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Ich kaufe, also bin ich.

„Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass wir Ihnen nicht weiterhelfen können, Herr und Frau Lüthi. Wir können Sie anhand Ihrer Angaben nicht in unsere Adaptionskartei aufnehmen.“ Er drückt ihr die Hand. Er weiss genau wie schwer es ihr fällt, schon wieder eine Absage zu bekommen. Doch nicht nur ihr fällt es schwer, auch ihm, denn auch er wünscht sich ein Kind, doch kann er seine Gefühle nach aussen nicht zeigen, schliesslich ist er ein Mann. Seine Frau hingegen kann sich nicht so gut beherrschen. Es platzt nur so aus ihr heraus: die ganze Hoffnung, die sie in diesen Versuch gesteckt hat, ist verloren. „Wie sollen wir dann ein Kind bekommen? Adoption war unsere letzte Chance. Alles, was wir wollen, ist ein Kind, das ist alles!“, schreit sie. Er drückt ihr erneut die Hand. „Haben Sie denn wirklich schon alles ausprobiert?“, fragt die Adoptionsberaterin, „wirklich alles?“ Die Frau antwortet erschöpft. Dieses Erschöpftsein muss auch der Adoptionsberaterin aufgefallen sein, denn sie steht auf, schliesst die Jalousien ihrer gläsernen Bürotür und steckt die Freisprechanlage aus, die sie mit ihrer Sekretärin verbindet. Sie setzt sich wieder hin, während sich das Ehepaar fragend ansieht. „Wenn Sie wirklich schon alles ausprobiert haben“, flüstert sie und schaut sich um, als ob sich jemand im Raum verstecken würde, „kann Ihnen vielleicht dieser Mann weiterhelfen.“ Sie schiebt eine Visitenkarte über ihren Bürotisch, auch dieser war aus Glas. „Melden Sie sich bei ihm. Man kann nicht nur Essen kaufen.“ Wieder schaut sich das Ehepaar fragend an. „Was ist das?“, fragt die Frau ein wenig unsicher. „Ihr Ticket zum Glück.“ Die Beraterin führt sie zur Tür. „Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Glück auf Ihrer Reise.“ Das Ehepaar wird förmlich vor die Tür geschoben und fragend auf der Strasse zurückgelassen. „Soll das ein Witz sein?“, fragt der Mann. „Das eine Visitenkarte eines verdammten Chinarestaurants!“ Er wirft die Karte zu Boden. „Komm Schatz, wir gehen, das ist doch alles Schwachsinn hier.“ Er dreht sich um und stapft wütend zum Wagen. Er merkt, dass ihm seine Frau nicht nach kommt, immer noch steht sie vor der zu Boden geworfenen, vom Regen aufgeweichten Karte. „Kommst du?“ „Ja, ich komme.“ Während der Mann ins Auto steigt, hebt die Frau die Visitenkarte auf und steckt sie in ihre Manteltasche. Schnell eilt sie zum Wagen. „Alles o.k.?“, fragt er. „Alles o.k.“

Es ist bereits Abend geworden und das Ehepaar sitzt im Wohnzimmer ihres kleinen Häuschens mit Sicht zum See. Sie haben es neu gekauft und es bereits auf die Bedürfnisse eines Kleinkindes ausgerichtet. „Schatz.“ Der Mann schaut auf. „Wir haben nun schon so viele Rückschläge erlitten. Wie wärs, wenn wir mal schön ausgehen und mal nur an uns denken? Ich kenn da ein schönes Restaurant in der Nähe, was meinst du?“ Der Mann ist skeptisch, ihm ist nicht nach Ausgehen. Doch das letzte Mal, als sie essen waren, war vor sechs Jahren auf ihrer Hochzeitsreise, also willigt er ein. Beide ziehen sich schick an und fahren zum Restaurant. Dem Mann scheint nichts weiter aufzufallen, doch die Frau legt ihre Hand versichernd auf ihre Manteltasche, als sie das grosse Schild des Restaurants vor sich sieht. Die beiden setzen sich an einen Tisch. Die Frau scheint sehr nervös zu sein, denn sie schaut sich immer wieder um. „Was ist denn los?“ „Das ist es, das ist das Restaurant.“ Auch der Mann erinnert sich jetzt wieder an das Symbol auf der Visitenkarte. Schockiert sieht er seine Frau an. „Ich muss es einfach wissen!“ Er kann nicht wirklich wütend bleiben, denn auch ihn nimmt es wunder, was es mit diesem Restaurant auf sich hat. Ein chinesischer Kellner tritt an ihren Tisch. „Was darf sein?“ „Wir wollen zu Herrn Chang, ein alter Freund von uns.“ „Chang? Nein, kein Chang, nur chinesisch Essen, kein Chang.“ Die Frau zeigt ihm die Visitenkarte und der Kellner scheint zu verstehen. „Ah, Chang. Bitte, kommen Sie.“ Der Kellner führt sie in einen kleinen Hinterraum des Restaurants, wo sie bereits von einem Mann Mitte fünfzig erwartet werden. Zu ihrer Überraschung ist er nicht Chinese. Die Frau schaut sich um. Der Raum ist, wie das Restaurant, mit chinesischen Schnitzereien geschmückt. „Was zum Teufel ist das hier?“ Der Mann ist ganz ausser sich. Doch der ältere Mann lächelt nur. „Mein Name ist Herzog und ich bin der Mann, der es Ihnen möglich macht, ein Kind zu bekommen.“ Die Frau horcht auf. „Bitte, setzten Sie sich. Ich werde es Ihnen genauer erklären. Ich habe gehört, dass Sie kein Kind bekommen können, doch jetzt bin ich ja hier. Ich kann Ihnen das Kind geben, das Sie sich seit Jahren wünschen.“ Der Mann ist nachwievor skeptisch. „Wie genau soll das funktionieren? Wollen Sie mir die Frau ausspannen?“ Herzog lächelt wieder. „Natürlich nicht. Es ist ganz einfach: Wie Sie wahrscheinlich wissen, ist es in China verboten, mehr als nur ein Kind zu haben. Doch bei vielen ist es der Fall, dass sie ein zweites bekommen. Um es vor der schrecklichen Ermordung durch die Behörden zu retten, bringen wir es in Sicherheit.“ „Das kann ja unmöglich legal sein!“ Nun scheint auch die Frau unsicher zu werden. „Selbstverständlich betreiben wir nur legale Geschäfte.“ Herzog zwinkert und setzt sein Lächeln auf. „Alles vollkommen legal.“ „Und diesen Frauen, ihnen wird nicht einfach so ihr Kind weggenommen?“ „Nein, natürlich nicht. Ganz im Gegenteil, wir helfen diesen Frauen.“ Herzog scheint das Ehepaar in ihrer Verzweiflung überzeugt zu haben, denn kurze Zeit später verlässt das Ehepaar glücklich das Gebäude, Hand in Hand, nachdem Sie ihre Unterschriften abgegeben haben. Sie sehen sich endlich an ihrem Ziel angekommen.

Die nächsten Tage stürzt sich das Ehepaar in weitere organisatorische Angelegenheiten. Die Frau ist überglücklich und komplett in ihrem Element, während der Mann eher still und in Gedanken verloren scheint. „Schatz, ich bin mir nicht mehr so sicher. Immer diese Treffen an komischen Orten, diese Geheimnistuerei. Ich werde den Gedanken nicht los, dass wir vielleicht ein wenig vorschnell gehandelt haben.“ „Ich will ein Baby!“ Diese bestimmten Worte hört er nicht zum ersten Mal. Schon öfters hat er seine Zweifel geäussert, doch jedes Mal blockt sie ab. So erstaunt es sie auch nicht, als sie am nächsten Morgen den Zettel in der Küche sieht: „Schatz! Mir ist das alles zu viel. Ich möchte ein Kind, jedoch eines, das nicht gewaltsam seiner Familie entrissen wird und illegal in unser Land geschaffen wird. Ich werde das Gefühl nicht los, dass es dir schon lange nicht mehr um das Kind geht, sondern vielmehr um das Beweisen, dass du alles erreichen kannst.“ Sie liest den Brief und wirft ihn weg. Sie lässt sich von nichts mehr aufhalten, selten ist sie von etwas überzeugter gewesen. Sie möchte dieses Kind kaufen, koste es was es wolle. Das Geld hat sie bereits zusammen, so ein Kind zu kaufen ist nicht billig, Tag und Nacht hat sie dafür geschuftet. Nun muss sie das Geld nur noch dem Verkäufer übergeben. Sie bemerkt in ihrem Eifer nicht, wie das Kind mehr und mehr in den Hintergrund rückt. Zu sehr ist sie angetan von dem Gefühl, sich in Hintergassen zu treffen und Geheimnisse zu haben. Wer möchte schon nicht ein Spionageleben führen? Trotz dieser Euphorie vergisst sie nicht, wie nahe sie ihrem Traum gekommen ist, den ihr Mann und sie einst geteilt haben. Herzog sagte ihr, sobald er das Geld habe, kann sie ihr Kind im Kinderheim abholen. Morgen ist es soweit. In der Nacht kann sie gar nicht schlafen, endlich ist ihr Traum in Erfüllung gegangen. Immer wieder schwirrt ihr der Satz der Adoptionsberaterin im Kopf herum: Man kann nicht nur Essen kaufen. Sie lächelt. „Das ist wohl war“, denkt sie sich, „heute kann man sich wirklich alles kaufen.“ Mit diesem zufriedenstellenden Gedanken schläft sie ein.

Es ist noch früh am Morgen, doch die Frau hat das Geld bereits dem Laufburschen abgegeben. Jetzt steht sie vor dem Kinderheim, den Zettel mit dem Namen des Kindes in der Hand. Sie stösst die Türen auf und zeigt der Empfangsdame mit den roten Haaren den Zettel. Diese weiss sofort Bescheid und verschwindet in ein Hinterzimmer. Sie kommt zurück, ein Baby in ihren Armen. Lächelnd übergibt sie es der Frau. Doch diese schaut schockiert auf das Kind. „Für diesen Scheiss habe ich so viel Geld ausgegeben?“ Nochmals schaut sie auf das Kind. Es hat nur ein Auge und die gesamte linke Gesichtshälfte ist entstellt. „Ich möchte ein anderes!“ „Sorry, kein Umtauschrecht. Ich muss Sie jetzt bitten zu gehen. Die beiden Herren werden Sie hinausbegleiten.“ Schon kamen zwei in schwarz gekleidete Männer und zogen sie an den Armen nach draussen. Nun steht sie da, ein verunstaltetes Kind in ihren Armen, „defekte Ware“. Sie weiss nicht mehr weiter und beschliesst vorerst mal nach Hause zu gehen.

Zu Hause angekommen legt sie das verkrüppelte Kind in die Wiege, die sie und ihr Mann zuvor gekauft haben. Sie setzt sich an ihren Schreibtisch und fängt an zu schreiben:

„Eigentlich weiss ich gar nicht, wieso ich diesen Brief schreibe, denn ich habe längst keine Freunde mehr. Ich bin zu weit gegangen, das habe ich schlussendlich doch noch erkannt. Heute ist es einfach, aufgesaugt zu werden. Wir sind eine Konsumgesellschaft, wir werden gezwungen, Dinge zu kaufen. Doch wir werden gerne gezwungen und kaufen ein. Ich habe mich gezwungen, ein Kind zu kaufen. Doch sind wir es uns gewohnt, perfekte, fehlerfreie Ware zu erhalten. Ich musste jedoch lernen, dass dies nicht immer der Fall sein kann. Nun stehe ich da, mit einem von der Gesellschaft geschädigten Baby. Ich möchte mich bei meinem Ehemann entschuldigen, er hatte die ganze Zeit recht. Da ich mich durch meine Konsumgeilheit selbst nicht mehr ausstehen kann und ich die letzte Person war, die mich liebte, ist es für alle klar, wie die Geschichte, meine Geschichte, ausgehen muss. Schon lange ist die Weisheit René Descartes „Ich denke, also bin ich“ nicht mehr war. Durch den heutigen Luxus, durch das heutige Verschwendertum, durch das heutige Angebot, das auch mich in den Bann gezogen hat, gilt: „Ich kaufe, also bin ich.“ Durch die ganze Angelegenheit habe ich mich seit langer Zeit wieder lebendig gefühlt. Ich hatte einen Antrieb, glücklich zu sein. Umso tiefer ist das Loch, in dem ich mich nun befinde.“

Erschöpft legt sie den Stift nieder. Sie geht zur Wiege, niemand soll dieses Kind bekommen. Sie drückt ihm ein Kissen aufs Gesicht. Sie kann nicht hinsehen, wie diese hässliche Kreatur ums Leben kämpft, um ein würdenloses Leben. Sie muss sich waschen, die Sünde abwaschen. Sie lässt sich ein Bad ein.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.09.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meinen Deutschlehrer, der mich nicht versteht, und es wohl auch nie tun wird.

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