Immersion Breach
F.W.G. Transchel
Bookrix Edition
Copyright © F.W.G. Transchel 2019
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Gratis-Exemplar von Misa Vebilettis erstem Abenteuer: BURST (Teil I)
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Die gleißende Reflexion in den blankgeputzten Siegeln der Ritterstraße spiegelte eine unbarmherzige Sonne wider, die ihre Hitze beinahe im Zenit auf die alten Kalksteine unter ihm projizierte. Er ritt vom Großmeisterpalast hinunter zum Hafen, während ein Horizont voller Dunst die assyrische Küste verdeckte. Irgendetwas stimmte nicht.
Die Luft hätte nach Meer und nach Sand schmecken müssen, die Straße nach Mist und Mittelalter. Doch alles, was er spürte, waren Schwefel und ein Hauch verbranntes Metall. Wolfgang Schmidt atmete noch einmal tief ein, in der sicheren Erwartung, die Augmentierung würde sich wieder anpassen. Beißender Salpeter schoss ihm in die Nase, er nieste. Mit einem Male verblasste der Friede der griechischen Insel und des Johanniterordens um ihn herum zurück zur Gegenwart. Er blinzelte. Die Virtualisierung war ausgefallen. Er stand, kein Pferd unter sich, noch immer auf der Ritterstraße, doch sie zeigte nur die langweiligen, viel zu modernen Antiquitätenläden und Tandgeschäfte.
Es war wieder 2023.
»Gesundheit«, sagte Vicky.
Wolfgang schniefte. »Gesundheit ist gut.«
»Was hast du?«
Noch immer schmeckte er Öl und Schwefel am Gaumen, obwohl nichts darauf hindeutete, dass hier etwas brannte. Geschäftig rannten Touristen und Einheimische an ihnen vorbei, knipsten Fotos oder versuchten, sich gegenseitig Souvenirs anzudrehen.
Mühsam drehte er sich um die eigene Achse, als wollte er die gespenstisch irreal wirkende Szenerie mit Armen und Augen durchstoßen. »Ich weiß nicht. Die Virtualisierung ist kaputt, glaube ich«, sagte er.
»Was?«
Vicky legte den Handrücken auf seine Stirn. »Du hast einen Sonnenstich, mein Lieber.«
»Nein, das ist anders.«
Sie strich ihm sanft über den Haaransatz. »Trink was«, sagte sie.
Wolfgang nickte. »Vielleicht hast du recht.« Er verdrehte den Rücken und schob den Rucksack über eine Schulter nach vorne.
Die Flasche lag ganz unten, noch unter den eingelegten Oliven, die sie zuvor gekauft hatten und die lecker glänzend im Glas schwammen.
Er öffnete die Thermosflasche, die das zuvor abgefüllte Nass enthielt, und würgte fast.
Eine Geruchsmischung aus Ingwer und Torf entströmte dem Schraubverschluss.
»Riech mal«, sagte er.
Vicky schaute ihn fragend an, doch er legte den Kopf schief und insistierte.
Sie hielt die Flasche unter die Nase und schnüffelte.
»Was?«
»Was riechst du?«, fragte Wolfgang.
»Nichts, denn Wasser riecht nicht«, entgegnete sie und zog die Augenbrauen in die Höhe.
»Wirklich gar nichts?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf und sah ihn mitleidig an. »Müssen wir wirklich eine Ambulanz aufsuchen, die überteuert und unterqualifiziert reise-diarrhöischen Touristen irgendwelche Placebos andreht?«
Missmutig nahm Wolfgang ihr die Flasche wieder ab und roch noch einmal daran. ›Ach, was zur Hölle?‹, dachte er und setzte sie an den Mund. Beinahe erwartete er eine erdige Mischung aus irgendwelchen Waldbestandteilen, doch dann fand klares, kaltes Wasser seine Zunge und nichts war mehr da von dem seltsamen, eindringlichen Geruch. Hastig schluckte er beinahe viel zu viel Wasser, ehe er halbzufrieden die Flasche wieder verschloss.
»Na siehst du«, sagte Vicky. »Nur Wasser. Geht's dir besser?«
Wolfgang zögerte. »Na ja.«
Sie seufzte. »Also?«
Ihr Blick gefiel ihm nicht, und er wusste genau, was er zu bedeuten hatte: ›Du wirst jetzt keinen Scheintod simulieren und eine Ambulanz aufsuchen und den Tagesausflug nach Rhodos ruinieren‹, sagte er ihm. Er schluckte. Wieder der seltsam erdige Geschmack auf der Zunge.
»Ich...« Er dachte an Tage ohne Ruhe und Nächte ohne Leidenschaft. Wolfgang Schmidt seufzte. »Ich glaube, es muss sein.«
»Na super.«
***
Wolfgang fand immer, dass es eine geradezu ironische Note der Programmierer war, den Universalübersetzer einen kleinen landestypischen Akzent bewahren zu lassen. Es gab der unentwegt griechisch auf ihn einredenden dicklichen Frau eine so authentische Note, dass er fast losgelacht hätte, wäre da nicht der anhaltende Geruch in seiner Nase gewesen.
»Nochmal. Was ist das Problem?«, fragte sie betont gutgelaunt und in rhodischem Duktus, der die letzte Silbe der Worte ganz besonders lang werden ließ.
»Ich … rieche Dinge«, sagte er.
»Bitte?«
Wolfgang seufzte. »Vor kaum einer halben Stunde auf der Ritterstraße vor dem Palast der Großmeister begann es. Ich roch Pech und Schwefel, wo nur Sand und Geschichte sein sollten. Meine audiovisuelle Augmentierung ließ mich im 16. Jahrhundert an all dem vorbeireiten, doch schien meine Nase mir weismachen zu wollen, ich befände mich inmitten einer alten westfälischen Kokerei …»
Die Frau ignorierte den letzten Teil des Satzes, denn vermutlich wusste sie weder, was Westfalen noch eine Kokerei war. Seelenruhig nahm sie ein kleines Metabolismus-Messgerät aus einer scheppernden Schublade neben sich und begutachtete Wolfgang.
»Haben Sie genug getrunken?«, fragte sie.
»Wir waren mittags in einem kleinen Café in der Altstadt eingekehrt und …»
Er sah, wie Vicky die Augen verdrehte. Sie machte sich nichts daraus, das teure einheimische Essen zu bestellen, und hatte stattdessen irgendwo einen Snack besorgt und die Augmentierungen dafür sorgen lassen, dass er sich griechisch anfühlte.
»Ja«, versicherte Wolfgang mehr sich selbst als der Sanitäterin, »ich habe genug getrunken.«
»Wein?«, fragte sie.
»Nur ein wenig.«
»Mhh-mhh.«
Er wusste nicht, was das bedeutete, doch sicher schloss die dickliche Frau daraus entweder, dass es ein Sonnenstich war, oder einfach Trunkenheit zusammen mit zu viel Sonne. Wolfgang hustete. Beißender Rauch drang an seine Nase und instinktiv hielt er sich die Hände vors Gesicht.
»Was ist los?«, fragte Vicky, deren genervter Blick beinahe in Besorgnis umzuschlagen drohte. Wolfgang wusste, dass es dann wirklich ungemütlich für ihn werden würde, doch er musste sich die Nase zuhalten und durch den Mund atmen, da der Gestank nicht zu ertragen war, obwohl ganz offensichtlich kein solcher vorhanden war.
Die Sanitäterin kramte jetzt wieder in einer der Schubladen. Ein großes glänzendes Gerät kam zum Vorschein.
»Ich muss Ihr Gehirn scannen«, sagte sie.
»Nur zu«, sagte Wolfgang. Die Ursache für diese … Dinge dort zu suchen, schien ihm auf jeden Fall nicht verkehrt.
»Halten Sie still«, ermahnte die Frau ihn, doch es war nicht einfach, ruhig zu atmen und gleichzeitig den Geruch fernzuhalten. Wolfgang nickte matt und konzentrierte sich.
»Und, erkennen Sie etwas?«, fragte Vicky.
»Nur die Ruhe«, sagte die Griechin. »Wir sind hier nicht in Deutschland, Entschuldigung.«
»Nichts für ungut«, sagte Wolfgang, doch er wurde sogleich ermahnt, weiter stillzuhalten. Er ließ die schmerzfreie, vollkommen berührungslose Prozedur über sich ergehen. Immerhin machte es den Anschein, als könnte etwas Feststellbares, irgendetwas Messbares da sein. Er wäre jedenfalls nicht bereit gewesen, zu akzeptieren, dass sein Verstand sich ausdachte, anders riechen zu wollen als zuvor. Nein, irgendetwas stimmte nicht.
»Mhh«, sagte die griechische Krankenschwester schließlich.
»Mhh?«, wiederholte Wolfgang.
»Das Gehirn ist in Ordnung. Wenn es ein Sonnenstich sein sollte, dann nur ein ganz leichter.«
Er sah, wie die Frau die Stirn in Falten legte. »Das heißt, Sie wissen es nicht«, hörte er sich sagen. Lange vorher hatte er gelernt, dass Ärzte nicht dazu neigten, Fehler zuzugeben oder es zu äußern, wenn sie sich nicht sicher waren. Er würde nicht ohne Erklärung gehen.
»Sehen Sie … Herr Schmidt …» Sie lugte auf das Pad mit dem EU-Formular, das seine elektronische Krankenakte enthielt. »Ich sage Ihnen erst mal, dass Sie nicht in Lebensgefahr sind und beruhigt nach Hause oder ins Hotel gehen können oder wohin Sie wollen. Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen auch etwas gegen Nervenüberlastung. Ansonsten gönnen Sie sich etwas Ruhe. So ein Urlaubstrip kann doch ganz schön anstrengend sein. Und wenn die … Beschwerden sich nicht bessern, dann suchen Sie nächste Woche einen Neurologen auf. Ganz einfach.«
Wolfgang nickte. »Natürlich.« Er sprach die Worte so resigniert aus, dass die Frau ihn fragend anblickte.
»Bitte?«
»Sie behandeln nur die Symptome«, sagte er. »Diese Erfahrung …» Er versuchte, tief einzuatmen und schüttelte sich doch wieder, bevor er nur halb die Lungen vollgesogen hatte, und hustete. »Diese Erfahrung ist so einschneidend und verstörend für mich, dass es mir egal ist, was Sie mir geben, damit es aufhört, doch ich kann nicht ruhen, bis ich weiß, was hier vor sich geht. Verstehen Sie mich?«
Die Ärztin schüttelte den Kopf und hob beschwichtigend die Hände. »Ich kann mir schon vorstellen, dass das sehr unschön für Sie sein muss. Aber dies ist eine Touristen-Ambulanz, keine Uniklinik …»
»Ja«, sagte Wolfgang abwesend. Langsam begriff er, dass sie recht hatte. Dass er vollkommen durcheinander war. Nein, es war nicht fair, von der armen Frau zu verlangen, dass sie das Seltsamste, was jemals mit ihm geschehen war, nach fünf Minuten Herumscannen erklären konnte. Schwer atmend erhob er sich von der klapprigen Pritsche und sah zu Vicky.
Seine Verlobte blickte ihn verstört an. Sie konnte sich ganz offenbar überhaupt nicht vorstellen, was in ihm vor sich ging. Nein, mehr noch, sie sah ganz und gar aus, als hätte sie einen Geist gesehen. Ihre Augen schienen nur einen einzigen Gedanken auszudrücken. Es kränkte ihn, dass sie anscheinend bloß weg von dort wollte – der Situation entfliehen, vielleicht sogar ihm entfliehen. Keine Empathie, keine Loyalität. Nur Zorn über einen Tag auf Rhodos, der nicht ganz so wurde, wie sie ihn sich vorgestellt hatte.
»Geht's los?«, fragte sie spöttisch.
Wolfgang nickte matt.
***
Die Pillen schmeckten nach nichts. Immerhin. Sie hatten eine weiche, beinahe pelzige Oberfläche und wurden matschig, noch bevor er sie hinunterwürgen konnte. Vicky sagte nichts, als er das Gesicht verzog. Sie sagte überhaupt erst wieder etwas, als sie endlich im Hotelzimmer waren. Während des Weges zurück durch die halbe Stadt war Wolfgangs Wahrnehmung dumpf geworden. Wie unter einen schützenden Schleier gehüllt stank es nicht mehr so fürchterlich. Erstaunlich war dennoch, dass der Geruch sich nicht wie gewöhnlich nach einiger Zeit verflüchtigte, sodass er ihn schließlich vergaß. Bald erinnerte er sich, dass seine Großmutter zu sagen pflegte, es seien schon viele erfroren, aber niemand je erstunken. Er war nicht sicher, ob er dem Sprichwort glauben konnte, denn für ihn war klar, dass er ohne die Nervenblocker, was immer sie auch genau taten, vielleicht der erste Präzedenzfall für Erstinken geworden wäre. Ganz deutlich spürte er, dass noch immer etwas nicht stimmte und es sich auch durch die Medikamente nicht verändert hatte. Die Wahrnehmung von Augen und Ohren passte noch immer nicht zu dem, was seine Nase ihm sagte. Er spähte nicht mehr ständig um Ecken, um zu sehen, ob sich vielleicht doch irgendwo ein brennender Haufen von Pech und altem Heu fand, doch die latente Vorsicht und letzte Zweifel blieben.
»Wie ist es denn jetzt?«, fragte Vicky, als er sich laut seufzend auf seine Hälfte des vier-Sterne-Bettes fallen ließ.
Wolfgang dachte lange nach. Nicht, weil es viel zu überlegen gab, sondern weil er sich selbst dabei beobachtete, wie langsam sein Gehirn durch die matschig-pelzigen Pillen geworden war.
»Es ist nicht mehr so schlimm wie zuvor«, sagte er. »Aber es ist nicht weg. Ich rieche Dinge, die nicht da sind.«
»Vielleicht bist du auch ein Werwolf«, scherzte Vicky.
»Vampire kriegen jedenfalls keinen Sonnenstich«, antwortete Wolfgang und begriff viel zu spät, dass er damit einen Fehler gemacht hatte.
»Du gibst also zu, dass es ein Sonnenstich ist«, sagte Vicky sofort. Wolfgang sah die zwei schmalen Fältchen an ihrer Stirn, die nicht spielerisch zitterten, wie sie es taten, wenn sie scherzte, sondern streng und straff und unbeweglich waren. Scheiße. Vicky hatte richtig schlechte Laune.
»Ich bin kein Arzt«, gab er zurück.
»Trink noch was«, sagte sie.
Er grunzte.
»Was?«
Wolfgang wusste, dass er vorsichtig sein musste, denn Vickys Laune in einem solchen Moment war unberechenbar. Sie würde ihm tage-, vielleicht wochenlang Vorwürfe machen, dass Rhodos so ein Reinfall geworden war. Und doch – wie er so da lag und dämmrig in seinen Gedanken herumrührte, wurde ihm klar, dass er keine Lust hatte, ihr nach dem Mund zu reden. Er schnaufte wieder und antwortete einfach nicht. Zittrig versuchte er, das Glas auf dem Nachtschrank zu greifen, und schluckte hastig das kalte, gechlorte Inselwasser in sich hinein. Dann schloss er die Augen und wollte allein mit sich und dem Gestank sein.
»Schweigen ist auch eine Antwort«, sagte sie spöttisch. »Ich gehe auf den Balkon.«
Dankbar nahm er das Klicken der Glastür zur Kenntnis, die ihn nun von einer weiteren Ablenkung trennte. Er machte ihr keinen Vorwurf, denn er wusste ja, dass Mitgefühl bei ihr rar gesät war. Doch er genoss die Stille und Einsamkeit, denn was hier geschah, war ganz und gar etwas, das ihm allein passierte.
Tief, beinahe trotzig atmete er ein, roch die miefig-schwefelige Note und lenkte sein Bewusstsein in den Schlaf. Endlich.
***
»Träumst du schon wieder?«
Wolfgang sah Vicky an. Die Sonnenbrille tief auf die Nase geschoben, blickte sie prüfend zurück.
»Mir ist, als wäre ich noch gar nicht richtig erwacht«, sagte er.
In der Tat – er konnte sich düster daran erinnern, aus dem Hotel ausgecheckt zu haben und zum Flughafen gefahren zu sein. Doch erst in der Boarding-Lounge des Heimfluges kam er richtig zu sich.
»Das werden die Medikamente sein«, meinte Vicky ungewöhnlich sanft und strich ihm zärtlich über den Kopf.
Wolfgang nickte. »Heute ist es besser.«
Er hatte noch gar nicht richtig darüber nachgedacht, was am vorigen Tag passiert war – der Gestank und der seltsame Besuch in der griechischen Ambulanz wirkten mehr wie eine ferne Erinnerung an vergangene Zeitalter denn kürzliche Ereignisse. Ging es ihm wirklich besser oder wurden nur weitere Empfindungen abgeblockt? Wolfgang beschloss, dass er das nicht entscheiden konnte, und genoss für den Moment nur, dass es weg war. Er checkte die auf die Kontaktlinsen projizierte Uhrzeit. Der Flieger war etwas verspätet, aber immerhin schon da. Gedankenlos ging er per Augensteuerung durch die weiteren Menüs. Das Wetter in Deutschland, Nachrichten aus aller Welt … die Fußballergebnisse. Zum Glück war man in Rhodos nicht aus der Welt.
Ein Hinweis-Flag leuchtete in der Kontaktlinse auf und teilte ihm mit, dass das Boarding gleich beginnen würde. Wie von Geisterhand erhoben sich auch die anderen Fluggäste und offenbarten damit die Tatsache, dass sie alle Augmented-Reality-Linsen trugen. Wolfgang würdigte seine Ruhe, die immerhin ausreichte, auch Vicky am Aufspringen zu hindern. Als schließlich die offizielle Durchsage des Flughafenpersonals kam, hatte sich längst weit mehr als die Hälfte der Passagiere zum Boarding aufgestellt. Er bewunderte die Effizienz, die eine so kleine Information mit sich brachte, und dachte daran, welch Gedrängel es früher gegeben haben musste – obschon die Idee der Sitzplatznummerierung nicht neu war. Er schnappte den kleinen Rucksack, aus dem sein Handgepäck bestand, und nahm Vickys Hand, die dankbar und nervös aufsprang. Er musste ein wenig lächeln über den Umstand, dass sie leichte Flugangst hatte – und dennoch ohne seine Anwesenheit eine der ersten in der Schlange gewesen wäre. Ihre Impulsivität wusste er zu schätzen. Denn auch wenn es manchmal mühsam war, sie im Zaum zu halten, ergänzten sie sich doch ganz gut. Als sie das Flugzeug betraten, heulten die Turbinen bereits auf. Wolfgang war zufrieden, dass sie der Hektik entgangen waren. Vielleicht half diese kleine Vorkehrung ja etwas, wenn Vicky beginnen würde, sich bei Turbulenzen an ihn zu krallen. Wolfgang atmete noch einmal tief ein. Nein. Keine seltsamen Düfte. Nur chemieschwangere, kerosinhaltige Flughafenluft.
Sie erkannten ihre Plätze daran, dass es die einzigen waren, die noch frei waren. Missmutig blickten einige Mitreisende sie an, als hätte allgemeine Hektik dazu beigetragen, dass es schneller gegangen wäre. Wolfgang wusste aus jahrelanger Erfahrung, dass genug Zeit zum Ein- und Aussteigen vorgesehen war, aber Touristen, wie er Wenigreisende abschätzig nannte, wussten es eben nicht besser – oder wollten es nicht besser wissen. Er machte ihnen keinen Vorwurf. Vicky wollte natürlich am Fenster sitzen. Im Gegensatz zum üblichen Flugangstleidenden störte es sie nicht, aus dem Fenster zu sehen, sondern nur, wenn das Flugzeug wackelte – nie im Leben hätte er sie davon abhalten können, den Fensterplatz zu besetzen. Er musste sich damit abfinden, dass er nur über ihre Schultern hinweg die glitzernden Wellen der Ägäis bewundern konnte, doch andererseits war es ihm egal. Die Aussicht auf die Heimat war selten so verlockend gewesen.
Ungestört verließen sie das hellenische Inselparadies, überflogen Kykladen und Bosporus. Wolfgang hatte die Augen geschlossen und war dankbar, dass Vicky so ruhig war, wie man es sich nur vorstellte, als es begann. Wie mit dem Flügelschlag eines Schmetterlings hatte er Rosenduft in der Nase. Nelken, Tulpen, Sanddorn kamen hinzu. Ohne dass er jemals besonders botanisch interessiert gewesen wäre, war es, als säße er mitten auf einer Blumenwiese und typisierte die lokale Flora wie ein strebsamer Biologiestudent. Unbehagen breitete sich in ihm aus. Im Grunde wusste Wolfgang nicht einmal, woran Rosen- oder Nelkenduft zu unterscheiden gewesen wären, es passierte einfach. Vorbei die beruhigende, gleichförmige Luft der Bordklimaanlage. Er öffnete die Augen. Verträumt blickte Vicky auf die nahenden Wipfel der Karpaten und ignorierte ihn und alles andere um sie herum, so gut es ging. Nachdenklich fragte er sich, ob er es wagen könnte, tief einzuatmen.
Überwältigt von den Eindrücken, musste er husten. Vicky fuhr herum und musterte ihn.
»Was ist denn jetzt wieder?«, sagte ihre Flug-Nervosität und nahm von ihr Besitz.
»Ich bin nicht sicher«, sagte er.
Sie hob eine Braue.
»Ich dachte kurz, ich müsse niesen«, log er und aalte sich im Odeur von Eukalyptus und Tannengrün.
»Mhh, mhh«, brummte Vickys Unzufriedenheit. »Freu dich lieber, wie gut ich den Flug vertrage.«
»Allerdings«, sagte er nicht ohne Ironie und wähnte den Geschmack von Holunder auf seiner Zunge. Er leckte sich die Lippen. Was für ein seltsames Gefühl. Genau wusste er, dass er nur sterile Flugzeugluft atmete. Und doch, irgendetwas außerhalb seines Bewusstseins musste Anteil an diesen Eindrücken haben. Zwar begriff er, dass Blumengeruch angenehmer war als Pech, Schwefel und Ölschlick, aber verstehen konnte er es trotzdem nicht. Wieder der verführerische Gedanke, sich selbst für verrückt zu halten. Was geschah hier mit ihm?
»Was schnüffelst du?«
Vicky starrte ihn an und musste es wohl schon einige Momente getan haben.
»Ich … nichts.«
Sie verdrehte die Augen. »Wolfgang. Du guckst genau wie bei deinem Sonnenstich. Schwindel mich nicht an.«
Er seufzte. »Ich … nein. Es ist, als säße ich auf einer Blumenwiese. Nelken, Tulpen, Rosenduft.«
»Was?«
»Ich rieche Dinge, die nicht da sind«, fasste er noch einmal zusammen.
»Was?«
Er überlegte, wie er es noch erklären konnte – doch er verstand ja nicht einmal selbst, was vor sich ging. Wolfgang schluckte einen tiefen Seufzer hinunter, um Vicky nicht zu provozieren. Was sollte er nur tun?
»Also?«
Es gab kein Entkommen. Vorwurfsvoll, verwirrt und fragend blickte sie ihn an. Eine Spur Ungeduld war zu erahnen, doch sie mischte sich langsam mit echter Sorge, die Vicky sich die Lippen lecken ließ, wie sie es immer tat, wenn sie angespannt war. Flugangst oder nicht – Wolfgang genoss die Erkenntnis, dass er sie immerhin von den dunklen Wolken würde ablenken können, die dichter und dichter unter ihnen lagen, gleichsam jedoch auch seine Stimmung widerspiegelten. Er seufzte. Blickte Vickys zweifelnde Augen an.
»Ich weiß nicht, Süße«, sagte er und versuchte, nicht allzu verzweifelt auszusehen. Andererseits glaubte er nicht, dass jemand, der 8000 Meter über dem Erdboden auf einer Blumenwiese saß, wahrhaft verzweifelt auszusehen vermochte.
Vicky hob und senkte die Augenbrauen und atmete tief ein.
»Du bist also dabei, durchzudrehen?«
»Wenn ich das mal wüsste«, sagte er resigniert.
»Was …«, begann Vicky, doch ihr Gesicht zeigte die Turbulenz, bevor er sie körperlich spürte. Sie wurde blass und blickte ins Leere.
»Oh-oh …»
›Auch das noch‹, dachte Wolfgang. Jetzt waren sie wie zwei Kaputte in einem viel zu kleinen Flieger, der für die eine nach nackter Angst schmeckte und dem anderen groteske Frühlingsdüfte gebar. Vicky schnappte nach Luft und Wolfgang wusste, was jetzt kam. Routiniert griff er nach der Tüte, doch harsch drückte sie seinen Arm weg.
»Wenn du dir Blumen einbildest, kann ich mir auch einbilden, dass wir nicht in einem Flugzeug sind«, sagte sie trotzig.
Er wollte sie gerade darauf hinweisen, dass es weder Wunsch noch Entscheidung gewesen wäre, sich so … seltsam zu fühlen, da tastete sie doch vorsichtig und schamhaft nach der Tüte.
Sekunden später übergab sie ihr griechisches Frühstück herzhaft über seine Finger und teilweise die Tüte.
Es war Honig und Joghurt, was an seine Nase drang, nicht Erbrochenes und Halbverdautes, doch tapfer wischte er die Hände sauber und legte den Arm um Vicky, die seine Beherrschung dankbar annahm und leichenblass tief in ihrem Sitz versank.
»Ich schätze«, sagte sie kleinlaut, doch nicht ohne Belustigung, »dass das mit der Imagination doch nicht so einfach ist – ich hatte es kurz einfach vergessen, weißt du.«
Wolfgang streichelte mit der sauberen, geruchlosen Hand ihre Stirn und gab sich selbst doch ganz und gar dem süßen Honigduft hin, der ihn verführte. Was auch immer seinen Verstand vernebelte, die Aufklärung würde warten müssen, bis sie am Boden waren.
***
»Sie riechen also Dinge, die nicht da sind, oder von denen Sie glauben, dass sie nicht da sind?«
Wolfgang nickte düster.
Dr. Gottfried Leopold Waranowski flippte die Untersuchungsergebnisse des griechischen Lazaretts auf sein Pad und legte die Stirn in Falten.
»Sonnenstich?«
»Das ist, was man mir sagte«, antwortete Wolfgang. »Doch das war vor zwei Tagen.«
»Das Gehirn ist ein faszinierendes Organ«, antwortete der kahle Neurologe. »Halluzinationen können aus ganz verschiedenen Gründen auftauchen und ebenso überraschend wieder verschwinden. Aber …»
Er machte eine Pause und atmete genüsslich ein. »Aber dass eine so einseitige Reaktion auftritt, ist äußerst selten. Ihre Augmentierung übrigens funktioniert laut interner und externer Diagnose tadellos und hat damit überhaupt nichts zu tun.«
Wolfgang wusste nicht recht, doch der Arzt erwartete offenbar, dass er etwas darauf antwortete oder irgendwie seine Gefühle, für die er – so glaubte er – nichts konnte, rechtfertigen sollte. Er sagte nichts.
»Nun, Herr Schmidt … ich würde gerne noch ein paar zusätzliche Tests machen.«
Vorsichtig nickte Wolfang. Das war doch eine gute Idee oder? Mehr Tests bedeuteten mehr Information, und mehr Information konnte nur nützlich sein.
Der Arzt kam mit einem großen leuchtenden Helm zurück, der ein wenig an ein herumgedrehtes Nudelsieb erinnerte, aus dem sich nach oben lauter Spaghetti herauskräuselten.
»Was … äh, machen Sie damit?«, fragte Wolfgang.
»Ich möchte Ihre neuronale Antwortlatenz messen und eine räumliche Aktivitätskarte ihres zerebralen Kortex anfertigen«, antwortete er.
»Na gut. Äh … was muss ich machen?«
Waranowski deutete auf einen anderen Behandlungsstuhl, der etwas lieblos in einer Ecke stand. »Sie werden bestimmte Sinneswahrnehmungen vorgesetzt bekommen. Konzentrieren Sie sich einfach genau auf das, was Sie spüren, Herr Schmidt.«
Nachdem er Wolfgang den Helm aufgeschnallt hatte, begleitete er ihn zu dem Stuhl, zog sich dann jedoch hinter seinen Schreibtisch zurück.
»Keine Sorge«, fügte er noch hinzu. »Es dauert nicht lange und tut überhaupt nicht weh.«
Es kribbelte etwas in der Nase, doch dann geschah nichts weiter. Verzweifelt versuchte Wolfgang, sich ganz auf sich selbst zu konzentrieren, doch die versprochenen Eindrücke kamen einfach nicht.
»Hervorragend, das war es auch schon«, sagte der Arzt plötzlich.
»Ich … habe nichts gemerkt?«, sagte Wolfgang halb fragend und drehte sich um.
»Ganz genau. Die Messergebnisse zeigen, dass Sie keinerlei Halluzinationen haben. Es tut mir leid, dass ich Sie ob des Zwecks dieses Tests anschwindeln musste, aber nur so ist eine sichere Möglichkeit gegeben, Sie zu untersuchen. Der Verstand ist ein erstaunliches Konzept, und wenn man ihm vorher sagt, was ihn erwartet, passiert nun einmal etwas anderes als sonst.«
Wolfgang musterte den augenscheinlich gut gelaunten Arzt. »Und was bedeutet das jetzt?«
»Ich schreibe Ihnen noch eine Wochenration der Neuropeptidblocker auf, die Sie schon auf Rhodos bekommen haben, und schreibe Sie noch eine Woche krank – und damit sollte sich diese lästige Episode dann auch erübrigen.«
Langsam nickte er. Es war also alles in Ordnung. Wolfgang rang sich ein Lächeln ab.
Kommentarlos begleitete der Arzt ihn zur Tür. Das Rezept würde er sicher vom Praxispersonal erhalten.
»Gute Besserung«, sagte er schließlich noch, doch die Betonung machte Wolfgang schlagartig bewusst, dass er nur einer von vielen Patienten war und der Arzt ihm entweder doch nicht recht glaubte oder dachte, dass die Medikamente helfen würden. Er seufzte. Solange es wieder Blumenwiesen wären, würde er sich nötigenfalls ja sogar daran gewöhnen können. Doch unangenehmere Gerüche könnte er schlechterdings immer weniger ausblenden. Nun ja. Vielleicht hatte der Mediziner ja auch recht. Abwesend nahm er das Rezept in Empfang und machte sich auf den Weg.
***
Wolfgang war nicht Teil jener Meute, die sich über Medikamente aufregten, weil sie nicht angenehm anzuwenden waren. Im Gegenteil, seine Vernunft ließ so manch bittere Pille zu süßem, klebrigem Nektar werden, doch diesmal war es anders. Die ganze Wucht der Scheußlichkeit traf ihn am Küchentisch, als er den Beipackzettel wie üblich aus der Verpackung gezerrt und weggeworfen hatte. »Morgens, mittags, abends«, sagte sein Verordnungszettel, und daran gedachte er sich auch zu halten. Doch in dem Moment, da die versammelte Chemie seinen Rachen hinunterrutschte, begriff er, dass es nicht leicht werden würde, ja, dass er nicht überzeugt war. Dass seine Zweifel womöglich auch die kleinste Wirkung zunichtemachen würden. Er würgte.
»Jetzt zieh nicht so ein Gesicht.«
Mitleidig sah Vicky ihn an, besann sich jedoch schnell und kaute weiter an ihrer Hälfte des frischen Baguettes, das vor ihnen lag.
»Das ist die widerlichste Medizin, die ich je nehmen musste«, keuchte Wolfgang und schüttete ein ganzes Glas Wasser hinterher.
»Ich dachte, es ist das gleiche wie auf Rhodos?«
Wolfgang schüttelte den Kopf. »Es ist nur der gleiche Wirkstoff. Vermutlich ohne Touristenzuckerwatte drum herum.«
»Und wenn schon.«
Er nickte. Eigentlich hatte sie ja recht. Und doch – irgendwie musste er sich vorstellen, welch abstrusen Tanz die Wirkstoffe in seinem Blut voller Hormone und Nährstoffe anzuzetteln drohten. Ihn fröstelte. Was passierte nur mit ihm?
Wolfgang schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf seinen totenstillen Verdauungstrakt. Wartete, ob ihm schlecht würde, ob er wenigstens ein bisschen aufstoßen müsste. Nichts. Beinahe war er bereit zu glauben, dass die Pillen offenbar also immerhin nicht schaden konnten, da passierte es.
Für einen kurzen Moment schien sich die Welt umzustülpen, von innen nach außen, von außen … nein. Da war nichts. Mit zitternder Hand griff er nach dem blau gestreiften Tischtuch.
»Wolfgang?«
Vickys prüfender Blick.
»Es … ist nichts.«
Weder log er, noch antwortete er nur, um sie zu beruhigen. Er blickte auf seine Hände. Kein Zittern. Nichts. Es war kein Gefühl, das ihn hier leitete, sondern mehr die tiefe Überzeugung, dass das noch nicht alles war. Nicht alles sein konnte. Der Digitalchronometer an der Wand gab mit maschinengenauer Präzision Sekunde um Sekunde preis, Wolfgang zählte sie alle. Nein, da war kein schneller Puls, keine Winzigkeit eines unruhigen Atems. Und doch – er beobachtete sich gewissermaßen selbst dabei, wie er darauf wartete, dass etwas passierte. Irgendetwas.
»Und wieso benimmst du dich dann also so albern?«, fragte Vicky in die Stille hinein und machte ihre vorwurfsvolle Miene.
»Ich …» Er seufzte. »Mir ist nicht wohl mit den Medikamenten, das ist alles.«
»Ein schnöder Sonnenstich!«, entgegnete sie spitz. »Du bist der wehleidigste Mann, den ich mir vorstellen kann.«
Wolfgang dachte kurz daran, noch einmal seinen Puls zu schätzen, doch besann er sich darauf, Vickys Blicken ja nicht auszuweichen. Sie hatte recht. Vermutlich war er wehleidig. Doch was nutzte es, Stärke zu demonstrieren, wo sie nicht existierte? War es nicht ihre Aufgabe … Er unterbrach sich. Einerlei. Er hatte keine Lust auf Streit. »Ich gehe etwas an die frische Luft«, sagte er.
»Nur zu. Aber setz deine Mütze auf.«
Wolfgang feixte innerlich. Glücklich, dass sie nicht mitkommen würde, stand er vom Tisch auf, ignorierte ihr Palaver, dass er den Tisch nicht abräumte, und zog die Mütze so tief in die Stirn, wie es nur ging. Zwar hatte es noch gute fünfzehn Grad, doch hatte sie recht damit, dass es besser sein würde, sie aufzusetzen. Es stürmte zwar nicht, doch es war auch nicht gerade der sommerlichste Juli, seit er denken konnte.
Der Abend in Kreuzberg war wundervoll und doch gleichermaßen trostlos. An einem Tag wie diesem hätten diejenigen, die es sich leisten konnten, Kinder zu haben, um diese Zeit umherflanieren müssen. Und doch waren die Straßen wie von einem unsichtbaren Moloch von Menschen und Geschäftigkeit so leergefegt, wie es sonst nur die Vorhersage von saurem Regen vermochte. Hastig sog er die kalte Luft ein und warf einen Blick auf seine Okularaugmentation. Mit drei flinken Seitwärtsbewegungen der Augen wischte er die Wettervorhersage in den sichtbaren Bereich und studierte sie. Kein Sturm, kein Feinstaub. Doch, vielleicht, ein ganz klein wenig Sommerregen.
Gedankenversunken lenkte er die Schritte ans Waterloo-Ufer des Baches, der einst der stolze Spree-Fluss gewesen war. Ein einsamer Kanute preschte platschend und japsend vorbei und durchschnitt das spiegelglatte Wasser. Wolfgang sah ihm lange nach, bevor er sein Tempo wiederfand und sich selbst daran erinnerte, dass er zwar ohne Ziel, aber doch nicht ziellos unterwegs war.
Unwillkürlich stellte er sich vor, wie kalter Ostwind sein Haar zerzauste, doch als er sich umdrehte, um die Bö zu spüren, die er sich nur einbildete, wurde ihm klar, dass die Luft stand und ganz und gar nach seinem Berlin roch. Wieder hielt er inne, als lausche er der fernen Melodie der viel zu ruhigen Stadt, da begriff er es. Dieses eigenartige Gefühl … dieser Eindruck der Seltsamkeit war plötzlich wieder zurückgekehrt. Wolfgang zwang sich, tief einzuatmen und die Augen zu schließen. Sein Geist war vollkommen leer und nur die nackte, tote, vollkommen eigenschaftslose Silhouette von Berlin war um ihn herum. Schließlich riss er die Augen wieder auf und suchte die Dämmerung verheißende Sonne, die sich in den nicht enden wollenden Straßenschluchten zur Nacht niederwarf.
Kein Déjà-vu, nicht einmal ein Déjà-écouté. Und doch war es ganz und gar eine seltsame Verschmelzung von Fausse Reconnaissance und Präkognition, ohne dass es je das eine oder das andere gewesen wäre. Dann fing sein Ohr an zu piepen.
Wolfgang hatte Mühe, das Gleichgewicht zu behalten, fing sich schließlich an einer Laterne und zwang sich ins Bewusstsein zurück, dass das alles nicht passieren konnte. Er hatte doch die Nervenberuhigungspillen genommen und balancierte sozusagen an der Grenze zur sensorischen Sedierung. Halluzinierte er?
Mühsam kramte er sein kleines Padphone heraus und wischte zittrig über die Status-Apps seiner Augmentierungen. Er blinzelte kurz und wischte erneut den Wetterbericht in sein Blickfeld, nur um sich zu vergewissern, dass die Okulare funktionierten. Aber es war ja auch das Ohr, das piepte. Kurz hatte er das Gefühl gehabt, als wäre der schäbige, viel zu hohe und viel zu schrille Ton seinen Augen entsprungen, aber das konnte ja nicht sein, und so fuhr er erneut über den Schirm und prüfte die akustische Augmentation. Es gab ein melodisches Gurgeln, das die Selbstdiagnose darstellte und ganz offenbar bewies, dass sie funktionierte, und dann machte er Musik an und ging einfach weiter.
***
Sein Verstand hatte das Kommando wieder zurückerlangt und zwang den Rest seines … Selbst zurück in Reih und Glied. Die Bässe der schlechten, postmodernen Grunge-Rock-Band, die er beim Streamen aufgeschnappt und abonniert hatte, gaben ihm Rhythmus und Richtung vor und trieben ihn zurück nach Hause. Er war in Berlin aufgewachsen und kannte es besser als die meisten sogenannten Touristenführer, doch als er in dem Marsch zu den künstlichen, kaum handgespielt klingenden Gitarrensoli voran zog, verflüchtigte sich die Vertrautheit mehr und mehr. Die Grenzen von dem, was er Berlin nannte und was er als solches wahrnahm, verschwammen mit dem, was der Song ihm einzuflüstern schien – dass er auf der Suche nach etwas war, das er nicht kannte und von dem er nichts wusste, außer, dass er es finden musste. Wie auf ein unhörbares Kommando blieb Wolfgang plötzlich stehen und lauschte. Die harten Beats der augmentierenden Musik übertönten zwar alles, doch glaubte er … nein, wusste er auf einen Schlag, was zu hören war. Er hörte es nicht, sondern sah entrückt seinem Verstand dabei zu, wie er es hörte.
Ein schriller, entsetzlich durchdringender Schrei zerschnitt seine Wahrnehmung. Sofort begriff er, was er zu tun hatte. Er begann zu rennen. Rannte so schnell er konnte in die Richtung, die er ausgemacht hatte. Er schmeckte eine ferne Sirene, die parallel zu ihm auf die Quelle des Kraches hinführte. Wie roter, kalkiger Rost in seinen Ohren überschlug sich das Jaulen und Ächzen, ehe er so etwas wie quietschende Räder vermutete und wieder allein mit dem Schrei war. Er konnte körperlich den Schmerz spüren, der zu solch einem grauenvollen Geschrei befähigte …
Wolfgang bog um eine Ecke, ignorierte jetzt den Rhythmus des Grunge-Sounds und war sicher, dass er fast da sein musste. Ihn wunderte nicht, dass sich niemand sonst um den Lärm zu kümmern schien, denn er für ihn stand fest, dass er um sein Leben rennen musste, wenn er den armen Besitzer der schreienden Stimme noch retten wollte, es sei denn … Sein Verstand hatte den ungeheuerlichen Gedanken noch nicht zu Ende formuliert, da verstummte einem kakophonischen Vakuum gleich der Krach und ließ Wolfgang allein.
Er fasste sich an den Kopf, steckte Finger in die Ohren, prüfte noch einmal die Wiedergabefähigkeit der augmentierten Ohrhörer. Nichts. Kurzzeitig war ihm, als höre er nicht einmal Stille. Wer hatte die Musik ausgemacht?
Wolfgang schüttelte den Kopf. Brachte die Lokalnachrichten auf die Okulare. Hier gab es keine Aufregung.
Einbildung also? Er drehte sich wieder in Richtung Westen und blickte herausfordernd in den Abendkampf der dämmrigen, roten Sonne. Irritiert sah er, wie die Okulare abblendeten, bevor seine Pupillen sich zusammenziehen mussten, obwohl er den Effekt natürlich kannte und schätzte.
Was passierte hier nur?
Er sah sich um und erkannte Berlin, als habe es sich nur kurz umgezogen. Sofort erinnerte er sich an den Weg nach Hause. Wo wollte er noch gleich hin?
In sich zusammengesunken schlurfte er den halben Kilometer, oder wie viel es sein mochte, überquerte noch einmal die Spree und loggte sich ein.
***
Obschon nicht nötig, wünschte er dem Portierhologramm eine gute Nacht, ehe er sich in die bequeme, einladende Dunkelheit des Lifts begab, der ihn in den zwölften Stock bringen würde. Wolfgang seufzte, umarmte die bekannte, miefige Luft des Appartementblocks und dachte an Vicky. Er würde ihr nichts davon erzählen. Immerhin konnte er ja nicht einmal sicher sein, dass es real gewesen war. Nein, wenn sie nicht aufpasste, würde er den Beipackzettel aus dem Müll heraussammeln und sichergehen, dass er nicht zu viel oder zu wenig, sondern genau die richtige Dosis von diesen verdammten Pillen einnahm.
Als die Türhälften mit einem ächzenden Geräusch auseinanderglitten, fühlte sich Wolfgang einfach nur leer. Ermattet trottete er zur Eingangstür und wischte über den Fingerabdruckentriegler.
»Ah, da bist du ja.«
»Hallo, Schatz.«
»Wo bist du gewesen?«
Er ignorierte die gespielte Empörung in ihrer Stimme. »Ich war draußen«, sagte er. »Weißt du doch.«
»Aber wie du aussiehst. Fast, als hättest du dich geprügelt.«
Wolfgang musterte sich im Geiste und begriff erst jetzt, dass er verschwitzt und zerzaust sein, vielleicht erschöpft aussehen musste.
»Es ist etwas windig«, erklärte er.
Vicky nickte, doch sie wirkte zum ersten Mal nicht sauer, sondern aufrichtig besorgt. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Ich …» Wolfgang begriff, dass er es sich hätte auf dem Heimweg zurechtlegen müssen. Andererseits, warum wollte er nicht mit ihr darüber reden? Weil es zu schmerzhaft wäre, wenn sie ihm nicht glauben, ihn für verrückt halten würde? Und war er es?
Tief atmete er ein. »Ich glaube, es sind die Tabletten«, sagte er. »Mir ist etwas unwohl. Die frische Luft tat aber gut.«
Unbeteiligt blickte ein Teil von ihm auf den Mann, der vor seiner Verlobten stand und sie belog. Es fühlte sich gut an. Richtig. Wolfgang schüttelte innerlich den Kopf und wandte sich ab. »Ich denke, ich werde schlafen gehen.«
Überrascht wich er beinahe ein Stück zurück, als sie unvermittelt auf ihn zuging und ihm einen Kuss auf die Wange hauchte. »Das beweist, dass etwas nicht stimmt«, sagte sie, doch sie zwinkerte ihn dabei an. »Du gehst nie vor zehn ins Bett. Ich verstehe echt nicht, wie dich das so umhauen konnte.«
»Ich auch nicht«, sagte er. Die Wahrheit. Vielleicht. »Gute Nacht.«
***
In dem Moment, da sein matter Körper auf das Laken plumpste, war sein müder Verstand schon eingeschlafen. Erschöpfte Organe pulsierten und zwickten, seinen Synapsen einen grotesken Tanz um die Deutung aufzwingend – zumindest fühlte er das. Es war ein seltsamer Moment der Klarheit, in dem er begriff, dass er träumte, doch war er nicht Herr seiner Sinne. Hilflos musste er beobachten, wie er mehr und mehr Pillen in sich hineinwarf, auf eine perverse Art und Weise genüsslich schluckte, und jede einzelne einem riesigen Kloß gleich in seinen sich blähenden Bauch hinunterwürgte.
Dann hörte er wieder die Sirene und das Pfeifen im Ohr und dann stand er mitten in Kreuzberg vor etwas, das er für eine Manifestation seiner Vorstellung von der eigenartigen postmodernen Grunge-Band hielt, die rückwärts zu spielen schien. Es drehte sich alles, doch gleichzeitig war es seltsam starr und in seiner Struktur gefroren, was ihn erinnerte, dass er nur träumte, obschon es sich ganz genau so anfühlte wie zuvor. Er versuchte herauszufinden, ob auch die Sirene rückwärts spielte, doch es gelang ihm nicht, sich das vorzustellen. Wolfgang trat aus dem Avatar seines letzten Funken Verstandes heraus und begriff, dass er allein war. Vollkommen isoliert und einsam. Sein Körper stellte sich gegen ihn und er konnte nur zusehen und abwarten, was geschah. Er war in seinem Kopf und griff sich an die Schläfe, die an dem Kopf dran saß, in dem sich sein Verstand befand, und alles war so verwirrend, dass er schreien wollte, und dann auf einmal wusste er, wessen Schrei er verfolgt hatte, und schließlich war auch klar, dass er ihn nicht hatte finden können.
War er zuvor durch das echte Kreuzberg gelaufen und hatte er selbst wie am Spieß geschrien? Wolfgang erinnerte sich nicht. Ihm schien es so, als wäre er ein Goldfisch in einem Wasserglas, sodass er sich selbst in der Reflektion an den Wänden sehen musste und das Außen, das, was er für Realität halten musste, nur eine flüssige, wabernde Illusion war.
In einer gedanklichen Riesenanstrengung gelang es ihm irgendwie, die mentale Projektion seines Selbst zum Stehen zu bringen. Sah, wie er sich umsah. Schmeckte den Schmerz in sich, der wie rostiges Metall krümelte und sich nicht wegspucken ließ. Wolfgang seufzte. Seine Ohren taten weh, doch als er sie anfasste, schien es ihm fast, als wären sie überhaupt nicht da. Hatte er nicht eben noch die Sirenen gehört? Zittrig tastete er seine Schläfen ab. So … eigenartig. Der Kopf war ganz glatt, und doch wusste er, dass sie da waren. Es war mehr, als hätte er die Form vergessen, als dass er davon ausgehen musste, nicht richtig zu fühlen. Nachdenklich blickte er auf sein imaginiertes Selbst. Dann schloss er die Augen und fuhr erneut die Schläfen entlang. Nichts. Seine Ohren waren da und doch gleichzeitig nicht da.
Der Schrei.
Wie in Zeitlupe sah er, wie er selbst aufsprang und plötzlich wie ein Irrer losrannte. Wohin, er wusste es nicht. Er folgte dem Bild, ohne den Körper, aus dem er heraus sah, bewegen zu müssen. Flog hinter dem anderen Ich her. Hinter dem Schrei her, immer und immer weiter. Hatte er nicht herausgefunden, dass er selbst geschrien hatte? Wohin rannte er dann?
Zum ersten Mal achtete Wolfgang auf die Umgebung – er war sich nicht sicher, ob zuvor überhaupt Umgebung dagewesen war oder sein Verstand sie jetzt erst hinzufügte. Kreuzberg. Die Straßen am Spreekanal. Er war hier gewesen. Nur wann? Und warum? Er sah weiterhin nur seinen rennenden Rücken, und Beine, die nicht seine sein konnten, denn nie wäre er imstande gewesen, so zu laufen – er war es also nicht und doch war es mit Sicherheit er.
Wolfgangs Verstand kam schließlich außer Atem und blieb stehen. Im selben Moment begann der Schrei von neuem. Erschöpft setzte er sich auf eine Bank, die vor ihm … erschien. Er fand nichts dabei, die Illusion des Traumes erklärte und begründete alles – ohne, dass er jetzt gewusst hätte, warum das alles passierte und was es ihm sagen sollte –, denn er hatte jetzt das starke Gefühl, dass er irgendetwas, ein fernes Detail oder eine diffuse Erkenntnis, mitnehmen musste, wenn der Traum enden würde. Furcht umfing ihn, dass er es nicht begreifen würde. Kreuzberg verfinsterte sich, die ohnehin schale Sonne wurde zur Karikatur einer traurigen Glühbirne und zersprang schließlich mit dem viel zu leisen Plopp eines implodierenden Vakuums.
Sein Husten war das erste, was er bemerkte, nachdem es ihm irgendwie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: F.W.G. Transchel
Bildmaterialien: F.W.G. Transchel
Cover: F.W.G. Transchel
Lektorat: Sabine Maria Steck
Satz: F.W.G. Transchel
Tag der Veröffentlichung: 03.01.2019
ISBN: 978-3-7438-9224-8
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