Erotikedition
Frank C. Mey
Band V
Überarbeitete Auflage
Text Copyright © 2016/ 2019 Frank C. Mey
Erfurt, Germany
Alle Rechte vorbehalten
Inhalt Band V
Chrissys Tagebuch – Teil II/I
Chronik einer lesbischen Liebe
Dank an Julia S. für diese atemberaubende Liebesgeschichte
Im Buchhandel als Taschenbuch erhältlich unter ISBN 9781511581356
Mutterliebe – Teil II
Erotischer Roman
Personen und Handlung dieses Romans sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten, lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig
Im Buchhandel als Taschenbuch erhältlich unter ISBN 9798624497511
Ausführliche Leseproben aus allen meinen Büchern in meinem Blog
Schluss Teil I/II
Der Dienstag verlief entspannter. In der ersten Pause berichtete Manu über das gemeinsame Vorhaben mit der Mutter vom Vortag, dessen Hintergrund sie ebenso wenig gewusst habe. Sie hätten sich beide in einem Restaurant zum Mittagessen getroffen. Manus Mutter habe sich für ihr Verhalten in den letzten Wochen bei ihr entschuldigt.
„Sie will trotzdem keinen Kontakt zu deinen Eltern und schon gar keine Hilfe“, fügte sie kurz darauf traurig hinzu. Da Manu ihre einzige Tochter sei, läge ihr viel daran, weiterhin einen engen Kontakt aufrecht zu erhalten. Ansonsten werde sie alles akzeptieren, was aus der Richtung meiner Eltern, besonders von Dad käme. Wenn Manu eine eigene Wohnung beziehen wolle, habe ihre Mutter nichts mehr dagegen. Wahrscheinlich sei das sogar die beste Lösung für beide Seiten.
Nachdem sie den Kurzbericht, den sie monoton wiedergab, beendet hatte, atmete Manu tief und erleichtert durch. So wie sie mich anschaute, schien sie geradezu traurig darüber zu sein, dass sich ihre Mutter nun offenbar widerstandslos den Gegebenheiten fügte. Ich entschloss mich, keine Wertung vorzunehmen. Überhaupt, wie mir Viola geraten hatte, tat ich so, als habe sich überhaupt nichts verändert zwischen uns, was sich als richtig erwies. Für den Mittwoch war Manus Besuch bei uns zu Hause geplant. Der erste Besuch in der neuen Zeit, wie Dad anmerkte. Mam und Dad hatten die Termine einiger Patienten umgelegt, so dass beide bereits ab fünfzehn Uhr Zeit hatten.
Geplant war das Ganze für das folgende Wochenende, wogegen ich Protest eingelegt hatte. Die Wochenenden, jedenfalls der größere Teil derselben, gehörten Viola und mir. „Viola kann doch dabei sein“, sagte Dad. Schließlich gehöre sie inzwischen ebenfalls zur Familie. Ich meldete Bedenken an, Manu schien mir noch zu distanziert, Viola gegenüber. Mam gab mir Recht.
16. Juni 2010
Nach Ende der Konsultationen nahmen wir den nächsten Bus. War Manu am Vormittag in der Schule gelöster als am Vortag, schien sie während der Fahrt in Gedanken über die bevorstehende Begegnung mit meinen Eltern, besonders mit meiner Mutter, zu ersticken. Dass Manu Bedenken zu deren Bereitschaft hegte, den Plänen unseres Vaters bedingungslos zu folgen, darüber schrieb ich bereits. Dass es ihr in der Anfangszeit schwer fallen würde, unseren Vater als solchen anzusprechen, hatte sie mir schon am Sonntagmorgen am Telefon gesagt.
„Wie hat deine Mutter reagiert?“, fragte sie mich aufgeregt nach längerem Schweigen. Die Hälfte der Strecke lag beinahe hinter uns. Das Zittern in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Von den Sorgen, die sich meine Mutter wegen mir machte, erzählte ich ihr nichts. Das betraf Manu nicht direkt, sondern war eine Angelegenheit zwischen meiner Mutter und mir.
„Meine Mutter?“ Ich sah Manu optimistisch in die Augen. „Wie soll die schon reagiert haben, die freut sich, was sonst?“ Weil Manu ungläubig blickte, entschloss ich mich, der Wahrheit halber, dennoch von den Verstimmungen zu berichten, die die Offenbarung unseres Vaters hervorrief.
„Sie war nicht sauer, wenigstens nicht über die Tatsache selbst“, sagte ich unaufgeregt. „Meine Mutter war lediglich enttäuscht darüber, dass sie es nicht früher erfuhr.“ Am Ende sei man allerdings übereinstimmend zu dem Schluss gekommen, dass Dads Schweigen über die Jahre für alle Beteiligten die beste Lösung gewesen sei.
„Das hast du übrigens Viola zu verdanken, die äußerte den Gedanken als erste.“ Manu sah mich überrascht an. Die kleine Lüge verschwieg ich. Viola hatte zwar den Gedanken geäußert, doch Dad erwähnte, dass dies sein wichtigster Grund gewesen sei. „Wie jetzt …?“, erwiderte Manu erschrocken, sie stotterte: „Ist die schon so weit … Redet die schon mit deinen Eltern …“ Ich unterbrach sie:
„Viola gehört seit vorigem Wochenende zur Familie, genau wie du seit ewig zur Familie gehörst …“
„… Wird die etwa heute dabei sein?“, unterbrach mich Manu in ängstlichem Unterton.
„Und was wäre wenn?“, fragte ich frech, bevor ich einen Arm um ihre Schulter legte. „Nein, du kannst beruhigt sein, Viola ist heute nicht dabei.“ Erleichtertes Durchatmen, das ich nicht verstand. Ich wollte nicht weiter darauf eingehen, die Aufregung war ohnehin groß genug, wie ich ihr anmerkte. Ich wollte sie beruhigen, daher beließ ich meinen Arm auf Manus Schulter.
„Du kannst wirklich beruhigt sein, Manu, niemand wird dich jetzt schlechter behandeln als vorher, eher besser“, sprach ich zu ihr. Auf ein weiteres befreiendes Durchatmen folgte die nächste Frage:
„Und wie soll ich deine Mutter jetzt ansprechen?“ fragte sie mich mit ratloser Miene. Weil ich Entspannung wollte, lachte ich: „Na wie du sie bisher angesprochen hast, mit ihrem Vornamen, wie denn sonst?“
„Ja wie sonst?“, antwortete sie gelöst. Endlich erschien ein zurückhaltendes Lächeln auf Manus Gesicht.
„Du hast eine richtige Mutter, in die Rolle der bösen Stiefmutter muss daher niemand schlüpfen“, fügte ich lachend hinzu. „Und unser Dad“, ich betonte das „Unser“, „unser Dad wird sich bestimmt freuen, wenn du dir eine der handelsüblichen Anreden aussuchst: Dad, Paps, Papa, oder was dir gerade einfällt. Wenn du ihn weiterhin mit seinem Vornamen ansprichst, wird er dir sicher nicht böse sein.“ Die Anredeform für unseren Vater schien ihr einiges Kopfzerbrechen zu bereiten, wie ich bemerkte.
„Zu mir sagst du weiterhin Chrissy, darfst mich aber auch gern Schwesterlein nennen.“ Nach den letzten Worten kullerten zwei Tränen aus den Augen meiner neuen Schwester. Anschließend fiel sie mir an den Hals, mit einem Küsschen auf die Wange. Offenbar war sie von ihrer Reaktion selbst überrascht. Sie sah sich verunsichert im Bus um, niemand bekam etwas mit, wenige Plätze besetzt, saßen die Passagiere alle in Fahrtrichtung.
Unentschlossen nach wie vor wirkte meine Schwester, als ich Viola ein weiteres Mal ins Spiel brachte. Ich wiederholte den Satz meiner Mutter mit den drei Töchtern. „Am liebsten wäre mir, du behandelst Viola ebenfalls wie deine Schwester“, sagte ich, bemüht freundlich zu klingen.
„Ach Chrissy …“, Manu lehnte sich an meine Schulter. „Alles so neu, alles so anders …“, sagte sie leise. „Nichts ist anders, alles bleibt so wie es bisher war, allein Viola gehört inzwischen dazu“, erwiderte ich.
Mam und Dad verließen gerade die Praxis, als wir aus dem Bus stiegen. Während Dad in den Wildladen ging, blieb meine Mutter an der Gartenpforte stehen. Sie umarmte uns beide. „Hallo, meine Kinder“, sagte sie in feierlichem Ton. Ich bemerkte regelrecht, wie eine Last von Manu fiel, so dicht wie wir beieinander standen.
„Alles gut bei dir, Manu?“, sprach Mam sie mit warmer Stimme direkt an. Im selben Moment wie Manu nickte, rannen ihr abermals Tränen aus den Augen. Sie schniefte, während meine Mutter sie ein weiteres Mal in die Arme schloss. Inzwischen war Dad dazu gekommen. „Na, Töchter“, sprach er locker. „Habt ihr euch inzwischen miteinander angefreundet. Mich im rechten, Manu im linken Arm, schob er uns in Richtung Haustür.
Durch die offene Wohnzimmertür sah ich, dass im Wintergarten bereits der Tisch gedeckt war. Dad hatte zum Frühstück angekündigt, dass es verspätetes Mittagessen geben würde. Manu war mit Mam bereits in die Küche verschwunden, während Dad über die volle Gesichtsbreite grinste, als er an mir vorbei zu seinem Giftschrank ging. Ich wunderte mich über das fünfte Gedeck. Sollte mein Vater etwa geschafft haben, Manus Mutter zur Vernunft zu bringen? In diesem Moment schoben sich zwei vertraute Hände von hinten über meine Augen. Zwei kleine, spitze Brüste, die in keinem Büstenhalter steckten, an meinem Rücken. „Überraschung!“, hauchte mir eine bekannte, warme Stimme ins Ohr.
„Viola!“, rief ich. „Nein!“ Da hatte sie mich schon an den Schultern herum gezogen. Dad räusperte sich, kaum dass sich unsere Lippen gefunden hatten. „Denk bitte an deine Schwester“, sagte er leise, während er Whisky in zwei Gläser kippte, anschließend Cognac in ein drittes. „Du einen Likör?“, fragte er mich. Als ich „Ja“ sagte, stand Manu in der Küchentür. Starr, wie angewurzelt, nachdem sie Viola gesehen hatte. Die ging Manu entgegen.
„Hallo Manuela, schön dich zu sehen“, rief Viola ihr entspannt zu. Zur selben Zeit erschien Mam neben Manu in der Tür. „Komm bitte, Manuela“, sagte meine Mutter zu ihr. Sie tat sich schwer auf den ersten Schritten, meine neue Schwester.
„Ich dachte, wenn wir heute in wichtigen Angelegenheiten zusammen sitzen, dann sollten alle anwesend sein“, löste Mam das Rätsel um Violas unvorhergesehene Anwesenheit auf. Offenbar hatten beide miteinander telefoniert. Sie standen sich gegenüber, Manu und Viola, Manu den Blick gesenkt. Sie schämte sich wohl.
„Kopf hoch, Manuela“, rief Dad ihr ermutigend zu. „Du darfst deine Schwägerin oder zweite Schwester, wie ihr das auch immer halten wollt, ruhig umarmen.“ Da schien der Knoten geplatzt zu sein. Ein drittes Mal an diesem Nachmittag liefen Manu Tränen über die Wangen. Sie stotterte:
„Sind sie … Bist du … Sind … Bist du mir nicht böse …?“ Viola griff mit beiden Händen in Manus Mähne, während sie heftig den Kopf schüttelte. „Nein, Manuela, bestimmt nicht“, erwiderte Viola. Anschließend bekam Manu einen Kuss auf die Stirn.
Ein Klopfen an der Haustür unterbrach den Verbrüderungsakt, der Betreiber des Wildladens mit einem Servierwagen. Dad hatte am Tag davor Rehkeule bestellt. Hin und wieder gab es Wild, das wir stets fertig mit allen Zutaten im Laden bestellten.
„Die können das einfach besser zubereiten“, hatte mein Vater einmal gesagt. Er traue sich an so ziemlich alles heran, was es zu kochen gäbe, Wild hingegen sei eine Koch-Wissenschaft für sich.
Der Lieferant kannte den Weg bereits. Während der den Wagen langsam zum Wintergarten schob, stießen wir an, Manu ebenfalls mit einem Tropfen Schokolikör im Glas. Viola hatte den Platz beibehalten, einen Arm um Manus Schulter gelegt. Letztere wirkte erleichtert. Ich gesellte mich dazu, wir nahmen Manu in die Mitte.
Im Wintergarten belegte Dad den Platz an der Stirnseite des Tisches, Mam und Manu an einer Längsseite, Viola und mir gegenüber. „Jetzt haben wir endlich eine gebührende Platzverteilung“, sprach mein Vater, nachdem er seinen Stuhl belegt hatte. Sonst waren wir zu dritt oder zu viert, da saß er stets an einer Längsseite. Das Familienoberhaupt gehöre schließlich an die Stirnseite der Tafel, sagte er mit seinem typisch freundlichen Grinsen im Gesicht.
„Unser Papa eben“, sagte ich, mit Blick auf Manu. Die Bezeichnungen Dad und Mam verwendete ich, seit ich in der Schule Englisch lernte. In einer der ersten Lektionen ging es um die Benennung der Familienmitglieder und deren verschiedene Formen. Dad und Mam gefielen mir so gut, dass ich die übernahm. Manu lief hellrot an, nachdem ich sie ansprach, Schocktherapie fiel mir ein. Das hatte bereits in anderen Zusammenhängen bestens gewirkt.
Unserem Vater war die Reaktion nicht entgangen. Wir aßen bereits, als er Manu ansprach. „Wenn es dir schwer fällt, Manuele, dann kannst du gern weiterhin Curd zu mir sagen“, sprang er seiner älteren Tochter, wie er sie seit dem Outing gern bezeichnete, zur Seite. Letztlich habe ihn das vorher ebenso wenig gestört.
Manu taute zusehends auf. Ihre Mutter habe von ihr verlangt, dass sie zu dem Mann der nach ihrem … An der Stelle hielt sie inne. „Nach deinem Vater, das kannst du ruhig weiterhin sagen, Manu“, sprang Mam ihr hilfreich zur Seite. „Für dich war er lange Zeit dein Vater.“ Es folgte eine Diskussion über den Unterschied zwischen Vater und Erzeuger, an der Viola sich beteiligte. Bis dahin war sie ungewohnt ruhig geblieben.
„In diesem Falle haben wir es wirklich mit zwei Vätern zu tun“, sagte Viola. Der eine habe sich um Manu seit ihrer Geburt wie ein Vater gekümmert. Dass er nichts vom wirklichen Erzeuger gewusst habe, sei in dem Falle wenig ausschlaggebend. Und Dad sei nicht allein Erzeuger gewesen, da er sich spätestens seit dem Vaterschaftstest ebenfalls wie ein Vater um Manu gekümmert habe. Manu las Viola jedes Wort von den Lippen ab.
„Du warst wirklich wie ein Vater zu mir, solange ich denken kann, und zu dir Papa oder so was Ähnliches zu sagen, fällt mir im Moment noch schwer, weil ungewohnt, aber ich werde mich bestimmt schnell daran gewöhnen.“
Anschließend sprang sie auf, um Dad zu umarmen. Sie schaute dankbar zu mir als sie sagte, dass zwei meiner ersten Worte bereits am Sonntagvormittag am Telefon „unser Vater“ gelautet hätten. Dasselbe am Montagmorgen in der Schule. Darüber habe sie sich wahnsinnig gefreut.
„Hättest du jemals daran geglaubt, dass Chrissy dir deine Position als Halbschwester nicht gönnen würde?“, fragte keine andere als Viola. Mit Bedacht, wie ich vermutete. Gesenkten Blickes ging Manu an ihren Platz zurück. Von da aus sagte sie, dass sie das nicht gewundert hätte, so gehässig wie sie manchmal zu mir gewesen sei.
„Du warst nicht gehässig, Manuela, du hattest lediglich Angst, Chrissy zu verlieren“, erwiderte Viola besänftigend. So etwas könne man verstehen. Meine Mutter verfolgte das Geschehen mit zufriedenem Blick. „Auch ich gönne dir das, Manuela“, sagte sie schließlich. Ich hatte Mam von Manus Bedenken erzählt.
„Mit Viola hast du jetzt eine kompetente zweite Ansprechpartnerin in Sachen Literatur, falls unser Vater einmal nicht verfügbar sein sollte“, sagte ich zu Manu, deren Augen augenblicklich aufleuchteten. Mir fiel das Buch ein, von dem Manu mir erzählte, daher sprach ich zu ihr:
„Wenn du Fragen zu dem Buch hast, welches du gerade liest, kann Viola dir bestimmt besser antworten als ich.“ Die Worte taten mir bereits leid, nachdem ich das letzte ausgesprochen hatte. Der böse Blick traf mich, Manu lief dunkelrot an.
„Um was für ein Buch geht es denn?“, fragte Dad, dem Manus Reaktion nicht entgangen zu sein schien, mit neugierigem Lächeln. Von Viola erhielt ich einen Knuff unter dem Tisch. Weil Manu nichts sagte, hakte Dad nach:
„Du weißt, Manuela, dass man in diesem Hause über alles reden darf.“
„Lass sie, Curd, wen sie nicht darüber sprechen möchte“, mischte Mam sich ein.
„Ich kann mir denken, um welches Buch es geht“, sprang Viola ein. Der hatte ich von dem Gespräch mit Manu in allen Details erzählt. Sie sah Manu an. Mit ihrer sanften, warmen Stimme sagte sie zu Manu:
„Das hast du dir sicher ausgesucht, weil du Chrissy und mich besser verstehen möchtest, oder?“ Manu nickte verhalten, den Blick gesenkt. „Und? Verstehst du uns jetzt besser?“, setzte Viola nach. Nach einer Pause antwortete Manu leise, mit trockener Stimme:
„Nicht in Allem, in Einigem schon …“, anschließend schielte sie zu mir. Ich war erleichtert, das Böse schien verschwunden, Manus Blick wirkte eher traurig, wie eine Weile davor, als sie sich für ihre Gehässigkeiten entschuldigte.
„Klärt mich nun mal jemand auf, worum es hier geht, bitte?“, meldete Dad sich zurück. Manu tauschte einen Blick mit Viola, die ihr zunickte. Sag es einfach, Manu, sprach aus Violas Augen.
„Die Fremde im Pool“, gab Manu nach einer weiteren Pause leise zu.
„Oho, Gratulation!“ Dad hob anerkennend den Kopf. „Starker Tobak, doch sehr aufschlussreich für jemanden, der verstehen will, warum es Menschen gelegentlich zum eigenen Geschlecht hin zieht“, fügte er kurz darauf hinzu. Mam sagte nichts dazu, verständlicherweise. Ohne ihren Ausflug in die Welt der lesbischen Liebe seinerzeit würde Manu wohl kaum am Tisch sitzen, wird sie sich gedacht haben.
Manus Gesichtsfarbe kehrte allmählich in den Normalzustand zurück. Sie wirkte sogar entspannt. Ich musste etwas zu ihr sagen, irgendetwas Aufmunterndes. Das fiel mir kurz darauf ein, ich sagte:
„Siehst du, Manu, es gibt genügend Gesprächsstoff wenn ihr euch in Zukunft zu Dritt in der Bibliothek vergrabt.“
„Und was willst du dann solange anstellen?“, fragte mich Dad.
„Chrissys Interesse am Lesen nimmt bereits zu. Für euren bevorstehenden Urlaub habe ich schon passende Lektüre zusammengestellt“, nahm Viola mir die Antwort ab. Ich war überrascht von der Ankündigung, sprachen wir bis dahin nicht ein einziges Wort darüber. Viola lächelte mich von der Seite her an. Ein sanfter Knuff mit dem Knie sollte mir, wie ich vermutete, signalisieren, nichts weiter dazu zu sagen.
Dad tat überrascht, Manu grinste in sich hinein. Sie schien nicht an ein solches Interesse zu glauben. „Und was gehört zu der Lektüre, wenn ich fragen darf?“ Dad schaute Viola erwartungsvoll an. Die hüllte sich in Schweigen, wenigstens was Dads Frage betraf, sie erwiderte:
„Wird nicht verraten, weil die Bücher etwas mit dem geplanten gemeinsamen Urlaubsziel für die eine Woche zu tun haben.“ Da wurde ich neugierig. „Du weißt wohl schon, wohin du mit mir fahren willst?“, fragte ich, ohne meine Überraschung zu unterdrücken.
Viola nickte: „Klar weiß ich das, und wenn du ganz genau nachdenkst, wenn dir ein wichtiger Satz von mir im Ohr hängen blieb, erst wenige Tage alt, dann fällt es dir ein.“
Mir fiel nichts ein, solange ich nachdachte. Zu Letzterem blieb mir keine Zeit, weil wir ungewollt auf ein Thema gestoßen waren, das Dad unter den Nägeln zu brennen schien. Der beendete mein Rätselraten mit dem Satz:
„Darüber könnt ihr heute Abend in deiner Wohnung weiter rätseln, jetzt würde ich gern …“ An der Stelle unterbrach ich ihn: „Woher willst du wissen, dass Viola heute hier übernachtet?“
„Schau mal in deinen Schrank“, schaltete Mam sich in unser Gespräch ein. „Der stille Einzug über den wir am Sonntag sprachen“, ergänzte Viola. Neben Garderobe habe sie ihre für den nächsten Tag gepackte Tasche mitgebracht. Ich war sprachlos. Es gab kein Räuspern mehr, keinen Hinweis meines Vaters, auf Manu Rücksicht zu nehmen, als ich Viola küsste. Manu lächelte sogar, verschämt, aber sie lächelte.
„Darf ich jetzt?“, unterbrach uns Dad. Er habe mit Mam bereits über den bevorstehenden Urlaub gesprochen. Das gewohnte Zuwerfen der Bälle begann, weil Mam den nächsten Satz übernahm:
„Wir wollten dich fragen, Manuela, ob du uns nicht in den Urlaub begleiten möchtest.“ Manu, die gerade dabei war, den letzten Bissen der schmackhaften Rehkeule vom Teller zu angeln, fiel die Gabel aus der Hand.
„Ihr wollt … Ich soll … Urlaub …“, stotterte sie. Schwer atmend, Kopfschütteln, Murmeln, mehr brachte sie im ersten Moment nicht raus. „Wenn es dir nichts ausmacht, dass du dir bei Johann und während der Hotelaufenthalte ein Zimmer mit Chrissy teilen musst?“, fragte Dad. Das Ferienhaus in Spanien habe drei Schlafzimmer, da stünde diese Frage nicht, fügte er mit einem genüsslichen Schmunzeln hinzu. Manu war sprachlos. Zum vierten Mal an diesem Nachmittag liefen ihr Tränen aus den Augen.
„Ihr wollt wirklich, dass ich mit euch in den Urlaub fahre?“, fragte sie, von Schluchzen und Schniefen unterbrochen. Mich hatte zwar niemand gefragt, in einem anderen Zusammenhang hätte ich mich darüber beschwert, doch in diesem Falle freute ich mich.
„Klar, Manu, ich freue mich darauf!“, rief ich quer über den Tisch. „Ich freue mich genauso für dich“, schloss Viola sich an.
„Ach Papa …“, zum ersten Mal sprach Manu das Wort aus, bevor sie Dad ein zweites Mal umarmte, anschließend meine Mutter. „Ich freue mich so, Chrissy“, sagte sie als Letztes zu mir. Somit war Dads Frage an Manu wohl hinreichend beantwortet. Allein der schien nicht völlig befriedigt zu sein, er schaute Viola an, als er fragte:
„Und im nächsten Jahr?“ Ein Hüsteln Violas, damit schien sie wirklich nicht gerechnet zu haben. „In diesem Jahr wird der VAN, den wir uns jedes Mal ausleihen, eine Nummer größer ausfallen. Ich frage ja nur, weil wir dann sicher einen Kleintransporter brauchten“, erklärte Dad den Hintergrund der Frage.
„Deine Frage ehrt mich, Curd“, sprach Viola leise. Im Wechsel drückte und streichelte sie meine rechte Hand. „Du erwartest sicher heute keine Antwort?“ Meine Mutter schaltete sich ein:
„Nein, Viola, das sollte lediglich ein Hinweis darauf sein, dass du willkommen bist. Du gehörst zur Familie, wie Manuela, was nicht bedeuten soll, dass du dich verpflichtet fühlen musst, an Familienunternehmungen teilzunehmen.“ Mam erinnerte an das Gespräch mit mir, währenddessen mir frei gestellt wurde, ob ich in Zukunft an den Ausflügen teilnehmen wolle oder nicht. „Das gilt selbstverständlich genauso für Chrissy und Manuela“, sagte sie zum Schluss, schließlich seien wir inzwischen alle erwachsen. Viola atmete tief durch, bevor sie erwiderte:
„So viel kann ich heute bereits sagen: ich fühle mich sehr wohl hier, das würde sicher ebenso für einen gemeinsamen Urlaub gelten.“ Dad erhob darauf sein Glas. „Das genügt, wir freuen uns“, damit war das Thema vom Tisch.
Das verspätete Mittagessen beendet, räumten wir vier Frauen gemeinsam den Tisch ab, Mam verstaute das Geschirr im Spüler, während Dad den Servierwagen zurück zum Wildladen transportierte.
„Terrasse oder Foyer?“, fragte er uns, nachdem er zurück im Haus erschien. Die Antwort fiel beinahe einstimmig aus: „Terrasse.“
„Sonnen neben dem Grillplatz“, schlug ich hingegen vor. Der Ort, der von den Nachbarn nicht einsehbar war. Ab dem frühen Nachmittag stand die Sonne dort günstig. Außerdem gab es da eine Kaltwasserdusche.
„Wenn Viola mit oben ohne kein Problem hat?“, wand Mam vorsichtig ein. Manu fragte sie nicht. An deren Vorbehalte hatten wir uns bereits gewöhnt. „Ich hätte nicht einmal mit unten ohne ein Problem“, erwiderte Viola lachend. Leider habe sie keinen Bikini mitgebracht, fügte sie hinzu. Ich vermutete, dass sie einen ihrer knappen Tangas trug.
Ich bot ihr eine meiner Shorts an. In Wirklichkeit sehnte ich mich nach den paar Minuten, die uns das gemeinsame Umkleiden bringen würde. Mein Vorschlag fand Zustimmung. Nicht einmal von Manu kam Widerspruch.
Die rasante Entledigung unserer Kleidung war schon nahezu geübt. An diesem Tag brachen wir alle Rekorde. Vom Flur her war Getrappel zu hören, Mam und Dad auf dem Wege zum Schlafzimmer, Manu zum Gästezimmer, da lagen wir schon in unserer seligen Vereinigung auf meinem Bett.
„Fünf Minuten …“, raunte ich in unseren ersten stürmischen Kuss hinein, während unsere Hände fordernd, gebend, nehmend über unsere Körper hinweg flogen.
„Fünf Minuten, nicht länger …“, raunte Viola zurück. Die Schritte der anderen vom Flur her auf dem Weg zurück, hörten wir schon nicht mehr. Viola seufzte, als ich sie nach ihren Urlaubsplänen fragte. Meine Finger waren an ihrem Lustpunkt im Inneren angekommen, bei jedem Wort drückte ich sanft zu, das beherrschte ich inzwischen in Perfektion.
„Du bist ein Tier!“, keuchte sie, darauf: „Überraschung …“, dann blieb ihr der Atem weg, mehr sagte sie nicht. Aus den fünf wurden zehn Minuten, die für einen erlösenden Kurzstreckenflug genügten. Als ich mein Bikini-Höschen überstreifte, blickt ich durch das Fenster auf den Grillplatz. Ich traute meinen Augen nicht, Manu saß in kurzer Hose mit freiem Oberkörper auf dem Klappsessel am Tisch. Mam war gerade dabei, Kaffeegeschirr aus der Küche zu holen. Weil sie dazu über die vordere Terrasse gehen musste, trug sie ihr Oberteil.
Was Violas Tanga betraf, lag ich richtig mit meiner Vermutung. Lochstickerei vorn, das größte direkt über ihrem Lustkügelchen. Eines ihrer „Feel-Good-Höschen“, wie sie die Wäschestücke selbst bezeichnete. In den ersten Sport-Shorts, die ich ihr zureichte, sah sie ulkig aus, die waren zu weit. Ich gab ihr andere mit einem Zugband darin. Dad konnte sich einen witzigen Kommentar dennoch nicht verkneifen, nachdem wir auf der Bildfläche erschienen. Manu griente.
Nachdem Dad einmal in die Runde schaute, sein Blick blieb einen Augenblick länger als bei den anderen an Manu haften, sagte er:
„Ich will hoffen, dass einige Ressentiments nunmehr überwunden sind.“ Während er sprach, schaute er Manu an. Die blieb erstaunlich locker, sie lächelte sogar nachdem sie nickte.
„Ich hatte nie etwas gegen Homosexualität“, entgegnete sie, nachdem sie einen Moment überlegte. Sie sei lediglich überrascht gewesen, dass sich so etwas in ihrem direkten Umfeld abspiele.
„Ja aber, Manu …“, Dad blickte erleichtert, während er auf Manus Bemerkung reagierte. „Wenn man etwas toleriert, dann muss das für alle gelten und nicht nur für die, die einem selbst nicht besonders nah stehen.“
Es sei ihr nicht um die Sache allein gegangen, sondern mehr um gewisse Praktiken, die in dem Buch beschrieben würden und die sie nicht verstehe, verteidigte sich Manu. Dad lächelte, Viola blieb ein weiteres Mal erstaunlich ruhig. Auf Manus Einwand hin erwiderte Dad dasselbe, was ich ihr bereits gesagt hatte. Man müsse nicht alles mögen, doch zur Toleranz gehöre ebenfalls der Respekt vor Gewohnheiten, die anderen möglicherweise Spaß bereiteten.
Wir schwiegen einen Moment, bis sich Manu zur Toilette verabschiedete. Erst als sie außerhalb der Hörweite war, sprach Viola unsere Mutter an:
„Ich glaube, Thelma, du solltest bei Gelegenheit ein Gespräch, so Frau zu Frau, mit Manuela führen.“ Das habe sie schon einmal probiert, erwiderte Mam. Ich erinnerte mich daran, Manu war nicht ansprechbar. „Ich denke, dass sie sich inzwischen ein Stück geöffnet hat“, sagte ich zu Mam, die nickte.
Das Gespräch mit Mam fand ein paar Tage später wirklich statt, wie Manu selbst mir berichtete.
„Deine Mutter hat über Dinge gesprochen, die mir die Schamröte ins Gesicht trieben“, gab sie ihre Wertung ab. An so etwas habe sie zuvor nicht einmal gedacht, und mit ihrer Mutter darüber zu sprechen, so habe sie mir bereits erzählt, sei völlig unmöglich gewesen. Sie sähe nun allerdings das eine oder andere anders, vor allem entspannter, trotzdem käme für sie vieles davon überhaupt nicht in Frage.
„Musst du nicht, Manu, das hatten wir bereits“, erwiderte ich, gleichzeitig beschloss ich, bestimmte Themen in Zukunft außen vor zu lassen. Vielleicht würde sich ihre Meinung ändern, so dachte ich, wenn Manu sich das erste Mal richtig verliebt.
Dad kam zur Sache, nachdem Manu ihren Platz wieder eingenommen hatte. Der Grund der Zusammenkunft sei schließlich ein anderer gewesen, als sich über diverse Lebensmodelle zu unterhalten. Wobei er Letzteres für sehr wichtig halte. Er sprach Manu an:
„Chrissy erzählte, du warst vorgestern mit deiner Mutter zu Mittag essen? Gab es da wenigstens ein positives Resultat?“ Ich hatte ihm dasselbe erzählt, was Manu am anderen Tag zu mir sagte, doch er wollte das offenbar direkt aus Manus Munde hören. Wie vermutet berichtete Manu dasselbe.
„Dass sie mit uns nichts zu tun haben will, das dachte ich mir bereits“, erwiderte Dad. Ein Erfolg sei hingegen, dass sie, Manus Mutter, der Tochter keine Steine mehr in den Weg legen wolle.
„Räumliche Trennung bewirkt oft Wunder, glaub mir“, gab Dad eine eigene Erfahrung dazu. Das sei seinerzeit für ihn der Hauptgrund dafür gewesen, dass er weiter weg zum Studium wollte. Mit meinem Opa habe er nie Probleme gehabt, aber seine Mutter, meine Oma, habe ihn mit ihrer Liebe und Fürsorge fast erdrückt. Ab einem bestimmten Alter brauche man seine Freiräume und müsse lernen, selbst Entscheidungen zu treffen, einschließlich der Gefahr, dass sie falsch sein könnten.
Anschließend schaute er zu Mam, die nickte ihm zu, worauf er seine Vorstellungen zu den Erbschaftsregelungen darlegte. Weil ich schon weiter oben in meinem Tagebuch darauf eingegangen bin, möchte ich an dieser Stelle auf Details verzichten. Zu Viola sagte er in heiterem Ton:
„Du wirst zwar leider nichts erben, es geht dich dennoch etwas an, da wir hoffen, ihr bleibt ein Paar. Daher bat ich Thelma, dich anzurufen.“ Lachend fügte er hinzu, dass die Überraschung wenigstens gelungen sei. Manu war völlig aus dem Häuschen, nachdem ich allen Vorschlägen zustimmte. Unsere nackten Oberkörper störten sie nicht, als sie mir um den Hals fiel.
Die Wohnung, in die Manu einziehen sollte wie eine weitere, würde er ihr sofort überschreiben. Der Wert läge zwar oberhalb der Grenze für die Schenkungssteuer, die paar Euro wolle er gern übernehmen. Der Rest würde, wie vereinbart, testamentarisch geregelt.
Für besondere Freude sorgte die Tatsache, dass die Wohnung sowohl über eine Dusche wie über eine Wanne im Badezimmer verfügte. „Wir wollen hoffen, dass du uns trotzdem öfter besuchst, Manu“, sagte Mam, weil nach Manus Umzug ein wichtiger Grund wegfiele, das ausgiebige Wannenbad.
„Ihr würdet mir fehlen“, erwiderte Manu prompt, da liefen ihr zum fünften Mal an diesem Nachmittag die Tränen. Sie schaute sogar Viola an, die zu ihrer Linken saß. Die griff Manu abermals in die Mähne. „Ich freue mich für dich“, sagte Viola, bevor sie Manu einen Kuss auf die Wange drückte. Die Lesbe, Manus Worte fielen mir ein, das lag erst wenige Tage zurück. Da verzog Manu verächtlich das Gesicht zu einer Ekel-Grimasse.
„Habt ihr Lust auf einen Spaziergang?“, fragte Dad plötzlich erheitert. Wenn die Sonne tiefer stünde, fügte er kurz darauf hinzu. Ich war überrascht, für die Zeit des Sonnenuntergangs schwebte mir etwas Anderes, etwas Schöneres, etwas für dieses unendlich beglückende Gefühl vor. Mein Balkon zeigte nach Süd-West, von da aus konnte man die Sonne untergehen sehen, wenigstens so lange, bis sie hinter den Bäumen verschwand. Mit Wehmut schielte ich zu meiner Wohnung hinauf.
„Wie? Was? Spaziergang, heute Abend?“, fragte ich überrascht. „Wohin und wozu das denn?“ Mit halb geöffnetem Mund schüttelte Dad den Kopf. „Du wirst schon rechtzeitig in euer Bett kommen“, sagte er, bevor er Mam einen nachdenklichen Blick zuwarf. „Hättest du je geglaubt, dass wir eine solch gierige Tochter haben?“, fragte er meine Mutter. Da folgte es wieder, das Gleichnis mit dem Apfel und dem Birnbaum.
„Frag mal den Birnbaum“, erwiderte Mam. Der warme, liebevolle Blick, den sie Dad zuwarf, das geheime Lächeln auf ihren Lippen, gab alles preis, was sie wohl gerade dachte. Bei denen kracht es im Schlafzimmer, nicht minder als bei Viola und mir, dachte ich in diesem Moment. Viola hatte eine Hand in meinen Nacken gelegt. Mit den Fingerkuppen streichelte sie sanft über meine Haut. Millimeter, die genügten, Bilder in meinen Kopf hinein zu malen. Ich spürte die wachsende Spannung in meiner Brust, ich konnte zusehen, wie meine Brustwarzen sich aufrichteten, ein Schwall Wärme ergoss sich in meinen Schoß, Sekunden, die Dad unterbrach.
„Vielleicht habt ihr Lust, euch die beiden Wohnungen anzuschauen, die Manuela bekommen wird?“, fragte Dad gelöst. Er war für jede Überraschung gut, unser Papa. Mam blieb locker, Manu rang sprachlos nach Luft, Viola sprang die Freude regelrecht aus dem Gesicht heraus, mir war überhaupt nichts klar.
„Wie jetzt? Wo? Welche Wohnungen?“, fragte ich überrascht.
„Ein Stück hinter dem Wald, im dritten Bauabschnitt des Neubaugebietes, da lasse ich gerade unser drittes Mehrfamilienhaus bauen“, erwiderte Dad in einer Gelassenheit, als ginge es darum, wer die nächste Runde Kaffee eingießt. Ende September, spätestens im Oktober, würden die Wohnungen bezugsfertig.
„Und warum weiß ich nichts davon?“, fragte ich atemlos. Dad grinste, während er antwortete: „Du musst nicht alles wissen, erfahren hättest du es rechtzeitig genug, wie heute, zum Beispiel.“
Das war der Hammer, ich muss vielleicht dumm geguckt haben, weil Viola mich lachend ansah, während sie mit der anderen Hand auf Manus Schulter klopfte. Die war nicht fähig, überhaupt etwas zu sagen. Erst nach gefühlten Minuten reagierte sie: „Im September? Im September schon?“ Erst jetzt sprang sie auf, wie toll hüpfte sie um ihren Stuhl herum. In einer solchen Verfassung sah ich Manu seit der Grundschulzeit nicht mehr. Derart ausgelassen kannte ich sie aus der Zeit unserer frühen Kindheit. Am liebsten wäre sie gleich los marschiert, Dad bat um Nachsicht, es war ein heißer Sommertag.
„Bis dahin kannst du unser Gästezimmer belegen oder bei deiner Mutter wohnen bleiben, wie du es gern möchtest“, sprach Mam zu Manu. Die schien Mams Worte gar nicht mitzubekommen.
„Hey Manu, hol dich wieder ein“, sagte ich zu ihr, da rannte sie um den Tisch herum, mit ihren kleinen Brüsten, die sich kaum mehr wölbten als bei einem Mann mit gewissen Fettansätzen. Allein die Höfe, die ihre langen Brustwarzen säumten, boten ein geringes feminines Merkmal. Sie umarmte Mam, danach Dad, im Anschluss mich, zuletzt Viola, bevor sie sich zurück in ihren Klappsessel warf.
Wir schwiegen eine Weile. Nachdem der Kaffee ausgetrunken war, hatte Dad eine Kühlbox mit Mineralwasser aus dem Keller geholt. „Ich brauche jetzt eine kalte Dusche“, sagte ich, nachdem er mir eine Flasche in die Hand drückte. Die Kaltwasserdusche auf dem Podest. Als ich tropfend zurück kam, verfolgte ich Violas Blick. Die süße, kleine Runde in meinem nassen Bikini-Höschen, sogar der kleine Spalt zeichne sich ab, sagte sie einmal. Um das festzustellen, hätte ich einen Spiegel benötigt. Zumindest gab es jetzt eine Erklärung für meine steifen Brustwarzen – das kalte Wasser.
„Wie nimmt euer Umfeld die familiäre Veränderung wahr?“, Viola an Dad und Mam gerichtet, die uns beide gegenüber saßen. Dad lachte laut, er hob eine Hand, in sein Lachen hinein, erwiderte er:
„Wir haben das Glück, dass sich die ganze Schande in einem denkbar kurzen Abstand offenbart.“ Zuerst die lesbische Tochter, kurz darauf eine weitere Tochter aus dem Hut gezaubert, da müssten sich die Leute nur einmal die Mäuler zerreißen.
„Und das nehmt ihr alles so locker hin?“, fragte Viola nach. Mam schüttelte den Kopf. „Ich nicht ganz, er schon“, sagte sie. Ihrem Blick sah ich an, dass sie ihre Worte eher scherzhaft meinte. Dad machte sich lustig über das Gerede:
„Die Leute werden mich eher bedauern“, sagte er, mit der vermeintlichen Mimik, die er bei den Betreffenden vermutete. „Unser armer Zahnarzt, zuerst eine lesbische Tochter und nun habe die Gattin per Zufall erfahren, dass es eine zweite gibt. Der arme Mann, was der aber auch durchmacht.“
Mam bezweifelte Dads Worte, dass sie die Lage dennoch mit Humor trug, zeigten ihre folgenden Worte: „Warte ab wie unsere kleine Partei bei den nächsten Wahlen hier abschneidet. Dann weißt du, wie die Leute wirklich denken.“
Mit müdem Lächeln winkte Dad ab. Darauf folgte eine der Anekdoten, wie er sie gern preis gab. Das könne schon sein, erwiderte er auf Mams Einwand. Solch banale Zustände wie Homosexualität und anderes hätten bereits Geschichte geschrieben.
Im November 1918 habe der SPD-Chef Ebert den Prinz von Baden, vormaliger Reichskanzler, bis zur letzten Minute bekniet, sich nach der Abdankung Wilhelms die Kaiserkrone aufs Haupt setzen zu lassen. „Und weiß jemand, woran das unter anderem scheiterte?“, fragte er in die Runde. Ebert, der Name war mir geläufig, Prinz von Baden ebenso, Geschichte gehörte zu meinen Lieblingsfächern. Die Antwort fiel mir hingegen nicht ein, nicht einmal Manu, die stets mehr wusste als ich. Viola ebenso wenig, Mam hielt sich heraus. Seine Augen wanderten zwischen Manu, Viola und mir hin und her, bevor die Auflösung kam.
„Der war schwul …“, sagte er trocken. Die Kaisergattin habe dem Prinzen gedroht, falls er die Krone aufsetze, seine Vorliebe für Männer publik zu machen, davor habe er Angst gehabt. Dad lehnte sich zurück. Solch banale Dinge, sagte er nachdenklich. „Hätte das Erfolgsmodell Deutsches Kaiserreich weiter bestanden, wäre die Geschichte mit Sicherheit anders verlaufen.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Viola reagierte als erste.
„Was?“, fragte Dad. „Dass er schwul war oder dass er, weil er schwul war, nicht Kaiser werden wollte?“ Dass er schwul gewesen sein soll, habe sie gelesen, gab Viola zu. Davon, dass es ein Grund gewesen sein soll, die Kaiserkrone abzulehnen, habe sie hingegen noch nie etwas gehört.
„Moment!“ Einer seiner großen Auftritte, wie ich sie bereits hin und wieder bei Dad erlebte. Wohin er sich entfernte, war mir klar, in die Bibliothek. Es dauert nicht lange, bis er zurück kam. Einen dicken Wälzer in der Hand, in dem er im Laufen blätterte. An einem Nicken war zu erkennen, dass er die Stelle gefunden haben musste, bevor er das Buch vor Viola auf den Tisch legte.
„Die bekannteste und anerkannteste Biografie Eberts“, sagte er mit Siegermiene. Zwischen der gedruckten Schrift sah ich handschriftliche Faksimiles. „Notizen Eberts aus den Tagen um den 9. November“, sagte Dad. Er zeigte auf eine davon, mit einer krakeligen Schrift flüchtig notiert. Viola schien erstaunt, dennoch schüttelte sie den Kopf. Aus der Notiz sei lediglich ersichtlich, dass Ebert ihm die Krone angeboten habe, nicht aber die Gründe für deren Ablehnung, meinte sie. Dad verwies daraufhin auf ein paar Textstellen, in denen Zeitzeugen erwähnt werden, die die Drohung der Kaisergattin bestätigten.
„So etwas hätten die abgebügelt. Skandale gab es genug in Adelshäusern, solche wie andere“, hielt Viola mit nachdenklichem Unterton entgegen.
„Wenn irgendein Straßenmob so etwas behauptet hätte, dann schon, die Gattin des Noch-Kaisers hingegen …?“ Dad lehnte sich grinsend über den Tisch. Viola gab sich geschlagen, richtig daran zu glauben schien sie allerdings nicht, wie ich ihrem Blick entnahm.
Wenigstens führte der Disput zu einer weiteren Fachsimpelei über Literatur zwischen Dad, Viola und Manu. Mam hatte bereits kurz davor die Lehne ihres Sessels nach hinten gekippt, um sich der Sonne zu zudrehen, ich folgte ihr wenige Minuten später. Wortfetzen: „Die Box … Letzter Roman von Grass … Zerrissen von der Kritik, wie schon Das Häuten der Zwiebel davor … Dad lobte Grass, Viola lehnte ihn ab … Die Blechtrommel sei erst nach der Verfilmung durch Schlöndorff wirklich bekannt geworden … Ein weites Feld … Banalitäten …“
Eine Zeit lang musste ich eingenickt sein, bis mir Wasser über die Brust lief, Manu, sie stand grinsend vor mir, meine Flasche in der Hand.
„Wir wollen dann los, zieht euch was an“, sagte sie. Sie habe unseren Papa und meine Mutter überredet, früher loszugehen als geplant. Kurz nach sechs, Dad hatte zur Sonne gesehen, das Thermometer war auf angenehmere Werte gesunken.
„Jetzt keine zehn, nicht einmal eine Minute“, sagte Viola zu mir, nachdem ich die Tür hinter mir verschloss. Sie lächelte mich zufrieden an. „Eine“, sagte ich. „Eine einzige, deine Brüste an meiner Haut, deinen Mund …“ Da umarmten wir uns schon.
„Deine Brustwarzen sind steif, wie vorhin im Garten“, sprach sie in den Kuss hinein. „Schon wieder steif“, erwiderte ich. „Ich habe deinen süßen Spalt gesehen als du aus der Dusche kamst“, sagte sie. Im Kuss streiften wir uns gegenseitig die Hosen ab. „Quicky“, sagte Viola, nachdem meine Finger ihr Ziel fanden. Vielleicht waren es drei Minuten? Auf jeden Fall erschienen wir fast zeitgleich mit Mam und Dad auf dem Flur. Manu wartete bereits ungeduldig im Garten.
Luftlinie wären es nur wenige hundert Meter, sagte Dad, nachdem wir aufbrachen. Wir mussten wegen des auf dieser Seite eingezäunten Waldes einen Umweg gehen, der am Rand der Siedlung entlang führte. Auf dem Weg erzählte Dad die Geschichte von den Umweltschützern, die gegen die Rodung eines Teils des Waldes demonstrierten. Viola gab denen Recht. Es ginge ja wirklich nicht an, dass ein Stück Wald nach dem anderen verschwinde. Darauf folgte ein friedlicher Wortwechsel zwischen Viola und Dad. Mam bekam nichts davon mit, die ging mit Manu ein paar Schritte voraus.
Im Prinzip teile er Violas Meinung, gab Dad zu, in diesem Falle jedoch nicht. Die Stadt habe woanders Ersatzpflanzungen angelegt, das sei inzwischen gesetzlich vorgeschrieben. Außerdem sei es für alle Beteiligten günstiger, schließe man mit einem Neubaugebiet an die vorhandene Infrastruktur an, anstatt neue Zufahrtswege zu bauen, Kilometer weit Rohrleitungen zu verlegen und so weiter. Es folgte der Satz meines Vaters, den ich bereits weiter vorn einmal zitierte, dass es stets dieselben seien, die demonstrierten. Heute für die Umwelt, morgen für mehr bezahlbaren Wohnraum und übermorgen für „ich weiß nicht, was“.
Wir hatten den älteren Teil der Siedlung bereits verlassen. Der Weg führte durch ein Waldstück, dass man parkartig aufgelockert hatte. Es gab Einbuchtungen an den Wegen mit Bänken, in der Mitte ein gesicherter Grillplatz mit einer langen Tafel aus Eiche. „Türkengrill“, sagte Viola scherzhaft. „Hast du etwas gegen Türken?“, fragte Dad überrascht. „Ich habe gegen niemanden etwas, solange er mir nicht auf den Füßen herum trampelt und unsere Gesetze achtet“, erwiderte sie entschieden.
Im Übrigen kaufe sie ihr Fleisch überwiegend bei einem türkischen Fleischer, fügte Viola kurz darauf hinzu. „Du weißt aber, dass die die Tiere schächten“, wand Dad ein. „Solange das unser Staat aus Gründen der Religionsausübung zulässt, soll mir das vollkommen egal sein“, erwiderte sie. Anschließend blieb sie vor Dad stehen. Weil der mehr als einen Kopf größer war, bog sich Viola zurück, während sie sprach:
„Was ist denn schlimmer, die Tierquälerei in unseren Schlachthöfen oder in der Massentierhaltung oder ob ein Fleischer in einer kleineren Schlächterei einem Kalb die Kehle durchschneidet, ohne es vorher zu betäuben?“ Die Qualen, die zahlreiche Tiere zeit ihres Lebens erlitten, seien weit schwerwiegender. Dad gab ihr Recht, Mam kaufe übrigens öfter das Fleisch bei demselben Fleischer, besonders Lamm- oder Kalbfleisch.
Vor dem ersten Neubau, den wir nach Verlassen des Parks erreichten, blieb Dad stehen. „Voi la“, sagte er. „Unser neues Kind.“ Die Lage traumhaft, direkt am Park. Fünfzig Meter weiter zeigte er auf eine Bushaltestelle, die bereits im Betrieb sei. Das Dach gedeckt, Fenster eingesetzt, die Baustellentür am Eingang verschlossen.
„Und wie kommen wir da jetzt rein?“, fragte ich belustigt. Mit einem zweiten „Voi la“ zog Dad einen Schlüssel aus der Tasche. Er habe sich extra bei der Bauleitung die Genehmigung und den Schlüssel geholt, sagte er.
Zwei Geschosse plus Dachgeschoss, links und rechts je drei Wohnungen, die oberen als Maisonette, in der Mitte Apartments. Er überließ Manu die Wahl, welche der Wohnungen sie haben wolle. Die rannte sogleich ins Dachgeschoss. Wir folgten ihr, weil keine Türen eingesetzt waren, konnte man ungehindert in die einzelnen Einheiten hinein schauen. Dad erklärte engagiert, dass sich auf der linken Seite die größeren, rechts die kleineren Wohnungen befänden. Die Apartments in der Mitte ragten in die rechte Seite hinein.
Wir hörten Manu jauchzen. Sie stand in der kleineren Dachgeschosswohnung. Vom geräumigen Flur aus führte eine Wendeltreppe in die zweite Ebene. Neben der Treppe die Tür zum Badezimmer. Der kleine Wermutstropfen, wie Dad ihn bezeichnete, das Bad habe keine Fenster. Er habe lange mit dem Architekten gerätselt, doch wäre bei den kleineren Wohnungen jede andere Lösung zu Lasten der Wohnfläche gegangen. Manu störte das rein gar nicht, die Wanne, das Wesentliche.
Direkt gegenüber der Eingangstür der Zugang zu einem geräumigen Wohnzimmer mit breitem Balkon. Ähnlich wie bei mir gelangte man vom Wohnzimmer in die Küche, die ebenfalls eine Tür zum Balkon besaß. Keine Mini-Küche wie meine. Man könne eine Essecke aufstellen, an die wenigstens zehn Leute passen würden, meinte Dad.
Der nächste Freudenschrei Manus, nachdem wir die zweite Ebene erreichten. Der Raum reichte über die gesamte Gebäudebreite zwischen den Abseiten. Der Clou, ein großes Dachflächenfenster, zwei Meter breit, ein Meter und Fünfzig hoch. Die Mimik sei bereits angeschlossen, sagte Dad. Nachdem er einen Schalter rechts unterhalb des Fensters betätigte, fuhr das Fenster automatisch zur Seite. Die Konstruktion in das Dach eingelassen, laufe das Fenster auf zwei Schienen, die auf dem Dach aufmontiert seien.
„Wow!“ Ich war begeistert. „Hier kannst du dich splitternackt sonnen, ohne dass dich jemand sieht“, sagte Viola. „Man sollte nicht vergessen, das Fenster zu schließen, bevor man die Wohnung verlässt oder zu Bett geht“, wand Dad lachend ein. Böse Überraschung, wenn es zu regnen beginne.
In dieser Wohnung würde sie unbedingt wohnen wollen, entschied sich Manu, ohne vorher einen Blick in die anderen geworfen zu haben. Die zweite Maisonette-Wohnung auf der linken Seite sei ihr viel zu groß, stellte sie nach der Besichtigung fest. „Die überschreibe ich dir mit der anderen“, sagte Dad. Für diese Art von Wohnungen bekäme man eine sehr gute Miete. „Und wenn du verheiratet bist und Kinder hast, kündigst du dem Mieter wegen Eigenbedarf“, schloss Dad den Kreis.
Manu war derart begeistert, dass wir sie beinahe nicht aus dem Haus bekommen hätten. Sie rannte immer wieder hin und her, im Gedanken richtete sie sich bereits ein. Ich erkannte sie nicht wieder, meine Freundin und Halbschwester.
„Wie sieht es aus mit dem kleinen Hunger?“, fragte Dad. Kurz nach sieben, das späte Mittagessen sei verdaut, meinte er. Das klang nach Restaurant. Viola drückte meine Hand, nachdem sie bemerkte, dass ich etwas zu sagen beabsichtigte. „Können wir nicht zu Hause essen?“, meldete ich mich dennoch. Dads Grinsen wie bereits am Nachmittag, als es um den Spaziergang ging.
„Eure Mutter will keinen Stress zu Hause“, erwiderte er. Daraufhin wies er durch das Fenster in die Richtung eines Mischgebietes mit mehreren Bürohäusern und Restaurants. Letzteres lag an der Bundesstraße, die an unserer Siedlung vorbei führte. Neben der Kette mit dem bekannten „Mc“ davor, die an solchen Orten nicht fehlen durfte, gab es ein mexikanisches Steakrestaurant, einen Italiener, einen Chinesen und eine Tapas-Bar.
„Mir ist heute nach Tapas“, sagte Dad. Manu stimmte begeistert zu. Da könne man, je nach Appetit und Hunger, ständig Kleinigkeiten nachbestellen. Ich kannte das zur Genüge von unseren Spanien-Urlauben her. Die Bar war relativ neu, wir waren bislang nie dort.
„Unser Liebespaar kann gern zu Hause eine Scheibe Brot essen“, sagte er zu mir, da hatte Viola mich bereits mit Hilfe ihrer Zauberhände umgestimmt. Als die anderen zum Fenster hinaus schauten, Viola stand hinter mir, flüsterte sie in mein Ohr: „Wir haben genügend Verwöhn-Zeit, mein Engel.“ Ein Wimpernschlag, über dessen Kürze Violas Hand an meinem Po hinab glitt, erledigte den Rest
Das Restaurant, das wir ansteuerten, ein auf Stelzen errichteter Flachbau mit drei Räumen, in verschiedenem Ambiente eingerichtet. Der eine Raum im römischen Stil, der zweite arabisch und der dritte im spanischen Landhausstil mit grob verputzten Wänden, an denen stellenweise das Mauerwerk sichtbar war. Dem Stil entsprechend die Wanddekorationen wie die Möblierung. Dad erklärte, dass die Raumgestaltung die drei wichtigsten Kulturen repräsentieren solle, die noch heute im modernen Spanien überall sichtbar seien. Die Sprache von den Römern, die Araber hätten einen starken Einfluss auf die Architektur ausgeübt, und da Spanien über Jahrhunderte hinweg eine europäische Großmacht gewesen sei, fände man als Drittes Spuren nördlicher, europäischer Kultur. Da Spanien, neben Portugal und Frankreich, zu unseren Standardurlaubsländern gehörte, war mir das allgegenwärtig. Außerdem gehörte Geschichte zu meinen Spitzenfächern, das hatten wir schon.
An der Südseite gab es eine großflächige hölzerne Freiterrasse, zur Hälfte überdacht. Da es an diesem Tag sehr warm war, suchten wir uns einen Tisch im Freien, direkt an der Terrassenbrüstung, von der aus man in Richtung des Waldes schauen konnte.
Manu aß stets wie eine neunköpfige Raupe, ohne ein Gramm zu zunehmen. Auflauf aus geschmorten Champignon-Köpfen mit Weinbergschnecken darin, das Ganze mit Käse überbacken, danach sei ihr jetzt, sagte sie, nachdem sie in die Karte schaute. Ich hatte ihr hin und wieder davon erzählt, was wir im Urlaub gelegentlich aßen. Das von ihr gewünschte Gericht kannte sie bereits, da meine Mutter diesen Auflauf, wie andere, gelegentlich zu Hause zubereitete.
In Frankreich aßen wir regelmäßig Froschschenkel, was in meiner Schulklasse nach meinen ersten Erzählungen für Schmäh- und Buhrufe sorgte. Wie könne man denn so etwas essen? Der Verkauf von Froschschenkeln ist in Deutschland bekanntlich verboten, und während unseres letzten Besuchs in Frankreich stellte Dad mit Bedauern fest, dass die Tradition dort ebenfalls vom Aussterben bedroht zu sein schien. In den letzten Jahren gab es Bürgerinitiativen gegen diese Essgewohnheit, unter Anderem initiiert von einer bekannten französischen Schauspielerin. Im Fernsehen wurden Bilder aus Paris gezeigt, auf denen Menschen zu sehen waren, die lebendige Frösche in Eimern durch die Stadt trugen. Sah man Gäste in einem Restaurant Froschschenkel essen, warf man denen lebendige Frösche auf die Teller.
Besonderer Grund, die Art und Weise, auf die man die Tiere töte. Dad verglich das manchmal mit den Fangmethoden von Fischen, die in den großen Schleppnetzen einem sehr viel qualvolleren Tod ausgesetzt seien. Wenn man danach ginge, dürfe man kein Fleisch oder keinen Fisch mehr zu sich nehmen. Bei aller Fürsorge und Menschlichkeit, könne man das ganze Geschrei mitunter kaum verstehen. In diesen Fragen sei er eben konservativ, betonte er manchmal.
Dad lehnte sich ein Stück zurück, als er sagte: „Ich esse nicht allein um satt zu werden, essen ist für mich Genuss, ein Stück Lebensfreude, die ich mir ungern nehmen lasse.“
Ich weiß nicht mehr so ganz genau, wie wir darauf kamen, nachdem die Schälchen mit dem Auflauf von der Kellnerin an den Tisch gebracht wurden. Viola hatte sich Salat bestellt, dazu aß sie zwei Scheiben eines scharf gebackenen Weißbrotes, wie wir es aus Südspanien kannten. Die Figur eben, darauf achtete sie.
Ich meine Dad fing damit an, nachdem Manu den ersten Pilzkopf mit der Schnecke darin in den Mund schob. „Wenn du Schnecken isst, dann kannst du beim nächsten Urlaub in Frankreich auch Froschschenkel essen …“
„… Falls es welche gibt“, ergänzte ich seinen Satz. Manu verzog das Gesicht, das käme nicht in Frage, schon allein die Vorstellung raube ihr jeglichen Appetit. Viola legte erschrocken die Gabel aus der Hand.
„Was, ihr esst Froschschenkel?“, fragte sie mit weit nach oben gezogenen Augenbrauen. Es folgte ein Kurvortrag über die eben genannte Tötungsart und die Proteste, die es inzwischen in Frankreich gäbe. Sie nannte den Namen der Schauspielerin, Anni Girardot. Mam stimmte Viola zu, die aß nämlich keine Froschschenkel, aus eben erwähntem Grunde, sie verbot es uns aber nicht.
Dad konterte mit den Argumenten, die ich ein Stück weiter oben bereits beschrieb, die Fangmethoden in der Hochseefischerei.
„Vorhin hast du mir erzählt, du kaufst Fleisch von geschächteten Tieren, wo liegt da der Unterschied?“, fragte er Viola am Ende. Dem Kälbchen werde bei vollem Bewusstsein der Hals durchgeschnitten, dem Frosch schneide man bei lebendigem Leibe den unteren Körperteil ab, was wohl ebenso unweigerlich zum sofortigen Tod führe. Das eine sei ein Warmblüter, was schwerer wiege, der andere, der Frosch, ein Kaltblüter. Unbestreitbar sei, dass niedere Tierarten, wie eben Amphibien oder Fische, Schmerz empfänden, wie die denselben erlebten, wisse hingegen niemand. Hundertausende Störche und andere Vögel fräsen täglich Millionen Frösche und andere Amphibien. Dieselben schleppten sie im Schnabel in die Nester, wo sie vom Nachwuchs langsam zerhackt würden. „Natur“, sagte Dad. „Und was sind wir?“
„Menschen“, erwiderte Viola trocken. Sie ließ nicht locker. Es ginge nicht allein ums Töten, sondern außerdem um den Artenschutz. Die Frösche würden tonnenweise überwiegend aus Asien importiert, wo sie gerade für viele Vogelarten in der Nahrungskette fehlten.
„Curd denkt an die Umwelt wenn es darum geht, wie groß das Auto sein darf oder ob man sich eine Sauna in den Keller bauen sollte oder lieber nicht“, mischte Mam sich mit einem der familiären Streitthemen ein. Sie lachte, während sie sprach, ein Zeichen, dass sie ihre eigenen Worte wie den Streit zwischen Viola und Dad, nicht so tierisch ernst nahm. Dad wehrte sich, er sagte:
„Genau, da kann ich Einfluss nehmen, beim Verzehr von Nahrung weniger.“ Wer sich nicht gerade vegan ernähre, würde das eine tierische Produkt, auf das er verzichte, lediglich durch ein anderes ersetzen. Und ob vegane Ernährung nicht zu Mangelerkrankungen führe, sei bisher nicht hinreichend erforscht. „Weniger essen, mir genügt es, wenn ein Steak dreihundert Gramm wiegt“, das sei ein richtiger Weg, meinte er.
Viola lächelte Dad an, sie schüttelte ständig den Kopf. „Deine Tochter hat mir bereits einiges von dir erzählt, als wir uns noch nicht kannten. Mir scheint, sie hat eher untertrieben“, sagte sie. Mir fiel das Gespräch beim Abendessen ein, als die Nachrichten liefen.
„Ich will ja hoffen, nur Gutes.“ Dad schielte mich bedrohlich gewitzt an. „Nur Gutes“, erwiderte ich. „Nur Gutes“, stimmte Viola ein.
„Nein, jetzt ernsthaft“, wandte Dad sich wieder Viola zu. „Es gibt tausend und mehr Für und Wider für alle diese Themen, Klimaschutz, Umweltschutz, Naturschutz, Tierschutz und so weiter“, sagte er. Über eines müsse man sich aber im Klaren sein, die Welt habe sich verändert und sie würde sich weiter verändern, ob mit oder ohne unser Zutun. Wer glaube, alles so erhalten zu können, wie er es mit seiner Geburt vorgefunden habe, sei ein bedauernswerter Träumer.
„Und weil wir das gerade hatten, diese Frage, Natur und Mensch“, mein Vater dachte einen Moment nach, bevor er weiter sprach: „Sind wir Menschen denn nicht Teil der Natur? Woraus also erheben wir den Anspruch, von deren Schlägen verschont zu bleiben?“
Die Natur schlage an hunderten Stellen zu, egal ob von uns verursacht oder nicht, setzte Dad seinen Gedanken fort:
„Nehmen wir doch den drohenden Klimawandel …“
„… Ich will nicht hoffen, du gehörst zu den Leugnern“, unterbrach Viola Dads Satz. Der lachte: „Sehe ich etwa so dumm aus?“ Er schüttelte sich, bevor er weiter sprach:
„Wir werden den nicht verhindern, vielleicht abmindern, mehr nicht“. Anstatt Angst zu verbreiten, sollte die Menschheit nach Wegen suchen, wie man damit umgeht …“
„… Was für Wege?“, unterbrach Viola ein zweites Mal. „Pflanzen züchten, die den veränderten Bedingungen stand halten, sicheres Bauen, Hochwasserschutz und anderes“, antwortete Dad. Selbst wenn die entwickelten Industriestaaten den CO2-Ausstoß reduzierten, eine Vielzahl der Schwellen- und Entwicklungsländer wären nicht so weit, wie wir in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bereits gewesen seien …“
„… Die müssen doch nicht dieselben Fehler machen wie wir“, fiel Viola Dad ein weiteres Mal ins Wort. Der sang vergnügt einen Vers aus dem bekannten Fastnachtslied: „Wer soll das bezahlen …?“
„Wir“, sagte Viola trocken. „Dann überlege dir bitte schon einmal, auf was du ab morgen verzichten willst“, Dad grinste über beide Backen.
Die Diskussion kannte ich von zu Hause. Im Fernsehen lief ein Interview mit einem linken Politiker, Mitglied des Bundestages. Der sprach den Satz: „Zehn Prozent der Menschen gehört neunzig Prozent des Reichtums. Wenn man den gerecht verteilen würde, hätten alle genug.“
Dad wäre beinahe an die Decke gesprungen. „Allein mit seinen Diäten gehört dieser Heini zu den zehn Prozent. Ich werde ihm morgen einen Brief schreiben, in dem ich ihn frage, ob er übermorgen sein Haus verkaufen und in eine Sozialwohnung ziehen will. Den Verkaufserlös kann er nach Afrika überweisen, damit sich irgendein Diktator das Geld in die Tasche steckt!“ Ich war gespannt, ob Viola etwas Ähnliches sagt, wie dieser Politiker, aber sie schwieg. Nach ein paar Bissen fuhr Dad fort:
„Im Übrigen, bei aller Diskussion über die Ursachen des Klimawandels spricht kaum jemand über die Hauptursache …“
„… Die da wäre?“, unterbrach Viola erneut Dads Satz. Der grinste sie erwartungsvoll an, als er fragte: „Kennst du die Hauptursache oder kennst du sie nicht?“ Viola wog den Kopf, es gäbe mehrere, sagte sie. Dad wartete einen Moment, bevor er weiter sprach:
„Jetzt komm mir bitte nicht mit erhöhtem CO2-Ausstoß, Raubbau an der Natur und anderem. Die Hauptursache …“, abermals ließ er eine kurze Pause, bevor er selbst seine Frage auflöste. Die Hauptursache sei die rasante Zunahme der Weltbevölkerung, alles andere seien lediglich Folgeerscheinungen. Die wollten schließlich alle essen, trinken, Kleidung auf dem Körper tragen, all das koste Ressourcen und Energie. Wenn auch nicht in dem Maße, wie wir sie in den entwickelten Industriestaaten verbrauchten. Viola schluckte, doch bevor sie etwas sagen konnte, setzte Dad nach:
„Hast du dich schon einmal mit den Ergebnissen der Rio-Konferenz 1992 beschäftigt?“
„Hm, da war ich gerade zehn Jahre jung“, erwiderte Viola getroffen.
„Die findest du im Internet und ich empfehle dir, das Protokoll zu lesen“, sagte Dad, bevor er die, nach seiner Meinung zwei wichtigsten Ergebnisse nannte: Die Bekämpfung der Armut auf der einen Seite, dies unter Berücksichtigung eines verträglichen Ressourcenverbrauchs auf der anderen Seite. „Du siehst also, dass die Probleme außerordentlich komplex sind, um auf den Anfang zurück zu kommen, als ich das Wort Natur aussprach und du, auf die Frage, was wir seien, das Wort Menschen.“
Als Menschen seien wir Teil der Natur, im guten wie im bösen Sinne. „Kennst du den Spruch des Griechen Protagoras, etwa zweitausendfünfhundert Jahre alt?“, fragte er Viola.
„Du meinst Der Mensch ist das Maß aller Dinge?“, erwiderte Viola prompt. Dad hob den Kopf. „Hochachtung, die Dame“, sagte er anerkennend. Für mich, wie öfter, böhmische Dörfer, selbst Manu staunte. Mam verfolgte den Disput amüsiert, sie hatte eine Schale mit Chorizo-Scheiben nachbestellt, von der sie hin und wieder mit der Gabel ein Stück angelte.
„Ich kenne einige der Interpretationen“, fügte Viola hinzu, widersprüchlich, vielschichtig. „Siehst du?“, sagte Dad. Ebenso verhalte sich das mit dem von ihm gesagten. Eine objektive Abwägung des Für und des Wider all unseres Handelns sei kaum möglich, daher müsse jeder in seinem privaten Umfeld mit der Überlegung beginnen, was er tun und auf was er verzichten könne. Da käme eine ganze Menge zusammen. Weiter, an Mam gerichtet:
„Und darum gibt es keine Sauna im Keller, wir gehen in die Öffentliche, das ist energieeffizienter.“
Überzeugt schien Viola nicht zu sein, so wie sie blickte, sie sagte aber nichts mehr dazu. Nach gut einer Stunde waren wir alle gesättigt, die Rotweinflasche leer. Dad bestellte für die „drei Erwachsenen“, wie er sagte, der Nationalität des Hauses entsprechend eine Verdauungsrunde spanischen Brandy, den er ausdrücklich lobte. Ich hatte noch Wein im Glas, Manu war bei Wasser geblieben.
„Dein Vater, hui, eine harte Nuss“, sagte Viola zu mir, nachdem wir endlich in meiner Wohnung angekommen waren. Sie erschien mir nachdenklich, wir fielen nicht gleich übereinander her, wie meist üblich. Viola warf sich in einen Sessel. „Er hat insofern Recht, dass es sich nicht lohnt darüber zu streiten, wer womit die bessere Welt errichtet und dass jeder zuerst bei sich selbst anfangen sollte“, sagte sie.
Ich erinnerte sie an unser Gespräch beim Abendessen vor einiger Zeit und weitere danach. „So ähnlich habe ich es dir versucht, zu erklären, vielleicht nicht so gut wie mein Vater“, erwiderte ich.
„Ach, Chrissy …“, sie streckte mir die Hand entgegen, ich zog sie aus dem Sessel heraus. „Auf dem Bett“, sprach ich in unseren ersten Kuss hinein. Wir zogen uns nicht aus, wir küssten in einer endlos langen Umarmung.
„Ich liebe dich, ich liebe euch“, sagte Viola mehrmals. „Ich liebe dich, wir lieben dich“, erwiderte ich jedes Mal. Wenn wir uns nicht küssten, schauten wir uns in die Augen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis Viola sagte:
„Siehst du, jetzt haben wir schon ein kleines Stück Alltag.“
„Warum?“
„Weil wir angezogen auf deinem Bett liegen.“ Wir hatten uns nicht einmal am Körper gestreichelt, allein im Haar, am Nacken und an den Schultern.
„Wollen wir das ändern?“, fragte ich. „Ja, das ändern wir“, sagte Viola, sie hauchte die Worte. „Vorher duschen?“, fragte ich. „Nein, ich will dich schmecken, ich will dich riechen so wie du bist, wie die Natur.“
Später teilten wir uns einen Piccolo auf meinem Balkon. Die Sonne war bereits untergegangen. Im Zwielicht der Dämmerung sahen die Bäume gegenüber aus wie eine bedrohliche dunkelgrüne Wand. Ich erzählte Viola, wie ich am Nachmittag wehmütig zum Balkon schaute, nachdem Dad auf die Idee gekommen war, spazieren zu gehen.
„Wir können uns nicht die ganze Zeit, wenn ich mal hier bin, in deiner Wohnung verkriechen“, sagte Viola. Außerdem sei das an diesem Tag ein ursprünglich nicht geplanter Zusatzbesuch gewesen. „Das hätte ich gern öfter“, erwiderte ich. Die Überraschung war ihr gelungen.
Am meisten an diesem Tag habe sie sich über Manu gefreut, wie über deren Wandel ihr gegenüber, stellte Viola zufrieden fest.
„Freu dich nicht zu früh“, erwiderte ich. Schließlich kannte ich Manu, besonders ihre Wetterwendigkeit, wenn irgendetwas Unvorhergesehenes passierte. Allein in den vergangenen zwei Wochen schwankte sie hin und her, meine Beziehung zu Viola betreffend. „Im Moment schwebt sie auf Wolke Sieben, das kann sich schnell ändern“, erklärte ich Viola. Die schaute überrascht, dennoch gab sie sich optimistisch.
Der Optimismus hielt nicht lange an. Die Romantik eines lauen Sommerabends im Freien. Es war inzwischen dunkel geworden, in den Sträuchern am Zaun Schwärme von Glühwürmchen. Ein langer, leidenschaftlicher Kuss mündete ins Unvermeidbare, wenn die Hände erst die Orte erreichen, die die Sinne in diese Berg- und Tal-Bahn hinein lenken. Nach einem lauteren Seufzer Violas hörte ich einen Fensterflügel schlagen. Ein paar Worte, die ich nicht verstand. Da fiel mir ein, dass das Gästezimmer auf derselben Gebäudeseite liegt wie meine Wohnung. Das Schlafzimmer meiner Eltern auf der anderen. Manu musste uns gehört haben.
Wir gingen zu Bett, die Lust in einem einzigen Moment verflogen. „So wie Manu das Fenster zu gekracht hat, war die stinksauer“, sagte ich zu Viola, von der ich mir Vorwürfe anhören musste. Ich hätte daran denken müssen, dass Manus Zimmer auf dieser Seite liegt. Die erste Nacht, die wir gemeinsam mit Manu im Haus verbrachten. Ich hatte schlichtweg nicht daran gedacht.
Die Stimmung am Frühstückstisch war vorgezeichnet, wobei Manu sich zusammenriss. Sie quälte sich ein knappes „Guten Morgen“, heraus als ich mit Viola in der Küche erschien. Offenbar sollten meine Eltern nichts mitbekommen. Da Manu ebenfalls ein Morgenmuffel war – möglicherweise erbte sie das, wie ich, von unserem Vater -, fiel ihr Stimmungswandel tatsächlich niemandem auf, außer Mam. Die regte sich des Öfteren über unsere Wortkargheit auf. An dem Morgen wurde sie allerdings von einem angeregten Gespräch mit Viola verwöhnt.
Nachdem Dad den ersten Kaffee zur Hälfte geleert hatte, kam er allmählich zu sich. Ob wir denn alle wüssten, was heute für ein Tag sei, der 17. Juni, betonte er. Angespannte Stille herrschte unter den Jüngeren, selbst Viola fiel auf Anhieb keine Antwort ein.
„Früher der Tag der Deutschen Einheit“, meldete sich Mam zu Wort. In Geschichte behandelt, fiel mir ein. Violas Räuspern klang wie eine Entschuldigung. Der Tag, an dem die Menschen im Osten sich zum ersten Mal gegen das von den Russen eingepflanzte System gewehrt hätten, sei für ihn bedeutungsvoller als der neue Feiertag am 3. Oktober. Letzteres sei lediglich ein politischer Akt gewesen.
„Am 3. Oktober wurde die Einheit vollzogen“, wand Viola ein, somit käme diesem Tag der Name eher zu. Von der Symbolik her bliebe der 17. Juni für ihn wichtiger. Dad beschwerte sich darüber, dass zunehmend mehr Ostdeutsche die Einheit nicht mehr als Vorteil betrachteten, eines seiner Lieblingsthemen. Dabei müsse jeder seinen Beitrag leisten.
„Wir leisten unseren Beitrag“, sagte er. Steuern zahlen, darauf den Soli. Mam lächelte in sich hinein. „Von den gelegentlichen Steuerverkürzungen abgesehen“, foppte sie Dad. Hie und da ein Familienessen als Geschäftsessen zu deklarieren oder den Kauf privater Garderobe als Arbeitskleidung …
Dad blies sich gespielt auf. „Ich doch nicht!“, sagte er lachend. Steuerverkürzung, ein solches Wort kenne er überhaupt nicht. Es gäbe inzwischen eine Menge Leute, die den ehemaligen Namen DDR für die Neuen Länder in FOB gewandelt hätten – „Fass Ohne Boden“. Dagegen verhalte sich so eine Steuerverkürzung, wenn es die denn überhaupt gäbe, genau so, als wenn eine Ameise auf einem Elefanten herum laufe. Er grinste, besonders in Richtung Viola, die sich an diesem Morgen nicht provozieren ließ. Wir hatten nicht viel Zeit.
„Darüber reden wir später einmal ausführlich“, sagte sie lediglich.
Dass meine Halbschwester gemeinsam mit mir in Violas Auto stieg, schuldete wohl demselben Umstand, meine Eltern sollten nichts bemerken. Doch kaum waren wir durchs Tor gefahren, da ging es los:
„Schämt ihr euch nicht? Sogar draußen auf dem Balkon rum zu machen“, quengelte sie. „Es tut uns leid, Manu, wir hatten wirklich nicht daran gedacht, dass …“
„… Nicht daran gedacht“, unterbrach sie Viola, indem sie deren letzte Worte nachäffte. Darum ginge es gar nicht, allein darum, dass man so etwas im Freien, wo jemand zuschauen oder zuhören könnte, nicht tue. Ich war froh, dass sie wenigstens darüber sprach und nicht, wie früher, die Jalousien herunter ließ. Den Rest der Strecke herrschte Schweigen, Manu schaute, den Kopf zum Seitenfenster gewendet, starren Blickes in die vorbeiziehende Natur. Kaum aus Violas Auto ausgestiegen, rannte sie vor mir ins Schulgebäude. In den Pausen kein Wort. Ich versuchte erst gar nicht, etwas aus ihr heraus zu bekommen.
Viola schrieb mir eine SMS, ob alles wieder gut sei. Sie wollte uns beide am Nachmittag zum Eis essen einladen. „Das wird nichts“, schrieb ich zurück. „Ich warte zu Hause auf dich.“
Zu Hause, das las ich mir wenigstens drei, viermal durch, bevor ich die SMS abschickte. Zu Hause, wie das klang, nicht lange her, da versteckten wir uns. Ich besaß einen Schlüssel. „Komm und geh wie du willst“, hatte Viola einmal gesagt.
„Und wenn ich dich in flagranti mit einem Mann erwische?“, fragte ich scherzhaft. Wenn sie jemals einen Mann träfe, von dem sie den Eindruck gewänne, dass er mir gefallen könnte, würde sie sich mit dem zum Kaffee verabreden. „Du würdest auf Verabredung wie zufällig zehn Minuten später das Café betreten und den Herrn in Augenschein nehmen“, erwiderte Viola. Wenn er mir gefiele, könnten wir mein Problemchen am selben Tag beheben.
Viola kam eine Stunde nach mir an, ich sah ihr Auto einbiegen. So wie sie mich einmal beim Betreten des Hauses überraschte, zahlte ich ihr den Kredit zurück, nackt hinter der Tür wartete ich auf ihr Eintreffen. Wir holten das Versäumte nach, wozu es in der Nacht davor wegen Manus wütender Reaktion nicht gekommen war. In die Höhe katapultiert, kaum dass wir auf dem Bett lagen. In diesem „Porno-Kabinett“ voller Spiegel, in dem wir unsere eigenen Filme drehten, die wir uns stückweise während der Dreharbeiten anschauten.
„Gehen wir dann allein Eis essen?“, fragte Viola, während wir langsam zu Boden schwebten. „Ja“, hauchte ich in einen Kuss hinein. „Aber nicht gleich“, da blies ein schwacher Wind in unseren Fallschirm, der uns ein Stück weiter trieb.
Der Donnerstag, der Tag, der ein Jahr lang allein unser Tag war. Wir fuhren zu dem Park, von dem hier bereits an anderer Stelle die Rede war. Zu dem Park, den ich früher oft gemeinsam mit meinen Eltern und Manu zum Spielen besuchte, denselben, den Dad mit Manu ansteuerte, als er sich als Manus Vater outete. An dessen Rande befindet sich ein sehr schönes Terrassencafé, ein Italiener, Geheimtipp für das beste Eis der Stadt.
Ein gläserner Pavillon mit Freiflächen auf mehreren Ebenen, von wo aus man, je nach Sitzposition, an einer Seite den Fluss und einen großen Teil der Stadt überschauen kann. An der anderen Seite hingegen schweift der Blick in Richtung Wald und die umgebende Hügellandschaft. An Wochenenden bei gutem Wetter musste man hier vorher Plätze bestellen, in der Woche war es hingegen nicht ganz so voll. Die obligatorische Übungsstunde verlegten wir auf den frühen Abend.
Für einen Wochentag war der Parkplatz vor dem Café erstaunlich gut gefüllt. Viola übte Selbstkritik, weil sie nicht vorher angerufen hatte. Die Bedenken zerstreuten sich, nachdem wir die Anlage betraten. Obgleich überall Schilder mit der Aufschrift standen, der Parkplatz sei einzig für Besucher des Cafés bestimmt, wurde derselbe ebenso von Parkbesuchern genutzt. Bei der Größe der Anlage war es schier unmöglich, zu kontrollieren, wer Park- und wer Café-Besucher ist. Außerdem verbanden viele Gäste mit dem Cafébesuch einen anschließenden Spaziergang oder umgekehrt. Genauso hielten es meine Eltern während unserer früheren Besuche.
Wir wählten einen kleinen Tisch auf der oberen Ebene, von dem aus man zum Fluss und über die Stadt schauen konnte. Auf dem Weg dahin zeigte Viola in Richtung des Waldes auf einen Hügel, hinter dem sich das Hotel befinde, in dem wir unser erstes gemeinsames Wochenende verbrachten. Wir blieben einen Moment stehen, Viola hatte ihren Arm um meine Schulter gelegt. „Erinnerst du dich?“, flüsterte sie mir aufgeregt zu. Mit den Zähnen zupfte sie an meinem Ohrläppchen, danach gingen wir lachend weiter zu unserem Tisch.
Das dritte Mal nach unserem gemeinsamen Stadtbummel, dass wir uns in die Öffentlichkeit begaben. Ich war erstaunt, wie locker und selbstsicher Viola sich verhielt. Vom Parkplatz bis zu der eben erwähnten Stelle, gingen wir Hand in Hand, mit Küsschen zwischendurch. Danach beließ sie ihren Arm an meiner Schulter und zog mich im Gehen fest an sich. Das setzte sich am Tisch fort, an dem wir über Eck Platz nahmen, um uns nah zu sein. Meine Scheu war nicht endgültig gewichen. Das lag wohl mehr daran, dass Viola überhaupt der erste Mensch war, mit dem ich in der Öffentlichkeit Intimitäten austauschte. Als wir an dem Sonntag mit meinen Eltern spazieren gingen, waren wir brav. Ebenso am Tag davor als wir Manus neue Wohnung besichtigten. Anscheinend hatte sie meine Unsicherheit bemerkt.
„Bis du noch ängstlich, mein Engel?“, fragte sie mich. Ihren Ellbogen auf dem Tisch abgestützt, legte sie ihr Kinn auf die Hand. So lächelte sie mich verlockend an. „Mir ist es inzwischen komplett egal, ob uns jemand sieht und wer uns sieht“, sagte sie mit glänzenden Augen. Das Schuljahr sei so gut wie vorbei und ich volljährig.
„Nicht lange her, da hast du gesagt, wir sollten warten, bis ich mein Abi-Zeugnis in der Tasche habe“, erwiderte ich, da ging das Glänzen in Violas Augen in ein Leuchten über. Mit der Hand, die bis dahin ihr Kinn hielt, zog sie meinen Kopf an sich heran.
„Da wusste ich noch nicht, wie sehr mir das fehlen würde, mit dir gemeinsam ein ganz normales Leben zu führen, mit Allem, was dazu gehört“, sagte sie, bevor sie mit ihren weichen Lippen meinen Mund einfing. Wir knutschten eng umarmt, bis der Kellner, von einem Räuspern begleitet, die Speisen-, Getränke- und Eis-Karten auf den Tisch legte.
Ein dunkelhaariger Südländer, nicht viel älter als ich, groß und schlank wie Maria. Er gefiel mir mit seinem strahlenden Lächeln, den blendend weißen Zähnen und den schwarzen Locken, die ihm bis über die Ohren hingen. Ob er mir als Mann gefiel, darüber dachte ich nicht nach.
„Haben die Damen bereits einen Wunsch?“, fragte er höflich. „Ja“, erwiderte Viola schlagfertig mit Sonne in der Stimme. „Den haben wir uns gerade erfüllt und sie haben uns dabei gestört.“ Wie sie den jungen Mann anschaute, gewann ich den Eindruck, er gefiel ihr ebenso.
„Oh, Verzeihung“, erwiderte der Kellner. „Kein Problem“, sagte Viola. „Hübschen jungen Männern wie ihnen kann man das nachsehen … Bringen sie uns bitte zuerst zwei Kaffee.“ Viola hielt eine Hand vor den Mund, bis der Kellner außer Sicht- und Hörweite war, danach ertönte ein schallendes Lachen.
„Der kommt jetzt ins Grübeln“, sagte sie prustend. „Zwei Lesben, die ihn angeschmachtet haben, als wollten sie ihn gleich flach legen.“
„Zwei?“ erwiderte ich mit gespielter Überraschung. „Du hast ihn angeschmachtet.“
„Ach komm, Chrissy, ich habe dich beobachtet“, der nächste Kuss.
„Hm, ja, gefallen hat er mir“, gab ich zu, das nächste, was ich sagte, meinte ich weniger ernst: „Wir können ihn mitnehmen.“ Viola winkte ab. „Die Italiener sind wie die Karnickel beim Sex.“ Ob das für alle zuträfe, wisse sie nicht.
„Hattest du schon einen?“, fragte ich neugierig, das leichte Zwicken an meiner Seele. Sie sah mich einen Moment abschätzend an, bevor sie sagte:
„Ja, einer meiner wenigen ONS. Dass ich die ganzen Jahre vor dir nicht wild durch die Gegend gevögelt habe, das hatten wir ja bereits.“
„Und was hat dir mit dem nicht gefallen?“ Wir kamen uns so nah, dass sich unsere Nasenspitzen berührten. „Mir hat etwas gefehlt,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2015
ISBN: 978-3-7368-9812-7
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Chrissys Tagebuch
Mit herzlichem Dank an meine Co-Autorin Julia S., die mir die Vorlage für diese atemberaubende Liebesgeschichte lieferte.
Den Roman widme ich auch Thomas, der nicht den Mut fand, zu seiner Homosexualität zu stehen und mit siebzehn Jahren aus dem Leben schied.