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Titel

 

 

Verfall

 

 

F.W.G. Transchel

 

Bookrix Edition

 

Copyright © F.W.G. Transchel 2015

 

 

Rechtliche Hinweise am Ende des Buches.

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Gratis-Exemplar von Misa Vebilettis erstem Abenteuer: BURST (Teil I)

 

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Prolog

 

Prolog

 

Stockholm, den 14. November 2057. Rede zum Nobelpreis in Medizin, Song Myun-Soo, Biotechnisches Institut, University of Seoul.

 

»Eure Majestät, sehr geehrte Damen und Herren. Die große Ehre, heute hier vor ihnen sprechen zu dürfen, ist ohne Zweifel weder selbstverständlich noch wiederholbar. Ich spreche in großer Demut zu Ihnen allen, weil dieser Preis bedeutet, dass die vielleicht größte Errungenschaft unserer Zivilisation gegen alle Widerstände nun Anerkennung findet. Weder die Bomben des letzten Jahrhunderts, die so viel Leid und Konflikt in die Welt brachten, noch die abscheulichen Gräuel des Terrorismus und der automatisierten Tötungsmaschinen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts haben so große Kontroversen heraufbeschwören können, wie es ein so kleines Konzept wie der generische Quantengennukleotisierer vermochte. Noch immer ist nicht abschließend geklärt, ob das Universum unendlich ist, ob es sich unendlich ausdehnt oder am Ende von zufälligen Vakuumblasen verschlungen wird. Doch hier und heute kann ich eines verkünden: Wer diesen Tag erlebt und nicht älter als sechzig Jahre ist, der kann auch den jüngsten Tag erleben, denn kein menschliches Herz muss je wieder aufhören zu schlagen! Ich widme diesen Preis all den Kollegen, die mit ihrem Leben bezahlen mussten, um diese Technologie, ja, unsere Evolution an ihr logisches Ende zu führen. Dass ich heute hier stehe, und nicht jemand anderes, kann man nicht anders nennen als puren Zufall, denn das Ergebnis war unausweichlich. Es wäre vermessen, jemanden herauszuheben von all den Kollegen und Wissenschaftlern rund um die Welt, die zielstrebig und konsequent dies hier möglich gemacht haben. Ein uralter Traum geht in Erfüllung! Wenn ich an Hippokrates, Darwin, Paracelsus, Watson und Crick denke, dann sehe ich den unbändigen Wunsch, das Leben für die Menschheit zu verbessern, immer und immer weiter. Die Tür, die wir heute in den Laboratorien öffnen, wird uns in eine neue Welt führen, zuerst langsam, doch dann rasant. Wussten wir vor zehn Jahren, wie man das Altern für einen bestimmten Menschen abzustellen vermochte, so können wir heute nach einigen grundlegenden Justierungen eine beliebige DNA in gleicher Weise manipulieren, sodass die Unsterblichkeit so günstig wie eine einzige Mahlzeit werden wird. Denken Sie darüber nach! Mit all diesen Möglichkeiten wird die Menschheit einen Schub in der Kultur und den anderen Wissenschaften bekommen, da Erfahrung potenziert, statt nur multipliziert werden kann. Wir werden uns Problemen zuwenden, die für die begrenzte Existenz, die hinter uns liegt, zu kompliziert oder unüberblickbar geworden waren. Atemlos vor Staunen und Ehrfurcht kann ich kaum erwarten, welche weiteren Durchbrüche uns bevorstehen. Ich bin überzeugt, meine Damen und Herren, dass dies nicht das Ende unserer Reise ist, sondern erst ihr Anfang. Vielen Dank.«

 

Vorher

 

3. Mai 2082, 19:38 Uhr.

 

Sie wusste, dass es wichtig sein musste. Schon lange nicht mehr war sie außerhalb des Dienstes so eilig gerufen worden, und dann noch bis nach Süddeutschland. Weitere Mutmaßungen erübrigten sich, als sie die orangefarbene Plane sah, die zwei Quadratmeter des Ulm-Stuttgarter Friedrichsau-Parks verdeckte, und unter der sich die charakteristische Silhouette einer Leiche wölbte. Ines Schultheiss näherte sich halb neugierig, halb von Abscheu zurückgehalten. Mit einem eleganten Schwung überwand sie das Flatterband, das den Bereich großräumig absperrte. Die Beamten der lokalen Behörden hielten sie nicht auf, zu bekannt war sie in der Umgebung seit dem Elsässer Massaker.

Gierigen Geiern gleich wateten fünf oder sechs ganz in weiß verhüllte Spurensicherer rund um die nämliche Stelle herum, jede noch so kleine Schramme an der Umgebung aufnehmend. Einer von ihnen bemerkte Ines und deutete zu einem weniger geschäftig aussehenden Spurensicherer, der mit Pad und allerlei Messgeräten vor der orangenen Wölbung kniete. Sie erkannte Damian Fregüzli in ihm, den verantwortlichen Pathologen Süddeutschlands.

»Ah, Frau Kollegin, da sind Sie ja«, freute er sich.

»Ich kann Ihren Enthusiasmus nicht teilen«, erwiderte sie kühl.

»Nicht, dass ich damit gerechnet habe. Doch lassen Sie mir das berufliche Interesse. Wir beide hatten schon lange keinen so aufregenden Fall mehr, wie ich bisher annehmen darf.«

Ines Schultheiss bemerkte, wie leicht es ihr fiel, emotionale Distanz zu wahren, obwohl sie auch ohne den vorläufigen Bericht des Pathologen bereits wusste, dass man es für Mord halten musste. Niemals sonst hätte man sie den weiten Weg aus Neu Hamburg herbeordert, zumindest nicht per Expresskapsel. In einem Punkt hatte er Recht – Mord hatte es in Paneuropa schon lange nicht mehr gegeben, beinahe zweieinhalb Jahre. Sie wusste es so genau, weil sie auch damals die Ermittlungen hatte führen können. Doch sie besann sich, trat noch einen Schritt näher und machte Fregüzli allein durch ihre Körpersprache klar, dass er nun zu berichten habe, was er wusste.

»Das Opfer heißt Katrin Scholl-Ossietzky, mehr wissen wir noch nicht«, sagte Fregüzli. Vorsichtig entfernte er die Plane, die eine Frau mittleren Alters freigab, die wie in leichtem Schlaf reglos im frühsommerlichen Matsch der süddeutschen Hauptstadt lag. »Mord«, sagte der Pathologe knapp, und es war nicht zu überhören, dass er die Pause nur machte, um seinen unzweifelhaften Sachverstand zu betonen.

»Gewaltanwendung?«, fragte Schultheiss kühl.

»Keine, Frau Kollegin.«

»Blutwerte?«

»Altersgemäß tadellos.«

Ines Schultheiss hatte keine Lust auf Ratespiele. »Todesursache?«

»Induzierter Hirntod.«

Ines Schultheiss schnappte nach Luft.

»Sind Sie sicher?«

»Absolut. Die Zellstruktur ist synchron abgestorben.«

»Ein Profi?«

»Nein, kaum anzunehmen«, sagte er in aller Ruhe und gewissermaßen belustigt über den Verlauf des Dialoges. Damian Fregüzli war ein Mann, der es genoss, Recht zu haben und es mitteilen zu können. Die fragenden Blicke der Profilerin jedoch durchbohrten ihn wie eine Spritze zuvor den Hals der Frau, sodass er diese Erkenntnis rasch loswerden wollte.

»Was für ein seltsam altmodisches Instrument. Es passt nicht zusammen, dass jemand, der über ein international geächtetes Nervengift verfügt, dies nicht subdermal verabreicht«, konstatierte Ines Schultheiss.

»Nun ja, Frau Kollegin. Da wir im Umkreis des Leichnams nichts finden konnten, ist es nicht abwegig anzunehmen, dass der Täter sich dieses Umstandes auch bewusst ist und die Spritze getrennt 'entsorgt' hat.«

Ines nickte. Es war eine eigenartige Konstellation. »Der Täter hatte keine Zeit, sein Vorgehen sorgfältig zu planen, sonst hätte es eine subdermale Injektion gegeben. Demzufolge ist sie nicht hier gestorben. Und wir wissen noch mehr. Um was auch immer es hier geht, es wird noch ein Verbrechen geben«, folgerte sie. Sie biss sich auf die Zunge, denn ihre Äußerung, etwas unbedacht dahin gesagt, würde zu einem Kommentar des Pathologen führen.

Fregüzli feixte. »Nun, das ist dann wohl ganz Ihr Metier. Ich bin hier soweit fertig. Wenn Sie einverstanden sind, überführen wir den Leichnam jetzt ins Labor.«

»Wie? … ach so, ja. Tun Sie, was Sie müssen. Und beeilen Sie sich ein bisschen mit dem Bericht, bitte«, sagte sie abwesend und starrte hinaus in die Friedrichsau. Sie war besorgt. Die Umstände legten einerseits nahe, dass der Täter in Eile gewesen war, andererseits war es nicht gerade einfach, einen Bioterminator außerhalb von wissenschaftlichen Laboren zu bekommen. Hatte er ihn entwendet und nicht gewusst, dass eine so krude Methode wie eine antike Spritze unvermeidlich DNA-Fragmente durch die Nukleotid-Markierung des Giftes selbst hinterlassen würde? Es war praktisch unmöglich, dass in dieser modernen Gesellschaft ein Verbrechen unaufgeklärt blieb, und so musste sie annehmen, dass es dem Täter nur einen kurzfristigen Vorteil brachte. Sie hatte nicht viel Zeit.

Während sie ihr persönliches Pad befragte, wie sie das Ulm-Stuttgarter Kriminalistik-Institut erreichen konnte, fuhr ein Wagen bis an die Absperrung heran.

»Ich habe Sie sogleich wiedererkannt«, sagte die dumpfe Stimme, die sie hinter den langsam herunter surrenden, von außen verspiegelten Scheiben bemerkte.

Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »François!»

»Ganz recht«, sagte der Elsässer, als er das zivile Einsatzfahrzeug verließ und ihr freudig die Hand hinhielt.

»Es ist eine Weile her«, sagte sie knapp.

»Ja. Ich freue mich,…«, begann er, doch sie schnitt ihm das Wort ab.

»Dafür haben wir später noch Zeit«, sagte sie knapp. »Ich nehme doch an, dass Sie mich zur Kriminalistik abholen wollen. Wir haben einiges zu tun.«

»Ohne Zweifel«, sagte François de Betancourt, als sie wieder einstiegen und mit dem fast unhörbaren Brummen des Elektromotors abfuhren.

Als die Straßenschluchten und Hügel von Ulm-Stuttgart an ihnen vorbeiflogen, kam Ines Schultheiss ein wenig zur Ruhe. Still fasziniert verfolgte sie, wie der mehrere Kilometer breite Metalltrog des restaurierten Donautals Ulm-Stuttgart durchschnitt und in der Ferne verschwand. So gering wie die Mordrate in diesem Teil der Welt mittlerweile auch war, die süddeutschen Alten würden beunruhigt sein und rasche Aufklärung fordern. Die Indizien in Form der benutzen Injektionsnadel beunruhigten sie. Art und Weise, wie dieses Verbrechen sich darstellte, konnten nur bedeuten, dass noch mehr dahintersteckte. Auf dem Pad machte sie eine erste Checkliste. Gab es andere auffällige Vorgänge in Süddeutschland? Gab es unmittelbare Verdächtige? Die Professionalität der Profilerin setzte sich schließlich durch, sodass sie die Fahrt über kein Wort zu ihrem Begleiter sprach. François de Betancourt schien sich davon nicht weiter aus der Ruhe bringen zu lassen und tippte seinerseits auf seinem Pad herum.

Schließlich räusperte er sich: »Wir sind da.«

 

 

***

 

Ines stellte sich beim Leiter des Kriminalistischen Institutes vor, ehe sie richtig anfangen konnte. Er wies ihr ein temporäres Büro in einem der Seitentrakte zu, schien jedoch nicht sonderlich begeistert darüber, dass man ihm die norddeutsche Profilerin vor die Nase setzte. Er verabschiedete sie höflich, jedoch reserviert. Sie entschied, François über seinen Chef auszufragen, solange sie Zeit dafür hatte. Doch zuerst brauchte sie einen Kaffee.

Umständlich wischte sie auf dem Eingabefeld des Automaten umher, bis sie gefunden hatte, wie man den Milchanteil einstellen konnte. Sie wusste ja, dass Süddeutschland gründlich war, aber so komplizierte Menüs für ein bisschen Milch …

»Wie viel ist es mittlerweile? Drei oder vier Liter am Tag?« François hatte sie wiedergefunden und lachte.

»Es ist immer mehr, als ich denke, aber weniger, als alle anderen denken«, sagte sie.

»Dann hast du alle Hoffnung aufgegeben, ins Programm zu kommen?«

»Nicht wegen zehn Tassen Kaffee am Tag. Die künstlichen Brustwirbel stören da schon eher.«

»Ich dachte, das bekämen sie heutzutage hin. Und außerdem hast du ja noch Zeit …«

Ines stutzte. »Weißt du, was ich in letzter Zeit oft denke?« Sie wartete nicht, dass er antwortete. Sie war zwar höflich, das bedingte der Beruf, doch wusste mittlerweile, wann sie ohne Aufforderung Ratschläge verteilen konnte. »Ich denke«, fuhr sie fort, »dass wir nicht immer so versessen auf die Zukunft sein, sondern ab und zu im Hier und Jetzt leben sollten. Ich werde den Mörder der jungen Frau nicht finden, wenn ich nur darüber nachdenke, dass er in Zukunft in einer Zelle sitzt, sondern mich stattdessen darauf konzentriere, wo er sich jetzt im Moment aufhält.«

Es war nicht sicher, ob sie François de Betancourt damit nicht doch beleidigt hatte, doch er war zum vertrauten Du übergegangen, ohne sie zu fragen, und so tat sie es ihm gleich und scherte sich nicht um elsässische Befindlichkeiten. Ihre letzte Begegnung war immerhin sechs Jahre und ein paar plastische Operationen her. Doch François de Betancourt schien nicht im Mindesten gekränkt. Er lächelte weiterhin und antwortete: »Du bist noch immer der Sturkopf, den seine Besessenheit fast zerfetzt hätte.«

»Doch nur so war die Situation zu lösen«, sagte sie. Sie würde nicht mit ihm über Strasbourg diskutieren. Seit Jahren hatte sie es nicht getan. Es war richtig so gewesen. Schluss damit.

»Glaubst du es oder weißt du es?«, fragte François.

»Nach so langer Zeit ist beides kaum mehr auseinanderzuhalten, nicht einmal für einen guten Profiler.«

»Du bist zu bescheiden.«

Ines lächelte ihn an. »Wollen wir in Erinnerungen schwelgen oder an die Arbeit gehen?«

»Du wirst wohl kaum Widerspruch dulden«, sagte François und drückte ihr zwinkernd einen frischen Kaffee in die Hand.

 

***

 

 

»Brock musste mich ja echt schon hassen, bevor ich überhaupt da war«, staunte Ines, als sie ihr Büro betrat. Der Raum war zwar offenbar unbenutzt, denn sonst hätte es keine Spinnweben in diesem Ausmaß gegeben, doch auch unaufgeräumt, so als hätte ein erzürnter Mitarbeiter ihn verlassen, ohne noch einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, für Ordnung zu sorgen.

»Ich weiß nicht, was los ist«, sagte François lakonisch. »Er sollte sich freuen, dass er die beste Profilerin weit und breit an Bord hat.«

Ines seufzte. »Es nützt ja doch nichts, deswegen aufzubegehren. Packen wir's an.« Beherzt schnappte sie ein paar der archaischen Aktenordner, die kopfüber auf dem Boden lagen, und stapelte sie vorerst auf dem immerhin geräumigen Schreibtisch, dessen Touchdisplay unter der Last der Ordner unzufrieden blinkte, doch dem Gewicht standhielt und heile blieb.

»Während wir die restlichen Ordner sortieren«, fuhr Ines fort, »können wir eigentlich schon einmal sammeln, was wir haben. Wer ist die Frau?«

François stellte einen Stapel Ordner zur Seite, sodass nun immerhin in der Mitte des Raumes ein Durchgang entstanden war, und zog sein Pad aus dem Jackett. »Katrin Scholl-Ossietzky, Geneworks Inc.«, las er vor.

»Geneworks!?«

»Das steht hier«, antwortete der Elsässer völlig unbeeindruckt.

»Das wird Unruhe geben. Geneworks ist bekannt dafür, seine Mitarbeiter über Gebühr vor der Öffentlichkeit abzuschirmen. Das Programm mag ein wichtiger Grund dafür sein, aber die werden unsere Arbeit nicht leichter machen.« Ines war unzufrieden. Als sie hergefahren war, hatte sie ihren Enthusiasmus über einen Mordfall kaum bremsen können, auch wenn es ein wenig … nun ja, pietätlos klingen mochte. Doch sie war Profilerin, und es war ihr Job, am Verbrechen interessiert zu sein. Geneworks allerdings … sie hatte schon einmal gegen einen Mitarbeiter ermittelt, und es war alles andere als leicht gewesen, dem Monopolisten des Programms Kooperation abzuringen. Ines Schultheiss wischte sich den Staub von der Nase und beschloss, die Herausforderung anzunehmen. »Was hast du noch?«, fragte sie François.

»Der Obduktionsbericht ist natürlich noch nicht da, aber die Verwandtschaftsverhältnisse habe ich heruntergeladen«, sagte er.

»Gibt es Alte in der unmittelbaren Verwandtschaft?«

»Nein, keine.«

»Gut. Immerhin bleiben uns dann arrogante, unangemessene Einflussnahmen erspart.« Ines' Erleichterung darüber, dass keine neugierigen Alten sich einmischen würden, war zwar in ihrem Zynismus übersteigert gewesen, doch nichtsdestotrotz echt. Das Letzte, was sie brauchen konnte, waren zu den Geneworks-Leuten noch Verwandte, die sich für klüger hielten als sie. Na schön, sie waren sogar klüger, aber dennoch verstanden sie stets weniger von Kriminalistik.

Sie besann sich. Machte sich klar, dass diese Frage in Anbetracht der trauernden Angehörigen unsensibel war, und erkundigte sich, ob die Ermordete verheiratet gewesen sei und wem man die traurige Nachricht überbringen müsse. François erinnerte sich an ihre Probleme im Umgang mit … normalen Menschen und versprach, sich darum zu kümmern. Das hob ihre Laune wieder etwas. Er fragte, ob er sie mit dem restlichen Chaos ihres Büros alleinlassen könne, und verabschiedete sich.

Ines ließ sich in den immerhin gepolsterten Drehstuhl billigster Konstruktion fallen und schloss für einen Moment die Augen. Sie wollte ihre Gedanken sortieren, doch es gab noch nichts, was sie hätte einordnen können. Daraufhin schob sie die Ordner vom Schreibtisch und begann ihre Suche mit dem Netz. Ließ alle Informationen über das Opfer sortieren und kategorisieren.

Wie sie erwartet hatte, gab es praktisch nichts über die berufliche Situation des Opfers zu erfahren. Geneworks gab zu, dass sie in der Paneuropäischen Zentralniederlassung in Stuttgart-Ulm arbeitete, doch mehr auch nicht. Nicht einmal eine Videophon-Adresse ließ sich auftreiben. Davon abgesehen, dass es keinen Sinn mehr ergab, eine Verbindung dorthin herstellen zu wollen, war es beeindruckend, wie wenig über Geneworks-Mitarbeiter und ihre Arbeit bekannt war, außer, dass sie, wie die Werbung es so schön formulierte, die »Krone der Schöpfung noch besser« zu machen versuchten. Ines verstand in ihrer Jugend von beinahe fünfzig Jahren noch immer nicht, weshalb ewiges Leben erstrebenswert sei, doch schob sie ihre persönlichen Ressentiments beiseite und beschloss, sich trotzdem, rein beruflich, bei Gelegenheit darüber zu informieren, wie das eigentlich ging, genetisches Engineering. Natürlich wusste sie, wie der moderne Bioterrorismus funktionierte, doch es war ein Unterschied, tausende Menschen zu töten oder aber den Einzelnen vor seinem natürlichen körperlichen Alterungsprozess zu bewahren.

Sie blickte erneut auf die mittlerweile algorithmisch einigermaßen lesbar sortierten Datenberge der öffentlich zugänglichen Quellen und stellte enttäuscht fest, dass es sich nicht würde vermeiden lassen, mit dem einen oder anderen Angehörigen persönlich zu sprechen. Sie hatte keinerlei Hinweise auf ein Motiv oder den Tathergang, und so wollte sie nicht einfach auf die Ergebnisse der Obduktion warten, sondern lieber in zwei Richtungen – familiär/persönliches Motiv und berufliche Probleme – ermitteln.

Wenn Fregüzli, der Pathologe, Recht behielt mit seiner Mutmaßung über die Todesursache, dann war ein familiäres Problem praktisch auszuschließen. Es war an sich schon ungewöhnlich, dass ein Nervengift so gezielt eingesetzt wurde, dass es sicher nur dann der Fall war, wenn Katrin Scholl-Ossietzky von Dingen wusste, die sie nichts angingen. Und das hieß, sie musste etwas gewusst haben, das entweder für Geneworks oder seine Mitbewerber gefährlich war. Sie war sicher, dass François seine Sache gut machen und gleich, nachdem er den Angehörigen die traurige Nachricht mitgeteilt hätte, sie nach persönlichen Motiven befragen würde – es hatte also keinen Sinn, weitere Gedanken daran zu verschwenden.

Ines erhob sich von dem schon nach kurzer Zeit bemerkenswert unbequemen Stuhl und blickte sich in dem schmalen Büro um. War das … ja! Hinter Akten versteckt lugte eine klassische Filtermaschine aus dem wackligen Holzregal hervor. Wer immer hier zuvor gearbeitet hatte, schien doch eine gewisse Ähnlichkeit mit ihr aufzuweisen. Sie öffnete ihre lederne Umhängetasche und zog umständlich die blecherne Dose mit Kaffee heraus, über der geschickt gefaltetes Filterpapier steckte. Sie blickte sich nach einem Wasserhahn um und stellte fest, dass sie doch das Büro würde verlassen müssen, wenn auch nur, um frisches Wasser zu holen.

Als sie zurück war und das wohlige Gluckern der Maschine genoss, gestattete sie sich für einen Moment, den Blick über die Silhouette von Ulm-Stuttgart wandern zu lassen. Zwar lag das kleine Büro im zweiten von vier Stockwerken, doch der die Gebäude des kriminalistischen Institutes umgebende untere Schlossgarten erlaubte ihr, dennoch mit einer gewissen Distanz auf die Skyline der heute größten deutschen Stadt zu blicken. Natürlich wusste sie, dass die Habitate nicht so hoch und futuristisch waren wie in Frankfurt oder Neu Hamburg, sodass die süddeutsche Architektur sich eine ganz eigene Note bewahrt hatte mit seinen Klinkern und Zwiebeltürmen.

Der Schreibtisch vibrierte sanft und das Display blinkte, sodass Ines ihre Aufmerksamkeit wiederfand. François hatte ihr geschrieben.

»i) War bei ihren Eltern. Traurige Geschichte, mittlerweile aber gefasst. ii) Geneworks hat eine Vermisstenanzeige aufgegeben. iii) Muss noch ihren Lebensgefährten informieren. iv) Sollte gegen elf Uhr zurück sein. Lust auf eine späte Vesper?«

Ines überschlug die Nachricht im Geiste noch einmal, doch wie erwartet enthielt sie im Grunde keine neuen Informationen für sie. Sie öffnete die angehängten Dateien und fand einen Lebenslauf nebst Fotos. Die Fotos würde François auswerten können, doch der Lebenslauf war vielleicht interessant. Die junge Frau hatte in München Bioengineering studiert und war seit kaum zwei Jahren bei Geneworks. Sie war anscheinend die persönliche Assistentin eines Vorstandsmitglieds gewesen, doch durfte sie natürlich nicht angeben, welches. Albern, denn das würden sie schon herausfinden, doch ärgerlich, weil es Arbeit bedeutete. Sie rief die Vermisstenanzeige auf, um herauszufinden, wer sie aufgegeben hatte. Natürlich, die Öffentlichkeitsabteilung. Doch die Uhrzeit war seltsam. Die Leiche musste den ganzen Tag in der Friedrichsau gelegen haben, und erst um 21:19 bemühte man sich um die verschwundene Mitarbeiterin? Da könnten sie vielleicht ansetzen, wenn sie zu Geneworks fuhren, notierte sie sich.

Ines gähnte und stellte fest, dass sie François antworten musste, ob sie noch etwas essen wollte. Sie war müde und erschöpft von der hektischen Reise und dachte darüber nach, ins Bett zu gehen. Auch wenn sie nur zweieinhalb Stunden darin gewesen war, der Komfort der Magnetschwebekapseln ließ doch noch immer zu wünschen übrig. Sie tippte François eine kurze Nachricht, bot ihm an, am nächsten Tag zu frühstücken, und ließ sich dann ein Taxi zu ihrer Unterkunft kommen. Sie hoffte, dass nicht Brock für die Auswahl verantwortlich war. Doch als sie die Adresse sah und wohlwollend las, dass es sich um eine gut eingerichtete Penthouse-Wohnung in der Neustadt handelte, zweifelte sie nicht mehr daran, dass sie Ruhe würde finden können.

Und so war es auch: Es fehlte an nichts. Das Appartement war geschmackvoll, doch konservativ eingerichtet, lag auf halber Höhe auf dem Birkenkopf und bot einen imposanten Blick auf die restliche Skyline der Ulm-Stuttgarter Innenstadt.

Ihr Universalschlüssel war schon seit dem Nachmittag freigeschaltet gewesen und es war deutlich, dass bei dieser Organisation nicht das Kriminalistische Institut, sondern die süddeutsche Regierung die Verantwortung trug. In Neu Hamburg hatte es geheißen, sie sei direkt vom Präfekten angefordert worden, doch das wollte sie dann doch nicht glauben oder sich einbilden. Ines Schultheiss schrieb eine letzte Notiz in ihr Pad, die sie daran erinnern sollte, unbedingt herauszufinden, wer die direkten Kollegen des Opfers bei Geneworks waren, bevor das Unternehmen dafür Sorge trug, auch dies vor ihnen zu verschleiern. Dann ließ sie sich in das vorgewärmte Latexbett fallen, justierte die Weckautomatik und träumte schließlich von Süddeutschland und altmodischen Giftspritzen.

Es war nicht halb neun, wie sie eingestellt hatte, als die Tageslichtdioden zum Leben erwachten und Ines seicht, aber doch überraschend aus dem Schlaf lotsten. Routiniert blickte sie auf das neben ihr liegende Pad und stellte fest, dass es kaum sieben war. Dazu das verlockende Symbol von 23 neuen Nachrichten. Ines seufzte, setzte sich auf, verfluchte die fehlgeleitete Technik und begann, mit den Fingern elegant durch die Liste von Mails zu wischen.

François hatte ihr geschrieben. Sicher machte er einen Vorschlag zum Frühstücken. Erwartungsvoll tippte sie seinen Namen an und erschrak.

'Tut mir leid, Dich so früh aus dem Bett holen zu müssen. Ich hoffe, die Weckautomatik funktioniert trotzdem', stand da. Dann: 'Leider kein Frühstück heute. Dafür aber ein Geständnis. Und was für eins. Beeil Dich.'

Verdattert starrte sie auf ihr Pad, blickte noch einmal auf die Uhr und stand dann auf, langsam und besonnen. Sollte ihr süddeutsches Abenteuer schon beendet sein? Sie zog sich an und eilte zurück ins Kriminalistische Institut.

 

1.

 

4. Mai 2082, 6:12 Uhr

 

»Mein Name ist Soeung Lee. Ich habe 2,24 Milliarden Menschen getötet. Was auch für ein Urteil gefällt werden wird, wie auch immer man meine Tat bewerten mag: Heute in zwei Wochen ist die Welt eine andere.«

 

2.

 

4. Mai 2082, 11:32 Uhr

 

Hinter dem verspiegelten Glas standen drei Menschen, die allesamt wahlweise nervös an Kaffeebecher oder Zigarette zogen. Der Raum war bis auf das Glimmen der Tabakröllchen und der Mess- und Überwachungsinstrumente im hinteren Teil völlig dunkel.

»Was denkst du?«, sagte eine der Gestalten zu der neben ihr.

Der Mann trug jetzt ein offizielles Schildchen, das ihn dezent selbstleuchtend als François de Betancourt identifizierte und als biokriminalistischen Commissioner auswies.

»Ich denke …« Ines Schultheiss stutzte. » …noch nichts. Gibt es eine physiologische Indikation?«

»Keine. Alle neuropsychologischen Marker sind negativ. Puls stabil, EEG, MRT, KFG allesamt unauffällig. Entweder sagt er die Wahrheit, oder er glaubt zumindest, dass das, was er sagt, die Wahrheit ist.«

Der junge Mann, der diese komplizierte Diagnose stellte, war Techniker und las nur vor, was der elegant geschwungene Bildschirm vor ihm von sich aus preisgab.

»Wie gehen wir vor?« François zündete sich eine weitere Zigarette an und sah nervös zu seiner Kollegin, die ganz versunken in den Verhörraum starrte.

»Wie? Ah, ach so.« Sie drehte sich um. »Du möchtest natürlich meine professionelle Meinung hören. In einem solchen Fall muss zunächst eine persönliche Verbindung zum vermeintlichen Täter aufgebaut werden, um ihn dazu zu bringen, weitere Details mitzuteilen, die uns zu externen Ermittlungen führen können. Wir werden ihn also etwas kennenlernen, unseren Mordverdächtigen. Und wir heißt in dem Fall ich.« Sie trank ihren dritten Kaffee seit dem Aufstehen aus, nahm einen Stapel der vorbereiteten Scheinakten unter den Arm und wandte sich zur Tür.

François versperrte ihr für einen Moment den Weg. »Sei vorsichtig, Ines. Wenn das, was er sagt, wahr ist … ich meine nur. Dann müssen wir das melden …«

Sie lächelte kalt. »Ganz ruhig François. Das ist nicht der erste Wahnsinnige, der mir eine kleine Revolution anzetteln will. Was mich betrifft, ermitteln wir in einem Mordfall, und genauso werden wir uns auch verhalten. Wenn das hier wichtig wäre, dann wüssten sie es sicher schon.«

 

Er nahm scheinbar keine Notiz davon, als die Frau den Raum betrat. Zumindest unternahm er keine Anstalten, es sich anmerken zu lassen. Sie setzte sich.

»Seoung Lee, Deutsch-Koreaner, 38 Jahre alt.« Ines zeigte keinerlei Regungen und ihre Stimme war so neutral wie die eines Reinigungsroboters.

Der Mann nickte knapp.

»Mein Name ist Ines Schultheiss. Ich leite diese Untersuchung.«

»Untersuchung? Sie meinen, Ermittlung. Ich werde alles, was ich getan habe, gestehen, aber Details kann ich erst nennen, nachdem es vorbei ist.«

»Nachdem was vorbei ist?«

»Das habe ich Ihnen doch gesagt. Die Alten werden in etwas weniger als dreizehn Tagen ihren Platz in der Geschichte einnehmen. Und nur dort.«

»Wie meinen Sie das?«

»So wie ich es sage. Sie werden es schon verstehen, wenn es soweit ist.«

Ines Schultheiss seufzte.

»Nun gut. Angenommen, ich gebe mich damit zufrieden, dass Sie für den Moment keine Aussagen dazu machen möchten, und gleichzeitig glaube ich Ihnen, dass diese zweieinhalb Milliarden Menschen, die unsere nobelsten und anerkanntesten Teile der Gesellschaft darstellen, dem Tod geweiht sind. Das ist mir gerade erst einmal egal. Reden wir über Katrin Scholl-Ossietzky.«

»Ich habe bereits Ihren Kollegen gesagt, dass ich bedingungslos gestehe, für ihren Tod verantwortlich zu sein.«

»Einfach so?«

»Einfach so.«

»Warum?«, fragte Ines halb interessiert, halb angewidert. Sie musterte den Mann erneut und erkannte noch immer keine Regung in seinen Zügen. Er sprach sein Geständnis so aus, als ginge es um einen abgebrochenen Türgriff oder eine Topfpflanze.

»Sie brachte das Unternehmen in Gefahr. Ich musste noch zwei Tage Zeit gewinnen, das ist alles. Mir war klar, dass Sie mich früher oder später finden würden, warum also länger warten als nötig? Mein Werk ist getan, und ich harre meiner Strafe.«

Die kalte Gleichgültigkeit des Mannes erschütterte Ines. Er musste wahnsinnig sein. Das hier war zu einfach. Der erste Mord seit zweieinhalb Jahren, und zwei Tage später stellte der Täter sich? Nein, hier gab es noch viel zu viele Ungereimtheiten. Es waren schon andere auf vorgeschobene Geständnisse hereingefallen. Das würde ihr nicht passieren.

»Welches Unternehmen meinen Sie? Geneworks, für die Sie arbeiten? Warum musste diese Frau sterben?«

Seoung Lee atmete unüberhörbar theatralisch aus.

»Liebe Frau Schultheiss, ich habe es Ihnen doch bereits erklärt. Es ist lediglich so, dass die Ungeheuerlichkeit, die ich Ihnen anbiete, noch nicht in Ihren Verstand passt. In zwei Wochen jedoch wird die Realität Ihr Lehrmeister sein.«

Ines Schultheiss zog ganz langsam eine Augenbraue in die Höhe. »Sie geben an, dass in zwei Wochen alle Alten sterben müssen, und dass Sie Katrin Scholl-Ossietzky ermorden mussten, weil sie Ihre Vorbereitungen zu stören drohte?«

»So ist es.«

»Ich glaube Ihnen nicht. Sie wollen die angesehensten Teile unserer Gesellschaft, die wahrhafte Unsterblichkeit erlangt haben, ermorden?«

»Ja.«

Ein ungutes Gefühl beschlich Ines. So ruhig und gesammelt Seoung Lee ihr gegenübersaß, konnte man den Eindruck bekommen, dass er durchaus glaubte, was er sagte. Und sie würde ihm nicht nur den Mord beweisen, sondern auch seinen abstrusen Drohungen folgen müssen. Sie musste mehr herausfinden. Seoung Lee machte nicht unbedingt den Eindruck, dass er Details für sich behalten wollte.

»Nehmen wir für einen Moment an, ich glaube Ihnen. Wie wird es geschehen? Wie wollen Sie dafür sorgen, dass zweieinhalb Milliarden gentechnisch gegen praktisch alles immunisierte Menschen einfach tot umfallen?«

»Sie glauben es nicht und Sie verstehen es nicht. Selbst Jahrzehnte danach wird es den besten Wissenschaftlern nicht gelungen sein, herauszufinden, was passiert ist. Der Code ist verbuggt. Es ist die menschliche Natur, dass diejenigen, deren Genom fehlerhaft ist, aussterben zu Gunsten der anderen, die weniger Schwächen aufweisen.«

»Sie reden wie ein Wahnsinniger und klingen wie ein Pathologe«, sagte Ines. »Ich glaube Ihnen nicht.«

»Und das wird Sie in die Verderbnis stürzen. Denn die Alten werden mir ebenso wenig glauben, bis es zu spät ist. Deren Arroganz ist ein gutes Zeugnis von der Plage, die sie für die Menschheit sind«, antwortete Seoung Lee.

»Für wen arbeiten Sie?«, fragte Ines. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass er keine substantiellen Fakten anbieten sollte oder konnte, und so würde sie sich darauf beschränken, mehr über ihn zu erfahren, bevor sie in seinem Umfeld suchen konnte.

»Für niemanden«, sagte der Mann. Er blieb völlig regungslos. Ines Schultheiss hatte ein gutes Gespür dafür, auch ohne teure Technologie winzige physiologische Veränderungen wahrzunehmen, doch hier gab es nichts zu beobachten. Dieser Seoung Lee spulte seinen Text herunter und würde womöglich nicht einmal beunruhigt sein, wenn er von seinem eigenen bevorstehenden Tod berichten müsste.

»Aha. Kein Bekennerschreiben, keine soziopathische Organisation, die gegen die stabile Gesellschaftsordnung, die die Menschheit sich in den letzten vierzig Jahren aufgebaut hat, opponiert? Fünf Minuten Ruhm? Und dafür mehr als zwei Milliarden Menschen töten? Abgesehen davon, dass ich nicht glaube, dass ein Mann so etwas allein durchziehen könnte … ist es eine Erpressung? Wollen Sie Geld, Ansehen, einen Platz im Programm?«

Der Mann lachte hohl, doch es war leicht zu erkennen, dass es keiner Emotion geschuldet, sondern selbst sein Spott apathisch und rational bedingt war. »Abgesehen davon, dass hier für mich weitaus mehr als fünf Minuten Ruhm herausspringt, darum ging es nicht. Ich wollte weder Geld, noch Ruhm und absurderweise auch keinen Platz im Ascension-Programm, denn den hatte ich mir durch meine normale Arbeit bei Geneworks längst erarbeitet. Und das wüssten Sie auch, wenn diese Akten vor Ihnen tatsächlich Informationen über mich enthielten. Geneworks achtet penibel darauf, dass die Privatsphäre ihrer Mitarbeiter gewahrt bleibt. Sie wissen gar nicht, ob es so sein kann, wie ich sage. Sie wissen überhaupt nichts, habe ich Recht? Und um Ihnen ein letztes Mal mein Motiv zu nennen: Nein, es geht nur um die Veränderung. Homo ascendens ist die Krone der Schöpfung, und gleichzeitig eine soziologische Sackgasse. Die überalterte Führungselite der sogenannten Alten verhindert, dass sich die niedere Rasse, homo sapiens sapiens, weiterentwickelt. Die synthogenetische Evolution löst nicht die Probleme, die wir haben, auch wenn die Alten es gerne so darstellen. Nein, sie hat sie überhaupt erst geschaffen.«

Ines Schultheiss starrte fassungslos in die hellbraunen Augen des Mannes, der behauptete, der Welt und den Milliarden Alten, die er zu töten drohte, einen Gefallen zu tun. Menschen; das waren sie zweifellos trotz ihrer künstlich weiterentwickelten Körperfunktionen und Lebenserwartung. Und sie, Ines Schultheiss, die sie die meisten der wenigen verbliebenen Gewaltverbrechen des eurasischen Kontinents betrachtet, ermittelt und allesamt aufgeklärt hatte, fühlte sich aufrichtig ratlos. Dieser Mann glaubte nicht nur, was er sagte, es schien beinahe das einzige zu sein, was er glaubte. Sie erinnerte sich an einen Fall, der über ein Jahrhundert zurücklag. In den Schrecken des Zweiten Weltkriegs gab es Menschen, die den Tod, den sie verwalteten, psychologisch als bloße Zahlenkolonnen abstrahierten und so zu unfassbaren Gräueltaten fähig waren. Gepaart mit der menschenverachtenden, faschistischen Ideologie sollte der Holocaust des zwanzigsten Jahrhunderts für Generationen als Mahnmal der Banalität des Bösen, der Fratze der aufgebrochenen Hölle gelten. Bis heute. Dann schlich ein einzelner Gedanke sich an die Oberfläche ihres Geistes.

»Tyrannenmord«, sagte sie.

Der Mann nickte. »Wenn Sie so wollen, vielleicht ja. Das müssen die Historiker bewerten. Die bloße Erkenntnis, dass Gerontokratie in einer Gesellschaft, in der die Alten nicht sterben, nicht funktionieren kann, ist mir offensichtlich. Und nicht nur mir. Welche Perspektive haben die jungen, klugen Menschen denn heute? Nummer zwei, drei, vier oder zehntausend hinter jemandem zu sein, der eine Ewigkeit damit verbracht hat, der beste zu sein, und dessen Vorsprung nicht aufzuholen ist? Seit vierundfünfzig Jahren hat es keinen olympischen Weltrekord mehr gegeben. Erneuerung ist die menschliche Natur. Ebenso wie es aufrichtige Demokratie einst war. Die Situation scheint paradox. Die Gerontokratie sieht das Abwählen der Herrscher nicht vor, faktisch sichern sie ihre Macht dadurch, dass ihre Wähler nicht abwandern können. Speziezismus zeigt sich nicht nur in sogenannten Wahlergebnissen, sondern auch darin, dass es eine Art Autorassismuskomponente enthält. Wer kann wollen, dass Mitglieder derselben Rasse, wenn auch einer anderen Spezies, unter meiner Existenz leiden? Niemand, doch solange die Alternative nur der Tod ist, übersieht man das gerne mal.«

»So sehr ich Ihren Ausführungen folgen kann«, sagte sie, »aber finden Sie es nicht ein bisschen vermessen, diese Entscheidung für eine ganze Rasse zu treffen?«

»'Jetzt bin ich der Tod geworden. Zerstörer der Welten.' Das sagte ein amerikanischer Wissenschaftler, nachdem sie die erste Atombombe gebaut hatten. Ach, wissen Sie, ob Sie mich für einen irrationalen Psychopathen halten, ist mir reichlich einerlei. Sie können es nicht aufhalten, und die Alten können es auch nicht aufhalten. Es liegt an Ihnen. Sie können mich hier zwei Wochen sitzen lassen oder im Schnellverfahren aburteilen.«

Sie nickte. »Die Jurisdiktion liegt nicht bei mir. Ich ermittle nur.«

»Ihre Ermittlung ist abgeschlossen«, sagte er. »Ich bin geständig, zeige keine Reue und werde jedes Urteil akzeptieren. Was wollen Sie denn noch?«

»Wenn es wahr ist, was Sie sagen, dann hat die Welt weniger als zwei Wochen bis zu ihrem Untergang. Wenn es irgendetwas gibt, das Sie wissen, was uns helfen kann, dieses Virus, oder was auch immer es ist, zu stoppen, dann werde ich jedes Mittel einsetzen, um es aus Ihnen herauszubekommen.«

Ihre Blicke trafen sich und wieder sah Ines Schultheiss nur entschlossenen Gleichmut. War dieser Mann der Zerstörer der Welten und fühlte rein gar nichts? Ihr Kommunikationsschirm begann zu blinken und teilte ihr mit, dass sie dringend außerhalb des Verhörraumes gebraucht wurde. Sie nahm ihre Akten und stand auf.

Und siehe da, jetzt offenbarte er tatsächlich ein winziges Funkeln an empathischer Teilnahme, als er fragte: »Was werden Sie ihnen sagen? Machen Sie ihnen keine Hoffnung, denn es gibt keine.«

»Sie werden sich wünschen, dass Sie mehr anbieten können, wenn wir mit Ihnen fertig sind.«

Dann ging sie durch die Doppeltür in den Beobachtungsraum und war selbst überrascht über ihre letzte Äußerung. Weder waren Drohungen in Vernehmungen ihre Art, noch war es geschickt, emotional zu antworten. Es war die Ahnung, dass der junge Mann selbst nach Maßstab normaler Menschen nicht verrückt war. Dass wirklich etwas im Gange war.

Als sie in den schmalen Beobachtungsraum zurückkehrte, erkannte sie den Grund des Rückrufes an der makellosen hohen Stirn, die durch ein transhumanisiertes Genom völlig glatt geworden war, und dem typischen weißen Gewand, das beinahe den Boden berührte, sodass man nur sehen konnte, dass der Alte in einem Antigravgurt saß, wenn man wusste, was die Hinweise dafür waren. Sie verbeugte sich umständlich, wie es Sitte war, hielt ihre Ehrerbietung aber gewohnt knapp, denn sie war niemand, der sich selbst eingeschüchtert zeigen wollte. Der Bürgermeister von Ulm-Stuttgart war ein Mann von 114 Jahren und sah sie milde an.

»Wie lautet Ihre Einschätzung der Situation, Frau Schultheiss? Sie können sich vorstellen, dass dies eine globale Panik, ja präbioevolutische Zustände auslösen könnte«, sagte Florian Hansen-Blüm.

Sie schluckte. 'Wenn es denn stimmt', dachte sie. »Der Mann glaubt, was er sagt, so viel steht fest. Darüber hinaus verweigert er jede Auskunft über die Tat an sich. Was mich zu zwei Schlussfolgerungen bringt: Erstens, es ist nicht auszuschließen, dass tatsächlich eine Gefährdung vorliegt. Ob sie allerdings so großflächig ist, wie er behauptet, ist nicht klar, bevor wir die Methode kennen. Zweitens, sein Schweigen spricht auch dafür, dass er denkt, dass die Kenntnis der Methode uns Zeit und Gelegenheiten verschafft, den Schaden abzuwenden. Auch wenn nach seinen Angaben weniger als zwei Wochen bleiben, bis angeblich alle, die am Programm teilnehmen, wie die Fliegen tot umfallen.«

»Einfach so?«

»Einfach so.« Ines ignorierte die Ironie, dass dieselben Zeilen gerade aus dem Munde von Seoung Lee gekommen waren, und konzentrierte sich auf den Alten. »Jedenfalls ist es das, wovon wir ausgehen müssen, bis wir mehr wissen. Ich benötige Zugang zu allen Daten betreffs des Programms, die Geneworks uns über den Mann geben kann. Und ich benötige jemanden, der es mir erklären kann. Außerdem … sollten Sie darüber nachdenken, welche Mittel wir in diesem Falle anwenden dürfen. Wir müssen wissen, wie es passieren soll.«

Der Mann sah sie prüfend an. »Sie verlangen, dass ich Ihnen eine Folter-Vollmacht besorge?«

»Ich verlange nur, dass ich tun kann, was nötig ist, wenn es soweit ist, dass es nötig ist.« Sie beobachtete ihren komplizierten Satz im Geiste vor sich und stellte gelangweilt fest, dass der Alte vor ihr sie vermutlich selbst dann verstehen würde, wenn sie nur stotterte. »Wenn alles falscher Alarm ist«, fuhr sie fort, »dann stehen Sie womöglich wie ein transhumaner Schaumschläger da so wie wir alle hier, das ist mir bewusst. Aber falls nicht …« Sie sah den Mann an, mit einer Mischung aus aufrechter Demut und flehendem Bitten. Sie fragte sich, was diese Aura der Autorität verursachte, ebenso wie sie sich fragte, woher diese kurzentschlossene, ein bisschen zu panische Frage nach Befugnissen stammte, die ihr eigentlich vollkommen fremd war. Zog sie ernsthaft in Erwägung, diesen Mann zu foltern, nachdem sie nur fünf Minuten mit ihm gesprochen hatte?

Ob es das Schweben oder die entrückte, gewohnt arrogante Überlegenheit war, die sie alle zur Schau stellten und die der einzige Ausdruck zu sein schien, den ihre Gesichter hergaben, was Ines daran erinnerte, dass sie nur ein kleines Zahnrad im Getriebe der großen Ordnung der Dinge war, die der Welt Frieden und Wohlstand zurückgegeben hatte, spielte für einen Moment keine Rolle. Fragend schaute der Bürgermeister sie an und ebenso fragend starrte sie zurück. Fatalistisch fuhr sie fort: »Nun ja … oder Sie gehen in die Geschichte ein als der Mann, dessen Zögern Milliarden das Leben kostete.«

»Ihnen muss klar sein, dass ich kaum hier wäre, wenn dieser Mann nur wirres Zeug daherreden würde. Ich bin hier, weil wir praktisch mit dem Moment seiner 'Ankündigung' die Nachricht bekamen, dass ein Teilnehmer des Programmes …« Er stockte. Es war ein seltsamer Moment für Ines Schultheiss, da sie feststellen musste, wie ein Alter ganz offenbar um Worte rang. Sie sah ihn fragend an, doch es dauerte eine ganze Weile, bis er fortfuhr.

»Ich bin hier …«, setzte er erneut an, »weil ich soeben die Nachricht erhalten habe, dass Azabe Qa'Bar, ein kuwaitischer Teilnehmer des Ascension-Programmes, einen allem Anschein nach natürlichen Tod gestorben ist.«

Stille. Ines hatte beinahe das Gefühl, ihr Herz könnte aussetzen. Sie stand fest und erwartete, dass sich ihr der sprichwörtliche Boden unter den Füßen wegzog. Doch nichts geschah. Sie sah in schreckgeweitete, aufrichtig betroffene Augen. Die Erscheinung des Bürgermeisters war ein Bild des Jammers, nein, war die perfekt vor ihr schwebende, makelloseste Definition von Erschütterung, die möglich war.

»Das …« Nun rang Ines selbst um Worte. »Das ändert alles.«

Der Alte nickte düster. »Da das Hauptquartier von Geneworks hier in Süddeutschland ist und der vermeintliche Täter sich in unserem Institut befindet, werde ich einen Krisenstab einberufen und mich mit unseren internationalen Partnern abstimmen. Ich fürchte, es wird nicht möglich sein, das Opfer zu obduzieren, da sein Testament eindeutig besagt, dass er für den unwahrscheinlichen Fall seines Todes Wert auf die islamischen Gebräuche lege. Dennoch werde ich mein Bestes geben, gemeinsam mit dem Präfekten von Süddeutschland die besten unabhängigen Genetik-Experten zusammenzusuchen. Wir stehen einer unbekannten Bedrohung gegenüber, die vielleicht in der Geschichte beispiellos ist. Mir ist völlig bewusst, dass ich hier gerade einen Hang zum Dramatisieren entwickle, also werde ich Sie nicht länger aufhalten. Finden Sie heraus, ob dieser Lee die Wahrheit sagt, und wie schlimm es ist. Der Mord an der jungen Frau ist … nun ja, nennen Sie mich geschmacklos, nebensächlich.«

Dann, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen oder eine Antwort abzuwarten, schwebte er hinaus.

»Was denken Sie?«, fragte der Comissioner, der die Stille durchschnitt wie ein schwankendes Motorboot einen spiegelglatten See. Es entsprach seiner Elsässer Natur, den Satz stets auf dieselbe Weise zu betonen, um sich an der grotesk zynischen Wirkung des Nachhalls in der Stille zu erfreuen. Es stach Ines tatsächlich, wie er das Schweigen durchbrach.

»Ich denke, wir haben noch eine ganze Menge Arbeit vor uns«, sagte sie ruhig. Sie wollte die innere Anspannung, die sie seit ihrer Ankunft gespürt hatte und die nun umschlug in kalte, unkontrollierte Aufregung, nicht missen. Es war eine Aufgabe. Ihre Aufgabe. Der erste Mord seit zweieinhalb Jahren, und nach einem Tag Ermittlung schon wurde es ihr zu schwer? Sie würden Ines Schultheiss kennen lernen.

Und zu dem jungen Techniker gewandt, der noch immer wie paralysiert die Tür anstarrte, durch die der Bürgermeister soeben den Raum verlassen hatte, sagte sie betont zwanglos: »Na kommen sie schon. Der erste Alte, den Sie sehen?«

Er nickte unsicher.

»Ach, Sie gewöhnen sich dran. Und jetzt holen Sie uns erst einmal neuen Kaffee. Starken, wie ich anmerken möchte.«

Ironischerweise hatte der Alte ihren Argwohn eher bestärkt als beruhigt. Die Tatsache, dass so kurz, nachdem sich Seoung Lee gestellt hatte, diese Nachricht dazu geführt hatte, dass sich ein Alter nicht nur darum kümmerte, sondern persönlich her bewegte, ließ vermuten, dass er noch mehr wusste, als er sagte. Und dass er besorgt war.

Während der Techniker hurtig hinauseilte, blickte Ines François de Betancourt prüfend an. »Panikmache? Koinzidenz? Es passt zu perfekt. Dazu ein Muslim, der nicht obduziert werden darf. Mir scheint fast, als führte uns jemand an der Nase herum«, sagte sie.

»Und doch … wenn ein Alter tot ist …«, wandte François ein.

»Ich weiß, ich weiß. Doch irgendetwas … ich weiß nicht. Seoung Lee erzählt seine Geschichte mechanisch, unverbindlich. Entweder er ist ein empathieloser Psychopath und die Geschichte stimmt, oder er sucht seine fünf Minuten Ruhm in einer hohlen Drohung. Für beides wirkt er zu intelligent, meinst du nicht?«

François schüttelte den Kopf und hielt sich die Schläfen. »Ich … entschuldige. Ich weiß nicht, was ich meinen soll.«

Sie nickte und wunderte sich. François schien sich nicht daran zu stören. Und Ines … hatte nicht einmal darüber nachgedacht. Sie prüfte ihre Konzentration. »Das Gefühl kenne ich. Ich für meinen Teil meine zu denken, dass die tote Frau der Schlüssel ist. Egal, was der Bürgermeister sagt.«

Der Techniker kehrte zurück. Er gab den beiden dampfende Kaffeebecher. Entschuldigend blickte er zu Boden, und Ines wäre beinahe so sehr in Gedanken gewesen, dass ihr entgangen wäre, wie seine Hose einen Fleck von der Größe des Inhaltes seines eigenen Kaffeebechers angenommen hatte. Während er sich beschämt hinsetzte und in einem großen, hastigen Schluck den verbliebenen Kaffeerest hinunterquälte, kehrte ihre Konzentration vom Mitgefühl für den emotional überforderten Techniker zurück zu wirklich drängenden Problemen.

»Der Krisenstab wird sicher noch eine Weile brauchen, bis er zusammenkommt. Bis dahin vergraben wir uns in allem, was wir über Katrin Scholl-Ossietzky haben.«

François nickte zustimmend, machte jedoch eine kleine Geste in Richtung des Verhörraumes. »Was machen wir mit ihm?«

Ines lächelte grimmig und fand einen Teil ihrer Selbstsicherheit wieder. »Was man mit Massenmördern halt so macht. Erst mal lassen wir ihn schmoren.«

 

 

***

 

Sie kehrte daraufhin in ihr temporäres Büro zurück. Widerwillig, aber doch wissend, dass es immerhin ihr Platz war. François hatte sich abermals auf den Weg zur Familie des Opfers gemacht, die am anderen Ende der Metropole wohnte, und so saß Ines Schultheiss ganz allein, dampfenden Kaffee in der Hand, an ihrem freigeräumten kleinen Schreibtisch, noch immer das Chaos um sich herum hartnäckig ignorierend. Es wirkte persönlicher jetzt. Nicht, weil sich am bejammernswerten Zustand etwas geändert hatte, sondern weil sie nicht zum ersten Mal hier war. Das Gefühl der Rückkehr zu etwas Bekanntem machte es anders – ganz einfach. Ines ertappte sich selbst, wie sie über ihre eigenen psychologischen Automatismen staunte, und ermahnte sich, produktiv zu sein. Sie wollte so viel wie möglich über den Mord an Katrin Scholl-Ossietzky herausfinden, bis der Krisenstab gebildet war und sie sich wohl oder übel um Seoung Lees Aussagen zu kümmern hatte.

Behände suchte sie nach den öffentlichen Daten über die Tote in den Behörden-Datenbanken. Ihre Arbeitsstelle bei Geneworks Inc. war ordnungsgemäß gemeldet, sie zahlte Steuern, war konfessionslos und ledig. Doch all das hatte bereits die erste Abfrage ergeben. Und mehr … gab es nicht. Ines Schultheiss hatte davon gehört und es fast befürchtet. Natürlich gab es Menschen, die nach den Abhörskandalen zu Anfang des Jahrhunderts ihre digitale Identität strikt abschirmten, doch dies war etwas anderes. Geneworks war der mächtigste Konzern der Welt, und auch der geheimnisvollste. Zu dieser Aura der Unnahbarkeit gehörte es, selbst unwichtige, ersetzbare Mitarbeiter unter den Schutz des Unternehmens zu stellen, ihre Identität und ihr Leben vor jeglicher Einmischung zu schützen. Ines seufzte. Unter diesen Umständen würde es nicht einfach sein, ein Motiv zu finden, es sei denn, sie rekonstruierte mühsam, mit welchen Personen das Opfer in letzter Zeit Kontakt gehabt hatte – vorausgesetzt, Geneworks ließ das zu. Beinahe etwas abwesend flippte sie Fenster auf dem im Schreibtisch eingelassenen Display herum, bis das Dokument erschien, das sie gesucht hatte. Die 'Ergänzenden Erläuterungen zum Strafgesetzbuch, 149. Fassung: August 2081'. Interessiert studierte sie die Nebenabkünfte und Erläuterungen. Von einem gespannten Kribbeln erfasst, musterte sie das anstrengende Behördendeutsch. Ihr wurde mehr und mehr klar, dass es nicht reichen würde, um Informationen zu bitten – sie musste genau vorbereitet wissen, wie weit sie gehen konnte, wenn sie hier erfolgreich sein wollte.

Es entsprach ihrem Naturell, sich penibel und akkurat auf alle Eventualitäten vorzubereiten, doch leiser Zweifel entsprang ihrem Unterbewusstsein. Mancher multinationaler Konzern schien ab und an zu vergessen, dass er nationalen Rechten und Gesetzen unterstand. Womöglich würde Ines sie daran erinnern müssen. Nachdenklich markierte sie Passagen zu Aussageverweigerung, der Herausgabe persönlicher Gegenstände und Aufzeichnungen. Dann nahm sie ihr Handpad und notierte in geübter, flinker Daumenschrift: 'Geneworks besuchen'.

Erneut blickte sie auf ihr schmales Dossier, das auf nicht einmal einer Seite alles enthielt, was sie über das Opfer wusste. Dann fiel ihr ein, wer mehr über Katrin Scholl-Ossietzky wissen würde. Ines Schultheiss machte sich auf den Weg in die Pathologie.

 

 

***

 

 

Es war eines der ungeschriebenen Gesetze der Kriminalistik, dass rechtsmedizinische Abteilungen sich in den Kellergeschossen befanden. Ines wischte die Vermutung, dass die Ursache hierfür der naheliegende Zusammenhang zu Folterkellern sein musste, routiniert beiseite und drückte den altmodischen Klingelknopf an der Tür. Darüber stand 'Dr. med. Damian A. Fregüzli, Pathologie, Forensische Toxikologie, Forensische Radiologie'. Sie wusste natürlich, dass ihr Kollege sich in erster Linie als Rechtsmediziner betrachtete und die laienhafte Bezeichnung als Pathologe für abwertend, weil unkundig hielt. Dennoch zog sie es bei Gesprächen mit Dritten vor, ihn so vorzustellen, da der Begriff durch die vielen kriminalistischen Holoromane bekannter war. Es rumpelte hinter der blankgeputzten Aluminiumtür, die anzeigte, dass dahinter eine sensible Klimaanlage lag, und schließlich kam mit einem leisen Klicken Fregüzlis misstrauisches Gesicht zum Vorschein.

Mürrisch musterte der Pathologe Ines.

»Ah. Sie.«

Ines blickte ihn fröhlich an. Sie war sicher, dass sein Bericht noch nicht fertig war, also würde er ungehalten sein, gestört zu werden. Doch es gab Möglichkeiten, dies zu umgehen.

»Ich bin leider noch nicht fertig, aber es wundert mich nicht, dass Ihnen nicht klar ist, dass gute Arbeit Zeit kostet.«

»Ihr Zynismus amüsiert mich, doch haben wir den Luxus Zeit möglicherweise nicht«, sagte sie distanziert, doch noch immer betont gut gelaunt.

»Ah ja … da gibt es diese abstruse Drohung. Ich hab's auf meinem News-Pad gesehen. Das glauben Sie doch nicht, oder?«

Fregüzli bedeutete ihr zögerlich, einzutreten.

»Das wissen wir noch nicht«, sagte Ines knapp. Sie wollte vermeiden, dass ihre Ungeduld auf ihn abfärbte, denn er würde nicht nur unleidlich werden, sondern ihr auch keine Zwischenerkenntnisse über die tote Geneworks-Mitarbeiterin mitteilen.

»So, so … das wissen Sie noch nicht«, murmelte er mehr wie zu sich selbst. »Das wissen Sie noch nicht, aber um mich zu stören, dafür reicht es schon …«

»Entschuldigung«, sagte Ines so aufrichtig wie möglich. Ihr tat es wirklich leid, ihn stören zu müssen, doch sie benötigte unbedingt eine erste Einschätzung zu der toten Frau. Unauffällig sah sie sich in dem kleinen Vorraum um, in dem sie nun stand. Es schien so etwas wie ein Büro zu sein, da auf der Seitenablage handschriftlich angefertigte Skizzen und Notizen und haufenweise Pads lagen, doch der Raum war langgezogen mit einer Tür zu ihrer Linken und einer weiteren an der hinteren Wand. Hier gab es nicht die Art von Unordnung, die entstand, wenn man lange nicht aufräumte. Nein, es waren geschäftig unsortierte Aspekte des Falles. Von einigen Pads konnte sie Überschriften wie 'Toxikologische Primaranalyse' oder 'Cerebraltomographische Befunde' erhaschen, doch sie verstand von Rechtsmedizin nur so viel, dass sie wusste, dass Fregüzli in Ulm-Stuttgart der Mann war, den sie fragen konnte. Gerne hätte sie mit Michel Hansen aus Neu Hamburg zusammengearbeitet, der ihre rechte Hand in der heimischen Kriminalistik war, doch natürlich hatte sie sich den Umständen zu beugen. Wie jedes Mal, wenn man sie zu den schwierigsten Fällen durch Europa jagte. Manchmal bedauerte sie, dass sie so wenig von den weiteren Disziplinen ihres Faches verstand, doch wusste sie auch, dass dies eben der Preis dafür war, so lange geübt zu haben, bis sie wahrhaft in die Köpfe der Menschen zu sehen vermochte, solange sie noch lebendig waren. Sie begriff, dass Fregüzli hier ebenso einer Kunst folgte, wie sie es tat, wenn sie mit Menschen sprach oder sie verhörte.

In einem Moment der inneren Klarheit erschrak sie beinahe ob der jähen Erkenntnis, dass sie beobachtet wurde. Fregüzli blickte sie noch immer mürrisch an und wartete zu erfahren, was sie nun eigentlich wollte.

Ines holte tief Luft und begann theatralisch, in der Hoffnung, dass Fregüzli ihr Dilemma verstehen würde: »Vor einer knappen Stunde gingen Eildepeschen an die führenden Experten der Welt in den Bereichen Humangenetik, Pandemik, Terrorismusbekämpfung, physikalische Chemie und noch ein paar andere. Morgen früh wird der große Konferenzsaal über uns brechend voll von sogenannten Experten sein, die allesamt herausfinden sollen, was an den Drohungen und Vorhersagen des Seoung Lee, der sich heute Nacht einigermaßen unaufgeregt gestellt hat, denn so dran ist. Das bedeutet, Damian, dass alles, was Sie mir jetzt nicht sagen können, am Ende unter den Tisch fallen wird, weil ich bereits angewiesen wurde, den Mordfall Scholl-Ossietzky ruhen zu lassen, bis die wesentlich größere Krise vorbei ist. Ich selbst hingegen glaube, dass uns die Leiche auf Ihrem Obduktionstisch mehr verraten kann als all die Experten zusammen.«

Fregüzli nickte nachdenklich. Er legte den Kopf ein wenig zur Seite, blickte Ines noch einmal eindringlich an und lächelte dann sanft. »Ihre Ehrlichkeit, Frau Kommissar, ist erfrischend. Natürlich durchschaue ich die Fassade der schönen Worte, doch sehe ich auch, dass Ihre Einstellung bezüglich des Krisenstabes aufrichtig ist. Ich werde Ihnen sagen, was ich weiß.« Er stockte, als hätte er eine spontane Eingebung gehabt. »Nicht, weil ich muss, denn das wissen Sie ja ohnehin, sondern in Ihrem Fall auch, weil ich will.«

Er grinste nun und hob theatralisch den Arm, um sie in den Obduktionssaal zu bitten. Ines schauderte, als sie das vollkommen klimatisierte Reich des Damian Fregüzli betrat. Der Obduktionsraum war länglich, bot Platz für drei gleichzeitig aufgebahrte Leichname und hatte die typischen sargförmigen Kühlschränke an beiden Seiten zu bieten, die in die kalten, altmodisch eierschalenfarben gefliesten Wände eingelassen waren. Abscheu stieg in Ines Schultheiss auf, als sie den Leichnam auf dem letzten der Tische erkannte und sah, wie das Fleisch an Brust und Bauch von der Haut getrennt worden war, die nun in sauber zerteilten Hälften zu beiden Seiten hinunterhing. Sie konnte sich beherrschen, schließlich hatte sie schon wesentlich widerlicher zugerichtete Menschen sehen müssen.

Fregüzli schien einmal mehr ihre Gedanken zu erraten und grinste erneut. »Haben Sie keine Angst vor dem Tod, Frau Kommissar«, sagte er beiläufig.

»Wir alle enden irgendwann auf einem Tisch wie diesem. Auch die Alten«, fügte er fatalistisch hinzu.

»Sie glauben, was Seoung Lee behauptet?«, fragte Ines. Als Pathologe musste er notwendigerweise dazu eine Meinung haben. Wenn er davon gehört hatte, so hatte er sich auch Gedanken dazu gemacht, schloss sie.

»Glauben ist Ihr Metier, Ines«, sagte er spitz. »Ob ich mich jedoch darauf vorbereite, Alte in diesen Schränken liegen zu haben? Darauf können Sie wetten.«

Unzufrieden über die vieldeutige Antwort des Rechtsmediziners beschloss sie, nicht weiter nachzuhaken. Zuerst die Frau. »Der Fall Scholl-Ossietzky«, sagte sie schließlich, während sie erneut interessiert studierte, wie viel kognitive Mühe es sie kostete, ein Würgen zu unterdrücken.

»Ah, natürlich.« Fregüzli war nun ganz in seinem Element. »Wie wir bereits am Fundort vermuteten, ist die Frau woanders gestorben. Ich kann nicht sicher sagen, wo, jedoch ist es wahrscheinlich, dass es ein geschlossener Raum war. Seit es Leuchtquellen gibt, die UV-Strahlung abgeben, um die Melaninproduktion zu regeln, ist es schwer geworden, daraus Schlüsse zu ziehen, doch wissen wir heute, dass bestimmte andere Lichtrezeptoren in Augen und Haut nur bei echtem Sonnenlicht ansprechen. Sie hat einige Zeit in einem Gebäude gelegen – ich kann nicht sagen, wie lange, doch schätze ich mindestens eine halbe Stunde.«

»Haben Sie eine Ahnung, wie man sie transportiert hat?« Ines war ungeduldig. Die Tatort-These hatte sie schon am Fundort gehört und als verlässlich abgespeichert. Sie war hier, um Neues zu erfahren. Immerhin sprach der Pathologe weiter, ohne dass sie ihn hätte ermuntern müssen.

»Ferner – und ich weise ausdrücklich darauf hin, dass es sich hierbei um reine Spekulation handelt – ferner wurde sie nach meiner Ansicht wenigstens eine gewisse Zeit von mehr als einer Person getragen. Es gibt leichte Druckmale an Hand- und Fußgelenken, außerdem keine Schleifspuren im Park.«

»Mehr als ein Täter?«

»Möglich.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 20.09.2015
ISBN: 978-3-7396-1472-4

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