem in heruntergekommene Plastikfolie eingefassten Ledersessel.
Er konnte jetzt erkennen, dass es insgesamt vier Kabinen gab, die die Unterhaltungsindustrie in einer brillanten Werbekampagne als ›Holodecks‹ betitelt hatte und von denen eine ›außer Betrieb‹ war und drei weitere ›besetzt‹ anzeigten.
Wiemersbach wähnte unter den diversen Frauenzeitschriften, die ihn beinahe an klar geschlechtsspezifisch ausgerichtete Friseursalons erinnerten, einen etwas älteren Reflektor. Zufrieden schielte er auf das Cover, das einen müden Wirtschaftsminister und seinen Staatssekretär zeigte, der nicht gut weggekommen war.
Seine Aufmerksamkeit verlagerte sich schließlich zurück auf die restlichen Hochglanzmagazine und fragte sich, was die Auswahl der Lektüre eigentlich über die Nutzergruppe der Spielhalle aussagte. Ein paar Jahre nach ihrer Einführung hatte die vollumfängliche Virtual-Reality-Technologie noch immer den Nimbus, lediglich von technikaffinen, jungen Nerds genutzt zu werden, doch langsam dämmerte ihm, dass hier etwas ganz anderes abging.
Von einer seltsamen Eingebung beseelt googelte er ›Heftromane Holodeck‹ und staunte nicht schlecht. Er hatte früher mal über den Niedergang der Groschenromane recherchiert und erinnerte sich nur zu gut daran, einen Absatz dem Thema Pornographie gewidmet zu haben und warum Frauen ihre Ablenkung dezenter mochten. Doch als er sich durch diverse Online-Treffpunkte las, deren aktuellste Gespräche sich um nichts anderes als Holoschmonzetten drehten, begriff er, dass die neue Art Spielhalle die Killerapp für frustrierte Hausfrauen und sozialphobische Freaks gleichermaßen war – und entschied sich, unbedingt in seinem Notizheftchen festzuhalten, dass es offenbar nicht nötig war, dieses Alleinstellungsmerkmal offensiver zu verkünden.
Wiemersbach erinnerte sich an das Image der Groschenromane früherer Zeiten und vermutete, dass es sich genauso verhielt: Jeder wusste, worum es ging, aber öffentlich eingestehen würde es niemand. Abseitig fragte er sich, wann es den ersten Skandal geben würde, dass ein Politiker seine Frau mit einer virtuellen Phantasie betrogen hätte, doch er begriff, dass Erpressbarkeit an dieser Stelle sehr viel höhere moralische Standards verlangte, als sie momentan noch herrschten. Vielleicht in Bayern, dachte er amüsiert und vernahm ein leichtes Klicken, gefolgt vom grünen Aufleuchten seines Holodeck-Slots auf der Anzeigetafel.
Er stand von dem schmatzenden Sessel-Plastik auf und machte sich auf den Weg, den spärlich beleuchteten Korridor entlang, dessen große Türen in jeweils eine einzelne Kabine führten. Die Ähnlichkeit zu Stundenhotels, Bordellen oder illegalen Spielcasinos war zwar wahrscheinlich nicht gewollt, aber doch kontextuell unvermeidbar und entbehrte nicht einer gewissen Komik. Gleichgültig spazierte er an den ersten beiden Kabinen vorbei, die weiterhin durch unvermindert rotleuchtendes ›besetzt‹-Zeichen den Toiletten-Anzeigen jedes Eisenbahnunternehmens der Welt Konkurrenz machten, und kam schließlich zu den nächsten Türen, von denen eine mit straff gespanntem Flatterband, einem Oxymoron, das er sich selbst mental hoch anrechnete, abgesperrt war. Gegenüber leuchtete das fahle, wenig einladende Grün des freien Holodecks.
Wiemersbach roch irgendeine mechanische Flüssigkeit und Rosenduft und sah nur den taktilen Feedbackanzug, der seltsam verloren auf dem Stuhl in der Mitte des ansonsten vollkommen leeren Raumes lag.
Er schloss die blechern klappernde Tür und näherte sich langsam, beinahe andächtig der Technologie, die, wie es hieß, ›Träumen nebensächlich werden ließ‹.
Im Dämmerlicht des nur von unscheinbaren Laserstrahlen an den Grenzen des begehbaren Areals und einer altmodischen, flackrigen Leuchtröhre an der Decke beleuchteten Raumes wähnte Wiemersbach die samten schimmernden, in jede Richtung beweglichen Bodenplatten unter seinen Füßen, ohne festmachen zu können, wie sie funktionierten. Überhaupt erinnerte er sich daran, Artikel über die Technologie gelesen zu haben – er hatte nichts behalten und stand ehrfürchtig vor der Hardware, die ihn in eine ganz andere Welt transportieren sollte.
Zögerlich nahm er den Anzug von der Liege, die für die passive Nutzung des Angebotes gedacht war. In den schönsten, realistischen Landschaften, die jemals von Menschenhand, nein, vielmehr, -verstand geschaffen worden waren, nur herumzusitzen, fühlte sich grotesk falsch an.
Der Anzug war warm und roch nach einer ungleichen Mischung aus Schweiß und aromatisierten, geruchsbindenden Silberionen. Wie von Geisterhand manifestierten sich in seinem Verstand die Bilder von zwei Optionen, die er selbst für möglich hielt: Entweder der Anzug war von einer vor Parfüm kaum gehfähigen Dame in Anspruch genommen worden oder von einem ungeduschten, hygienisch gleichgültigen Nerd.
Wiemersbach entschied, dass beides keine ›guten‹ Gedanken waren, und zog den Overall über, ohne viel auf die Antwort dieses Mysteriums geben zu wollen.
Die Brille. Mit leicht bläulich glänzenden Kontrollleuchten versehen wartete die Datenbrille nur auf ihn. Die großen, doppelt geschliffenen Linsen zeigten nur tiefes, schwarzes Nichts auf dem dahinter befindlichen Bildschirm, doch er wusste, dass sich das gleich ändern würde.
Seine Hände schwitzten unter den taktilen Feedbackhandschuhen, doch das würde er schon bald nicht mehr bemerken.
Gespannt setzte er die Brille auf, kramte nach der Fernbedienung auf der Liege, stellte zufrieden fest, dass die integrierte Kamera einen letzten Rest der vor ihm befindlichen Realität an die Brille weitergab, und öffnete sich einer Welt, die er noch niemals gesehen hatte.
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Ein winziges Flackern erahnte er, bevor aus einer scheinbar unendlich scharfen Tiefe die neue Realität auf ihn zu waberte. Nein, es war mehr ein sanftes Wabbeln, doch bevor er begriff, was er eigentlich gesehen haben musste, war da nur noch Sonne und Meer.
Irritiert drehte Frederick Wiemersbach sich um. Er rutschte beinahe aus – jedenfalls fühlte es sich so an.
Es dauerte einen winzigen, verräterischen Moment zu lang, ehe die Orientierung zurückkehrte. Er stand auf blassgrün gestrichenen Holzplanken, die langsam über das Meer in einer Bucht wankten … ein Schiff!
Hinter ihm lächelte ein braungebrannter Mann, dessen freier Oberkörper ganz und gar von Haaren bedeckt war.
»Marmaris«, sagte er und deutete auf die Spur von Häusern und Geschäftigkeit hinter den funkelnden Wellen.
Wiemersbach nickte. Das war, was er bestellt hatte. Er war niemals in der Türkei gewesen, und doch war er jetzt dort. Drehte sich im Kreis, drehte den Kopf von unten nach oben … blickte in die blendende Sonne und hielt instinktiv die Hände vor die Augen – die Hände.
Sie lagen schlechterdings außerhalb der Datenbrille und doch sah er, wie sie quicklebendig vor seinem Gesicht herumfuchtelten, jede Bewegung, die er ihnen befahl, mitmachten. Verzückt stellte er eine Yoga-Pose nach und fühlte sich wie ein antiker Olympionik.
Ungläubig blickte er an sich herunter. Erst jetzt bemerkte er, dass er Shorts, Flipflops und ein leichtes weißes Hemd trug und nicht mehr die dröge Journalistenkleidung, an die er sich nur noch fern erinnerte.
Abwesend strich er über den Arm und sah, wie die feinsten Härchen sich aufstellten. Ein Schauer lief über seinen warmen, sonnengetränkten Rücken. Er wischte jede Idee von Autoerotik aus seinem Verstand und beobachtete mit dem Abstand des neutralen Beobachters die Leistungsfähigkeit der virtuellen Welt. Unter seinem nicht zugeknöpften Hemd sah er seinen Bauch, der sich anfühlte wie seiner und der dennoch eine leise Andeutung definierter Muskelstränge zeigte.
Frederick Wiemersbach war nicht eitel, und so fiel es ihm leicht zu entscheiden, dass die Software hier offenbar übertrieb. Doch die Möglichkeit … er begriff, wieso das System nicht nur Nerds anlockte.
Langsam begann er, ein Gefühl für die Bewegung zu bekommen, und wähnte das Schiff nicht etwa auf die Stadt zuhalten, deren bloßen Namen er kannte und von der er sonst nichts wusste. Links und rechts eingefasst von steil aufragenden Felsen, zwängte sich das vielleicht zehn Meter lange Boot durch eine Art Meerenge – obwohl er nicht den Horizont sehen konnte, wusste er doch, dass es das Meer sein musste, das sich dahinter befand, denn er schmeckte Salz auf der Zunge und hörte Möwen kreischen …
Es war absolut perfekt.
Wie gebannt drehte er sich immer wieder um, verfolgte, wie jegliche Bewegungsverzögerung ausblieb und die Hardware mühelos jeder seiner Bewegungen die richtige Reaktion zuteilwerden ließ. Er konnte doch nicht …
Ein langgezogener Schrei des Vergnügens war die Folge – er planschte tatsächlich im Wasser herum, spürte das salzige Nass auf der Zunge und sah den panisch dreinblickenden Türken an Bord der gemächlich davonschippernden Nussschale den Rettungsring suchen.
Das Wasser war warm und feucht und … flüssig. Er hatte keine Ahnung, wie sie es anstellten, aber es war ihm auch egal. Dankbar und irritiert ergriff er den Rettungsring und hangelte sich am wackelnden Boot hinauf.
Konnte man hier ertrinken?
Wiemersbach kannte zu gut die als geheim eingestuften Berichte über die Waterboarding-Folter während des sogenannten ›Kampfes gegen den Terror‹ und entschied spontan, dass es keine Rolle spielte – wenn man nur fest daran glaubte, dann machte es wahrscheinlich keinen Unterschied.
Fasziniert beobachtete er, wie der aufgeregte, wenngleich simulierte Türke allerlei wirres Zeug auf ihn einredete, brockenweise Englisch einwarf und dann wieder ans Steuer ging und das Schiff auf seinen unbekannten Kurs zurückbrachte. Seine Kleidung war, als er sich dafür zu interessieren begann, schon fast trocken. Herausfordernd blickte er nochmals in die Sonne und musste erneut erkennen, dass der Lidschlussreflex stärker als die Überzeugung der bloßen Illusion war – wenn nicht sogar diese physiologische Besonderheit der Menschen einfach nachgeahmt war.
Er wandte sich fasziniert ab und beschwor die Wärme, die er auf dem ganzen Körper spürte. Das alles war nicht echt, und doch gab es für ihn anscheinend keine Möglichkeit, herauszufinden, ob es das war.
Die Fernbedienung. Natürlich. Als er sich ans Handgelenk fasste, erschien sie wie aus dem Nichts, was sein Sprachzentrum ausnahmsweise nicht sprichwörtlich, sondern wirklich-virtuell, wie auch immer zu benennen versuchte.
Glücklich über die Sicherheitsleine, musterte er die seltsam reduziert wirkenden Knöpfe. <<, ||, >>, >, und, in unheilvollem Rot leuchtend: ›NOTAUS‹.
Darauf würde er ganz bestimmt nicht drücken. Doch wenn es die anderen Knöpfe schon gab …
In dem Moment, da er den Knopf berührte, stand die Welt still. Vollkommene Lautlosigkeit umhüllte Frederick Wiemersbach und ließ ihn beinahe, fast als wäre auch er Teil der kosmischen Pause, vergessen zu atmen.
Zuerst ruderte er mit den Armen in der Luft, dann gewöhnte sich sein Gehirn an die Vorstellung, die Zeit anhalten zu können.
Mit offenem Mund stand er da und sog die gespenstische Szenerie in sich auf. Der Steuermann des türkischen Kutters, der wie festgefroren die Klippen vor ihnen im Blick hatte und das Schiff sicher hindurch steuern würde – irgendwann. Über ihm, kreisende, nein, wie an unsichtbaren sokratischen Seilen festgebundene Möwen, die nicht mit den Flügeln schlugen, noch kreischten oder im Sturzflug ins Wasser jagten, um Fisch zu fangen.
Wiemersbach trat an die schmale Reling des Bootes und blickte in das kristallklare grüne Mittelmeerwasser vor Marmaris. Selbst die projizierten Wellen waren gefangen von seinem Willen.
Verzückt musterte er die Fernbedienung erneut.
>>.
Fasziniert bemerkte er, wie sein Körper hin und her geworfen wurde von schwerem Seegang, nein, lediglich beschleunigtem seichtem Seegang, und verlor beinahe die Balance, da das langsam dahintuckernde Boot sich in eine Motoryacht verwandelt hatte – zumindest nach der Beschleunigung zu urteilen. Abwesend versuchte er zu bewerten, ob die physikalische Umsetzung des Vorspulens akkurat war, doch beschied er sich selbst, nicht kompetent genug für diese Fragestellung zu sein.
Stattdessen kehrte er zur normalen Geschwindigkeit zurück und sah die kleine, ganz von dutzende Meter hohen Felsen eingerahmte Bucht, die das Schiff ansteuerte.
Die Kaustiken des Wassers spiegelten sich in perfekter Harmonie an den blau-grün leuchtenden Steinwänden wider und gaben der Szenerie etwas Geheimnisvolles. Geschützt von einer Art Wellenbrecher lag ein vielleicht fußballfeldgroßer Sandstrand vor der Steilküste. Wiemersbach rieb sich die Augen.
Wie die Amazonen, nein, Sirenen, winkten mehrere leicht bekleidete Frauen seinem Boot zu.
Ungläubig betrachtete er, wie ein halbes Dutzend phantastisch gebauter Mädchen sich vom Strand erhoben und in die Fluten sprangen. Das Boot war nur wenige Meter von ihnen entfernt, und schon bald hatten sie die Bootswand erklommen.
Frederick Wiemersbach war wie gelähmt von Überraschung, und, ja, Erregung.
Hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, die Simulation wieder anzuhalten und alles ganz genau zu erfahren, und vorzuspulen, um zu sehen, was als nächstes geschehen würde, zuckte er irritiert zusammen, als ein durchdringender Piepton die XY-Halbinsel zerschnitt wie ein rücksichtslos grober Realitätsbolzenschneider.
»Ihre Zeit ist um«, sagte eine brachiale Computerstimme und blendete Wiemersbachs Wahrnehmung zurück in das, was er Realität nannte und doch niemals mehr von der Simulation würde unterscheiden können.
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Als er die fahlen Umrisse des Holodecks durch die reaktivierte Brillenkamera erahnen konnte, kam der Realitätsschock zurück – das Gefühl des ungebremsten Fallens, das dann irgendwann einfach aufhörte und den Magen zurück in seine Ruheposition trieb.
Er spürte, wie sein Herz noch immer pochte, und fragte sich, was passiert wäre, hätte er eine ganze Stunde Simulation gebucht.
Der Anzug ließ sich erstaunlich leicht abstreifen, und zufrieden stellte er fest, dass sich ein bereitgelegtes Schweißtuch auf der Liege neben ihm befand. Leicht desorientiert blickte er an sich herunter, verifizierte, dass sein Körper wieder so aussah wie sein eigener Körper, und dachte, dass er dringend eine Dusche brauchte. Ob der Enge des Anzugs geschuldet, seiner etwas unbedachten Schwimmversuche oder wegen des Stresses der neuen Erfahrung – er wusste schon jetzt, dass er davon berichten würde – ob es Ruhmckorff nun passte oder nicht.
Als er vorsichtig, beinahe so, als wolle er vermeiden, gesehen zu werden, die Tür einen Spaltweit öffnete, sah er plötzlich die Markierung an der Korridorwand.
Dusche & WC –>
Dass er das vorher nicht wahrgenommen hatte. Wiemersbach argwöhnte, dass es Benutzer geben würde, die eine Dusche noch nötiger hatten als er, doch er entschied, dass es auch für ihn keine schlechte Idee war.
Etwas unvorbereitet zwar, fand er doch alles vor, was er brauchte, sogar einen dieser neuen Kleiderschnellwascher, die dampf- und druckluftbetrieben seine Kleidung säuberten und trockneten, während er das für sich in einer der großzügigen Duschkabinen erledigte.
Während nun echtes Wasser an ihm hinunterströmte, fragte er sich, wie um alles in der Welt er es unterscheiden sollte, und wusste, dass die vier Holodecks einer Spielhalle nahe der Autobahn nicht das Ende dieser Technologie waren.
Wiemersbach war an große Visionen gewöhnt, die nicht nur Politiker gern und viel in den Mund nahmen, und so fiel es ihm nicht schwer, Menschen im Holodeck zum Mars fliegen zu sehen, ebenso, wie er es plötzlich nicht mehr unmöglich fand, jemanden umkommen zu sehen.
Fragte sich, halb sensationsgierig, halb skeptisch, wie Walter Kwasniewski seinen Herzinfarkt an der Mittelmeerküste von Marmaris bekommen hatte, und musste augenblicklich gegen die Bilder ankämpfen, die für immer in seinem Gedächtnis sein würden. Ohne Zweifel gab es weniger idyllische, direktere Programme. Welche Möglichkeiten sich damit ergaben!
Während er sich anzog, fügte sich das Bild langsam zusammen. Düster konnte er zwar bereits die BUNT-Schlagzeile vor sich sehen, die ungefähr ›SS-Aufseher tot in Holodeck – simulierte er eine Sex-Orgie?‹ lauten würde – angewidert sah er in den etwas klein geratenen Spiegel und richtete seine Haare. Kurz erschauderte er für einen Moment – er hätte die Gelegenheit nutzen sollen und sein Spiegelbild im Holodeck ansehen können. Die vollkommene Immersion, schloss er, gab es nur, wenn man sich selbst erkannte und doch zur Szenerie passend wahrnahm. Er erinnerte sich an das seltsame Gefühl, dass sein Bauch flacher gewesen war – und begriff, dass die Technologie weit mehr ermöglichte, als nur sich in einem virtuellen Raum zu bewegen. Gut auszusehen, doch dabei nicht unrealistisch perfekt zu sein, war ein Spagat, den die Ingenieure anscheinend meisterhaft verstanden.
Frederick Wiemersbach erstarrte. Die süße Illusion der Jugend. Wahrscheinlich war Walter Kwasnieski deswegen hier gewesen.
Abermals musterte der Journalist sein Ebenbild im Spiegel. Fuhr mit den Fingern die krummen, hässlichen Bartstoppeln entlang, die aus vertrockneten Poren krochen und vielleicht im Holodeck gerade und kräftig und jung gewirkt hätten.
Ja, er verstand es jetzt. Was für eine wahnsinnig gefährliche Technologie.
Euphorisch blickte Jefferson Grier die Palmen an. Hielt die Hand vor die Augen und versuchte, die Schönheit des Sonnenuntergangs auf dem Meer zu ermessen. Wie in Zeitlupe stürzte sich der alte Feuerball am Ende der Welt in die Fluten und bescherte dem kleinen Atoll eine Dämmerung, wie es sie nur in Südostasien gab.
Er führte das simulierte Glas seines Cocktails zum Mund und zerfloss vor Bewunderung für diese neue, großartige Erfahrung, denn der Geschmack des Gemischs aus Whiskey, Limettensaft und Rohrzuckersirup war die Essenz des Besten, was er jemals getrunken hatte – auch wenn er etwas wehmütig bemerken musste, dass er es nicht wirklich trank, denn er spürte allein das Aroma, doch nicht die stechende Wärme des in ihm hinabfließenden Alkohols.
Gleichgültig zuckte er mit den Schultern und besann sich auf das unvergleichliche Panorama vor ihm, das jede technologische Schwäche wettzumachen suchte.
Vielleicht, dachte er bei sich, kam der Tag, an dem er es zu perfekt finden würde, doch dieser Tag war nicht heute. Grier kniff die Augen zusammen und blinzelte den schmalen, über dem Meer verbliebenen Abschnitt der Sonne an.
Dann ließ er sich nach hinten in den weichen, warmen Sand fallen und wollte beinahe weinen.
Wie er so rücklings da lag, öffnete er die Augen wieder und sah nichts als Sterne über sich. Konstellationen, die er nicht kannte und die sich wegen der geographischen Lage seiner Jugendkenntnisse entzogen. Beinahe glaubte er, der simulierte Alkohol tue doch seine Wirkung, denn kurz war ihm, als drehe sich alles um ihn herum, doch dann war es wieder still.
Zu still.
Irritiert setzte er sich auf und blickte umher. Das Meer war verschwunden. Auch der Sand unter ihm hatte sich in harten, feuchten Waldboden verwandelt.
»He, Genosse, aufstehen oder Karren ziehen.«
Jefferson Grier blickte nach oben.
Ein ausgemergelter Asiate beugte sich über ihn und strafte ihn mit einem tadelnden Blick.
»Wo bin ich?«, fragte er verwirrt. »Wo ist das Meer?«
Wo war die Idylle, die er gebucht hatte?
Der Mann musterte ihn kritisch. »Das Meer ist zweihundert Meilen östlich. Mann, hast du was abbekommen?«
Langsam gewöhnten sich die Augen an die Dunkelheit, die offenbar ziemlich plötzlich hereingebrochen war – typisch für die Dämmerung in Äquatornähe. Grier erschauderte – der Mann trug eine matschbraune Uniform, die aus kaum mehr als Fetzen bestand.
Vietcong. Aber … wie konnte das sein?
Panisch rappelte er sich auf und versuchte, Sinn in einer Umgebung zu finden, die plötzlich dem finstersten Urwald glich, den er …
»Tiefflieger!«
Das Rufen der ausgemergelten Männer um ihn herum war nicht panisch, auch nicht abgeklärt, sondern auf jene ganz eigene Weise routiniert, wie sie nur denjenigen zuteilwurde, die den Elefanten gesehen hatten, wie die GIs sagten.
Die GIs.
Grier blickte von einem zum anderen, zum übernächsten, hörte dann auch die Flugzeuggeräusche, die ungezähmte Gewalt der in den Stellvertreterkrieg geschickten Maschinen mit ihren …
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Verlag F. Transchel
Bildmaterialien: Verlag F. Transchel
Cover: Verlag F. Transchel
Lektorat: Sabine Steck
Satz: Verlag F. Transchel
Tag der Veröffentlichung: 28.06.2020
ISBN: 978-3-7487-4781-9
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