Cover

Titel

F.W.G. Transchel

 

Das Marcus-Experiment

 

Ein Misa Vebiletti-Abenteuer (#5)

 

 Bookrix Edition

 

Rechtliche Hinweise am Ende des Buches.

Wie alles begann

 

 

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Gratis-Exemplar von Misa Vebilettis erstem Abenteuer BURST (Teil I)

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Prolog

 

Mit einem grunzenden Schmatzen tat er die Augen auf und blickte auf seine zu Fäusten geballten Hände. Er war am Leben. Das konnte nur bedeuten …

»Nein!«, rief er. »Sie werden nicht durchkommen damit …«

»Beruhige dich. Du bist in Sicherheit.«

Verwirrt blickte er sich um und suchte nach der Quelle dieser Worte, die direkt aus seinem Verstand zu stammen schienen.

»Keine Sorge«, sagte die sanfte Stimme. »Alles wird in Ordnung kommen.«

»Was …? Wer …?«

Zunehmend unruhig blickte er sich um, doch er fand nur die glatt polierten, glänzenden Wände einer Art Metallwürfel, in dem er sich befinden musste. Am anderen, vielleicht vier Meter entfernten Ende des Raumes wähnte er ein Fenster, doch als er die Beine zu bewegen versuchte, krümmte er sich vor Schmerz.

»Langsam. Du bist noch nicht so weit.«

»Was …?«

»Alles wird in Ordnung kommen. Doch zunächst, hör mir gut zu …«

 

###

 

Stille. Unendliches, unheilvolles Nichts erstreckt sich vor Misa Vebiletti und lässt sie inmitten des luftleeren Raums laut aufseufzen. Das Echo aus der Unendlichkeit erschüttert ihre Seele bis ins Mark und ruft ihr in Erinnerung, wie schwer Schuld und Versagen wiegen.

›So viele Menschen haben sich auf mich verlassen.‹

›Und ich habe sie enttäuscht. Alle enttäuscht.‹

Die Leere reißt auf und bahnt neuem Nichts den Weg, gleichwohl so, als wolle Misas Gewissen sich selbst verschlingen. Das Echo ihrer stillen Schreie klirrt in den nichts hörenden Ohren wider und lässt den Rest ihrer Vernunft erschaudern.

Dann die Stimmen.

Stumme Schreie aus Milliarden Kehlen denunzieren sie und ihre Taten. Oder doch eher die immerwährende Untätigkeit, die Feigheit … die Scham?

›Wieso...?!‹

»Misa, nun beruhige dich doch!«

Sie blinzelte und fokussierte mit Mühe den Blick auf die gedrungene Gestalt, die sich über sie beugte. Arme und Rücken schweißgebadet, richtete sie sich mühsam auf. Mit einer einzelnen, rußig brennenden Kerze in der Hand saß Mamma Lucia an ihrem Bett und strich ihr über die Wange.

»Kind, wir müssen etwas machen. So geht es jedenfalls nicht weiter. Wenn du noch lauter wirst, weckst du mit deinen Schreien bald das ganze Dorf unten im Tal auf.«

Misa zwang sich zu einem tiefen Atmen, wie sie es mittlerweile immer tat, wenn sie sich willentlich beruhigen musste. So hatte sie es gelernt. So machten es Agenten und tief gefallene Möchtegernhelden gleichermaßen.

»Verdammt ja, wir müssen etwas unternehmen«, fluchte sie in breitestem sizilianischem Dialekt. Dann drückte sie ihrer Großmutter einen Kuss auf die Stirn und nickte. »Und zwar jetzt gleich.«

Verwirrt blickte Mamma Lucia sie an und wurde beinahe von ihrer Enkelin vom Bett geschubst, als Misa sich erhob und dem Schrank zuwandte.

»Was machst du?«, fragte die Alte überrascht und doch mit dem typischen Augenzwinkern, ganz so, wie sie es immer tat, wenn sie begriff, dass sie bekam, was sie wollte.

»Ich fahre nach München.«

»Jetzt gleich?«

Misa schloss die Augen und genoss den jähen Moment, in dem die Dunkelheit nicht mit Leere und Verderbnis, sondern frischer Entschlossenheit über sie kam. »Ja, Mamma Lucia. Jetzt gleich.«

1

 

Das Kratzen des altmodischen Stiftes auf dem noch altmodischeren Papier machte sie wahnsinnig.

»Noch einmal langsam bitte«, sagte die Frau in dem teuren Kostüm und beugte sich nach vorn. »Warum sind Sie hier?«

Misa schloss die Augen und zwang sich, ruhig zu atmen. Wann immer ihr Verstand in seiner eigenen Welt gefangen war, ohne nach draußen zu blicken, hatte sie alles vor sich: die auseinanderbrechenden Asteroidenhälften. Die Wahl. Das Zögern. Ihre Wahl und ihr Zögern. Ihre Unzulänglichkeit.

»Signora di Matteo?«

Misa schnaufte ob der widrigen, ja willkürlich anmutenden Deckbezeichnung, die man von Seiten Bavarias sogar auf der Couch einer Münchner Seelenklempnerin aufrechtzuerhalten suchte.

»Ich glaube«, sagte sie schließlich langsam und sah die Psychologin neben sich schuldbewusst an, »dass ich versagt habe. Dass die ganze Welt enttäuscht und gekränkt ist und jeder einzelne Erdenbürger weiß, wie bereitwillig ich sie für mein eigenes Leben eingetauscht habe ohne den geringsten Versuch, aufzurechnen.«

Viola Qualmbach-Granzenhopper ließ erneut den Stift über ihr Klemmbrett rauschen und nickte mitleidig. »Ich möchte nicht respektlos sein, doch würde ich Sie bitten, genauer zu beschreiben, wie Sie darauf kommen, dass genau dies der Fall ist.«

Misa lächelte abwesend und genoss das Wissen, dass ein Teil von ihr irgendwie doch im Verborgenen bleiben wollte. Dass ein Teil nicht wollte, wie jeder sah, was sie tat und getan hatte. »Die Details des fraglichen … Vorfalls sind bedauerlicherweise unter Verschluss«, brummte sie genüsslich.

Formvollendet hob die Psychologin eine Augenbraue. »Interessant. Was lässt Sie denken, dass Bavaria mir nicht die Berichte über Ihre letzte Mission zur Verfügung gestellt hat?«

Misa tat es ihr gleich, doch suchte sie die Mimik der Psychologin in Theatralik noch zu übertreffen. »Ich glaube, dass wir nicht zulassen dürfen, dass die beinahe eingetretene Katastrophe viele Menschen unnötig ängstigt.«

»Und doch stellen Sie alledem voran ›Ich glaube‹. Sagen Sie, Signora di Matteo, kann es nicht sein, dass …«

Irritiert reckte Misa den Kopf in Richtung Fenster. Kurz war ihr, als hätte sie eine schemenhafte Gestalt daran klopfen sehen, doch dann war der Eindruck auch schon wieder verflogen.

»… stimmt etwas nicht?«, fragte die Psychologin sofort.

Ihre Aufmerksamkeit zurück auf der Deutschen, legte Misa die Stirn in Falten. Einerseits hielt sie es für möglich, dass sie wirklich ein wenig verrückt wurde, doch andererseits hatten vielleicht ihre Gefühle sie im Stich gelassen, doch noch niemals ihre Sinne.

„Alles in Ordnung“, sagte Misa kleinlaut und wusste doch, dass hier und jetzt in ihrem Innersten nichts in Ordnung war. Und dann, gerade als sie genug Willen aufbringen wollte, dies mit der Psychologin zu teilen, passierte es.

Aus dem buchstäblichen Nichts schwang sich eine schwarze Gestalt auf den Fenstersims, nahm ein bunt blinkendes Gerät vom Gürtel und hielt es gegen das Fenster, das mit einem lauten Klirren zersprang. Bevor sie verstehen konnte, was vor sich ging, trat Misas Training bereits in den Vordergrund und ließ sie Viola Qualmbach-Granzenhopper von ihrem Stuhl stoßen, den sie Sekundenbruchteile später bereits behände in Richtung des Unbekannten schleuderte. Augenblicklich zog sie die Psychologin mit einem kräftigen Ruck wieder auf die Beine und lief mit ihr in Richtung Ausgang. Unbewaffnet und ohne die Initiative der Situation, hatte ihr Verstand ganz ohne Zutun beschlossen, dass ein jäher Rückzug die beste Wahl wäre.

Ein jäher Stich in der Schulter versicherte sie der Tatsache, dass der Eindringling es ernst meinte, und erst nach dem Schmerz verarbeitete ihr Verstand den Knall und die Gewissheit, mit einer altmodischen Projektilwaffe angeschossen worden zu sein. Misa hatte auch dies im Simulator geübt, doch musste sie sich eingestehen, dass die kalte Realität der echten Todesbedrohung wuchtiger und so viel beängstigender war — doch dabei wusste sie, dass sie schlechterdings nichts anderes machen konnte, als sich zu freuen, dass nicht das atomare Feuer einer Strahlenkanone sie zerfraß, sondern nur eine Kugel die Schulter zertrümmert hatte.

Verblüfft verfolgte Misa, das Gesichtsfeld von Schmerzen verengt, wie die Psychologin während der kurzen Zeit, die sie benötigte, mit dem anderen Arm die Tür aufzureißen, es doch tatsächlich schaffte, einen Alarm zu aktivieren, indem sie eine Kombination auf dem Tastenfeld der Klimaanlage eingab.

Während ein markerschütternder Alarmton erklang, flirrten weitere Kugeln über sie hinweg, die der Eindringling ihnen hinterherjagte.

Misa schob die Psychologin in ihrer Obhut unsanft neben den Anmeldetresen der Praxis in Deckung, während sie sich ihrerseits auf der anderen Seite hinter die mit geschmacklosem lilafarbenem Leder bezogene Wartecouch rollte. Sie schrie, als sie unüberlegt mit der verletzten Schulter den Aufprall dämpfen wollte, rappelte sich jedoch sofort wieder nach oben. Hastig riss sie sich die Schuhe von den Füßen und dankte innerlich Quirin Meuchlinger dafür, ihr dieses Paar auch für die Erholungstage überlassen zu haben. Ohne Nachdenken setzte sie Schaft und Energiezelle aneinander, die jeweils in den Absätzen versteckt gewesen waren, ehe sie die Gürtelschnalle von der Hose abnahm und damit den Fokusteil der Energiekanone hinzufügte. Mit zusammengebissenen Zähnen beschloss sie, den Schmerz im Arm für den Moment zu ignorieren. Grimmig musterte sie das türkisfarbene Leuchten der Elektronik, die ihr die Einsatzbereitschaft der Waffe mitteilte und dafür sorgte, dass sie ihre Stimme sammelte und der Psychologin zurief, sie möge bei Jetzt aus der Praxis stürmen.

Für einen winzigen Moment schloss Misa die Augen und ermaß das Risiko ihrer Idee, gerade der Frau Deckung zu geben, die eigentlich ihr helfen sollte. Dann stellte sie die kleine Pistole auf den halbautomatischen Modus und machte sich bereit.

»Jetzt«, rief Misa ruhiger und entschlossener als nötig und rollte sich hinter dem Sofa hervor. Sofort deckte sie die offenstehende Tür zum Behandlungszimmer mit Laserfeuer ein.

»Raus hier!«, insistierte sie, nachdem sich Viola Qualmbach-Granzenhopper auch nach der halben verfeuerten Energiezelle nicht vom Fleck bewegte, und stellte sicher, dass der Angreifer entweder zurück zum Fenster musste oder sich an die Seitenwand drückte.

Endlich setzte sich die Psychologin in Bewegung, was Misa veranlasste, für sich die Situation zu bewerten. Ihr Instinkt sagte ihr, dass der Angreifer nicht damit rechnen konnte, dass sie zum Angriff übergehen würde, doch war die im Schuh versteckte Energiezelle der Notfallknarre nicht gerade mit einer großen Kapazität ausgestattet, sodass ihr vielleicht maximal zehn Schuss bleiben würden – zu wenig, falls der Unbekannte sich nicht grotesk ungeschickt anstellen würde.

Traurig folgte Misa der Psychologin aus der Praxis hinaus und kam nicht umhin, sich doch seltsam … lebendig zu fühlen.

2

 

Als sie über das Treppenhaus die Praxis verlassen hatten, wurde Misa gewahr, dass praktisch das gesamte Geschäftsgebäude, immerhin in einer guten Münchener Gegend, längst von allen anderen Insassen geräumt worden war und ein gutes Dutzend Feuerwehrdrohnen um die höheren Stockwerke und das Dach schwirrten. Nachdenklich blickte sie auf das gesplitterte Glas auf dem Boden und das Fenster ohne Scheibe drei Stockwerke darüber.

Sie steckte die hastig zusammengebastelte Strahlenkanone an den Gürtel und verfolgte, wie nach und nach immer mehr Polizeifahrzeuge angeschwebt kamen — und unvermeidlicherweise auch solche, die keine hoheitlichen Funktionen wahrzunehmen hatten, sondern das blau-weiße Logo ihres sogenannten Arbeitgebers trugen.

Schnell hatte jemand die Verletzung notdürftig verbunden und ihren Arm in eine Schlinge gelegt, doch sie wusste, dass es sehr viel länger dauern würde, die Kugel aus ihrem Verstand herauszuoperieren.

»Signora di Matteo«, sagte schließlich ein anderer Mann in weißem Overall, der plötzlich neben ihr stand, »laut Drohnenaufzeichnung gibt es keine Spur mehr von dem Eindringling. Sie würden uns eine große Hilfe sein, wenn wir gemeinsam den Tathergang in der Praxis durchgehen könnten.«

Misa drehte den Kopf und bemerkte erst jetzt, wie sehr sie eigentlich neben sich gestanden hatte, denn in den letzten Minuten hatte keiner ihrer Gedanken den eigentlichen Ereignissen gegolten, sondern war nur um die Frage gekreist, wie es eigentlich mit ihr weitergehen sollte und ob sie sich wirklich ein Leben lang jagen lassen wollte. Es musste Bavaria doch möglich sein, ihr eine neue Identität zu geben, wenn sie es wollte. Nur wollte sie das?

»Signora die Matteo?«

»Äh ja, natürlich. Ich komme gleich mit Ihnen hinauf.«

Wie sie sich die Treppen zurück hinaufquälte, schien es ihr beinahe, als strömte alles wieder auf sie ein. Die Trümmer, die Schreie. Ihre eigene Angst und die allumfassende Sinnlosigkeit. Wieso gab es da immer jemanden, der sie umbringen wollte?

Dann stand sie im Türrahmen und blickte auf das zerschossene Mobiliar, teils vaporisiert und teils von Kugeln durchlöchert. Ein Seufzen später drehte sie sich um und sah den Techniker an.

Der Mann trug einen altmodischen Schnauzbart und brummte anerkennend. »Waren Sie das?«

Misa schürzte vergnügt die Lippen und nickte. »Nur die eine Hälfte des Mobiliars, die vaporisiert worden ist. Ansonsten … ich gab Frau Qualmbach-Granzenhopper Deckung.«

»Soso.«

Ein Mann älteren Semesters räusperte sich und trat aus dem Treppenhaus in die zerstörte Psychologenpraxis.

»Dr. Meuchlinger!«

»Frau … Signora di Matteo«, antwortete der Entwicklungschef der Spezialabteilung Bavarias, nachdem er sich an ihren Decknamen erinnert hatte, und nickte ihr zu. »Sie können es nicht ohne Special Effects, oder?«

Als Misa in gespielter Empörung die Hände in die Hüften stemmte, zwinkerte er ihr zu. »Wir haben die Außenaufnahmen bereits ausgewertet. Keine Sorge, wir wissen, wie und warum Sie reagiert haben.«

Misa hob eine Augenbraue in die Höhe und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Und Sie wissen nicht zufällig auch schon, wer und warum?«

»Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, dass Sie uns das sagen würden.«

Sie schüttelte den Kopf. »Vollständig vermummt.«

»Profi.«

»Na ja«, entgegnete Misa.

Neugierig musterte der Bavaria-Ingenieur sie. »Wie meinen?«

»Ich schätze«, sagte sie vorsichtig, »dass ein echter Profi mich einfach erschossen hätte.«

Meuchlinger wischte über sein Pad. »Da bin ich mir sicher. Die Frage ist aber, ob er das auch wollte.«

»Wie bitte?«

»Schauen Sie mal«, sagte er und hielt ihr sein Pad hin. »Nachdem Frau Qualmbach-Granzenhopper den Alarm aktiviert hatte, war recht schnell eine Drohne draußen ans Fenster geschwebt, die Sie zwar nicht schützen, aber doch den Eindringling beobachten konnte.«

»Was macht er denn da?«, fragte Misa, die auf dem Pad verfolgte, wie der der Statur nach männliche Eindringling zwar noch ein paar Schüsse hinter den türmenden Frauen her schickte, sich jedoch dann blitzschnell am Fußboden zu schaffen machte.

Instinktiv fasste Misa sich an die schmerzende Schulter. »Aber …«

»Oh ja«, seufzte Meuchlinger. »Warum auch immer, da wollte jemand eine Blutprobe von Ihnen.«

»Da gibt es subtilere Methoden«, antwortete Misa, doch sie musste zugeben, dass die Bilder der Überwachungsdrohne nur diesen Schluss zuließen.

»Vielleicht geht da jemand davon aus, dass es wie ein Attentat aussieht und uns dieses Detail entgehen würde«, brummte er.

»Und wieso?«

Quirin Meuchlinger lachte. »Das ist mal eine verdammt spannende Frage, finde ich«, sagte er. Dann ging er zum Fenster herüber und tat so, als würde er irgendwelche imaginären Maße davon nehmen, ehe er sich wieder zu ihr umdrehte. »Eine Frage, wenn Sie die Anmerkung erlauben, die für Sie vielleicht gerade recht ist.«

Misa brummte abweisend. »Wenn mich nach jeder Mission immer jemand umbringen will, dann werde ich mir das Weltretten wirklich abgewöhnen.«

Der Bavaria-Ingenieur quittierte ihre Aussage mit einer hochgezogenen Augenbraue, doch er sagte nichts. Dann zwinkerte er ihr recht unvermittelt zu und machte sich auf den Weg zum Treppenhaus. »Wie dem auch sei«, flötete er mit deutlicher Mundartfärbung seiner Aussprache, »Sie bekommen den Bericht, so ich ihn fertig habe.«

»Äh, danke«, sagte Misa und blickte ihm nach. Dann drehte sie sich doch noch einmal zum Fenster um. Eine Frage, die gerade recht für sie war? Was bildeten sich diese Süddeutschen nur immer alle ein?

Gerade, als ihre Gedanken über die Dächer der Isar-Metropole zu fliegen begannen, räusperte sich jemand am anderen Ende des zerstörten Behandlungszimmers.

»Darf ich eintreten?«, fragte Viola Qualmbach-Granzenhopper und blickte mit gespielter Höflichkeit, die Misa sofort erkannte, knapp an ihr vorbei auf einen Brandfleck an der Wand.

»Es ist Ihre Praxis, oder nicht?«, sagte Misa und zuckte mit den Schultern.

Die Psychologin nickte. »Ich wollte Ihre Kontemplation nicht stören, schließlich kann es sehr traumatisch sein …«

Misa grinste und antwortete augenblicklich. »Haben Sie aber.«

»Nun, jedenfalls wissen Sie jetzt, dass ich gefragt habe.«

»Wie … tröstlich«, meinte Misa abweisend und machte keine Anstalten, sich hier verscheuchen zu lassen. »Und wie steht es bei Ihnen … werden Sie selbst ein Trauma davontragen?«

Viola Qualmbach-Granzenhopper machte einen Schritt auf sie zu und blickte noch immer direkt an ihr vorbei. Dann deutete sie auf die vollkommen unbeschadete Patientenliege. »Wissen Sie, ich habe so viele Geschichten über Leben und Töten lassen gehört, dass ich wirklich dachte, ich wäre darauf vorbereitet. Immerhin sind Sie, wenn ich so offen sein darf, nicht meine erste Mandantin in Diensten der Bavaria. Aber die Wahrheit ist natürlich, dass ich niemals den Anblick des Mannes auf dem Fenstersims vergessen werde. Wie heißt es doch so schön: ›Arzt, heile dich selbst!‹ Ich schätze, ich werde mir den zweitbesten Psychotherapeuten in München suchen müssen.«

»Bescheidenheit ist eine Zier«, sagte Misa und zwinkerte ihr zu.

»Würden Sie etwa für sich in Anspruch nehmen, Sie wären die zweitbeste Geheimagentin?«

»Guter Punkt«, sagte Misa und nickte. »Zumindest bin ich eine der meistbedrohten.«

Triumphierend nickte Viola Qualmbach-Granzenhopper. »Sie geben es also zu.«

»Was?«

»Dass Sie eine Agentin sind.«

Verdattert blickte Misa die Frau vor ihr an und beschloss, ein schulterzuckendes Eingeständnis abzugeben, das keinerlei Bedeutung hatte. »Ja … ich schätze schon.«

»Dann haben Sie einen schönen Tag, Misa Vebiletti.«

»Was zum …?« Mit offenem Mund blickte Misa der feixenden Psychologin nach, die auf dem Absatz kehrtmachte und ebenso kommentarlos wie zügig zurück zum Treppenhaus ging.

Dass sie ihren richtigen Namen verwendete, konnte nur bedeuten, dass sie wirklich alles wusste. Und es bedeutete auch, dass sie sicher war, in diesem kleinen Disput den Sieg davongetragen zu haben.

»›Zweitbeste Agentin‹, hmm?«

Mit einem letzten Blick auf den Blutfleck am Boden, der von ihr selbst stammte, trottete auch sie zurück zur Treppe. Wer auch immer das gewesen war, sie konnte ihn zur Strecke bringen.

Wenn sie wollte.

Aber das war eine Frage, die sich wirklich nur zweitbeste Agenten stellten.

Alle anderen wären schon längst auf der Jagd gewesen.

Unten auf der Straße angekommen, sah sie zufrieden, dass ein schwarzer Wagen auf sie wartete.

»Wohin, Signora di Matteo?«, fragte der Fahrer, ohne daran zu zweifeln, dass sie bereits ein Ziel im Kopf haben würde. »Bavaria Hauptquartier, der Lieferanteneingang.«

3

 

Quirin Meuchlinger schüttelte den Kopf. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich den Bericht an Sie weiterleiten werde.«

»Und das habe ich auch verstanden«, sagte Misa. »Ich habe mir nur gedacht … vielleicht kann ich mich ja nützlich machen.«

Meuchlinger kicherte. »Wie haben Sie vor nicht allzu langer Zeit gesagt: Sie sind keine Chemikerin.«

Misa nickte und musste sich eingestehen, dass sie hier vielleicht wirklich nicht besonders viel ausrichten konnte. Doch wie sie ihre noch unstete Entschlossenheit prüfte, wusste sie, dass sie einfach hier und jetzt weitermachen musste, weil sie sich sonst nur viel zu leicht daran erinnern würde, wie es sich anfühlte, die Schuld der Welt auf sich geladen zu haben …

»Alles in Ordnung?«

Sie blinzelte und nickte dann überschwänglich. »Ich war … in Gedanken.«

Der Chef-Ingenieur lächelte. »Das habe ich bemerkt. Sieht Ihnen so gar nicht ähnlich.«

»Da haben Sie allerdings recht.«

»Hören Sie … so gern ich Sie immer hier herumführe, wir müssen uns jetzt wirklich um die Auswertungen kümmern. Ich rufe Ihnen einen meiner Assistenten herbei, und wenn Sie möchten, setzen Sie sich an einen freien Schreibtisch in der oberen Ebene. Die bisherigen Daten schiebe ich in Ihr Postfach.«

»Danke …?«, hörte Misa sich fragen, und dann war Meuchlinger auch schon entschwunden.

Sie drehte sich langsam um die eigene Achse und bemerkte erst jetzt die Wunder deutscher Ingenieurskunst, die überall um sie herum lagen, schwirrten und brummten.

»Frau Vebiletti!« Ein junger Mann mit wirren Haaren, der natürlich den typischen weißen Kittel trug, winkte sie heran und schien ganz aufgeregt. »Der Chef hat mir alles erzählt …«, prustete er hervor und tippelte von einem Bein aufs andere. »Ich zeige Ihnen die Arbeitsnische.«

Misa hob eine Augenbraue, nickte langsam und freute sich, einmal zur Abwechslung ihren richtigen Namen zu hören. Ein Luxus, den sie wirklich nur noch zu Hause und innerhalb der hermetischen Bavaria-Labore genießen konnte. Sie musterte den jungen Ingenieur. »Na gut …«

Enthusiastisch schüttelte er ihr die Hand. »Florian Goldmacher.«

»Angenehm«, sagte Misa abwesend und fragte sich, wie viel Smalltalk sie mit dem viel zu jungen Ingenieur würde halten müssen. »Frisch von der TU?«

Goldmacher vergrub die Hände in den Gesäßtaschen seiner Jeans. »Jahrgang ´96. Nicht so viel herumgekommen wie Sie, aber auch nicht … vollkommen ahnungslos, falls Sie das vielleicht annehmen.«

Den eigenen Worten zum Trotz blickte er sie dennoch aus weit aufgerissenen Augen an. »Wissen Sie«, sagte er, »ich kann kaum glauben, sie mal endlich kennen zu lernen. Dieser Stunt auf der Venus … Wahnsinn.«

Wenngleich sie innerlich die Augen rollte und am liebsten gar nicht wissen wollte, was Meuchlinger in seiner Abteilung alles so erzählte, beschloss sie, diesmal einen anderen Ausweg zu wählen.

»Ohhh«, sagte sie, »das geht natürlich nur, wenn Menschen wie Sie auch solche phantastischen Technologien entwickeln …«

Goldmacher strahlte sie erwartungsgemäß an. »Wollen Sie mal was echt Cooles sehen?«

Und ob Misa wollte. Zwar behielt sie genau im Blick, weswegen sie hierhergekommen war, doch konnte ein kurzer Abstecher zu den … angewandteren Themenfeldern der Abteilung sicher nicht schaden.

Der eifrige Assistent sah sich verstohlen um. »Aber vorsichtig. Wenn Q merkt, dass ich Sie nicht dort abliefere, wo er es mir aufgetragen hat …«

»Q?«, fragte Misa.

Goldmacher legte die Stirn in Falten und musterte Misa. »Doktor Meuchlinger?«

Sie kannte den Vornamen natürlich, aber sie konnte sich nicht recht vorstellen, dass seine riesengroße Abteilung ihn so nennen durfte.

Der junge Ingenieur indes schien ihr nicht abzunehmen, dass sie ihn nicht verstand, nein, verstehen wollte. Er breitete die Arme aus als wolle er den ganzen Hallenkomplex damit ermessen, und deutete dann auf eines der Schilder mit einer ausschließlich deutschen Aufschrift. »Forschung und Entwicklung — Gruppe für innovative Kampfmittel — Prüffeld.«

»Das alles hier … klingelt da was …? Sie verstehen es wirklich nicht, hmm?«, fragte er ungläubig.

Misa schüttelte den Kopf.

»Na gut«, sagte Goldmacher und machte keine Anstalten mehr, sie noch aufzuklären. Stattdessen schlich er durch eine scheinbar unendlich lange Reihe von Regalen mit kleinkalibrigen Waffen und bedeutete Misa, ihm zu folgen. »Nur zu«, flüsterte er und bemühte sich nach Kräften, möglichst geheimnisvoll zu wirken.

Schließlich hatten sie das Ende der Reihe erreicht. Von einem Geländer geschützt blickten sie auf einen künstlich ausgehobenen Abgrund, an dessen tiefster Stelle sich ein schwarz-gelb lackierter Zielwürfel befand, wie sie sie aus den Schießübungen im Simulator kannte.

Auch wenn sie es erst einmal nicht besonders eindrucksvoll fand, beschloss sie, weiter mitzuspielen, riss die Augen auf und fragte Goldmacher, wie er das Ziel zu zerstören gedenke.

»Ich habe da eine Idee«, sagte er, nahm sein Pad aus der Innentasche des Kittels und wartete, bis der Alarm aktiviert war, der das Personal aufforderte, den Krater zu räumen.

»Bin ganz Ohr«, meinte Misa und verfolgte, wie Goldmacher einen Kugelschreiber zur Hand nahm, die Spitze ein paar Mal ein- und wieder ausfuhr und ihn schließlich schulterzuckend in die Grube warf.

»Es wäre natürlich lustiger, wenn Sie die Sache mit Q verstanden hätten«, sagte er, ehe der Stift sich selbst, den Zielwürfel und ein paar Meter Geröll des Kraters vaporisierte.

Jovial grinste er Misa an, nahm einen weiteren Stift und reichte ihn ihr. »Komplett harmlos, es sei denn, sie drücken ihn dreimal kurz hintereinander. Dann explodiert er innerhalb von fünf Sekunden. Falls Sie das nicht wollen …«

»Dreimal drücken«, folgerte Misa. »Ziemlich bescheuert, wenn Sie mich fragen.« Ihrem Urteil zum Trotz steckte sie den Stift ein und fühlte sich … mächtiger.

»Nicht bescheuerter als das Original«, erwiderte Goldmacher in der Zwischenzeit. »Aber ich habe noch etwas. Und das darf ich Ihnen sogar zeigen.«

Ohne äußere Reaktionen zu offenbaren folgte sie ihm weiter in die verwinkelten und verstaubten Hallen hinein, die Geheimnisse versprachen, die außer ihr fast kein Mensch kannte. Hölzerne Boxen mit Warnungen vor Magnetismus wechselten sich ab mit Biowarnungen, Atomkraftzeichen und verdächtig unbeschrifteten Kisten, doch schließlich ließen sie den Lagerbereich hinter sich und standen in einem Anbau, der viel höher und wenigstens mehrere hundert Meter lang war: Nicht irgendein Hangar. Der Geruch, die Beleuchtung … ohne, dass sie irgendetwas gesehen hätte, das sich hinter den unzähligen technischen Aufbauten versteckte, wusste sie, dass dies die Schiffswerft für genau jene Art Raumschiff war, die sie schätzen gelernt hatte und mit einer beunruhigenden Regelmäßigkeit verschrottete.

»Kommen Sie«, sagte Goldmacher freundlich. »Wir wollen links entlang.«

Dann ging er um eine Maschine herum, die drei oder vier bedrohlich leuchtende Kabel mit einem Schiffsrumpf verband, der flach und glänzend und ungewöhnlich elegant wirkte dafür, dass die Form im Weltraum bekanntermaßen keine Rolle spielte, weil es im Gegensatz zum Atmosphärenflug keinerlei Luftwiderstand gab.

»Dies ist unser neuer Prototyp«, sagte er feierlich und breitete die Arme aus.

»Wie heißt er?«, fragte Misa und betrachtete die schmale Treppe zur Luftschleuse, die beinahe ebenerdig stand, weil sich der Rumpf bezüglich des Bodenniveaus der Halle in einer abgesenkten Wartungsluke befand.

»X4-C, aktuell«, erwiderte Goldmacher. »Ist ja noch nicht fertig.«

Misa spürte ein wohliges Kribbeln bei dem Gedanken, wieder in so einem Raumschiff unterwegs zu sein, wenngleich sie das nicht mit der Jagd nach ihrem Attentäter verband. Nein, alles, worauf sie zurückblickte, war die Zeit mit Hugo Marcus auf dem Weg zum Jupiter … wenngleich sie sich sofort eingestehen musste, dass derlei Nostalgie vor Selbstbetrug nur so triefte, denn auch dabei hatte sie dem Tod mehr als nur einmal ins Gesicht geblickt.

»Wollen wir es anschauen?«

Sie nickte Goldmacher zu und war gespannt auf die Neuerungen des Schiffes, das deutliche Ähnlichkeit mit den von ihr zerstörten Gefährten aufwies und doch auf eine überaus bemerkenswert zurückhaltende Weise noch futuristischer wirkte.

Als Erstes bemerkte sie den Geruch. Neues Plastik verband sich mit der Sterilität von Edelstahl und Leichtmetallen und dem Eindruck eines makellos sauberen Teppichbodens hinter dem Eingang.

»Auch hier muss jeder immer durch die Luftschleuse«, erwähnte Goldmacher, als er Misa nachgefolgt war — was womöglich bereits eine kleine Überinterpretation des normalen Protokolls darstellte.

Sie ignorierte den Ingenieur für den Moment und legte die Hand an eine Wandabdeckung. Die Erinnerung wirkte unwirklich, zu ähnlich war das Interieur den Schwesterschiffen.

»Ich denke, wir beginnen unseren Rundgang …«

»Mit dem Frachtraum«, sagte Misa.

Goldmacher stutzte kurz, doch dann nickte er. »Ich hatte angenommen, dass Sie vielleicht das neue Quartier sehen wollten, aber wie Sie wünschen. Bedenken Sie jedoch, dass der Frachtraum bei diesem Prototypen noch leer ist.«

Misa schnitt eine Grimasse und tadelte ihre vorlaute Zunge. Natürlich gab es hier keine Gadgets. Nicht, wenn das Schiff inmitten des größten Agentenspielplatzes der Galaxis geparkt und selbst noch nicht ganz fertig war.

»Na schön«, seufzte sie. »Für den Moment dachte ich, dass ich mich hier besser auskennen müsste, aber eigentlich haben Sie recht. Machen wir es so, dass Sie nur die Neuerungen erwähnen, denn ansonsten könnte es doch etwas langweilig werden.«

Sie wähnte ein Augenrollen, wenngleich Goldmacher sich schon in Bewegung gesetzt hatte und ihr nur noch den Rücken zeigte.

»Wir haben die Anordnung etwas geändert.«

Was er damit meinte, merkte Misa, als sie den Korridor halb durchschritten hatten und dort standen, wo zuvor die ›Gästelounge‹, wie sie es in Gedanken immer genannt hatte, gewesen war. Stattdessen erstreckte sich die Kajüte des Kapitäns, also typischerweise von Misa selbst, über zwei Schotts, fiel also gut doppelt so groß aus wie auf den anderen Schiffen.

Sie musterte den wenigstens dreißig Quadratmeter großen Raum mit dem viel zu gemütlichen Bett und der Kommandonische, die die komplette Funktionalität der Brücke abbilden konnte, wenn es notwendig wurde.

»Wieso der Aufwand?«, erkundigte sie sich. »Ich habe in allen Berichten stets vermerkt, dass ich mit der Kabine zufrieden war. Und so hat man weniger Platz für … Nützliches.«

Der junge Ingenieur trippelte von einem Bein auf das andere und schien nicht gerade begeistert von ihrer Einschätzung. »Diese ›Design-Decision‹ wurde schon vor einiger Zeit getroffen, da war Ihr Feedback noch nicht eingearbeitet. Ich bin sicher, dass wir es auf dem nächsten Schiff wieder anders machen können.«

Misa musterte Goldmacher. »Gehen Sie etwa davon aus, dass auch diese Yacht nicht lange Bestand haben wird?«

»Machen Sie Witze? Wir haben seit über einem Jahrzehnt eine Produktion von wenigstens drei Exemplaren pro Jahr. Wenn wir unsere Agenten damit aufziehen, dann doch nur, weil wir genau wissen, dass es die anderen Konzerne weitaus schlimmer trifft.« Goldmacher machte eine Pause und sah Misa streitlustig an. »Damit meine ich natürlich, dass unsere Agentenyachten auch das weitaus beste Material bieten.«

»Okay«, sagte Misa und wollte sich nicht auf dem Terrain des Ingenieurs mit ihm messen. »Dann zeigen Sie mir doch einmal etwas, das wirklich nützlich ist.«

Mit einem schmalen Lächeln verbeugte sich Goldmacher und wies ihr den Weg hinaus aus der Kabine. »Das Brückenmodul hat sich nicht großartig verändert«, diktierte er in nachdenklichem Tonfall, »und der Frachtraum ist wie erwähnt leider leer.«

Misa wähnte seinen Verstand auf Volldampf, denn er hatte sich wahrscheinlich etwas mehr Bewunderung von der großen Kabine versprochen, doch noch würde er nicht die Segel streichen. »Die Gegenmaßnahmen sind verbessert worden«, meinte er halbherzig.

»Können wir sie ausprobieren?«, fragte Misa mit gespielter Neugier.

»Nur, wenn Sie mit halber Lichtgeschwindigkeit von Freising aus auf das Schiff zulaufen würden«, gab Goldmacher zurück, selbst verwundert über seinen spitzen Kommentar. »Aber ich will es nicht Ihnen zum Vorwurf machen, sondern meiner suboptimalen Schiffsführung. Wir haben übrigens auch eine neue Sensorphalanx.«

Misa verzog das Gesicht, doch sie wusste, dass jede Minute im Prototyp sie auch etwas länger vor langweiliger Recherchearbeit bewahren würde. »Lassen Sie hören.«

Der Ingenieur ließ sich nicht zweimal bitten. »Dann auf ins Wissenschaftslabor.«

Großzügig in der Mitte des Schiffes gelegen, waren Einrichtung und Formgebung des Labors komplett so geblieben, wie Misa es von der Leopold in Erinnerung hatte. Den großen Sessel vor den zwei Riesenbildschirmen überließ sie Goldmacher, der sein Glück nicht fassen konnte und sie ratlos anstierte. »Also schön … wem wollen wir gerne mal in den Vorgarten schauen?«

»Was befindet sich auf der entgegengesetzten Seite der Erde?«, fragte Misa genüsslich. »Neuseeland?«

Goldmacher bedachte sie mit einem enttäuschten Blick. »Sie wissen gut genug, dass dieses Schiff zwar ziemlich cool ist, aber auch nicht zaubern kann. Wenn sie also Neuseeland sehen wollen, dann können wir damit nur die Auflösung unserer Spionagesatelliten überprüfen.«

Misa wusste natürlich, dass ihre Frage unfair gewesen war, doch fand sie irgendwie Gefallen daran, den Ingenieur zu ärgern. »Na schön«, meinte sie, »was ist von hier aus in Sichtweite? Wie wäre es mit dem Mond?«

»Eine interessante Aufgabe«, bestätigte Goldmacher und wischte die solare Darstellung der bekannten Himmelskörper in Erdnähe auf den rechten Schirm. Sekunden später zoomte er den irdischen Begleiter heran, auf dessen pockennarbiger Oberfläche die Kuppeln der Städte im Sonnenlicht glänzten.

»… doch womöglich ein wenig zu simpel. Möchten Sie nicht vielleicht etwas Bestimmtes untersuchen?«, fragte der Ingenieur und nahm einen selbstzufriedenen Duktus ein. Misa konnte sehen, dass er die Enttäuschung darüber, dass sie von dem bisherigen Rundgang nicht sonderlich beeindruckt war, überwunden hatte.

»Wie wäre es mit der Bavaria-Kuppel?«, feixte Misa.

»Nichts leichter als das«, antwortete der Ingenieur und legte sich ins Zeug.

Misa erkannte den hohen Turm von Neu Berlin und dachte an ihr letztes Gespräch dort. Die Ignoranz des Bavaria-Chefs ihr gegenüber hatte sie getroffen. Und doch stand sie hier und ließ sich das neue Schiff zeigen.

Scheinbar nachdenklich legte sie den rechten Zeigefinger an die Wange und die Stirn in Falten. »Zeigen Sie mal Ludwig Mayrs Büro«, meinte sie.

»Ich denke, dass es nicht möglich sein wird, durch die elektromagnetische Abschirmung …«

Goldmacher stockte.

»Was ist los?«, fragte Misa.

»Ich habe das Signal verloren … oh.«

Der Bildschirm flackerte, und als er die Darstellung auf die Mondbasis wieder freigab, verfolgten beide, wie ein gleißender Feuerball aus einem der Habitatbereiche ausbrach und bunte, glühende Trümmerteile hunderte von Metern in die Höhe beförderte.

Misa hielt die Hand vor den Mund. Das war zwar nicht die Hauptkuppel der Promenade gewesen, hatte aber sicher trotzdem viele Menschenleben gekostet. Und noch eines wusste sie ganz genau: Das würde ihre Aufgabe nicht leichter machen. Sie erinnerte sich an eine ähnliche Explosion vor nicht allzu langer Zeit und fragte sich, ob Geschichte sich wirklich auf so unverhohlen zynische Weise wiederholte.

»Das war der Neubau jener Komponenten, die während Ihrer Reise zu KJ753b schon von Victoria angegriffen worden waren«, japste Goldmacher. »Und jetzt explodiert das wieder …«

»Sie wollen uns zeigen, dass man nirgendwo sicher sein kann.«

Etwas zirpte in der Hosentasche des Ingenieurs, und als er sein Padphone herausgenommen hatte, wischte er den Anrufer kurzerhand auf den Bildschirm des Wissenschaftslabors.

»Ah, ich hatte mich schon gefragt, was Sie machen«, sagte Quirin Meuchlinger und versuchte, seinem grimmigen Ausdruck ein Lächeln abzugewinnen. »Wir sind hier noch immer mit der Spurensicherung beschäftigt, aber ich habe den Eindruck, dass auf dem Mond jemand mit Ihren Fachkenntnissen gebraucht wird.«

Misa konnte sehen, wie die Miene des Mannes neben ihr zwischen ungläubig, geschmeichelt und richtiggehend alarmiert hin- und herschwankte, ehe er pflichtschuldig nickte. »Jawohl, Chef.«

»Ich meinte eigentlich Frau Vebiletti«, sagte Meuchlinger und zeigte keine Anzeichen von Empörung. Dann fügte er hinzu: »Wenn ich es recht bedenke, dann ist es aber durchaus sinnvoll, wenn Sie sie auf dem Mond unterstützen.«

»Ja«, nickte Goldmacher. »Ja, natürlich.«

»Sie werden Ausrüstung brauchen«, fügte Meuchlinger noch hinzu. »Sie wissen schon. Wir haben es hier mit jemandem zu tun, der wirklich gefährlich ist. Und auch wenn es mir widerstrebt, mehr oder weniger kopflos die Orte seiner Missetaten abzuklappern, wir müssen einfach dranbleiben.«

»Das Schiff ist noch nicht fertig ausgerüstet«, wandte Goldmacher ein.

Das Haupt seines Chefs auf dem Bildschirm vor ihnen nickte. »Stimmt, aber es geht nur zum Mond. Nehmen Sie Proviant und Ausrüstung mit, den Rest regeln wir später. Und wenn Sie eine Flasche Sekt haben, dann stoßen Sie mit Miss Vebiletti auf die Ludwig Ferdinand an.«

»Mir ist nicht eben wohl dabei«, sagte Goldmacher und blickte Misa flehentlich an, doch sie bleib stumm. Die Aussicht auf Action, wenngleich sie darin bestehen würde, Trümmer auf dem Mond einzusammeln, hielt sie davon ab, über das große Ganze nachzudenken.

»Miss Vebiletti?«, fragte Meuchlinger dann noch.

»Ja?«

»Passen Sie mir auf Herrn Goldmacher auf.« Der Chefentwickler zwinkerte. »Ich gebe Ihnen den Mann nur widerwillig mit, weil ich weiß, was Sie mit Männern wie ihm sonst machen, also sorgen Sie für seine Sicherheit.«

»Natürlich«, sagte sie gleichgültig. Es war nur der Mond und der Angreifer wäre längst weg, wenn sie eintrafen.

Sie blickte zu Goldmacher. Der Ingenieur kaute auf seiner Unterlippe herum und war anscheinend ganz aufgeregt, die engen Hallen von München zu verlassen. Fühlte sich vielleicht wie ein Agent.

»Was … äh, machen Sie denn mit Männern wie mir?«, fragte er plötzlich.

Misa zog eine Augenbraue in die Höhe und genoss die unvermittelte Mehrdeutigkeit in Meuchlingers Worten und seinem eigenen Blick. Lachend wandte sie sich ab.

»Sie sollten hoffen, dass ich Ihnen das nicht zeige, Mister Goldmacher. Auf zum Mond!«

4

 

Ein seltsamer Anblick bot sich Misa, als sie im breit verglasten Panoramaübergang zwischen den Habitaten von Neu Berlin über die verschmorten Überreste der zerstörten Strukturen blickte.

»Wie schlimm ist es?«, fragte sie den neben ihr stehenden Jungingenieur, der nachdenklich sein Pad studierte.

»Es waren wohl 28 Bauarbeiter damit beschäftigt, die Arbeiten der Roboter zu überwachen. Dreizehn davon konnten sich retten, die restlichen wurden in den Mondorbit geschleudert, wobei ihre Anzüge dekomprimierten.«

Misa seufzte. »Und wofür?«

»Das ist wohl die eigentliche Frage hier«, schnaufte der Ingenieur neben ihr. Er blickte sich kurz um, wie um sicherzustellen, dass sie nicht belauscht wurden. Dann trat er noch einen Schritt näher an sie heran und flüsterte: »Es gibt hier keine Vorräte von bioaktiven Substanzen, die man sich hätte aneignen können. Ebenso wenig wurde ein Agent getötet. Es bleibt also nur der Schluss …«

»… dass es nichts mit unserem eigentlichen Fall zu tun hat«, schloss Misa.

Goldmacher nickte. »Ein Unfall. Die Plasmaleitung könnte auch durch eine Unaufmerksamkeit geöffnet worden sein.«

Misa legte die Stirn in Falten. »Ich dachte, solche Sachen passieren heutzutage nicht mehr? Zeigen Sie nochmal die Aufzeichnung.«

Er hielt ihr das Pad hin und schnaufte. »Achten Sie auf den Funken, bevor die Dekompression einsetzt. Es kommt aus der Plasmaleitung, aber auch die Algorithmen können nicht sagen, warum.«

Grimmig blickte Misa durch das Panzerglas vor ihr. »Was haben sie alles bergen können?«

»Die Teile sind über ein Gebiet von ein paar tausend Quadratkilometern verteilt«, antwortete Goldmacher. »Das ist der Nachteil der niedrigen Gravitation.«

Misa wippte unruhig mit den Füßen auf und ab und versuchte, den Unterschied der künstlich erhöhten Schwerkraft zur Erde zu schätzen. Dann brummte sie und deutete auf die weißsandige Kraterlandschaft vor ihnen. »Wir suchen Teile von dieser Leitung.«

Goldmacher schnaufte. »Ich hatte es beinahe befürchtet …«

 

Minuten später standen sie inmitten der verschmorten Überreste der Leichtmetallkonstruktion, die einmal knapp vierhundert Menschen hätte beherbergen sollen, und trampelten auf angeschmolzenem Mondgestein herum.

»Die Ergebnisse einer offenen Plasmaleitung zu sehen, vermittelt einem nicht gerade ein gutes Gefühl bei dem Gedanken, dass die Dinger überall in Wänden verlaufen, ob hier oder auf dem Mars«, meinte Misa und hob von dicken Weltraumhandschuhen behütet ein grotesk verformtes Stück Metall auf, das entfernt einer Wandabdeckung ähnelte.

»Genau diese Feststellung macht den Vorfall ja so unangenehm«, sagte Goldmachers von Sprechfunk und Beengung seines Helms verzerrte Stimme. »Grundsätzlich gibt es eine Selbstabschaltung im Bereich von Picosekunden, sodass die freiwerdende Energie kaum Wasser zum Kochen bringen könnte.«

»Aber hier ging etwas so schief, dass das nicht geklappt hat, was?«, brummte Misa mehr zu sich selbst denn für ihn.

»Roger. Aber die einzigen Teile, die uns das sagen können, wären natürlich die Sensoren in der Leitung selbst, und die sind mit großer Wahrscheinlichkeit entweder verdampft oder ein paar Kilometer weit geschleudert worden.«

Misa nahm den Handscanner vom Gürtel und musterte den klobigen Anblick des Ingenieurs neben sich. »Wonach müssen wir suchen?«

»Pffft.«

Beinahe meinte sie, dass die Verbindung gestört wäre, doch irgendwann begriff sie doch, dass Goldmacher tatsächlich einfach ins Mikrophon gepustet haben musste. »Nadeln in Heuhaufen sind mit der heutigen Sensortechnologie jedenfalls leichter zu finden.«

Misa nickte und brauchte einen Moment, um sich klarzumachen, dass Goldmacher das Nicken schlechterdings durch den Atmosphärenanzug nicht sehen konnte. »Die Energiesignatur so eines Sensors jedenfalls wird sich kaum orten lassen, was?«

»Mit der Basis im Hintergrund müssten sie schon eine genaue Ausrichtung vornehmen, um die ganzen Störeinflüsse wegzukriegen. Doch stattdessen sollten wir eigentlich das Scanfeld weit auffächern, weil wir keine Ahnung haben, wohin die spezifischen Trümmer geflogen sein könnten.«

»Klassische Zwickmühle«, seufzte Misa.

»Aber nichts, was wir nicht hinbekommen könnten.«

Gespannt blickte sie Goldmacher an, der ein Stativ von seinem mit Sauerstoffflaschen bepackten Rücken nahm und in Seelenruhe ausklappte. »Ich werde den Handscanner auf Schmalbandauflösung stellen und dann immer einen kleinen Winkel weiterdrehen«, erklärte er.

Misa wollte mit den Schultern zucken, denn sie hatte schlecht Lust, dem Ingenieur dabei zuzusehen, wie er stundenlang wie ein Hobbyfotograph Sensorechos nachjagte. »Können wir nicht die Stationsarrays verwenden?«, fragte sie und gab sich nicht einmal Mühe, dabei ihre Ungeduld zu überspielen.

»Für die Fernabtastung schon, ja. Aber hier gibt es zu viele Störungen.«

»Ich glaube«, wandte sie ein, »dass die interessanten Teile ohnehin nicht in der näheren Umgebung sein werden.«

»Eins nach dem anderen«, sagte Goldmacher und beschäftigte sich wieder mit seinem Stativ.

Misa nahm ihren Handscanner und kümmerte sich schon einmal um das Interface zur Bavaria-Mondstation. Sie dankte ihrer Sicherheitsstufe, dass sie auf diese Weise nicht nur mehr, sondern auch spannendere Sensordaten einsehen konnte, als die MSA ihr jemals erlaubt hatte, und sagte sich, dass ihr Beruf trotz der wild in ihrem Hinterkopf umher surrenden Schuldgefühle vielleicht doch nicht so schlecht war.

Gelangweilt musterte sie die Werte, die das Sensor-Array zurückgab … und stutzte. »Sagen Sie mal«, brummte sie durch den Funkkanal, »haben Sie nicht gesagt, dass jeglicher Verkehr rund um NeuBerlin eingestellt worden sei?«

»Allerdings«, meinte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 30.06.2020
ISBN: 978-3-7487-4818-2

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