F.W.G. Transchel
Das Vebiletti-Vermächtnis
Ein Misa Vebiletti-Abenteuer (#4)
Bookrix Edition
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Gratis-Exemplar von Misa Vebilettis erstem Abenteuer BURST (Teil I)
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Mamma Lucia seufzte missbilligend. »Du hast den Apfelkuchen ja kaum angefasst.«
»Ich muss trainieren«, sagte Misa und deutete auf ihre kümmerlichen Oberarme. »Und dabei sind Mehl und Zucker und Apfelstückchen nicht eben hilfreich.«
Verträumt blickte sie in den wolkenlosen Himmel über dem Olivenhain neben der Casa Vebiletti und lauschte dem Zwitschern der überwinternden Vögel.
»Kind, du isst zu wenig. Bist schon ganz abgemagert. Du musst dich erholen. Hast du selbst gesagt.«
Misa seufzte ebenfalls herzhaft, genoss den sizilianischen Singsang ihrer Großmutter in den frisch kalibrierten Ohren. Dann schob sie allerdings doch den Teller mit weiterem Kuchen so weit von sich, wie es, ohne eine schwere Beleidigung Mamma Lucias zu riskieren, überhaupt möglich war. Sie hatte nicht darum gebeten, konnte ihn aber auch nicht so einfach ablehnen.
»Seit du hier bist, trainierst du jeden Tag wie eine Besessene an diesen Holoprogrammen, die du mitgebracht hast. Du musst auch mal an dich denken.«
Misa hatte keine große Lust auf diese Art der Kommunikation, erst recht nicht, weil man Sizilianerinnen jenseits der Siebzig darin einfach nicht das Wasser reichen konnte. Doch sie konnte es nicht so stehen lassen. Schon allein, weil sie wollte, dass ihre Großmama es zumindest nachvollziehen konnte.
»Versteh doch bitte, sagte sie und bemerkte halb unbewusst, dass auch ihre Arme in der Luft herum ruderten so wie die allermeisten Italiener, wenn sie drauflosredeten. »Ich bin nicht länger Operator bei der Marsianischen Weltraumbehörde, die Satellitenfirmware reparieren muss.«
»Ich weiß schon, ich weiß schon«, unterbrach Mamma Lucia sie. »Du hast gesagt, du willst die Welt retten. Noch einmal.«
Misa nickte. Spürte Wärme in sich aufsteigen und frische Überzeugung, gepaart mit der düsteren Erkenntnis, dass es sich gut angefühlt hatte, Henry Yang zur Strecke zu bringen.
»Wenn du mich fragst, Misetta, dann sollte jemand mit so viel Verantwortung ab und zu auch einmal Apfelkuchen essen können.«
Mamma Lucia lachte. Sie lachte so entwaffnend und ehrlich, dass Misa schließlich auch grinsen musste und widerwillig den Teller wieder zu sich heranzog.
»Wenn ich hier nicht fit genug werde«, sagte sie und grinste etwas, »dann muss ich zurück nach München.«
Die Großmutter schüttelte das beinahe kahle Haupt, dessen spärliche Resthaare unter einem unfassbar altmodischen Kopftuch verdeckt bleiben mussten, und zeigte doch ein makelloses Lächeln, das von Misas obszönen finanziellen Entschädigungen kündete und großzügig für zahnästhetische Behandlungen ihrer nächsten Verwandten verwendet worden war. »München, Mars, Milchstraße - die ganze weite Welt.«
»Die ganze weite Welt«, flüsterte Misa und spürte jenes vertraute Kribbeln, das sie längst hätte verinnerlichen sollen. Sie musste wieder hinaus. Weg von Sizilien, weg von der Erde. Irgendwohin, wo sie gebraucht wurde.
Und dann erinnerte sie sich daran, dass sie zuvor noch drei Wochen Ruhe geben musste, bis die neuen Nervenbahnen der Gehörimplantate stabil angewachsen waren.
»Caspita, Misa, hast du gefurzt?«, rief Mamma Lucia.
Erstaunt riss sie die Augen auf. Die alte Frau war zwar direkt, aber so etwas …
»Wieso denn ich?«, schrie sie ebenso entrüstet und war bereit, sich mit Händen und Füßen gegen weitere Vorwürfe zu verteidigen.
Doch Mamma Lucia war nicht nach Streit zumute. Unruhig blickte sie zur Casa Vebiletti. »Misa, mir war, als käme der Krach aus dem Haus.«
»Pfft«, machte Misa. »Ich habe nichts gehört.«
»Dann bist du noch tauber als ich es sein sollte«, brummte Mamma Lucia und stand auf. »Komm, wir wollen nachsehen.«
###
Die beiden Frauen brauchten nicht lange, um festzustellen, dass das Geräusch tatsächlich aus dem Haus gekommen war. Und dass es wirklich verdächtig sein musste.
Ratlos standen sie vor dem nur angelehnten Fensterrahmen mit der kaputten Scheibe. Es kam selten genug vor, dass ein offen stehendes Fenster zerbrach, und so war Misa sicher, dass es erst nach dem Schaden geöffnet worden sein konnte. Kein Laut war aus dem Innenraum zu hören, aber das hatte noch nicht viel zu bedeuten. Frisches Adrenalin erinnerte Misa daran, dass dies vielleicht ein Abenteuer sein könnte, wahrscheinlich jedoch nur ein dummer Jungenstreich. Einerlei.
Sie legte den Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete Mamma Lucia, wieder zurück in den Obstgarten zu gehen. Sie selbst öffnete den viel zu laut quietschenden Verschlag neben der Scheune der Casa Vebiletti und fand die Auswahl zwischen Spaten, Rechen und Kurzhacke, wovon ihr Letzteres am gefährlichsten schien.
Nachdenklich wog sie ihre Waffe zwischen beiden Händen hin und her und führte versuchsweise einige der neu erlernten Kampftechniken aus. Sie bewunderte die Disziplin der alten Meister und fragte sich, ob sie jemals in der Lage sein würde, diese so krude, unbalancierte Hacke wie ein Schwert oder einen Degen zu führen, nur weil ihre Trainingsprogramme es versprachen. Vorsichtig schloss sie den Verschlag wieder und kletterte über den Fenstersims. Misa Vebiletti würde ihr Haus verteidigen.
Drinnen roch es nach frischem Apfelkuchen, doch da war noch etwas anderes. Etwas … Fremdes.
Misa konnte nicht gerade sagen, dass sie nach der Hyperkompression auf der Venus schon wieder gut hören konnte, doch in der Zwischenzeit hatte sie durchaus wahrgenommen, dass die anderen Sinne einzuspringen in der Lage waren. Und hier war jemand, der nicht hierher gehörte. Sie festigte ihren Griff um die Gartenhacke.
Halt, war da ein Geräusch gewesen? Ohne einen Laut wechselte sie die Richtung und wandte sich zur kleinen Bibliothek der Vebilettis.
Jetzt hörte sie ganz deutlich Schritte. Und zwar von mehr als einem Menschen. Rasch zwang sie sich zur Ruhe, prüfte Atmung und Puls und vergewisserte sich, kampfbereit zu sein. Im nächsten Moment presste sie sich so flach wie möglich an die Wand. Im Korridor nebenan waren sie. Mindestens zwei, und zwar Männer, der Schwere der Schritte nach zu urteilen. Wohin wollten sie?
»Wo war das Fenster?«, fragte einer der beiden in schlechtem Englisch, was Misa Gänsehaut bescherte. Das waren keine Italiener, die Mamma Lucia suchten. Das waren Fremde.
»Scheiß auf das Fenster, wir können die Tür eintreten.«
»Na gut.«
Sie hörte, wie sie sich auf den Weg zum Fronteingang machten. Was sollte sie tun? Misa überlegte fieberhaft. Aus ihrer Erfahrung heraus wusste sie, dass zwei noch so starke, doch überraschte Männer ihr nicht selten unterlegen gewesen waren, doch hier lag die Situation anders. Weder hatte sie eine Strahlenpistole noch gab es Schutz durch Dunkelheit.
Auf Zehenspitzen folgte sie den Männern durch den Hausflur und sah, wie sie unschlüssig vor der schweren Tür aus edlem, altem Vebiletti-Olivenholz zum Stehen kamen.
»Los«, sagte einer der Männer, ehe der andere mit Anlauf dagegen sprang. Wie sie an dem Türrahmen zum Hausflur vorbei linste, erkannte sie, dass der sich nun die Schulter hielt und leise fluchte. Und noch etwas anderes sah sie: schwarze Overalls. Das war kein Zufall, denn sie waren vorbereitet. Diese Männer waren hier, weil sie etwas gesucht hatten.
Nicht sie und nicht Mamma Lucia, denn dann würden sie nicht bereits wieder abziehen, dachte sie. Und dann sah sie, dass einer der Männer einen kleinen, mit Pergament umwickelten Gegenstand in der Hand hielt. Sie konnte nicht erkennen, was es war, nicht einmal, was es hätte sein können, doch die Art, wie er ihn umklammerte, machte ihr vollkommen deutlich, dass er im Begriff war, ihn zu stehlen.
Wieder rannte der andere gegen die Tür, diesmal mit Erfolg. Das Krachen war im wahrsten Sinne ohrenbetäubend und sorgte für eine kleine Übersteuerung in Misas Gehörimplantaten, die sie kurz schwindeln machte. Während der erste Mann die aus den Angeln gebrochene Tür noch kurz beiseiteschob, hatte der andere das Haus bereits verlassen.
Misa rannte los. Wenn sie noch irgendeinen Hinweis erhaschen wollte, was vor sich ging, dann brauchte sie … irgendetwas. Am besten das, was die beiden stehlen wollten. Dabei war für den Moment ihre bessere Chance, den zurückgefallenen Mann aufzuhalten anstatt des anderen.
Er musste zwar die Schritte in der Diele hören, doch war er zu langsam. Gerade als er sich umdrehte, traf ihn bereits Misas meisterhaft geführte Hacke an der Schläfe.
Verblüfft sah sie ihn zu Boden sinken. Das war wirklich zu leicht gewesen. Und jetzt?
Während die Sekundenbruchteile verrannen, begriff sie, dass er für eine Weile ausgeknockt sein würde und dass sie eine Chance hatte, auch den anderen einzuholen. Im Eins-gegen-Eins war sie mittlerweile doch recht gut, ebenso wie im Sprinten. Auch wenn sie vielleicht zehn Sekunden Rückstand haben mochte, konnte sie auf der staubigen Straße in Richtung Catania doch schnell Boden gutmachen.
Gerade, als sie ihn erreicht zu haben glaubte, lief er um die Biegung hinunter zum Cimia-See und fand, wohin er unterwegs gewesen war: einen bereits im Startvorgang befindlichen Atmosphärengleiter, schwarz wie die Nacht und mit abgeklebtem Rufzeichen.
Misa sah die ausgefahrenen Projektilrohre und sprang augenblicklich in den Graben.
Als das Gefährt sich erhob, drehte es sich majestätisch in Position, deckte die ganze Straße mit einer abschreckenden Feuersalve ein und schwebte dann mit annähernder Schallgeschwindigkeit davon.
Als Misa, vor altem, abgestandenem Grabenwasser triefend, die Casa Vebiletti wieder erreicht hatte, musste sie lächeln.
Der zweite Mann lag rücklings auf dem Boden und hatte eine weitere Meisterin gefunden. Mit der Mistgabel bewaffnet stand Mamma Lucia fluchend über ihm und sorgte dafür, dass er an Ort und Stelle blieb.
Jähe Sorge, nein, Ungewissheit, flammte in Misa auf und sie rannte zu ihrer Hilfe heran.
»Wer sind Sie?«, rief sie und verstand langsam, dass es zwar möglich, doch nicht ratsam sein würde, den Mann einfach so festzuhalten. Mühsam fummelte sie ihr Padphone aus der hinteren Hosentasche und wählte den Notruf.
»Hier spricht Misa Vebiletti«, sagte sie pflichtgemäß und schilderte die Ereignisse.
»Keine Polizei«, keuchte indes der Mann unter ihr, doch davon ließ sie sich natürlich nicht abhalten. »Sie … verstehen … nicht …«, ächzte er, bevor er schließlich, was Misa und ihre Großmutter vor Schreck simultan mehrere Meter zurückspringen ließ, wimmernd zu qualmen begann.
Misa würgte. Sie hatte davon gehört. In grünlichen Flammenschein gehüllt, schrie der Mann wie am Spieß, ehe schließlich nur noch ein leise knirschendes Prasseln zu vernehmen war. Sie stieß ein wenig auf, konnte den Drang aber schließlich kontrollieren. Misa Vebiletti hatte Schlimmeres gesehen. Freilich handelte es sich nicht um spontane Selbstentzündung, sondern vorgeschriebene Beweisvernichtung.
Der Mann hatte versagt und bezahlte nun den Preis dafür.
Stumm betrachteten die Frauen die qualmende Leiche. Längst hatte Misa sich daran erinnert, dass es Verfahren gab, jegliche DNA einer Person so gründlich zu vernichten, dass man die Identität nicht einmal im Labor würde wiederherstellen können.
»Das war also ein Agent«, sagte schließlich Mamma Lucia ungerührt. »Immer noch Lust, die Welt zu retten?«
Misa nickte grimmig. »Mehr denn je«, sagte sie genau in dem Moment, als sie die ersten Töne der langgezogenen Sirene des ersten Polizeiwagens vernehmen konnten.
»Gerade rechtzeitig«, stellte Mamma Lucia fest.
Misa blickte sie verwirrt an. Sie selbst hatte ja nun schon einiges erlebt … doch ihre Großmutter zeigte wirklich überhaupt keine Nerven.
»Bist du kein Stück erschrocken und aufgewühlt?«, fragte sie.
»Ich bin dreiundsiebzig Jahre alt, Misa. Meinst du wirklich, man könnte mich erschrecken?«
Misa nahm ihre Großmutter in die Arme. Vielleicht sollte sie sie mit ins Weltall nehmen, irgendwann. Aber zuerst musste sie herausfinden, was genau hier eigentlich los war.
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Keineswegs hatte sie erwartet, gleich zu Ludwig Mayr persönlich vorgelassen zu werden. Doch hier stand sie und bekam nicht mehr als die Auskunft, dass man zu diesem Vorfall keinerlei Auskunft geben dürfe.
»Kasa Misa Vebiletti«, wiederholte sie sorgsam und langsam für den Empfangsroboter vor ihr. »Vielleicht können sie mich ja Herrn Quirin Meuchlinger, meinem Kontakt bei Bavaria, melden.«
»Auskunft nicht möglich«, sagte der Blechkasten vor ihr lapidar. »Die Bavaria unterhält mit keinem Rechtssubjekt namens Kasa Misa Vebiletti etwaige Geschäftsbeziehungen.« Daraufhin versuchte sich der Roboter an einer Art synthetisch-gequältem Lächeln. »Bitte wenden Sie sich an die Beschwerdestelle Mensch-Maschine-Interaktion, wenn Ihre Anfrage weiter besteht.«
»Aber gerne«, sagte Misa und stapfte in die gewiesene Richtung.
Bavaria war groß und besaß praktisch ganz München - dennoch war sie überzeugt, dass der opulente Geschäftssitz außerhalb der Megacity die richtige Adresse für sie sein musste. Sie war gewiss nicht umsonst den ganzen Weg zu einem Preis gekapselt, der ihr früher die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. Misa hatte sich ein wenig Luxus verdient und bestand darauf, nicht nur per E-Mail mit dem Mann namens Quirin Meuchlinger zu kommunizieren. Sie war hier und man würde sie anhören.
»Grüß Gott. Was kann ich für Sie tun?«
Endlich ein Mensch.
»Mein Name ist …«
»Ach, ich erkenne Sie, Signora di Matteo.«
»Wa…«
»Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Man erwartet Sie bereits.«
Irritiert blickte sie der Frau nach, die gestelzten Schrittes in einen Korridor hinein ging. Nach einigen Metern blieb sie stehen, blickte Misa mit einer Mischung aus gestrenger Geschäftigkeit und nachsichtiger Verwunderung an und deutete in die Richtung, in die Misa bereits lief.
Misa schob ihre Zweifel beiseite und setzte sich in Bewegung. Als sie die überaus seltsame Vorzimmerdame erreicht hatte, strafte diese sie mit einem letzten tadelnden Blick, flüsterte davon, dass sie sich genau überlegen müsse, was und wie man öffentlich sage und führte sie immer tiefer hinein in das Geflecht von An- und Umbauten der Bavaria-Zentrale.
»Wir sind da«, vermeldete sie schließlich halbwegs zufrieden und deutete auf eine schwere, von poliertem Aluminium verstärkte Tür mit der Aufschrift ›Dr.-Ing. Quirin Meuchlinger, Entwicklungsabteilung‹.
Die Empfangsdame hielt sich weiterhin nicht lange mit Erklärungen auf, sondern nahm eine Art Transponder vom Gürtel, vollführte eine halbwegs komplizierte Bewegung vor der Tür und ließ Misa sogleich ohne Kommentar oder Anweisungen vor dieser stehen.
Einen Moment lang passierte nichts, dann dampfte der Türrahmen an allen vier Seiten, zischte bedrohlich und gab schließlich den Blick frei auf eine Art Sicherheitsschleuse, die mit leuchtenden blauen Laserstrahlen gierig ihren Körper absuchte.
»Frau Vebiletti, bitte treten Sie ein«, sagte eine blechern klingende Stimme.
Sie zögerte.
»Nur keine falsche Bescheidenheit.«
Misa trat vor, schloss kurz die Augen in der Erwartung, von den Einrichtungen geblendet zu werden und … trat in einen Raum so still, wie der irdische Ozean, nach allem was sie wusste, tief war.
Etwas quietschte, neugierig öffnete sie die Augen, und dann war die Sicherheitsschleuse verschwunden. Misa stand in einem holzvertäfelten Büro. Aus dem Fenster konnte sie in der Ferne die blitzenden Zwiebeltürme der Isarmetropole sehen.
»Wie …«
»Alles nur Rauch und Spiegel«, sagte Quirin Meuchlinger, nippte lächelnd an einer Teetasse aus Meißner Porzellan und deutete auf eine mit edelstem Leder bezogene Sitzgarnitur. »Herzlich Willkommen in der ›Entwicklungsabteilung‹«, sagte der Mann und schien nicht im geringsten Maße von Misas Verblüffung erstaunt. »Wir wollen uns setzen.«
Meuchlingers Äußeres erstaunte Misa ebenso wie sein eigentümlich übertriebener Ausdruck. Er trug feinsten Mailänder Schnitt, soweit so gut, doch darüber einen ganz und gar zerknitterten Kittel, der locker älter sein musste als der Mann selbst und sie über seine genaue Rolle im Konglomerat Bavaria letztlich im Dunkeln ließ.
Misa setzte sich. Wenn sie Hugo Marcus für seine Dekadenz verachtet hatte, so musste sie sich nun eingestehen, dass sie Gefallen daran fand.
»Sie müssen vorsichtiger mit der Art und Weise sein, Kontakt aufzunehmen«, sagte Meuchlinger bestimmt, doch nicht tadelnd. »Nach Ihren Schilderungen müssen wir davon ausgehen, dass einer der vier anderen Großkonzerne etwas … von Ihnen will.«
»Genau deswegen bin ich ja hier«, antwortete sie und hielt Meuchlinger den Datenchip hin, auf dem sie alles gesammelt hatte, was sich hatte finden lassen. Dann kramte sie ein winziges Probenröhrchen aus der Jackentasche und hielt es in die Höhe.
»Der Rest des Mannes, den Sie überwältigt haben?«
Misa nickte missmutig. »Ich habe gedacht, vielleicht verrät uns die Zusammensetzung etwas über den Mechanismus.«
»Agentendenke«, sagte Meuchlinger und legte gedankenversunken den Kopf zur Seite. »Wenn es Sumsang oder Ecco war, dann finden wir nichts. Aber das ist noch immer 50:50, gell?«
»Sieht ganz so aus.«
»Schön«, sagte Meuchlinger. »Nachdem wir den unangenehmen Teil geklärt haben, lassen Sie mich zuerst noch in Erfahrung bringen, ob Sie fürs Erste weitere Fragen haben.«
Sie schüttelte den Kopf und überlegte innerlich, was noch folgen sollte. »Wann können Sie mir mehr sagen?«
»Wahrscheinlich gar nicht«, sagte Meuchlinger ein wenig zu direkt. »Ich will ehrlich sein: Diese Art von ›Einmischung‹ sehen unsere Agenten, und vor allem die guten, leider recht häufig. Dass sie Sie auf Ihrem Landsitz ausfindig machen konnten, alarmiert mich ein wenig, aber wir werden sehen, ob wir da etwas unternehmen müssen. Für den Anfang warten wir einmal ab. Haben Sie inzwischen identifizieren können, was entwendet worden ist?«
Sie verzog unschlüssig den Mund und zögerte. »Meine Großmutter …« Misa zögerte weiter. »Sie ist der Meinung, dass nichts fehle.« Ihr missfiel, dass sie Mamma Lucia als tatterige alte Frau darstellen musste, doch Meuchlinger würde sicher dieselbe Schlussfolgerung ziehen wie sie selbst auch: Dass die Männer kaum konzentriert abgezogen wären, hätten sie nicht bekommen, was sie wollten.
»Das ergibt keinen Sinn«, sagte denn auch Quirin Meuchlinger und blickte zweifelnd zum Fenster hinaus. »Sie sagen, die Männer waren auf dem Rückzug, als Sie sie stellten?«
»Ganz bestimmt«, insistierte Misa. »Und ich sah denjenigen, der entkam, ein kleines Bündel halten.«
»Ich glaube Ihnen«, erklärte Meuchlinger. »Aber ohne die Information darüber, was entwendet worden ist, stochern wir im Nebel.«
»Ich verstehe«, sagte Misa.
Meuchlinger nickte. »Da bin ich sicher. Das war kein Vorwurf. Kommt ja oft genug vor, dass wir mit unvollständigen Daten arbeiten müssen. Für den Moment fürchte ich allerdings, ist da nicht viel zu machen.«
Sie sah, wie der Entwicklungsleiter sich erhob. »… da der unangenehme Teil nun besprochen ist und Sie … nun ja, halt gerade einmal da sind, wollen wir noch kurz einen Rundgang machen, meinen Sie nicht?«
Misa war nicht sicher, ob sie genau verstand, was er meinte, denn sie hatte keine große Lust, den Moloch des Bavaria-Hauptquartiers aus allen Perspektiven zu besichtigen.
Doch Quirin Meuchlinger war bereits aufgestanden und winkte sie aufgeregt zu sich. »Haben Sie wirklich das Jetpack für terranische Atmosphärenflüge auf der Venus verwendet?«
Wieder gequältes Lächeln. »Sie haben den Bericht gelesen?«
»Machen Sie Witze? Ich habe ihn verschlungen!«
Irritiert musterte Misa den Mann neben ihr. Angesichts des Nadelstreifens unter dem Kittel war ihr ganz und gar nicht klar, welcher Teil von ihm so begeisterungsfähig sein sollte.
Zwei Sekunden später wusste sie es: Nachdem auch er eine Armbewegung vollführt hatte, die eine Transpondergeste gewesen sein musste, verschwand die gesamte Holzvertäfelung an der vermeintlichen Rückwand seines Büros und gab den Blick frei auf das größte und geschäftigste Labor, das Misa je gesehen hatte - und auf dem Mars hatte sie viel gesehen.
Ihr entfuhr jäh ein kleiner Laut der Anerkennung - zu geräuschvoll indes, um von Meuchlinger überhört zu werden.
»Hier, Frau Vebiletti, sind all die kleinen und großen Dinge entstanden, an denen Sie in der letzten Zeit Ihren Spaß gehabt haben«, sagte er voller kindlichem Enthusiasmus und breitete die Arme aus. »Kommen sie mal mit.«
»Das Equipment aus Frachtraum 2«, sagte Misa an-dächtig und betrachtete eine Art große, mechanische Spinne, die vorsichtig, sofern dieses Wort bei einem Roboter Anwendung finden konnte, mehrere schwere Kisten auf dem Rücken balancierte. Sie erkannte vage das Wort »hochentzündlich» auf einer davon und schlich sich hektisch auf Meuchlingers andere Seite.
»Die Kisten sind natürlich leer«, informierte er sie sofort lachend. »Doch es ist gut zu sehen, dass Sie wirklich so aufmerksam sind, wie man sagt …«
Misa erinnerte sich düster an Trips durch dunklen, tödlichen Weltraum und den Moment, in dem sie beinahe zwischen einem Asteroiden und dem Raumschiff Leopold erst eingeklemmt und dann verloren gegangen wäre. »Aufmerksamkeit, Herr Dr. Meuchlinger«, sagte sie betrübt, »ist mitunter das einzige, was mich bis jetzt am Leben gehalten hat.«
Der Ingenieur nickte nachdenklich. »Ich verstehe, was Sie meinen.« Dann stand er einen Moment lang da und starrte ins Leere.
»Schön, Misa«, sagte Meuchlinger als er den Faden wiedergefunden hatte, und deutete auf eine anscheinend leere Werkbank zwischen einem weiteren robotischen Ungetüm. Anscheinend meinte er etwas, das ungefähr so aussah wie ein Schießstand für Raketenwerfer, zumindest, wenn sie davon absah, dass gerade zwei Weißkittelmänner, nein, Ingenieure, wie sie sich in Gedanken korrigierte, eine Art grotesk verformten Plastikklumpen auf einen Antigravschlitten hoben.
»Die testen die neuen Feststoffschilde«, sagte Meuchlinger stolz, ohne jedoch weiter darauf einzugehen, was er damit meinte.
Misa fragte nicht, sondern war ganz und gar damit beschäftigt, nach weiteren tödlichen Gefahren Ausschau zu halten.
Einmal mehr konnte der Entwicklungsleiter ihre Gedanken erraten. »Seien Sie unbesorgt«, sagte er. »Die wirklich gefährlichen Sachen testen wir auf der Mondbasis.«
»Natürlich«, entgegnete Misa trocken. Darauf hätte sie auch selbst kommen können. »Was wollten Sie mir gleich zeigen?«
»Was?« Meuchlinger schien abwesend, doch er nahm dann seinen Transponder aus der Tasche und entriegelte die Arbeitsfläche. »Ah ja, genau. Das hier wird Ihnen sicher gefallen.«
»Was ist das?«, fragte Misa und musterte den länglichen Gegenstand, den Quirin Meuchlinger aus einer der Schub-laden holte.
Der Ingenieur lächelte. »Ein Point-Blank-Trägheits-invertierer.«
Misa lächelte und musste doch eingestehen, dass der Name nicht gerade selbsterklärend war. Meuchlinger blickte sie erwartungsvoll an, doch alles, was sie erwidern konnte, war ein traurig dahingesabbeltes »Äh?«.
»Na los, schnallen Sie ihn um!«
Zögerlich folgte sie den Anweisungen. Die vollständig metallisch wirkenden Segmente waren nicht so schwer, wie sie aussahen, und außerdem auch noch relativ kleidsam - zumindest für eine Spionin im Außeneinsatz.
»Und jetzt?«
»Äh …« Meuchlinger grinste. »Bitte berühren Sie Ihre Gürtelschnalle erst wieder, wenn Sie sich da drüben hingestellt haben und sicher sind, dass Sie den Entriegelungsknopf von dem Auslöseknopf daneben unterscheiden können.«
Misa sah den Ingenieur an. »Hätten Sie mir das nicht sagen müssen, bevor ich ihn angelegt habe?«
»Genau genommen schon«, sagte Meuchlinger und druckste herum. »Aber jetzt … jetzt gehen Sie bitte zwischen die Wasserfässer dort und versuchen es dann!«
Misa zuckte die Schultern und tat wie geheißen. »Bereit«, sagte sie.
»Trauen Sie sich ruhig«, erwiderte der Ingenieur und setzte vorsichtshalber noch schnell eine Plastikbrille auf. »Na los …«
Durchatmen. Was konnte schon passieren … Sie drückte den Knopf am Gürtel.
Kurzes Schwindelgefühl, dann sah sie die Wasserfässer in hohem Bogen von sich wegfliegen. Sechs große, mindestens vier Zentner schwere Behälter. Während eines davon gegen das stahlharte Bein eines Roboters flog und diesen an die Wand kegelte, rollten die anderen, nicht ohne ihren Inhalt auf dem Boden zu verteilen, in alle Richtungen davon.
»Was zum …«
Quirin Meuchlinger lachte schallend und betrachtete seinen nassen Kittel. »Na also. Ich hatte mir schon gedacht, dass Sie das nützlich finden würden.«
»Sehr beeindruckend«, sagte Misa. »Wie funktioniert es? Bin ich eine Art Antigrav-Zentrum geworden?«
Der Ingenieur strahlte. »Es ist ein Trägheitsmanipulator, hat also mit der Gravitation nichts zu tun. Tatsächlich ist es …«
Misa hob abwehrend die Arme. »Schon gut, schon gut. Ich glaube, ich werde mich damit begnügen, die Funktion konzeptuell begriffen zu haben.«
»Oh. Natürlich.«
Sie erinnerte sich daran, warum sie eigentlich hergekommen war. »Wollten Sie mir sonst noch etwas zeigen? Ich würde Sie sonst mit der Analyse der Rest-Spuren, die ich Ihnen mitgebracht habe, alleine lassen.«
Quirin Meuchlinger nickte abwesend, als wäre er enttäuscht, dass Misa nicht noch all die anderen Sachen erklärt haben wollte, die in seinem Labor herumstanden. »Ich gebe Ihnen Bescheid«, sagte er.
»Danke«, sagte Misa und suchte einen halbwegs klar erkennbaren Ausgang.
»Dort hinten entlang bitte«, sagte Meuchlinger. »Und Misa: Es wäre wirklich nützlich, wenn wir wüssten, was diese Leute eigentlich gesucht haben.«
Nachdenklich nickte sie und reichte ihm die Hand. »Das werde ich schon herausfinden.«
»Gut«, sagte der Ingenieur und deutete eine Verbeugung an. Dann, in übertriebener Deutlichkeit: »Auf Wiedersehen, Signora di Matteo.«
Misa schnaufte.
»So will es das Protokoll«, sagte er und zwinkerte ihr zu.
»Basta, non esagerare[1]«, sagte Misa lächelnd und verließ das wunderliche Labor des noch wunderlicheren Wissenschaftlers.
[1] Ital. »Übertreib‘ es nicht! «
Mamma Lucia schüttelte den Kopf.
»Ich habe es dir doch schon gesagt«, meinte sie. »Es fehlt nichts.«
Misa seufzte und legte den Kopf zwischen beide Hände. Schließlich blickte sie wieder auf, nahm den Wein und deutete auf das Haus hinter ihr. »Ich habe gesehen, wie derjenige, der entkam, etwas so in der Hand hatte, wie man nur Dinge hält, die wertvoll und gestohlen sind.«
»Ich kann dir nicht helfen, Kind. Es ist alles in Ordnung hier. Bestimmt war es ein Versehen.«
Misa schürzte die Lippen. Sie so zu nennen, wenn sie ungezwungen redeten, war eine Sache. Lucia war ihre Großmutter. Doch die Art, wie sie den Einbruch herunter spielte, erinnerte sie zu sehr daran, wie die Behörden der Öffentlichkeit davon ›berichtet‹ hatten, was sich ›angeblich‹ auf dem Ganymed abgespielt hatte, während in Wahrheit Millennium die Weltherrschaft an sich hatte reißen wollen.
»Was ist los?«, fragte Misa.
»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte Mamma Lucia.
»Okay«, entgegnete sie und seufzte erneut. »Diese Leute waren nicht aus purem Zufall hier, verstehst du? Die haben etwas gesucht.«
»Aber sie sind wieder weg«, sagte Mamma Lucia trotzig.
»Ja«, grollte Misa. »Und einer von ihnen war sogar bereit, sich lieber umzubringen, als eine Aussage machen zu müssen. Wenn du etwas weißt oder etwas vermisst … Du bist in Gefahr, Nonna.«
Abweisend verschränkte Mamma Lucia die Arme vor der Brust. »Nicht so sehr wie du, Misa.«
»Hmm?«
Die alte Frau wurde noch defensiver. »Ich meine ja nur. Wer von uns beiden schleicht denn zwischen den Sternen herum und murkst andere Leute ab? Die waren deinetwegen hier, ist doch klar.«
Misa atmete tief ein und blickte ihre Großmutter eindringlich an. »Daran kann wohl kein Zweifel bestehen. Allein, was mich hier stutzig macht, ist doch, dass sie etwas in der Casa Vebiletti gesucht und meiner Meinung nach auch gefunden haben, was mit mir nichts zu tun hat, denn, so ehrlich müssen wir sein, außer einem eingestaubten Motorrad auf dem Mars besitze ich praktisch nichts anderes mehr.«
Mamma Lucia lächelte. »Nun, dann ergibt es nur umso mehr Sinn, dass ich nichts vermisse, nicht wahr?«
»Ich sah einen der Männer etwas hinaustragen.« Sie hob die Hände in die Höhe und verdeutlichte noch einmal, was sie gesehen hatte. »So groß in etwa.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Mamma Lucia sofort.
Zu schnell.
»Du überlegst ja nicht einmal richtig«, sagte Misa vorwurfsvoll.
»Das muss ich auch nicht.«
»Wieso?«
»Weil ich das ganze Haus abgesucht habe. Misa, es fehlt nichts.«
»Und da bist du dir ganz und gar, einhundertprozentig sicher?«
Wild nickte Mamma Lucia mit dem Kopf. »Ich vermisse nichts.«
Auch wenn Misa nicht danach war, ihre Großmutter der Lüge zu bezichtigen, irgendetwas stimmte nicht. Sie hasste sich selbst dafür, der Spionin in ihr nachzugeben, doch der Ausdruck und die Pose waren einfach zu entschlossen. Sie kannte Mamma Lucia zu gut, um es ihr hier und jetzt sofort abzukaufen.
»Ich kenne dieses Gesicht«, sagte Mamma Lucia unvermittelt. »Kasa Misa Vebiletti, du glaubst mir nicht und heckst etwas aus. Das ist ungehörig. Schluss damit!«
Misa nickte. Mal sehen, wie weit Ehrlichkeit sie tragen konnte, dachte sie. »Ich habe Angst, dass wieder jemand kommt. Wenn ich nicht da bin. Jemand, der nicht findet, was er sucht. Jemand, der nicht Halt macht vor …«
»Schluss damit. Niemand wird kommen und niemand wird mir ein Leid antun. Sei lieber auf dein eigenes Wohl bedacht, Misa.«
»Wie kannst du da so sicher sein? Wenn … » Misa stockte. Aber natürlich. Sie wusste es. Mamma Lucia wusste ganz genau, was sie gesucht - und gefunden - hatten. »Was ist es?«
»Was ist was?«
»Was sie gestohlen haben.« Misa war ungeduldig. Nein, aufgebracht. Was erlaubte ihre Großmutter sich eigentlich?
»Misa, ich habe dir schon zigmal gesagt, dass …«
»Jetzt sei vernünftig. Wenn du mir nicht sagst, was es ist, dann bringst du dich nur in Gefahr!«, rief sie.
»Kind, und wenn ich es dir sage, bringe ich dich noch mehr in Gefahr.«
Sprachlos starrten sie einander an.
»Was?«, fragte Misa.
»Oh … ich meine … wenn ich es wüsste, dann würdest du irgendwelchen Phantasiegebilden nachjagen und am Ende doch nichts erreichen.«
»Nein«, keuchte Misa. »Du weißt es.«
»Nein.«
Sie hatte genug. Spürte, wie längst die Arme das Sprechen übernahmen und nicht eben freundliches Vokabular auspackten. »Heraus damit«, presste sie zwischen den Lippen hervor. »Du bist arrogant zu denken, dass du es mir vorenthalten kannst. Ich bin kein Kind mehr, dem man sagen kann, dass es einen Weihnachtsmann gibt. Das ist ungehörig.«
»Ach Misa …« Mamma Lucia wirkte jetzt alt, ja vielleicht sogar gebrechlich.
»Was? Ist? Es?«, brummte die Enkelin. Frische Unnachgiebigkeit verstärkte ihren Zorn und ließ sie jede Möglichkeit ausblenden, dass es ihrer Großmutter am Ende wirklich nur um das Beste für sie gehen könnte.
»Ich …«
Misa erkannte, wie sehr Mamma Lucia mit sich selbst ringen musste.
»Ich kann es dir nicht sagen«, meinte sie schließlich.
»Du meinst, du willst nicht.«
»Misa, versteh doch. Es geht dabei um mehr als nur eine einfache Erklärung.« Mamma Lucia hatte jetzt Tränen in den Augen.
Misa blickte sie verwirrt an, nahm aber ihre Hand. »Was auch immer es ist. Du kannst es mir sagen.«
»Oh Misa!« Ihre Großmutter schluchzte nun regelrecht. Damit hatte sie nicht gerechnet. Auch wenn sie noch nicht verstand, wieso es ihr derartig naheging, nachdem sie noch zuvor fest davon gesprochen hatte, dass überhaupt nichts geschehen sei … Sie spürte, dass auch sie gleich in Tränen ausbrechen würde, wenn Mamma Lucia es nicht herausbrachte.
»Okay«, sagte die alte Frau und schluchzte. »Ich weiß, was sie genommen haben.«
»Was denn?«
Mamma Lucia kramte ihr altes Stofftaschentuch heraus und schnäuzte herzhaft.
»Du kennst doch die Kiste auf dem oberen Kaminsims mit der Asche deiner Eltern?«
Misa hielt den Atem an. »Ja. Natürlich. Was ist damit?«
Die Großmutter atmete schwer. Es war ihr anzusehen, dass die Wahrheit zu erzählen, nur wenig leichter sein konnte, als sie zu verschweigen.
»Du weißt natürlich, dass sie bei einem Autounfall in den Walliser Alpen umgekommen sind, als du noch klein warst.«
Stille. Misas Puls raste. Was konnten Unbekannte mit einem Ereignis vor dreißig Jahren anfangen wollen?
»Das ist …«
Mamma Lucia musste jetzt so sehr weinen, dass Misa Mühe hatte, es von Würgen oder Husten zu unterscheiden. Doch sie hatte in der letzten Zeit viel dazugelernt und spürte, dass es da diesen Teil in ihr gab, der nicht die Tränen zurückhalten musste, sondern stumm beobachtete, welche unausweichlichen Schlüsse sich schon jetzt ergaben.
Allein, ihr Herz fühlte sich dabei an, als wollte es jeden Moment zerspringen. Längst hatte sie begriffen, dass Mamma Lucia sagen würde, dass etwas mit dieser Version der Ereignisse nicht stimmte. Und irgendjemand wusste das.
Atemlos stand sie auf, ging um die hölzernen Sitzmöbel zur Großmutter hinüber und legte den Arm um ihre Schultern.
»Es ist okay«, flüsterte sie ihr zu und sah plötzlich in ein aufgeklartes Gesicht.
Die Tränen wegwischend, musterte Mamma Lucia ihre Enkelin und nickte nachdenklich. »Es ist richtig so. Du bist alt genug.«
Misa nickte, obwohl sie noch immer Mühe damit hatte, Zorn zurückzuhalten. Wofür war sie denn zuvor, bitteschön, nicht alt genug gewesen?
»Deine Eltern«, sagte Mamma Lucia bedächtig, »sind nicht in den Alpen gestorben, sondern an einem noch viel felsigeren Ort.«
Was bedeutete das?
»Wo?«
»Das haben sie mir niemals gesagt. Aber es waren nicht die Alpen. Es war …«
»… nicht auf der Erde.«
Irgendwie … hatte sie dieses Detail plötzlich gewusst. Aber da war noch mehr. So viel mehr, das noch keinen Sinn ergab.
Mamma Lucia nickte wieder. »Ja, Kind. Sie starben nicht auf der Erde.«
»Was haben sie im Weltall gemacht? Waren sie …«
Das Taschentuch wanderte an Mamma Lucias Nase. »Raumfahrtpioniere?« Mamma Lucia schüttelte den Kopf und blickte nachdenklich drein. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jedenfalls waren sie viel mehr so, wie du heute bist.«
Misa verstand. Noch ergab nicht alles Sinn, doch für einen Moment schien es, als könnte sie die Geschichte ihres Lebens zum ersten Mal in voller Größe fassen und begreifen. Und doch … da gab es diese juckende Stelle in ihrem Verstand, die vielleicht irgendwie erklären konnte, was in den letzten Monaten mit ihr geschehen war.
»Sie waren Agenten«, sagte Misa. Dann, nach einem Moment: »Wie ich.«
Mamma Lucia lächelte. »Ja, wie du …« Ihre Züge wurden weicher, ganz so, als könnte ihre unterdrückte Missbilligung von Misas Verwandlung schließlich durch die Einsicht aufgewogen werden, dass ihre Enkelin auf eine eigenartige, und doch immer weniger zufällig wirkende Fügung nicht nur unvernünftig und töricht gehandelt hatte, sondern letztendlich einem Teil von ihr folgte, der schon immer da gewesen war.
Misa schluckte. »Erzähl mir von ihnen.«
»Nun …« Mamma Lucia atmete tief ein und steckte das durchnässte Taschentuch weg. »Deine Mutter … ja, sie war wirklich viel mehr wie du, als ich mir je eingestehen wollte. Und …«
Misa hörte ihrer Großmutter gebannt zu. Hatte sie wirklich bis zum Jupiter und zurück gemusst, eigenhändig einen der gefährlichsten Männer der Welt zur Strecke bringen, bevor sie die eigene Familiengeschichte erfahren konnte?
Sie lehnte ihren Kopf zurück und lenkte den Blick nach oben, erahnte das finstere Firmament hinter dem Blau des Himmels und fand, dass die Sterne in diesem Moment ein klein wenig weniger fern wirkten. Dass die Zeit auf dem Mars - nicht gerade eine schöne Zeit, wie sie sich eingestehen musste - doch notwendiger gewesen sein mochte, als sie immer geglaubt hatte.
Mamma Lucia fuhr fort. Ein Lächeln spielte auf ihrem faltigen Gesicht, das sie vierzig, fünfzig Jahre jünger wirken ließ, und dann sagte sie: »So wie alle Frauen der Vebilettis.«
»Ich weiß, dass du niemals im All gewesen bist«, sagte Misa.
»Ha. Das bedeutet nicht, dass ich keine … ›Abenteuer‹ erlebt habe.«
Misa lachte. »Das habe ich daran gesehen wie du die Mistgabel gehalten hast.«
Mamma Lucia fuhr der Enkelin durchs Haar und nickte anerkennend. »Esatto[1].« Sie musterte Misa, als wolle sie ermessen, was sie preisgeben konnte. »Und das ist alles, was ich weiß. Als sie die Nachricht brachten, sagten sie nur, dass es auf einem langperiodischen Kometen passiert sei. Und dann, zwei Wochen später, kamen die Urne, das Geld, die erfundene Alpen-Geschichte und die Schweige- und Verzichtserklärung.«
»Wie alt war ich?«, flüsterte Misa.
»Achteinhalb Monate«, sagte Mamma Lucia. »Es brach mir das Herz. Genauso wie das Schweigen … all die Jahre.«
Misa drückte ihre Großmutter, spürte die warmen Tränen die Wangen hinabfließen und genoss einfach nur den jähen Moment der Klarheit.
»Jetzt also weißt du es«, meinte die Großmutter und schien gefasster, beinahe zufrieden.
»Ja. Aber eines weiß ich noch nicht.«
Mamma Lucia nickte. »Warum die Männer kamen und nach der Asche suchten.«
Misa nickte ebenfalls. »Ja.«
»Ich kann es dir nicht sagen. Aber vielleicht können die bei Bavaria es.«
»Bisher: Kein einziges Wort.«
»Erzähl ihnen, was du weißt. Und verlange zu erfahren, was sie wissen.«
Frische Entschlossenheit flutete Misas Verstand. »Ja«, sagte sie. »Ja, das werde ich.«
Und dann saßen Großmutter und Enkelin noch eine Weile beieinander und feierten wortlos das neue Bewusstsein, das sie verband. Mamma Lucia holte neuen Weißwein und Brot und Oliven und schließlich aß Misa sogar noch ein Stück Apfelkuchen. Sie stießen auf ihre Eltern an, und als schließlich die hereinbrechende Dunkelheit Misa alle Sterne sehen ließ, fasste sie einen Entschluss. Sie würde nicht nur mehr, sondern alles herausfinden. Es wurde auch Zeit.
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Lange, nachdem Mamma Lucia zu Bett gegangen war, saß Misa noch immer unter dem Sternenhimmel und versuchte zu ermessen, welche Abgründe sich nicht etwa unter ihr, sondern dort oben, zwischen den Sternen aufzutun schienen. Sie musste die Asche ihrer Eltern zurückbringen. So schändlich der Einbruch allein auch bereits war, Misa hatte das ungute Gefühl, dass mehr dahinter stecken musste als nur eine dreißig Jahre alte Agentengeschichte. Dass es ein Etwas in der Gegenwart geben musste, das irgendjemanden Interesse an der Vergangenheit hatte finden lassen.
Noch mehr Rache von Millennium?
Sie glaubte nicht daran. Ebenso wenig wie sie an Zufälle glauben wollte und konnte nach allem, was sie zuletzt erlebt hatte. Doch Mamma Lucia hatte recht: Bavaria würde mehr wissen. Musste mehr wissen.
Sie schloss die Augen und wähnte Hugo Marcus' Gesicht vor ihrem inneren Auge. Hatte er es gewusst?
Wie zufällig war sein Interesse an ihr gewesen? Gut, zweifellos war es gelegen gekommen, dass sie Operator bei der MSA gewesen war. Und darüber hinaus?
Misa seufzte, machte sich klar, dass sie das ganz sicher niemals herausfinden würde, und trank den letzten Schluck Wein auf ihn.
Und darauf, dass alles irgendwann Sinn ergäbe.
[1] Ital. »Genau. «
»Nun, das ändert natürlich alles«, sagte Quirin Meuchlingers zweidimensionale Projektion auf Misas Padphone und legte die Stirn in Falten. »Was Sie mir sagen, lässt nur einen Schluss zu: Dass jemand gerne wissen möchte, um welchen Kometen es sich handelt.«
»Und was hilft die Asche meiner Eltern dabei?«
»Ich habe eine Theorie«, sagte der Bavaria-Quartiermeister.«
»Lassen Sie hören.«
»Laut der unter Verschluss befindlichen Akten wurden die … ähem, sterblichen Überreste Ihrer Eltern entweder an Ort und Stelle oder nicht weit davon entfernt eingeäschert, sodass wohl jemand auf die Idee gekommen ist, aus der spektralen Zusammensetzung der restlichen Spurenelemente auf den Ursprungsort schließen zu können.«
Misa rutschte unruhig in ihrem Sessel umher. »Und das geht?«
»Na ja … das kommt ganz darauf an, wer das wissen will und welche Möglichkeiten er hat. Ohne falsche Bescheidenheit möchte ich sagen, dass wir es durchaus herausbekommen würden.«
»Nur, dass wir es natürlich bereits wissen.«
Erstaunt musste Misa nun feststellen, dass Meuchlingers Gesicht eine Betroffenheit zeigte, die sie nicht erwartet hatte.
»Sehen Sie … das Eigenartige an der Sache ist, dass mir diese Information aktuell nicht zugänglich ist. Und es liegt in der Natur der Sache, dass ich nicht beurteilen kann, ob dies aufgrund von Geheimhaltung oder Unkenntnis der Fall ist, solange ich den Grund dafür nicht in Erfahrung bringen kann.«
Bavaria wusste also nicht alles. Oder zumindest Quirin Meuchlinger.
Misa wiegte nachdenklich den Kopf von einer Seite zur anderen. »Was können wir tun?«
»Sie könnten natürlich Ludwig Mayr … einen Moment bitte.«
Meuchlingers Gesicht verschwand von der Projektionsfläche, sodass Misas Padphone plötzlich nur noch den Fußboden seines Büros sehen konnte. Sie hörte oberbayerischen Dialekt und konnte erst wieder folgen, als das Gesicht des Quartiermeisters sie wieder anblickte.
»Wir haben jetzt die Bestätigung: Der Bioterminator, dessen Reste Sie uns gebracht haben, stammt von Victoria Industries.«
»Na so was.«
»Erstaunlich, nicht wahr? Wir können natürlich nicht ausschließen, dass da jemand eine falsche Spur legen will, doch für den Moment
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 29.06.2020
ISBN: 978-3-7487-4804-5
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