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Triangel der Lüste

 

 

 

Erotikedition

 

Frank C. Mey

 

Band III

 

 

Überarbeitete Auflage

 

Text Copyright © 2015/ 2019 Frank C. Mey

Erfurt, Germany

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt Band III

 

Chrissys Tagebuch – Teil I/II

 

Chronik einer lesbischen Liebe

 

Dank an Julia S. für diese atemberaubende Liebesgeschichte

 

Im Buchhandel als Taschenbuch erhältlich unter ISBN - 9781511592673

 

Hemmungslos frivol – Studio 6

 

Personen und Handlung dieser Erzählungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten, lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

 

Im Buchhandel als Taschenbuch erhältlich unter ISBN 9781511582612 

 

Ausführliche Leseproben aus allen meinen Büchern in meinem Blog

Chrissys Tagebuch – Teil I/II

Ende Teil I/I - Erschienen in Triangel der Lüste - Band I

 

  Ich rannte nach draußen, nichts zu sehen. Violas Auto dunkel. Hinter das Gebäude kam ich nicht, da stand der Zaun mit dem Tor für VIP. Zurück in der Lobby warf ich einen weiteren Blick in den Salon, nichts. Mir liefen bereits die Tränen, als ich an der Rezeption nach einer Ersatzkarte fragte. Da stand der Mann, der uns eincheckte.

  „Fehlt ihnen etwas, meine Dame“, fragte er mich besorgt, ich muss schlimm ausgesehen haben. „Darf ich ihnen behilflich sein?“ Ich schüttelte den Kopf, nachdem er mir die Karte zureichte. Auf der Suite angekommen, warf ich mich wütend und enttäuscht auf das runde Bett.

  Mir fiel die Geschichte ein, die Viola mir von ihrer lesbischen Freundin erzählte. Sie hatten sich in diesem Hotel nach einem heftigen Streit getrennt. Selbst wenn Viola ihren Abstecher mit Meier nicht geplant haben sollte, würde ich ihr nicht verzeihen. Ich schrie ein paar Mal laut „Nein!“

  Jedes Bild, das mir durch den Kopf ging, zwang mir einen Wutschrei aus dem Hals. „Du hast mich betrogen!“ Heulend vergrub ich mich zwischen den Kissen und der Bettdecke.

 

 

  1. Mai 2010

 

  Der neue Tag musste bereits angebrochen sein, ich wusste es nicht mehr, mir war jedes Zeitgefühl abhandengekommen. In meiner Wut hörte ich nicht, dass sich die Zimmertür öffnete. Ich spürte lediglich eine Hand auf meiner Schulter, einen Augenblick später Violas Atem an meinem Hals.

  „Was war los mit Dir, Chrissy?“, flüsterte sie mir zu. „Warum warst Du plötzlich verschwunden und machst jetzt so einen Zirkus? Der Hermann war völlig durcheinander, als wir an den Tisch kamen.“

  Ich blieb auf dem Bauch liegen, weil ich sie nicht ansehen wollte. „Ihr habt gefickt, in irgendeiner dunklen Ecke habt ihr … Das hattest du so geplant!“, schrie ich in das Kopfkissen hinein. „Verarscht hast du mich, von wegen Hermann!“

  Viola riss mich unsanft auf den Rücken, sie nahm mir das Kopfkissen weg, das ich mir vor die Augen drückte. Anschließend zog sie sich aus, bis auf die Strümpfe.

  „Hier, du kannst Meiers Sperma suchen“, sagte sie laut, nachdem sie mir das Höschen an den Kopf warf. „Ja, wir haben gefickt, zweimal sogar, so scharf habe ich den Typen gemacht. Kannst ja gucken, vielleicht klebt was an meinem Kleid.“ Das warf sie ebenfalls auf das Bett.

  „Ihr habt ein Kondom benutzt, erzähl mir keine Märchen!“, schrie ich sie an. „Oder du hast den Slip gewechselt, hattest ja genug Reserve!“

  „Ja, du hast Recht. Und eine Damendusche in der Handtasche. Mit der habe ich mir auf der Toilette die Möse ausgespült.“ Danach kippte sie den Inhalt ihrer Handtasche auf den Boden. „Mit deiner krankhaften Eifersucht hast du dir und anderen den ganzen Abend verdorben“, fügte sie ruhiger hinzu.

  „Weil du dich nicht an unsere Abmachung gehalten hast, du bist mit dem Typ verschwunden. Und wenn du es nicht geplant hattest, dann bist du beim Tanzen auf den Trichter gekommen. Das ändert nichts!“, erwiderte ich voller Wut. „Geh weg, schlaf bei Meier und Hermann, da kannst du dich von beiden vögeln lassen, ich kann dich nicht mehr sehen!“, schrie ich sie ein weiteres Mal an.

  Weil ich weinte, versagte mir mehrmals die Stimme. Ich drehte mich wieder auf den Bauch, weil Viola nackt in ihren halterlosen Strümpfen vor dem Bett stand. Den Anblick, verbunden mit den Bildern, die gerade durch mein Hirn geisterten, ertrug ich nicht.

  „Ich bin enttäuscht“, sagte sie in ruhigem Ton. „Enttäuscht, dass du so wenig Vertrauen zu mir hast, das hätte ich wirklich nicht geglaubt.“ Viola setzte sich auf den Rand des Bettes, eine Hand auf meinem Rücken.

  „Es ist überhaupt nichts passiert, Chrissy, du hast keinen Grund für einen solchen Gefühlsausbruch. Wenn du willst, erzähle ich dir, was wirklich geschah. Hör mir wenigstens zu.“

  Weil ich nichts mehr sagte, begann sie nach einer längeren Pause. Auf der Tanzfläche sei sie einem Studien-Kollegen begegnet, der mit seiner Ehefrau den Tangoabend besuchte. Beide wohnten sie nicht im Hotel, es sollte der letzte Tanz werden, bevor sie die Heimreise antreten wollten.

  „Wir wechselten ein paar Sätze, anschließend gingen wir auf die Raucherinsel hinter der Toilettenanlage …“

  „… Da gibt es gar keine, du lügst schon wieder!“, unterbrach ich sie unwirsch.

  „Doch gibt es da eine. Hinter der Anlage neben dem Salon. Wenn du willst, zeige ich sie dir morgen.“ Man habe sich verplaudert, wie das so üblich sei. „Der Meier wollte schon eher zurück. Ich habe ihn abgehalten, weil ich dir und Hermann etwas mehr Zeit lassen wollte. Als wir zurück an die Bar kamen, warst Du weg und Hermann völlig durcheinander. Er hat erzählt, dass du uns suchst.“

  Anschließend stieß sie mich mehrfach sanft an. „Komm bitte wieder zu dir, Chrissy. Es ist gerade kurz nach Mitternacht. Wir haben Zeit. Das Andere ist gelaufen. Wobei ich sicher bin, dass der Meier mit Hermann in der Bar auf uns wartet. Ich habe beiden gesagt, dass ich nach dir sehen will. Die hoffen wahrscheinlich beide, dass wir zurück kommen.“

  „Mir egal …“, erwiderte ich, schon ruhiger. Wenn Viola die Wahrheit sprach, hatte ich mich heftig daneben benommen, das wurde mir in dem Augenblick klar, zumal sie, abgesehen von dem anfänglichen Wutanfall, erstaunlich ruhig geblieben war.

  „Das kann ich gut verstehen, wenn du wirklich gedacht haben solltest, dass ich mich mit Meier eingelassen habe“, redete Viola weiter, in einem Ton, als habe sie plötzlich Verständnis für meine Reaktion. Während sie sprach, schob sie eine Hand unter mein Kleid. Sie hatte sich zu mir gelegt.

  „Komm, mein kleines, eifersüchtiges Rehlein, ich ziehe dich jetzt aus.“ Sie löste den Verschluss. Im Sitzen streifte sie mir das Kleid ab. Als sie mich anschließend in die Arme nahm, konnte ich mich nicht mehr halten, ich brach in Tränen aus. Ich heulte wie eine Schlosshündin, ich schluchzte so heftig, dass mir teilweise die Luft weg blieb, das Gesicht an Violas Hals, ich konnte ihr nicht in die Augen sehen. Sie sagte lange nichts, sie ließ mich einfach weinen. Ich weiß nicht mehr wie lange es dauerte.

  Irgendwann, als ich mich allmählich beruhigte, fragte sie mich, was mich denn so wütend gemacht habe, ihr Eindruck sei gewesen, dass alles klar war, als sie mit Meier auf die Tanzfläche verschwunden sei.

  „Weil ihr nicht zurückgekommen seid, als die Runde zu Ende war …, und weil ich euch nirgendwo gesehen habe …, da dachte ich …, da habe ich angenommen …, ihr …“ Wieder brachen mir die Tränen aus. Dieses Mal sprach Viola gleich weiter:

  „Wir hatten eine Abmachung, Chrissy, an die habe ich mich gehalten …“ und, nachdem sie mir die Stirn küsste, „oder hat sich Hermann zu blöd angestellt, dass würde mich nicht wundern.“ Ich schüttelte den Kopf, anschließend erzählte ich ihr bis ins letzte Detail, was am Tisch ablief. Das mit Hermanns riesigem Penis und dass ich ihn überreden wollte, mich mit den Fingern zu entjungfern, ließ ich erst einmal weg.

  „Da bist du ja ganz schön rangegangen, aua“, unterbrach mich Viola ein einziges Mal, nachdem ich erzählte wie ich Hermans Hand an meine Knospe gezogen hatte.

  „Na dann war doch alles bestens, warum hast du dann nicht die paar Minuten gewartet und einfach auf das vertraut, was ich dir versprochen hatte?“ Viola nahm meinen Kopf zwischen beide Hände und sah mich eindringlich an, bevor sie weitersprach:

  „So wie das klingt, warst du doch bereit dazu, dann hättest du es jetzt schon hinter dir gehabt …“, danach umarmte sie mich, und während sie meinen Hals küsste, schob sie mir eine Hand in den Schoß.

  „Dann wäre das Röschen jetzt schon aufgeblüht …, und vielleicht hättest du ja sogar deinen Spaß dabei gehabt, wer weiß …? Ich schüttelte abermals den Kopf, dieses Mal heftiger:

  „Mit Sicherheit nicht“, dann entschloss ich mich, Viola die ganze Wahrheit zu erzählen. Als ich bei Hermanns Penisgröße ankam, lachte sie zum ersten Mal, und als ich dann noch den Rest erzählte, warf sie sich laut prustend auf den Rücken, eine Hand an der Stirn. In ihr Lachen hinein, sprach sie abgehackte Sätze:

  „Pferdeschwanz …, oh mein Gott …, und du wolltest, dass er dich gleich am Tisch …, mit den Fingern …, ich krieg die Krise. Und dann …, und dann hättest du mir erzählt, das sei …, das sei einfach so passiert, aus Versehen, oder?“

  „Ja!“, ich schlug wütend mit der Handfläche auf das Bett, „ich hab das dem Meier einfach nicht gegönnt, dass er uns nackt sieht …, dass er sich beim Zuschauen seinen Schwanz massiert …, dass er uns vielleicht noch sein ekliges Sperma auf die Haut spritzt, dass er …“ Viola hatte sich inzwischen wieder zu mir gedreht. Danach kam sie auf Hermanns Penis zurück: „Dann habe ich ja total auf das falsche Pferd gesetzt, da hätten wir beide unseren Spaß allein an Hermann haben können …?

  „Spaß …, ich weiß ja nicht“, empörte ich mich, „ich wäre den Heldentod gestorben, hätte der mir das Ding …“, da kam Viola halb über mich, wieder in ihrer Lieblingsstellung, ein Bein um mich geschlungen, stöhnte sie leise:

  „Du bist schon so eine Heldin, meine Heldin …“, doch mir stieß schon wieder die Galle auf, so gierig wie ihre Stimme klang, als sie von Hermanns Penis sprach.

  „Du hättest ja mit ihm ficken können“, erwiderte ich giftig, „du hättest bestimmt deinen Spaß gehabt …“ Wieder blieb Viola ruhig, sie küsste sogar meinen Hals und rieb ihren Schoß an mir, wie so oft, wenn wir uns zärtlich liebten.

  „Ja,“ sagte sie in ruhigem Ton, „ich hätte mich vielleicht sogar gern von ihm ficken lassen …, ficken“, betonte sie zweimal, „wir hätten uns geliebt dabei …“ Sie könne nur immer wieder betonen, so wie sie mir bereits am Anfang sagte, dass sie schon Männer hatte und dass es ihr eben hin und wieder danach sei.

  „Aber wenn, dann möchte ich, dass du dabei bist, das wäre das höchste aller Gefühle, dich dabei im Arm zu halten, deine Küsse …, deine Haut, deine Hände …, den Geruch deiner Rose …“ So wie sie zwischendurch seufzte und am Zittern ihres Körpers bemerkte ich, dass sie es zu Ende bringen wollte, doch kurz darauf brach sie ab.

  „Dann mach du es jetzt bei mir“, sagte ich, weil ich bemerkte, dass meine Stimme kalt klang, fügte ich ein „Bitte“ hinzu.

  „Nein, Chrissy, du weißt, warum, das hatten wir doch schon“, anschließend stand sie auf, um einen Piccolo und zwei Gläser zu holen. „Jetzt habe ich Durst“, sagte sie, „gehen wir auf den Balkon? Ich würde gern eine Zigarette rauchen?“ Ich folgte ihr. Sie lehnte wieder an der Brüstung, das Glas in einer Hand, in der anderen die Zigarette, das andere stand auf dem Tisch, ich trank einen Schluck.

  „Wenn ich dich richtig verstanden habe, hast du Lust empfunden, als du mit Hermann allein warst, dich hat am Ende allein sein Riesenschwanz abgeschreckt, oder?“ Ich nickte, das zu leugnen wäre gelogen gewesen.

  „Und was hast du empfunden, als du die Tango-Tanzpaare beobachtet hast, haben dir allein die Frauen oder auch die Männer gefallen?“

  „Auch die Männer.“ Ich erzählte ihr sogar, was mir durch den Kopf ging, falls mich so ein Adonis einmal in den Armen halten würde. Viola lachte:

  „Na siehst du, dann solltest du diese heilige Handlung der Defloration auch einem Mann überlassen.“

  Meine nächste Frage hatte ich mir selbst schon ein paarmal selbst gestellt, seit dieses Thema im Raum stand, ohne Viola zu fragen:

  „Wie ist das eigentlich bei anderen lesbischen Frauen, weißt du etwas darüber?“ Viola überlegte einen Moment, bis sie antwortete.

  Die meisten Mädchen oder jungen Frauen würden das noch gar nicht so genau wissen, laut Statistik hätten die mit vierzehn Komma irgendwas den ersten Sex. „Du wusstest doch mit vierzehn auch nicht, dass du in mich verliebt warst.“ Jetzt sah sie mich wieder so liebevoll an.

  Bei Frauen, die die Penetration komplett ablehnten, egal aus welchem Grunde, stehe die Frage erst gar nicht. Hier gäbe es manchmal auch anatomische Ursachen.

  „Und was wäre, wenn ich am Ende feststellen würde, dass ich das auch komplett ablehnen, dass es mich vielleicht sogar anwidern würde?“ Abermals überlegte Viola einen Moment, bevor sie antwortete:

  „Dann müsste ich mir überlegen, was mir mehr wert ist, du oder der gelegentliche Spaß mit einem Mann oder ob mir ab und zu ein Dildo genügt …“, sie lachte leise, bevor sie ihre Zigarette in den Becher entsorgte. „Das machst du inzwischen schon sehr gut, vor allem wenn du mich leckst dabei … Und jetzt komm auf unsere Liebesinsel, oder wozu sind wir hier?“ Ich aber schob meinen Po auf den Tisch, wo ich die Beine spreizte:

  „Zuerst hier, so wie du es gemacht hast, bei unserem ersten Mal, als du mich auf den Tisch geschoben hast …“ Es war schöner als beim ersten Mal, vor allem weil ich sehr erleichtert war, dass Viola meine Szene so einfach weggesteckt hatte.

  Im Bett liebten wir uns leidenschaftlich ohne Dildo, als sei es das letzte Mal, und als sich dieser Schwall Nässe über mein Gesicht ergoss, wusste ich, warum Viola ihren ersten Orgasmus unterdrückt hatte. Doch der absolute Höhepunkt folgte, nachdem Viola einen weiteren Piccolo auf die Gläser verteilt hatte, sie habe mir in dieser Nacht noch etwas sagen wollen, sie nahm eine feierliche Haltung ein, bevor sie das Geheimnis lüftete:

  „Diese Nacht sollte so etwas wie unsere Hochzeitsnacht werden. Wir sind jetzt ein Jahr zusammen. Gäbe es bei uns bereits die Homo-Ehe, hätte ich dir einen Heiratsantrag gemacht. Seit neun Jahren gibt es aber die eingetragene Lebenspartnerschaft. Willst du meine Frau werden, Chrissy?“

  Mir fiel das Glas aus der Hand, der Sekt versickerte im Bett.

  „Ja“, sagte ich …

  Die Frage, wie wir das mit meinen Eltern auf die Reihe bekämen und alles weitere Prozedere vertagten wir auf die Zeit nach Violas „Antrittsbesuch“ bei uns zu Hause. Ich meinte zwar, ich sei volljährig und könne das allein entscheiden, doch Viola bestand darauf zumindest die Meinung meiner Eltern anzuhören, das sah ich schließlich ein. Das mit den „Männern“ vertagten wir auf unbestimmte Zeit.

  Es wurde bereits hell, als wir uns atemlos ein letztes Stück Schlaf zugestanden.

 

  Die letzten vierundzwanzig Stunden glichen einer Berg- und Talfahrt, wie ich sie zuvor nicht einmal im Ansatz erlebte. Am Vormittag Violas Plan mit Hermann. Die Vorstellung, dass Hermann mein erster sein sollte, ließ mir anfangs das Blut gefrieren. Am Nachmittag die „Nutten-Nummer“, vor lauter Angst schlotterten mir die Knie. Abends dieser Eklat, in der Nacht Violas „Heiratsantrag“, der mir schier endlos erscheinende Schwärme von Schmetterlingen durch den Bauch trieb. Ich war mir sicher, dass sie sich schon für uns entschieden hatte, egal wie die Frage um die Männer ausgehen würde.

 

  Am anderen Morgen: die Sonne stand bereits brutal hoch, sie hatte das Gebäude soweit umrundet, dass die ersten Strahlen durch unsere Fenster drangen. Wie gewohnt wurde Viola vor mir wach, doch nichts klapperte, klirrte oder plätscherte. Sie war im Bett geblieben, dessen Drehmechanismus sie in Gang gesetzt hatte. Wenn wir in die Sonnenstrahlen hinein drehten, drang gedämpftes Licht durch meine Augenlieder, im Wechsel mit dem Schatten des Raumes. Ich lag mit dem Gesicht an Violas Schulter. Sie hatte mich mit Armen und Beinen umschlungen, ihr warmer Atem spielte mit meinem Haar. Mit beiden Händen streichelte sie sanft vom Nacken bis hinab über meinen Po. Ich hätte ewig so liegen bleiben können.

  „Schlaf weiter so mit mir, meine Frau“, flüsterte ich mit trockener Stimme an ihrem Ohr, ohne den Kopf zu heben. „Wir bleiben im Bett, bis der Zimmerservice uns hinaus trägt.“

  Viola lachte leise: „Wir müssen zwölf Uhr auschecken, es ist bereits halb elf.

  „Dann bleiben wir bis zehn Minuten vor dem Auschecken. Schminken fällt aus, Duschen fällt aus, wir ziehen uns nur so viel über wie nötig. Etwas, das wir bei dir im Haus schnell wieder ausziehen können.“

  „Willst du heute etwa den ganzen Tag lang im Bett bleiben?“

  „Ja, ich darf gar nicht daran denken, dass ich heute Abend wieder allein in meinem Bett schlafe.“

  „Wir telefonieren oder chatten, bevor du einschläfst. Wir lieben uns solange, bis du müde und erschöpft genug in deine Kissen sinkst.“

  „Ich bin nie erschöpft wenn wir uns lieben, ich bekomme ständig neue Lust, wie jetzt, außer dieser dumme Schlaf holt mich ein.“

  Wir duselten eine Weile so vor uns hin, in dieser himmlischen Schwebe, bis Viola sagte, ihr knurre der Magen, das war wie ein Wecksignal für meinen, mit einem Mal meldeten sich auch bei mir Hunger und Appetit.

  „Wir wollen doch dem Hotel den teuren Brunch nicht schenken, oder?“ Kaum ausgesprochen stand sie bereits neben dem Bett. Er jetzt bemerkte ich, dass alles an mir klebte, der verschüttete Sekt in der Nacht. Duschen wurde somit unumgänglich und ein Mindestmaß an Schminke. Ich bekam einen Schreck, als ich in den Spiegel schaute, ein Gespenst.

  „Wie durchgeorgelt“, sagte ich zu Viola, die neben mir stand, sie spielte wohl mit denselben Gedanken.

  „Durchgefickt“, erwiderte sie, das ging mir gleich wieder in den Bauch. Gemeinsam stiegen wir in die geräumige Duschkabine, nicht ohne uns ein paar Minuten lang einem reizenden Fingerspiel hinzugeben.

 „Wir ziehen die Kleider vom ersten Abend an, ohne etwas darunter, nicht einmal Strümpfe“, schlug Viola vor, als wir uns gegenseitig abfrottierten. Die würden gleich fallen, wenn wir ihr Haus betreten, versprach sie mir. Nach dem Auschecken brachte Viola unsere Tasche zum Auto, danach gingen wir zum Brunch.

  „Was, wenn uns die beiden über den Weg laufen“, fragte ich Viola auf dem Weg zum Restaurant.

  „Wen meinst du denn“, erwiderte sie, „etwa die Rentner?“ Ansonsten fiele ihr niemand ein, das genügte mir. Mir wäre es zumindest peinlich gewesen, doch niemand war zu sehen, nicht einmal die Reste der Rentnertruppe vom Vortag.

  Die Rückfahrt kam mir endlos lang vor, endlich in Violas Haus angekommen, fielen als erstes die Kleider, wie versprochen. Wir küssten uns in Violas „Spiegelsaal“ hinein. „Hochzeitstag“, sagte ich, bevor ich meinen Kopf in ihren Schoß senkte.

  „Die vielen Spiegel, das einzige was mir in diesem Hotel fehlte“, sagte sie, als wir später nebeneinander auf dem Rücken lagen. Im Panoptikum der Schlafzimmerdecke beobachteten wir unsere nackten Körper. Wir müssten uns wieder daran gewöhnen, hatte Viola gesagt, diese Bilder in unseren Hirnen abspeichern, für die Abende am Telefon.

  Gegen fünfzehn Uhr tranken wir Kaffee. Ich wollte nicht zu spät zu Hause ankommen. Bevor wir zum Brunch gingen, hatte ich eine SMS gesendet, die nicht beantwortet wurde. Sonntag, dachte ich, Bereitschaftsdienst, vielleicht halten sich beide in der Praxis auf. Mam trug ihr Handy nicht ständig bei sich. Inzwischen beunruhigte es mich dennoch, dass so gar nichts zurück kam.

  Violas Angebot, mich mit dem Auto zu fahren, lehnte ich ab. Wenn er nicht in der Praxis sein sollte, nutzte Dad die Wochenenden hin und wieder, um Parteifreunde oder Nachbarn aufzusuchen. In dieser Jahreszeit hielt man sich eher in den Gärten auf. Ich hatte Angst, er könnte mich zufällig aussteigen sehen. Daher nahm ich den Bus kurz nach halb fünf.

  Von der Terrasse am Haus konnte man bis zur Bushaltestelle blicken. Da saßen sie beide in der Nachmittagssonne. Dad in Shorts, Mam im Bikini, eine Flasche Rotwein auf dem Tisch. Ich sah sie schon durch das Fenster des Busses, als der zur Haltestelle einbog. Etwas Gespenstisches lag in der Luft. Vielleicht quälte mich mein schlechtes Gewissen darüber, dass ich ein Jahr lang nicht die Wahrheit gesagt hatte.

  Versucht eine möglichst freundliche Miene aufzusetzen, betrat ich unser Grundstück. Niemand kam mir entgegen, ungewohnt. Sie blieben in den Sesseln sitzen, sahen mir lediglich gespannt entgegen. Als ich zuerst Mam, danach Dad einen Kuss auf die Wange drückte, hoben beide lediglich die Köpfe ein Stück an. Keine Begrüßung, kein Wort.

  „Soll ich dir ein Glas holen?“, fragte meine Mutter ungewohnt gleichgültig, nachdem ich mich schnaufend in einen der freien Sessel fallen ließ. Meine Tasche blieb neben dem Tisch stehen. Dad sagte nichts, bis Mam mit dem Glas in der Hand zurück am Tisch erschien. Er schaute nachdenklich auf die Tischplatte. Sonst fragte er mich stets aus oder sagte irgendetwas, ehe ich richtig anwesend war. Nachdem Mam eingegossen hatte, sah er mich fragend an, bevor er maliziös zu sprechen begann:

  „Wir hatten gehofft, dass ein Auto vorfährt, in dem dein Freund dich nach Hause bringt. Auf diese Art hätten wir ihn wenigstens einmal von Weitem gesehen.“

  In solch einem boshaften Ton hatte ich Dad, zumindest auf mich bezogen, bis dahin nie reden hören. Das hatte etwas zu bedeuten, da war ich mir sicher. Seine weitreichenden Beziehungen kannte ich. Sollte er etwa? Nein, das glaubte ich nicht. Nachspionieren würden meine Eltern mir nie.

  Als wir Kaffee tranken, mahnte Viola mich, nicht länger zu warten, meinen Eltern reinen Wein einzuschenken. Ich erzählte ihr von der SMS, die meine Mutter nicht beantwortet hatte. Anfangs nahm ich das gelassen hin, doch je näher der Abend rückte, umso mulmiger wurde mir zumute.

  „Vielleicht haben sie etwas mitbekommen?“, sinnierte Viola. Sie war in Sorge. „Wenn bei dir die Luft brennt und du nicht allein damit fertig wirst, ruf mich bitte an. Ich setze mich ins Auto und stehe dir bei“, hatte sie mir angeboten.

  Es musste also etwas geschehen sein, das zu dieser offensichtlich schlechten Stimmung führte, die schlechter wohl nicht mehr würde werden können, überlegte ich mir, als ich nach dem Glas griff, um einen Schluck zu trinken. Nachdem ich es zurück gesetzt hatte, nahm ich all meine Kraft zusammen und sagte:

  „Der Freund ist eine Freundin oder besser gesagt, eine Frau. Meine Frau, die mir, gäbe es bereits die Homo-Ehe, letzte Nacht einen Heiratsantrag gemacht hätte …“ Ich atmete tief durch, jetzt war es raus, in einem Satz, ohne Schnörkel. Für einen Moment herrschte Schweigen. Mam meldete sich als erste zu Wort:

  „Moment mal bitte, schön der Reihe nach. Du willst uns also mitteilen, dass du seit einem Jahr in einer Beziehung zu einer Frau stehst, inzwischen soweit gediehen, dass ihr Zukunftspläne schmiedet, richtig?“ Nachdem ich nickte, fuhr meine Mutter fort:

  „Du hast uns also ein ganzes Jahr lang belogen. Deine Eltern, von denen du weißt, dass du keine Geheimnisse vor ihnen haben musst. Du hast unser Vertrauen grob missbraucht.“ Das Letzte war mir zu scharf formuliert. Ich erwiderte:

  „Ich habe euch nicht belogen, ich habe euch nur nicht alles erzählt …“

  „Hört, hört“, unterbrach mich Dad. „Unsere schlaue Tochter, sie redet schon wie manche Politiker: wir belügen euch nicht, wir sagen euch nur nicht alles!“

  „Von wem habe ich das denn?“ Ich sah Dad an, während ich sprach, weil der grinste, wurde mir schon etwas wohler. „Vielleicht werde ich Politikerin?“, fuhr ich entspannter fort. Die Lage schien sich tatsächlich zu beruhigen, meinte ich, bis Dads Miene wieder ernst wurde, bis er zu sprechen ansetzte:

  „Und die Dame oder deine Frau, wie du sie bezeichnest, hört nicht zufällig auf den Namen Viola Kirchner, und ihr habt nicht schon etwas miteinander gehabt, als du ihre Schülerin warst? Das würde diesen Gerüchten um ihren Schulwechsel jedenfalls neue Nahrung liefern.“

  Als der Name „Viola Kirchner“ fiel, dröhnte es bereits in meinen Ohren, den Rest nahm ich einzig marginal wahr. Also doch nachspioniert, mir liefen die Tränen. „Ihr habt mir nachspioniert, das hättet ihr nicht … Das darf man nicht“, schluchzte ich.

  Mam empörte sich: „Wir haben dir nicht nachspioniert, was traust du uns denn zu?“

  Dad lachte schon wieder: „Wer uns solche klaren Indizien liefert, wie ihr, der muss sich nicht wundern, wenn er auffliegt.“ Danach reichte er mir ein Taschentuch zu. „Wisch dir bitte die Tränen ab, du hast keinen Grund zu weinen“, sagte er in ruhigem Ton.

  Da stand etwas im Raum. „Ich hatte nichts mit Viola“, erklärte ich. „Sie hat mich damals schon geliebt, wie sie mir selbst erzählte, mehr nicht. Das fing erst vor einem Jahr an. Wir trafen uns zufällig, ich bat sie um Nachhilfe in Mathe und Physik, da ergab es sich so. Und das mit ihrem Schulwechsel …“ Dad hob die Hand. „Die Gerüchte haben wir damals schon nicht geglaubt.“ Er habe Frau Kirchner auf zwei Elternkonferenzen erlebt. Der hätte er so etwas nicht zugetraut.

  Dad räusperte sich, bevor er weitersprach: „Wenn ich diesen Fettsack, der das ins Rollen brachte, nicht kennen würde. Spielt den Moralhüter wie der Papst, dabei machen alle halbwegs gut aussehenden Frauen im Landtag einen Bogen um den herum.“

  „Damals war also nichts zwischen euch?“, fragte Mam noch einmal nach. „Schau mich bitte an, wenn du antwortest.“

  „Nein“, erwiderte ich. „Da war wirklich nichts“, ich sah meiner Mutter in die Augen.

  „Aber du hast sie schon geliebt, so wie man das eben mit vierzehn verinnerlicht?“ Mam lehnte sich weit zurück, den Blick zum Himmel gerichtet, sagte sie:

  „Ich habe so etwas geahnt, weil du nie die Spur an Interesse gegenüber Jungs gezeigt hast. Eine Zeit lang habe ich mir das wegen deiner Nähe zu Manu ausgeredet …“

  „Wie jetzt, hast du vielleicht gedacht, ich hätte was mit Manu?“, unterbrach ich sie.

  „Nein, bei Manu liegen andere Gründe vor, das wissen wir“, entgegnete Mam. Lachend schüttelte sie anschließend den Kopf. „Zwei Tage nach deinem Geburtstag rief mich Pavels Mutter an. Nach ein paar zweideutigen Bemerkungen dachte ich wirklich, ich hätte mich geirrt.“

  „Was für Bemerkungen denn?“ Ich wurde neugierig.

  „Ach geh“, Mam winkte ab. „Pavels Mutter will den Jungen unter die Haube bringen. Sie meinte, da sei etwas gewesen zwischen euch, an dem Abend in deiner Wohnung.“

  „Was sollte unsere Tochter denn mit diesem Muttersöhnchen?“, warf Dad ein. Nun schien sich wirklich alles zu entspannen. „Was hat sie denn erzählt?“, fragte ich nach. Mam sah mich nachdenklich an. „Du hättest ihn mit eindeutigen Gesten gereizt. Das glaube ich ja nun nicht mehr.“

  „Warum nicht?“, fragte ich, weil wir beim Thema waren. „Vielleicht wollte ich ihn ja reizen oder testen, so schüchtern wie der sich verhält?“ Nachdenklichkeit wandelte sich zu Verwunderung in Mams Gesicht. Dad verfolgte interessiert unserem Dialog.

  „Wenn du Frauen liebst sollten dir doch Jungs oder Männer völlig egal sein, oder?“, sagte Mam.

  „Das weiß ich nicht so genau“, erwiderte ich. „Vielleicht bin ich ja multisexuell?“ 

  „Da sind wir wieder beim Apfel- oder Birnbaum“, Dad gelöst. Er schaute meine Mutter an, die irritiert wirkte. Ich konnte in diesem Moment mit Dads Bemerkung nichts anfangen. „Na gut, lassen wir das vorerst so im Raum stehen“, schloss Mam das Thema ab, bevor sie einen kräftigen Schluck aus ihrem Weinglas nahm.

  „Was meintest du denn vorhin für Indizien?“, fragte ich Dad. Das hatte ich fast schon wieder vergessen. Mam antwortete an seiner Stelle:

  „Als deine SMS ankam waren wir beide gerade dabei, uns einen Reim zu schmieden, mit wem du wirklich unterwegs sein könntest. Dein Vater sortierte heute Morgen die Kontoauszüge des Fördervereins für die Spenderliste, da fiel ihm die Überweisung einer Frau Kirchner auf …“

  „Daher der Verdacht, ihr könntet schon länger ein Verhältnis haben“, setzte Dad fort. „Da habe ich zu deiner Mutter gesagt: lass das Mädel mal ein paar Stunden schmoren und beantworte die SMS nicht.“

  Die Überweisung! Daran hatten wir nicht gedacht, nicht einmal Viola, die sonst an alles dachte. Wer weiß wofür es gut war, dachte ich bei mir. Vielleicht hätte ich noch länger gezögert, meinen Eltern reinen Wein einzuschenken.

  „Ich muss mal nach oben, telefonieren“, sagte ich.

  „Warum so dringend?“, fragte Mam.

  „Ich muss Viola anrufen. Die rennt jetzt aus Sorge, dass hier die Luft brennen könnte, in ihrem Haus auf und ab. Wir haben nämlich beide gerätselt, warum du nicht geantwortet hast. Sie hat mir sogar angeboten, hier her zu kommen, um mich zu unterstützen, falls es Zoff geben sollte.“

  „Ein sehr anständiger Zug“, bemerkte Dad. „Zu dem Zweck kannst du sie von hier aus anrufen. Eure Intimitäten könnt ihr heute Abend austauschen, wenn du im Bett liegst. Nur stöhne bitte nicht ständig so laut.“ Dad grinste mich an auf seine eigene, gewohnte Art.

  „Ihr belauscht mich wohl? Ich ziehe aus“, drohte ich im Spaß.

  „Wir belauschen dich nicht, ebenso wenig wie wir dir nachspionieren“, erwiderte Dad. „Ich kann mir ja in Zukunft Ohropax in die Ohren stecken wenn ich nachts auf dem Weg zum Badezimmer an deiner Tür vorbei gehe.“

  Eilig griff ich zum Handy. Violas Nummer hatte ich in der Schnellwahl hinterlegt. „Alles gut“, sagte ich zu ihr, nachdem sie sich meldete.

  „Habt ihr geredet?“

  „Ja, haben wir.“

  „Ich bin erleichtert!“ Ich hörte, wie Viola tief durchatmete.

  „Wir freuen uns auf ihren Besuch, Frau Kirchner.“ Dad hatte sich zu mir gelehnt. „Grüß deine Eltern, bis heute Abend, ich freue mich.“ Sie gab mir schmatzend einen Kuss, bevor sie die Verbindung trennte.

  Mam verabschiedete sich in die Küche, das Abendessen vorzubereiten. Ich fragte, ob ich ihr helfen solle. „Leiste du mal deinem Vater Gesellschaft. Der freut sich am meisten darüber, dass du wieder da bist“, erwiderte sie.

  Mam war noch nicht ganz weg, als Dad mich ansprach: „Eines ist mir nicht ganz klar, wegen der Bemerkung vorhin, Pavel betreffend. Du scheinst dir selbst nicht völlig im Klaren zu sein, wohin bei dir die Reise geht. Und dann gehst du eine Beziehung zu einer lesbischen Frau ein?“

  „Viola ist nicht lesbisch. Das Wort Multisexuell stammt von ihr“, erwiderte ich prompt. Dad rieb sich nachdenklich sein Kinn.

  „Meinst du nicht, dass es besser wäre, du kämst zuerst einmal mit dir ins Reine bevor du dich festlegst, ob Mann oder Frau?“ Weil Vorwurf aus seinem Ton sprach, reagierte ich vielleicht etwas zu heftig:

  „Warum das denn? Ihr seid doch selbst so furchtbar stink liberal und habt mir beigebracht, dass Herkunft, Hautfarbe und sexuelle Orientierung überhaupt nichts mit dem Wert eines Menschen zu tun haben. Warum sollte ich da überlegen?“

  „Wir sind nicht stink liberal, wir sind liberal“, entgegnete Dad energisch. Die Worte „Stink“ und „Liberal“ passten einfach nicht zusammen. Ich solle froh darüber sein, sonst säßen wir jetzt vielleicht nicht mehr derart friedlich beisammen, fügte er im selben Ton hinzu. Er hatte Recht, das wusste ich, daher entschuldigte ich mich für die Entgleisung.

  Es ginge ihm nicht um die Wertung einer einzelnen Person oder um deren Bewertung, sondern allein um mein Wohlbefinden. Was Viola betreffe, wolle er sich ohnehin sein eigenes Bild machen.

  „Wenn du Fragen zu Violas Sexualität hast, frag sie. So wie ich sie kenne, wird sie dir ihre Meinung sagen. Und wenn du Probleme mit meiner Orientierung hast, dann frag mich einfach“, erwiderte ich, selbst erstaunt über meine Kühnheit meinem Vater gegenüber, vor dem ich stets großen Respekt hatte. Er winkte ab.

  „Besprich das mit deiner Mutter, wenn es nötig sein sollte. Ihr Frauen könnt viel besser über eure eigenen Belange reden.“ Mir fiel die Bemerkung mit dem Apfel- und dem Birnbaum ein.

  „Was meintest du vorhin damit?“, fragte ich Dad.

  „Frag deine Mutter selbst“, ein weiteres Mal winkte er ab. Dieses Mal lachte er, bevor seine nächste Frage folgte:

  „Eins würde mich dennoch interessieren, falls du darüber reden möchtest. Wo habt ihr das Wochenende verbracht?“

  „Im Glas-Schloss, wie du es selber nennst“, antwortete ich ohne nachzudenken. Dad pfiff durch die Zähne.

  „In dem teuren Laden? Da bekommst du selbst die kleineren Suiten nicht unter tausend pro Übernachtung, ohne alles. Die Arrangements fangen nicht unter zweihundert pro Tag an, nach oben offen.“

  Nun wusste ich, was Viola ausgegeben haben musste. Auf mehrere Fragen bekam ich von ihr keine Antwort. „Was bedeutet nach oben offen?“, fragte ich neugierig, obgleich ich wusste, worauf sich das bezog, die „Sonderangebote“. Dad bog sich, bevor er antwortete:

  „Das bedeutet, dass es unter diesem Dach kaum etwas gibt, das man nicht für Geld bekommt.“ Er war also informiert, das dachte ich mir. Von weiteren Fragen zu all den Angeboten nahm ich Abstand. Wahrscheinlich hätte er abgewiegelt.

 

  Mam brachte das Essen auf die Terrasse. Sie sah zufrieden aus. Alles war wie sonst. Wir hatten gerade begonnen, als sie zu mir sagte:

  „In Zukunft wirst du ja nun sicher mehr mit deiner Frau, Partnerin oder Lebensgefährtin, wie du sie auch bezeichnen willst, über deine Belange sprechen. Das ist völlig normal. Ich möchte dich aber darum bitten, dass du uns, deinen Vater und mich, nicht völlig außen vor lässt. Ich meine, dass wir weiterhin wichtig für dich sein werden. Jedenfalls für eine absehbare Zeit, bis du völlig selbständig sein wirst.“ Das klang traurig.

  „Mam“, sagte ich. „Selbst wenn du lange Rentnerin bist, werde ich mit dir über meine Probleme reden. Genauso wie du dich manchmal mit Oma zurückziehst, wenn wir sie in der Schweiz besuchen.“

  In einem längeren Monolog, den beide aufmerksam verfolgten, wies ich auf die vielen Veränderungen hin, die sich einstellten, seit ich mit Viola zusammen war. Besonders auf meine verbesserten Leistungen in Mathe und Physik und die gut gelaufenen Klausuren.

  „Das Abi wird keine glatte Eins, nicht so gut wie bei Manu, aber nahe dran“, sagte ich.

  „Und rotzfrech ist sie geworden“, warf Dad schmunzelnd ein. „Sie hat uns vorhin, als du in der Küche warst, als stink liberal bezeichnet! Unsere superschlaue Tochter, die darüber nachdenkt, ob sie nicht in die Politik gehen sollte.“

  „Stink liberal“, wiederholte meine Mutter Dads Worte. „Vielleicht haben wir dir wirklich zu viele Freiheiten gelassen. Die Zukunft wird uns zeigen, ob das gut oder weniger gut war.“

  „Lass mal“, meldete sich Dad zu Wort. „Freiheit impliziert stets die Gefahr, dass man kräftig auf die Nase fallen kann. Jemand der sein Leben lang mit einem Karabinerhaken an ein Drahtseil gekettet durch die Gegend rennt, fällt nie hin, der kommt aber auch nicht weit.“

  Diese Art von Sprüchen kannte ich von ihm. Er legte stets großen Wert auf die Gewährung individueller Freiheiten wie auf die Rücksichtnahme, ohne die Freiheit sich in Kürze in Anarchie verwandeln würde.

  An Mam gerichtet, sagte Dad anschließend: „Ich sehe das anders, was unsere Tochter betrifft. Vielleicht bekommen wir ein weiteres Familienmitglied hinzu, dann wären wir fünf.“

  „Fünf?“, fragte ich. „Wieso fünf?“

  „Hast du deine beste Freundin Manu vergessen? Die war übrigens von Freitagabend bis zum Nachmittag hier. Ihre Mutter hat mal wieder einen neuen Freund. Dem wollte sie nicht begegnen. Sie war sehr traurig darüber, dass sie dich nicht angetroffen hat“, erwiderte Dad.

  „Hast du Manu wenigstens von deiner Beziehung erzählt?“, fragte Mam besorgt.

  „Erst an meinem Geburtstag, abends, als es bei mir so laut war. Sie war wütend, wir haben uns gestritten. Ich glaube Manu liebt mich, so auf ihre eigene, asexuelle Art. Daher hatte sie Angst, dass ich nichts mehr von ihr wissen will. Sie hat mir versprochen, dass sie euch nichts erzählen wird.“

  Mir fiel ein, dass mit dieser neuen Lage nun mein Gegenversprechen unwirksam geworden war. Weil sich alle für ein paar Minuten auf das Essen konzentrierten, überlegte ich, ob es nicht besser wäre, meinen Eltern gegenüber die wahren Ursachen für Manus Verhalten zu äußern oder zumindest anzudeuten. Ich entschloss mich zu letzterem:

  „Ich kann mir denken, warum Manu den Freunden der Mutter aus dem Weg geht. Sie hat mir an dem Abend einiges erzählt. Ich musste versprechen, alles für mich zu behalten …“ Dad unterbrach mich:

  „Dann solltest du dein Versprechen auch einhalten“, forderte er mich energisch auf. Danach sahen sich beide eine Weile an, Mam und Dad, bevor Dad fortfuhr:

  „Dass es in Manus Vergangenheit unliebsame, wenn nicht sogar strafbare Erlebnisse gegeben haben muss, darüber sind wir uns schon lange im Klaren, deine Mutter und ich. Manu spricht nicht darüber und wir fragen sie nicht. Vielleicht hat sie gelernt, damit umzugehen, jedenfalls leidet ihr Leistungsvermögen nicht darunter. Wenn man so etwas aufwühlt, kann sehr schnell das Gegenteil auftreten und …“

  „Ja weil Manus Mutter …“, fiel ich Dad ins Wort.

  Der hob die Hand: „Stopp, Chrissy!“, sagte er. „Selbst das meinen wir zu wissen. Dass Manu ihre Mutter einerseits verachtet, vermuten wir schon lange.“ Andererseits sei sie aber Manus Mutter. Weil ich selbst nie in einen solchen Konflikt hineingezogen worden sei, könne ich mir das Ausmaß dessen nicht hinreichend erklären. Für den Fall, das etwas Strafbares vorgefallen sein sollte, von dem Manus Mutter Kenntnis gehabt habe, säße die mit auf der Anklagebank. Selbst wenn sie beide, Mam und Dad, davon wüssten, würden sie Manu nicht einmal zureden, Strafanzeige zu erstatten. Eine solche Entscheidung müsse aus dem Betroffenen selbst heraus kommen, zumal wenn er volljährig sei, teilte mir Dad die offensichtlich zwischen beiden abgestimmte Meinung mit.

  „Ich weiß es aber“, erwiderte ich. „Viola hat mir allerdings ähnliches gesagt wie du eben.“

  „Dann hast du dein Versprechen Manu gegenüber ja doch gebrochen“, hielt mir Dad in scharfem Ton vor.

  „Viola ist für mich keine dritte Person, wir sind eins, so wie ihr eins seid. Ihr redet doch ebenso über alles“, erwiderte ich gekränkt, wegen Dads barscher Tonlage. Der lächelte mir mit versöhnlichem Blick zu, anschließend zu Mam.

  „Das muss ja wirklich die ganz große Liebe sein“, lobte meine Mutter. Anschließend kam sie auf das Thema Lügen oder nicht alles sagen zurück:

  „Einmal hast du mich doch belogen.“

  „Wann?“, fragte ich erstaunt.

  „Als du in deinem lockeren Aufzug angeblich von einem Jungen kamst, erinnerst du dich?“ Ich verschluckte mich, weil ich ein Lachen nicht verkneifen konnte. Beide, Mam und Dad, sahen mich fragend an, während ich nach Luft rang.

  „Was gibt es da zu lachen?“, fragte Dad nach.

  „Ich war … Das war … Das war, bevor ich Viola in der Stadt begegnete. An dem Tag war ich wirklich bei einem Jungen, weil ich deinen Rat von damals, Mam, sehr lange befolgt hatte. Ich wollte es einfach hinter mich bringen.“ Beide schüttelten den Kopf, Dad grinste wieder.

  „Und, hast du?“, fragte Mam.

  „Jetzt wirst du wirklich zu neugierig“, erwiderte ich. Um abzulenken klärte ich anschließend diesen angeblichen „Zufall“ der Begegnung mit Viola, so wie sie es mir selbst erzählte. Tatsächlich kam keine weitere Nachfrage wegen Paul, sondern allein zu Viola.

  „Wenn ich das richtig verstehe, ging demnach Viola den ersten Schritt“, sagte Mam.

  „Ja, sie hat mich verführt, wenn du so willst“, erwiderte ich. „Und ich habe mich gern verführen lassen. Es ergab sich eben so.“

  Wie bereits auf Dads Bemerkung mit dem Apfel- und Birnbaum hin, senkte Mam abermals den Blick. Sie wirkte betroffen. Dad lächelte sie an, ich fragte nicht nach dem Warum, froh darüber, dass die letzte winzige Unstimmigkeit anscheinend vom Tisch war.

  Dad lag augenscheinlich viel daran, das Thema zu wechseln, weil er mich plötzlich fragte, wie es zwischen mir und Manu weitergehen würde. Ich erwiderte dasselbe, was ich bereits zu Viola sagte.

  „Viola hofft, dass Manu ihre Antipathie ihr gegenüber bald fallen lässt. Manu glaubte damals an die Gerüchte. Viola möchte, dass wir öfter gemeinsam etwas unternehmen, wenn Manu damit einverstanden wäre. Als wir beide Violas Schülerinnen waren, hatten die beiden ein sehr gutes Verhältnis“, fügte ich hinzu.

  Dad nickte zufrieden, das sei ihm sehr recht, sagte er. „Du bist eine wichtige Bezugsperson für Manuela, wenn nicht die wichtigste. Sie hat bei uns den Halt gefunden, den sie braucht. Wie du weißt, haben wir, deine Mutter und ich, ihr angeboten, unser Gästezimmer in Anspruch zu nehmen, so oft sie das will und sie kann hier ein und aus gehen, wann immer sie will.“

  Dads soziales Engagement war mir hinreichend bekannt. Dennoch blieb es für mich ein Rätsel, warum er sich derart intensiv für Manu einsetzte. Selbst Mam hinterfragte ab und zu Dads Entscheidungen, was er stets abwiegelte. Er war eben ein guter Mensch, mein Vater und Manu meine beste Freundin seit frühester Kindheit. Das genügte mir als Erklärung.

  Wir blieben nach dem Essen auf der Terrasse. Dad hatte eine zweite Flasche Rotwein geöffnet. Weil ich mittrank, was früher nicht üblich war, hagelte es ein paar witzige Seitenhiebe, die ich parieren konnte. Einer davon, ob mich Viola denn nicht allein in die Schönheiten der körperlichen und geistigen Liebe eingeführt habe, sondern ebenso in den Genuss von Alkohol.

  „Warum nehmt ihr denn öfter Wein mit in euer Schlafzimmer?“, fragte ich spitz. Die Uhr wanderte bereits der Neun entgegen, als ich meine kleine Wohnung aufsuchte.

  Dort angekommen packte ich zuerst meine Tasche aus, nicht ohne mein Telefon aus den Augen zu lassen, das auf dem Schreibtisch stand. Dieses Telefon verkörperte Viola, wenn sie nicht da war, ihre Stimme, das erregende Timbre, das stets einsetzte, wenn wir ein paar Minuten miteinander gesprochen hatten. Unsere einzige Verbindung, neben dem PC und dem Chat-Programm, während der längeren Pausen. Das sollte sich in Zukunft ändern.

  Die Kleider wanderten auf den Bügel, der Rest in den Wäschekorb. Sie hatte mir ein Paar der halterlosen Strümpfe geschenkt. Das Gefühl an der Übergangsstelle des zarten Stoffes zur nackten Haut erregte mich selbst dann, wenn ich mich selbst streichelte. Unter Violas weichen Händen unendlich intensiver.

  „Die kannst du dir überziehen, wenn dir danach ist“, sagte sie, als wir in unserem Schlafzimmer die Sachen aus der gemeinsamen Reisetasche sortierten. Weil mir danach war, blieben die Strümpfe auf dem Bett liegen. Ich zog sie mir über, nachdem ich mich, von meiner lästigen Bekleidung befreit, mit dem Telefon in der Hand auf mein Bett begab.

  „Ich liege hier wie auf Kohlen und warte, dass du dich meldest“, Violas erste Worte.

  „Spürst du mich? Ich halte dich in der Hand“, entgegnete ich.

  „Ich küsse dich gerade.“ Ein leises Schmatzen. „Chat oder lieber Telefon?“, fragte ich.

  „Egal, ich sehe dich, wenn ich die Augen schließe, vor mir. Was trägst du?“

  „Nichts, außer den Strümpfen, die du mir geschenkt hast. Und du?“

  „Nichts. Dein Höschen von heute Nachmittag liegt über dem Telefon, direkt an meinem Mund. Ich höre dich nicht nur, ich rieche dich sogar.“

  „Jetzt?“, fragte ich.

  „Ja, jetzt erst mal, bevor wir reden. Ich denke schon die ganze Zeit so sehr an dich.“ Weil ich beide Hände brauchte, legte ich mich auf den Rücken, den Hörer auf dem Kopfkissen neben meinem Ohr.

  „Erzähl bitte“, sagte Viola später.

  Ich berichtete über jedes Detail, bis hin zu den kleinen Seitenhieben, des Alkohols wegen, nach dem Abendessen. Vom Gespräch über Manu, von Dads Bemerkung, mein Stöhnen betreffend, bis zur Reaktion meiner Mutter auf den Apfel- und Birnbaum und die Verführung. Hörte Viola, höchstens unterbrochen durch erleichterte Atemzüge, bis dahin zu, unterbrach sie mich an dieser Stelle:

  „Vielleicht erlebte deine Mutter Ähnliches, vielleicht in ihrer Jugend?“ Das konnte ich mir nicht vorstellen.

  „So oft wie die Sex haben, halte ich meine Mutter für absolut hetero“, erwiderte ich. Viola lachte laut.

  „Vielleicht ja gerade deswegen. Erinnere dich daran, was ich dir einmal zum Thema sexuelle Vielfalt gesagt habe. Das war so ziemlich am Anfang.“ Ich erinnerte mich, trotzdem hielt ich das Gesagte nicht für möglich.

  Viola fragte, ob wir bereits über ihren „Antrittsbesuch“ gesprochen hätten, was ich verneinte.

  „Wenn ich das richtig verstanden habe, erwarten die dich ohne alle Formalien“, erwiderte ich, worauf Viola erwiderte:

  „Ich hatte das völlig vergessen, Chrissy, entschuldige. In der kommenden Woche bin ich von Donnerstag bis Sonntag mit meiner Klasse unterwegs, falls du dasselbe bereits ins Auge fassen wolltest.“

  Die Pfingstferien standen bevor. Ich war seit meinem Geburtstag, mehr noch nach Violas Wunsch, mit mir ein gemeinsames Wochenende zu verbringen, derart aufgezogen, dass ich an nichts anderes dachte.

  „Pfingstferien“, erwiderte ich nachdenklich. Viola lachte. Das sei ihr ebenso gegangen. Alle ihre Gedanken hätten sich auf das gemeinsame Wochenende konzentriert. „Das ist verrückt, wir sind total verrückt“, seufzte sie ins Telefon.

  Tatsächlich fragte mich Dad zwei Tage später am Frühstückstisch, ob wir bereits einen Plan hätten wegen des Besuchs. Wir peilten den übernächsten Sonntag an.

  „Dann sehen wir uns in der kommenden Woche gar nicht?“, fragte ich Viola mit banger Stimme. Für Pfingstmontag habe sie einen Berg Klassenarbeiten liegen, die sie korrigieren müsse. Den habe ich doch ohnehin bei meinen Eltern verbringen wollen, erinnerte sie mich.

  „Ich wollte heute schon damit anfangen, aber so aufgeregt wie ich war, blieb alles liegen“, sagte sie. Dienstagabend Arbeitskreis, die Ferien gälten schließlich nicht für die Lehrer. Es blieb allein der Mittwoch.

  „Dann bleibe ich über Nacht bis Donnerstag, solange bis du das Haus verlässt“, sagte ich bestimmend.

  „Ja, mein Reh“, erwiderte Viola leise. Sie wolle am Mittwochabend bereits ihre Sachen packen. „Wir bleiben am Donnerstag bis elf Uhr im Bett.“

  Völlig aufgelöst telefonierten wir länger als eine Stunde miteinander. Nachdem sie mir sehr eindrucksvoll erklärt hatte, wie sehr sie sich auf den Mittwoch freue, war sie es, die dieses Mal als erste unser Startwort für die nächste virtuelle Reise aussprach.

 

  Das gemeinsame Frühstück am anderen Morgen verlief am Anfang wie gewöhnlich, völlig entspannt und freundlich. Mam saß im Morgenmantel am Tisch. Dad war fast fertig, als ich eintrat. Ein Notfallpatient hatte angerufen, er musste in die Praxis.

  Mam räusperte sich, kaum dass er das Haus verlassen hatte. „Ich wollte gestern nicht weiter nachfragen, als es um diesen Jungen ging, den du an dem Nachmittag vor gut einem Jahr besucht hast. Nur damit ich es auf die Reihe bringe, falls du nichts dagegen hast?“

  „Frag ruhig“, meine Antwort. Ich wusste, was kommen würde.

  „Du hast mit einem Jungen geschlafen, ich gehe davon aus, dass es dein eigner Wunsch war?“ Ich nickte. „Ja, war es.“

  „Ein paar Tage später triffst du deine ehemalige Lehrerin und gehst beim ersten, zweiten oder dem wievielten Treffen mit ihr ins Bett. Da fiel zweimal das Wort Multisexuell, bedeutet das du liebst beide Geschlechter?“ Sie habe mit meinem Vater länger darüber gesprochen, nachdem ich mich in meine Wohnung verabschiedete.

  „Das weiß ich nicht genau, ob ich beide Geschlechter liebe, und was das Schlafen betrifft, wenn du damit den Verkehr meinst, ich habe nicht mit dem geschlafen. Ich wollte, doch es kam nicht soweit.“

  Mam sah mich verdutzt an. „Es kam nicht soweit?“, fragte sie nach. „Und warum nicht?“ Ich erzählte ihr in groben Zügen den Ablauf und was ich dabei empfand. Dass ich wohl, neben Manu, die letzte Jungfrau in der Klasse war, dass ich es einfach hinter mich bringen wollte.

  „Genau darauf will ich hinaus. Du hast es also nicht aus einer Lust heraus getan, von Liebe oder Zuneigung will ich erst gar nicht reden, sondern weil du es hinter dich bringen wolltest?“ – „Korrekt“, erwiderte ich. „Und bei deiner …“

  „Nenne sie doch einfach Viola, Mam“, unterbrach ich meine Mutter.

  „Gut, also bei Viola standest du sofort in Flammen, kaum dass sie dich berührte.“

  „Nicht gleich“, erwiderte ich. „Etwas mulmig war mir schon, nachdem ich die ersten Regungen in mir verspürte.“

  Ich erklärte meiner Mutter, dass ich mir die Frage ob Mann oder Frau bis dahin nie gestellt hatte. „Wenn ich mich selbst befriedigt habe, wie du mir empfohlen hast, gingen mir gar keine oder alle möglichen Bilder durch den Kopf.“ Mam lächelte.

  „Du hast bereits geglüht, du wolltest dir das aber nicht gleich eingestehen“, unterbrach sie mich.

  „Ja, so würde ich das sehen wollen“, erwiderte ich. Anschließend kam Mam zum zweiten Teil ihrer Frage, des Wortes „Multisexuell“ wegen, wie sie sagte. „Ich gehe davon aus, das Wort stammt von Viola, die so um die zehn Jahre älter sein dürfte als du. Die hat oder sie schläft noch mit Männern, richtig?“

  „Sie hat“, erwiderte ich prompt. Den letzten Freund ließ ich weg, das hätte alles verkompliziert. „Seit wir ein Paar sind, nicht mehr.“

  „Und sie denkt auch nicht mehr darüber nach?“, fragte Mam eindringlich. Allmählich fühlte ich mich in die Enge getrieben. Meine Mutter bemerkte das, sie bemerkte alles, das wusste ich, besonders nachdem sie fortfuhr:

  „Wenn dem so sein sollte, dass sie nach wie vor diese Lust verspürt, beinhaltet das eine ganze Menge Konfliktpotential. Damit du im Bilde bist, ich weiß, wovon ich rede. Mehr, wenn du wirklich lesbisch sein solltet, wovon ich, deinen Worten zufolge, ausgehe.“ Mir fielen Violas Worte am Telefon ein. Ich suchte ein Hintertürchen.

  „Hattest du selbst schonmal ein solches Problem, Mam?“, fragte ich sie, in der Hoffnung, sie würde das Thema von selbst beenden. Sie schaute mich traurig an.

  „Lange Geschichte, an die ich mich ungern erinnere“, sprach sie leise, wie zu sich selbst. „Nicht mehr wichtig“, erneut an mich gerichtet. Sie wollte es also wissen. Dass Violas Neigung bereits zu Konflikten geführt hatte, der letzte lag erst etwas mehr als einen Tag zurück, verschwieg ich.

  „Mir ist egal, ob ich lesbisch, multi oder bi oder was auch immer bin. Dad fing gestern Abend ebenfalls davon an, als du in der Küche warst. Da habe ich das gesagt mit dem stink liberal … Ich bin glücklich, allein das zählt doch, oder?“

  „Ja, da hast du Recht, aber …“, erwiderte Mam, der ich ins Wort fiel. „Konflikte gibt es genauso gut bei heterosexuellen Paaren, Konflikte, Trennungen, was weiß ich, alles eben.“

  „Auch da hast du Recht. Ich will nicht versuchen, dir deine Liebe zu Viola auszureden, ich will lediglich, dass du aus deiner Euphorie heraus nicht Dinge übersiehst, die möglicherweise wichtig sind.“ Anschließend lehnte sie sich zurück, als sei das Gespräch beendet. Ich atmete durch, weil sie plötzlich sogar belustigt wirkte, als sie weiter sprach:

  „Und dann hast du das, wozu es mit dem Jungen nicht kam, mit Viola nachgeholt?“

  „Nein.“

  „Wie jetzt, nein?“

  „Na nein eben, ich bin Jungfrau, wenn du mich so direkt fragst.“ Zuerst hielt Mam die Luft an, kurz darauf brach ein schallendes Gelächter über mich herein. Sie holte sich nicht wieder ein. Das war mir fast peinlich, doch plötzlich brach es ab, das Lachen. Nüchtern sagte sie:

  „So erfahren wie Viola sein wird, vermute ich, dass sie diese Nagelprobe einem Mann überlassen möchte, vermutlich in ihrem Beisein.“ Die letzten Worte hallten in meinen Ohren.

  „Ja“, erwiderte ich kleinlaut, in Erwartung einer Moralpredigt. „Sie hat gesagt, wir werden das nicht herausfordern, wir werden uns Zeit lassen, bis es sich vielleicht einmal ergibt …“ Anstelle der Moralpredigt sagte Mam trocken: „Das beruhigt mich.“ Ich war total überrascht.

  „Wieso beruhigt dich das?“, fragte ich sie verwundert. „Weil ich daraus entnehmen kann, dass Viola dasselbe Problem erkannt hat, wie ich es gerade mit dir bespreche“, erwiderte Mam. Sollte ich eine Neigung zu Männern entdecken, könnten wir diese gemeinsam ausleben. Ob zu viert oder jede für sich, das sei keine Frage der Moral sondern lediglich des Geschmacks. Wenn nicht, würden wir uns trennen müssen oder Viola müsste ihre Liebe zu mir auf einen entscheidenden Prüfstand stellen. Meine Mutter sprach in ausgesprochen sachlichem Ton. Selbst dieses „Zu viert“ schien sie nicht einmal besonders zu beeindrucken. Das überraschte mich ein weiteres Mal.

  Ich gab zu, dass Viola annähernd dasselbe letzte Nacht im Hotel zu mir sagte, ebenso wie ich nun zugab, dass es bereits zu Konflikten gekommen war. Wichtiger, man trage diese aus als dass man versuche, sie zu übergehen, gab Mam mir mit auf den Weg.

  „Ihr seid also nicht sauer wegen meiner Beziehung“, fragte ich zum Schluss. „Nein, warum sollten wir? Wir sind doch so stink liberal, wie du selbst gesagt hast.“ Ich war unendlich erleichtert, mehr sogar als am Abend zuvor.

 

  Manu traf eine halbe Stunde vor dem ursprünglich geplanten Mittagessen ein. Ich saß in meiner Wohnung vor dem Laptop. Bi-sexuelle Männer, das war mir eingefallen, als Mam den denkwürdigen Satz aussprach, ob zu Viert oder jede für sich, das sei keine Frage der Moral, sondern des Geschmacks. Im Grunde hatte meine Mutter dasselbe angedeutet, was mir Viola bereits im Hotel sagte, die Klärung unseres Verhältnisses zu Männern, besonders was mich betraf sowie die Konsequenzen daraus, sollte ich tatsächlich feststellen, dass es bei mir ganz und gar nicht geht. Vielleicht war es etwas naiv, dass ich dabei an bi-sexuelle Männer dachte, aber ich bildete mir ein, dass diese vielleicht weniger aggressiv männlich sein, und dass die uns auch weniger am Rockzipfel hängen würden.

  Ich klickte mehrere dieser so genannten „Partner-Suchdienste“ durch. Bei einigen sah man bereits auf den Startseiten Nacktbilder, die schienen mir nicht besonders seriös zu sein. Eine Seite warb mit einem Computerprogramm, das aus den eingegebenen Daten die passenden Partner auswählen würde. Gefragt war eine ewig lange Liste der Eigenschaften des Suchenden, angefangen bei Äußerlichkeiten bis hin zur Einschätzung eigener charakterlicher Eigenschaften, bis selbstverständlich zum Alter. Als nächstes Menü erschien die Frage: „Wen suchen Sie?“

  Ich gab ein: männlich, Alter 20 bis 30, bisexuell, setzte je ein Kreuz bei Partnerschaft/ Bekanntschaft, One-Night-Stand, sexuelle Abenteuer. Den Postleitzahlenbereich schränkte ich ein auf unserer Stadt bis 50 km im Umkreis. Es dauerte wenige Sekunden, nachdem ich den Such-Button betätigte, bis eine Liste als Suchergebnis erschien. Zweiunddreißig Einträge, einige davon mit Fotos, auf denen die Genitalien zu sehen waren. Um die jeweilige Personen anschreiben zu können, musste man sich kostenpflichtig anmelden. Das wollte ich vorher mit Viola besprechen.

  Ich war gerade dabei, den Profiltext eines Kandidaten zu lesen, der mir vom Erscheinungsbild her einigermaßen echt vorkam, als Manu ohne anzuklopfen eintrat. Als Alter gab er sechsundzwanzig an, eins Achtzig groß, schlank, das Nacktfoto zeigte seine Rückenpartie, dazu ein Porträtfoto. Angeblich sei er auf der Suche nach beiden Geschlechtern. Er gab sich als einfühlsamen Liebhaber aus, der keine feste Beziehung suche.

  Als Manu am Tisch erschien, klappte ich erschrocken den Laptop zu. „Na wie war das Wochenende mit deiner Viola?“, fragte sie schnippisch. „Toll, Manu“, erwiderte ich, was sie nicht besonders aufregend zu finden schien. „Deine Eltern wissen ja nun Bescheid“, sagte sie als nächstes. Sie habe das Gespräch am Sonntagvormittag mitbekommen. Traurig fragte sie anschließend:

  „Verrätst du mich nun bei deinen Eltern, jetzt, wo dein Geheimnis gelüftet wurde? Da musst du ja nun dein Versprechen nicht mehr halten.“ Dass wir über Manus Geheimnis bereits gesprochen hatten, verschwieg ich. Ebenso, dass meine Eltern schon mehr wussten als Manu glaubte. Sie schien erleichtert, nachdem ich ihr sagte, sie könne sich auf mein Versprechen verlassen. Das nutzte ich aus.

  „Viel wohler wäre mir, du würdest endlich aufhören, gegen Viola zu schießen. Am Tag nach meinem Geburtstag klang das schon besser als eben. Ich soll dich von ihr grüßen, sie würde sich freuen, dich zu treffen.“

  „Auch wenn ich nicht lesbisch bin?“, feixte Manu. „Sie will mit dir und mir Kaffee trinken gehen, nicht ins Bett. Dahin geht sie nur mit mir“, neckte ich meine Freundin. Schocktherapie wirkte bei ihr, das hatte ich bereits festgestellt. Ich setzte einen oben auf:

  „Es sei denn, du entdeckst dich endlich, dann könnten wir zu Dritt ins Bett gehen.“ Manu zeigte mir einen Vogel.

  Mittagessen fiel aus, das hatten meine Eltern zwischendurch so quasi en passant entschieden. Wir hatten spät gefrühstückt, am Nachmittag wollte Dad ein paar Würstchen auf den Rost legen. Dazu kam er nicht, weil zwei Häuser weiter eine Grillparty stattfand.

  „Kommt doch für eine Stunde rüber“, rief uns der Nachbar von der Terrasse aus zu. Stadtrat, der Dads kleiner Partei angehörte. Man besuchte sich gelegentlich. Dad nahm die Einladung an ohne mich zu fragen. Das sei doch selbstverständlich, dass ich mitkommen würde, erwiderte er. Für Manu gab es, wie so oft, die Ausnahmeregelung. Die hatte sich, nachdem sie meine Wohnung verließ, schon wieder in der Bibliothek vergraben. Dad würde ihr später etwas zum Essen rüberbringen, so lautete die Vereinbarung.

  Ich langweilte mich, dieser Tag der krasse Gegensatz zu dem, was ich an den vergangenen drei Tagen erlebte. Die Tochter der Familie, zwei Jahre jünger als ich, nervte mich die ganze Zeit.

  Ich war froh, als Dad endlich zum Aufbruch blies.

 

  1. Mai 2010

 

  Am Mittwoch waren wir, Viola und ich, außerordentlich zahm. Allein die Begrüßung verlief wie gewohnt stürmisch. Auf dem Tisch lagen zwei seidene Ponchos neben dem Kaffeegeschirr. „Anprobieren!“, befahl sie mir. Die seien für die kühleren Tage gedacht, erklärte Viola, während ich mich auszog. Damit sie die Heizung nicht anstellen müsse wenn ich ständig halb nackt durch die Gegend renne. Beide passten ausgezeichnet, tief dekolletiert mit langen Schlitzen an der Seite. Den zweiten behielt ich an. Bevor wir Kaffee tranken, zeigte mir Viola auf der Couch, dass diese Garderobe keineswegs hinderlich ist. Im Gegenteil, der Stoff verursachte einen besonderen Reiz auf der Haut.

  Abends im Bett wollten wir uns gegenseitig in den Schlaf hinein streicheln. Wir lagen umklammert mit Armen du Beinen.

  „Wenn wir in Zukunft mehr Zeit miteinander verbringen, werden wir nicht jeden Tag Sex haben“, flüsterte Viola in mein Ohr.

  „Wir haben doch jetzt schon wieder Sex“, flüsterte ich zurück, weil mir allein dieser Schwebezustand, in dem ich gerade dem Schlaf entgegen flog, ein endloses Glücksgefühl verlieh. Viola lachte leise: „Ich meinte ficken …“

  Eine Zeit lang sprachen wir wenig. Ich gab mich voller Genuss diesem sanften Flug hin, der uns über rauschende Wälder trug, über Flüsse. Manchmal tauchten Berge vor uns auf, die uns zu einem kurzen, steileren Aufstieg zwangen, der dieses Kribbeln im Bauch hervorruft, wie man es von der Luftschaukel her kennt. Der Schlaf ließ länger auf sich warten.

  Später erzählte ich Viola von meiner Internetrecherche und dem viel versprechenden Ergebnis. „Der Typ, den du dir angesehen hast, ein Gigolo“, war sie sich sicher. Der suche auf diesem Wege Kunden und Kundinnen. Wie überhaupt wenigstens achtzig Prozent der Einträge auf solchen Seiten gefaked seien. Bei den wenigen echten Frauen handele es sich um Cam-Stripperinnen oder Hobby-Huren, die Geld verdienen wollten. „Na ja, und bei den Männern? Durchwachsen.“

  „Du scheinst dich gut auszukennen“, foppte ich sie, worauf sie mir gestand, sie habe sich selbst schon einmal für einen Monat auf einer solchen Seite angemeldet. „Wir können es gern einmal versuchen“, sagte sie anschließend. Vierundzwanzig Euro für einen Monat sei sie bereit, auszugeben. Man müsse lediglich darauf achten, nach der Anmeldung zum Ablauf des einen Monats gleich wieder zu kündigen. „Sonst rennst du in eine Abo-Falle, die dich mindestens ein Jahr lang jeden Monat das Doppelte kostet.“

  An einer Hand zählte ich die Tage ab, die wir uns nicht sehen würden. Nicht einmal am Sonntag, weil die Rückkehr auf den späteren Abend fallen würde. Die guten Vorsätze, das „Nur in den Schlaf streicheln“, vergaß ich, weil sich ein Schwall Wärme von Violas Haut in meinen offenen Schoß hinein ergoss.

  „Brauchst du Vorrat, mein Reh?“, fragte sie mich, als ich gerade an den Fingern bog und im selben Rhythmus mein Becken bewegte. Da leckte Viola bereits sanft an meinen Brustwarzen. „Ich schneide mir ein Stück ab von dir“, erwiderte ich. Welches am liebsten, zeigte ich ihr anschließend mit meinem Mund.

  So wie der Abend endete, begann der folgende Morgen. Ja, ich benötigte den Vorrat. Das Frühstück fiel entsprechend kurz aus. Eine Tasse Kaffee, eine Scheibe Toast. Viola belegte sich ein paar Scheiben Brot für unterwegs.

  Nach dem Frühstück fuhr ich nach Hause, weil Manu sich angemeldet hatte. Sie wollte bis zum Wochenende bei uns bleiben, da der neue Freund der Mutter wie gewohnt angekündigt sei. Ich hoffte, sie an diesem Wochenende endgültig „umkrempeln“ zu können, was sich, so viel sei vorausgeschickt, allerdings als äußerst schwierig erweisen sollte.

 

29./ 30. Mai 2010

 

  Manu teilte mir bereits am Pfingstmontag mit, dass sie sich darauf freue, endlich wieder einige Zeit mit mir zu verbringen. Weil Manu, wie bereits geschildert, zur Familie gehörte, lagen wir uns nie die ganze Zeit gegenseitig auf der Pelle. Wenn sie nicht gerade in der Bibliothek schmökerte, half sie Mam in der Küche, machte sich im Garten zu schaffen oder putzte nebenbei meine Wohnung nebst Gästezimmer. Da ich mit Staubwischen und allem dem verwandten, ständig auf dem Kriegsfuß stand, erfüllten Manus Besuche bei mir somit nebenbei eine ganz praktische Seite. Man merkte ihr an, dass sie über eine längere Zeit gezwungen war, zu Hause den Chef zu spielen.

  Manu traf erst am späten Nachmittag ein. Mam war gerade dabei, den Tisch für das Abendessen zu decken, Manu half ihr dabei. Wir warteten auf meinen Vater, der einen Patienten behandelte, der kurz vor Schließung der Praxis mit einem vereiterten Zahn erschienen war, wie er uns nach seinem Eintreffen erzählte.

  Thema Nummer Eins, die Prüfungen sowie die zu erwartenden Abschlussnoten. An welchen mündlichen Prüfungen wir teilnehmen sollten, war noch nicht bekannt. Manu lobte mich für meine verbesserten Leistungen. Als ich Viola erwähnte, die seither kein Geheimnis mehr darstellte, reagierte sie gereizt.

  „Wenn ICH gemeinsam mit dir lernen wollte, hast du dich öfter gesträubt“, sagte sie beleidigt. Ich nahm das mit Humor, wunderte mich allerdings, dass Dad ungewohnt scharf auf Manus Bemerkung reagierte.

  „Du solltest deine Haltung bitte überprüfen“, sagte er zu ihr. „Dass bei Menschen ab einem bestimmten Alter andere Interessen, als lesen, lernen oder allgemein arbeiten hinzu kommen, das ist völlig normal.“ Mit wem man diese Interessen teile, ob mit dem anderen oder dem eigenen Geschlecht, sei völlig egal, fügte er wenig später versöhnlicher hinzu. Manu schien pikiert. Weil ich sie besänftigen wollte, bot ich ihr an, den überwiegenden Teil der Ferientage gemeinsam mit ihr zu verbringen.

  Wir hatten beide als Leistungskurs Deutsch gewählt. Beide gaben wir Deutsch als Wunschfach für die mündliche Prüfung an. Ob ein weiteres dazu kommt, das würde die Auswertung der schriftlichen Prüfungen ergeben. „Wir gehen den Stoff der letzten beiden Jahre durch“, sagte ich zu ihr, das schien sie beruhigt zu haben.

  „Wir möchten nicht, dass eure lange Freundschaft wegen ganz normaler Lebensumstände, die naturgemäß eintreten, auseinander geht“, fügte Mam ausgleichend hinzu. „Außerdem hatten wir bislang den Eindruck, dass du dich bei uns selbst dann wohl fühlst, wenn Chrissy nicht anwesend ist.“ Für einen Moment lang herrschte Schweigen, bis Dad das Thema wechselte.

  „Wo wir nun kurz vor Ende des Schuljahres alle zusammen sitzen, halte ich die Zeit für angemessen, ein paar Sätze über die Zukunft zu wechseln“, sagte er in nahezu pastoralem Ton. Weil er, während er sprach, meine Mutter anschaute, ging ich davon aus, dass sie sich vorher abgesprochen hatten.

  „Leider will unsere einzige Tochter partout nicht in die Zahnmedizin einsteigen“, nahm meine Mutter den zugeworfenen Ball in die Hände. „Zum Glück gibt es dich“, wand sie sich anschließend Manu zu. „Wie ich weiß, habt ihr beide, mein Mann und du, bereits darüber gesprochen.“

  Tatsächlich wollte Manu Medizin studieren. Sie hatte sich allerdings noch nicht endgültig für eine konkrete Richtung entschieden, wie ich annahm. Aus Mams Worten heraus verstand ich, dass Dad sie bereits angeregt zu haben schien, Zahnmedizin zu studieren und in die Praxis einzusteigen. Zumindest wirkte Manu alles andere als überrascht. Offenbar hatte Dad ihr nahegelegt, nicht mit mir darüber zu reden. Ich war die alleinige Erbin und man erwartete wahrscheinlich von mir, dass ich etwas dazu sagen würde.

  Meine Mutter wollte ohnehin nur bis zum fünfzigsten Lebensjahr Vollzeit arbeiten, was Dad regelmäßig mit der spöttischen Bemerkung quittierte, dass sie ohne die Praxis gar nicht auskäme. Eher werde er derjenige sein, der zuerst in den Ruhestand ginge. Auf jeden Fall schwärmten beide oft davon, nicht zu lange arbeiten zu wollen. Wenn der oder die eine eben länger bei der Arbeit bliebe, ginge der oder die andere allein auf Reisen. Doch waren das allein die gelegentlichen humoristischen Einlagen. In Wirklichkeit war ich mir sicher, dass keiner von beiden die Absicht hegte, jemals etwas ohne den anderen zu unternehmen.

  Ich selbst konnte diesem Beruf nichts abgewinnen, da ich Zahnbehandlungen hasste. In meiner Kindheit wurde um jeden Milchzahn gekämpft, was mich nervte. Mit meinen zweiten Zähnen hatte ich zum Glück bislang nie Probleme und hoffte, dass dies sehr lange so bleiben würde. Manus Traum hingegen, ein Medizinstudium, darauf arbeitete sie fleißig hin.

    Für Manu wäre das ein lukrativer Einstieg. In Punkto Miete oder Pacht, falls sie die Praxis einmal übernehmen sollte, hätte ich nie die Absicht gehabt, ihr das Fell über die Ohren zu ziehen. Meine Eltern besaßen, außer dem Grundstück und den Gebäuden, bereits zwei Mehrfamilienhäuser am Stadtrand mit insgesamt sechzehn Wohnungen, die gute Mieten einbrachten. Das alles würde ich eines Tages allein erben, dazu das Vermögen der Eltern meiner Mutter. Die Praxis mit ihrem Inhalt und dem, was sie vielleicht abwerfen würde, war für mich nie wirklich wichtig. Als ich etwas sagen wollte, hob Dad eine Hand, eine seiner bekannten Gesten.

  „Du bleibst doch bis Sonntag, oder?“, fragte er Manu. Nachdem die nickte, sprach Dad mich an. „Und du hast nichts vor?“ Dass Viola bis zum Sonntag mit ihrer Klasse unterwegs sein würde, hatte ich bereits erzählt, als die Frage des Besuchstermins auftauchte. Ich schüttelte den Kopf. „Dann lassen wir das Gesagte erst einmal sacken und jeder denkt nach.“ Er schaute zuerst mich, danach Manu an. „Vielleicht habt ihr beide heute Abend Zeit, miteinander zu sprechen.“

 

  Nach dem Essen gingen wir einer Lieblingsbeschäftigung nach. Der große Flachbildfernsehapparat hatte geradezu nach einer weiteren Neuanschaffung geschrien, mit der es sich bei diesem Equipment besonders gut spielen ließ, einer Wii. Ich war nie Freundin solcher Spielkonsolen, von denen es bekanntlich verschiedene gibt. Die einschlägigen Spiele für Männlein und Weiblein interessierten mich ebenso wenig. Bei der Wii war das allerdings anders, da man hier verschiedene Sportarten simulieren konnte. Am liebsten spielten wir Tennis unter Namen bekannter Stars.

  Manchmal spielten wir Golf, doch an diesem Tag war uns nach Autorennen. Das ließ sich bequem im Sitzen absolvieren, während man sich beim Tennis durchaus körperlich betätigen musste. Manu war an dem Tag nicht nach Bewegung zumute. Während ich beim Tennis stets die Nase vorn hatte, lagen meine Chancen, beim Autorennen einmal zu gewinnen, normalerweise nahe bei null. Ich war, wie im richtigen Leben, ein ängstlicher Typ, das übertrug sich auf das Verhalten im Spiel. Manu hingegen völlig abgebrüht und draufgängerisch, fast sollte man meinen, dass sie bei diesem Spiel Frust abbaute. Auf jeden Fall verfuhr sie stets nach dem Prinzip: „Augen zu und durch“.

  An diesem Tag gewann ich dreimal hintereinander. Manu war nicht bei der Sache. Mehrmals sah sie mich von der Seite her an, dabei verlor sie das Geschehen auf dem geteilten Bildschirm aus den Augen. Nach dem dritten Spiel warf sie das Lenkrad zur Seite. Offenbar gingen ihr Dads Worte durch den Kopf.

  Der verfolgte unser Spiel von der Couch aus. Aus seinem Giftschrank, wie er die Hausbar nannte, hatte er sich einen Whisky geholt. Mam blätterte vor dem Fenster in einem Magazin.

  „Wenn dir jetzt schon nach Reden zumute ist, sag es einfach, Manu“, sprach ich die Freundin an. „Wir können alles gemeinsam besprechen.“ Weiter an Dad gerichtet: „Wie ich dich kenne, gibt es bereits einen konkreten Plan. Warum willst du damit bis zum Wochenende warten?“ Meine Mutter hatte die Zeitschrift aus den Händen gelegt, nachdem das Gespräch begann.

  „Also gut“, erwiderte der Angesprochene, anschließend öffnete Dad eine Flasche Rotwein. Meine Mutter kam an den Tisch, nachdem er eingegossen hatte. Ich verdünnte den Wein mit Wasser zu einer Schorle, Manu trank Fruchtsaft. Ihr sei es am Tag nach meinem Geburtstag schlecht ergangen. Da trank sie am Abend in meiner Wohnung mehrere Gläser Sekt. In Zukunft wolle sie ihrem Grundsatz, keinen Alkohol anzurühren, wieder treu bleiben, hatte sie mir bereits am Folgetag erzählt.

  Weil Dad mich anschaute, äußerte ich die Gedanken, die mir während des Abendessens durch den Kopf gingen. Von Satz zu Satz hellte sich Manus Gesicht auf. Dad unterbrach mich kurz vor dem Ende:

  „Du weißt doch gar nicht, was wir vor haben“, sagte er. Mam hatte einen ernsten Blick aufgesetzt. „Sag es einfach“, erwiderte ich. Er begann mit dem Satz:

  „Den ganzen steuerlichen Kram, wem gehört was und wer zahlt Miete an wen, lasse ich lieber weg, weil das ohnehin keiner von euch verstehen würde.“ Anschließend teilte er mir mit, worauf er sich zuerst mit Mam, am Pfingstsonntag schließlich mit Manu geeinigt habe. Die werde ein Studium der Zahnmedizin in einer nahe gelegenen Universität aufnehmen. An Manus Aufnahme habe er keinen Zweifel. An freien Tagen werde sie stundenweise in der Praxis assistieren und nach Abschluss des Studiums in die Praxis einsteigen.

  „Wir haben vor, Manuela zu beteiligen“, sagte Dad, den Blick auf mich gerichtet. „Solange wir beide tätig sein werden, zu einem Drittel, nach unserem Ausscheiden soll sie die Praxis allein übernehmen.“ Nun müsse er doch einen Satz zu den steuerlichen Belangen sagen, fügte er hinzu. Die gewerblich genutzten Flächen des Grundstücks seien im Grundbuch bereits vom Wohngrundstück getrennt. Das würde bedeuten, mein Einverständnis als Alleinerbin vorausgesetzt, dass Manu Eigentümerin eines Teils des Gewerbegrundstücks werde. Die Mieten aus den Läden würden nach Eintritt des Erbfalles allein mir zufließen.

  Dad hielt inne, weil ich mehrmals tief durchatmete, Manu zuckte zusammen. „Wenn dir etwas unklar sein sollte, frage bitte, Chrissy“, sagte meine Mutter. Sie sah besorgt aus. Ich vermutete, dass Dad all seine Überredungskünste eingesetzt haben musste, um Mam von dem zu überzeugen, was er gerade äußerte. „Wenn du Einwände haben solltest, dann sag es bitte gleich“, fügte Dad hinzu.

  Ich hatte keine Einwände. „Nein, nein, darum geht es nicht“, entgegnete ich. Das Wort „Erbfall“ machte mir zu schaffen. „Du redest hier über eine Zeit nach eurem Tod“, sagte ich mit erstickender Stimme. „Daran wage ich überhaupt nicht zu denken.“ Ich war den Tränen nah.

  „Dieser Fall kann theoretisch jeden Tag eintreten“, warf Dad ein. Ein irrer Autofahrer, der im Gegenverkehr überhole, Unfälle jeglicher Art, darum müsse man rechtzeitig vorsorgen. „Für diesen Fall haben wir bereits vorgesorgt“, erklärte Dad. Es gäbe eine Vereinbarung mit einem ehemaligen Studienkollegen, der am Universitätsklinikum arbeite, dass dieser in einem solchen Falle mit seiner Frau gemeinsam, die Praxis so lange weiterführen würde, bis Manu flügge sei.

  „Und weil ein solcher Fall jeden Tag eintreten könnte, würden wir gern die eigentumsrechtlichen Angelegenheiten möglichst zeitnah regeln“, fuhr Dad fort. Das würde bedeuten, dass für Manu eine Anwartschaft ins Grundbuch eingetragen wird und ich eine entsprechende notarielle Verzichtserklärung abgeben müsse. Manu und Dad sahen mich gespannt an, Mam schien unsicher, für mich hingegen lag der Fall klar.

  „Du würdest nach heutigem Stand monatlich auf etwa zweitausend Euro Mieteinnahmen verzichten müssen. Aus den restlichen Gewerberäumen und den Wohnungen würden dir etwa achtzehntausend Euro monatlich bleiben, um das Ganze in Zahlen auszudrücken“, sagte Dad. Dem gegenüber würden, Stand heute, dreitausend Euro Zinsen monatlich stehen, die an die Eltern meiner Mutter gingen. Das hatte ich am Rande mitbekommen, als es um die Finanzierung der Wohnanlage ging. Ihr müsst zu keiner Bank gehen, hatte Oma zu Dad gesagt.

  „Aber diese Forderung würde in diesem Erbfall ohnehin direkt an dich übergehen“, fuhr Dad fort.

  „Wieso an mich?“, ich sah meine Mutter an, die schüttelte den Kopf. Ich würde sofort erben, laut Testament ihrer Eltern, sie hätte bereits verzichtet, erklärte meine Mutter. Man müsse doch dem Staat nicht unnötigerweise Erbschaftssteuer zahlen, hätte mein Opa gesagt, wenn man, wie in diesem Falle, einen Erbfall problemlos überspringen könne. Das waren Zahlen, oh Gott, darüber wollte ich nicht nachdenken, über den Erbfall viel weniger.

  „Ja, dann machen wir das so“, sagte ich, ohne zu überlegen. Dad lehnte sich entspannt zurück, Mam sah mich weiterhin unsicher an, und Manu, die sprang mir aus ihrem Sessel heraus an den Hals. Ihr liefen die Tränen.

  „Das willst du …? Das würdest du …? Ach Chrissy …“, die Worte wiederholte sie mehrmals. Nachdem sie beruhigt in ihren Sessel zurückkehrte, sagte ich zu ihr:

  „Es gibt eine einzige Bedingung.“ Dad lächelte, der ahnte wohl, welche, Mam entspannte sich allmählich. Manu nickte verhalten, sie wusste ebenso, welche ich meinte, dennoch sprach ich es aus:

  „Akzeptiere bitte vorbehaltlos meine Beziehung zu Viola. Du musst sie ja nicht unbedingt lieben, ich würde mich freuen, wenn ihr Freunde werden würdet, so wie wir beide miteinander befreundet sind.“ Manu schluckte, das musste sie wohl erst einmal verdauen.

  „Du musst mir heute keine Antwort geben, doch bevor wir zum Notar gehen, hätte ich die schon gern. Und bitte als Versprechen“, fügte ich energisch hinzu. Ein kurzes, spannungsgeladenes Schweigen, welches Mam unterbrach:

  „Wir wollen alle hoffen, dass dieser Erbfall mindestens dreißig oder gar vierzig Jahre auf sich warten lässt. In letztgenanntem Falle stündet ihr beide bereits kurz vor eurer Rente.“

   „Und dass nicht vorher der Kommunismus ausbricht und die uns alles wegnehmen“, fügte Dad lachend hinzu, bevor er den Weg zu seinem Giftschrank antrat. „Du einen Cognac, Thelma?“, fragte er Mam, die nickte. „Ich Rotwein pur“, mein Glas war geleert. Selbst Manu bat um ein frisches Glas mit einem Schluck Rotwein darin.

  „Ich habe schon darüber nachgedacht, Chrissy“, sagte Manu leise zu mir, nachdem wir anstießen. „Ich meine, die Frau Kirchner war im Unterricht immer sehr nett zu mir, warum sollten wir … Warum sollte ich nicht …?“

  „Sag Viola, Manu, nicht Frau Kirchner“, half ich meiner Freundin. „Sie würde dir, falls du ihr hoffentlich bald begegnen solltest, sicher gleich das Du anbieten.“

  „Blende einfach aus, dass unsere Tochter in einer gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehung mit Viola steht, falls dir das Probleme bereiten sollte“, schaltete Mam sich ein. „Für uns macht das keinen Unterschied, ob sie einen Mann oder eine Frau liebt.“

  Manu schüttelte den Kopf. Erneut rannen ihr die Tränen über die Wangen. „Nein, das ist es nicht … Ich hatte Angst … Ich dachte …“

  „… Das Chrissy nichts mehr von dir wissen will“, unterbrach Mam Manus Stottern. Da fiel sie mir abermals an den Hals, sie küsste sogar meine Wangen. Ich fing selbst an zu weinen. Sie sei mir so dankbar für alles, sagte Manu mehrmals.

  „Nicht dass du jetzt deine Liebe

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 20.05.2015
ISBN: 978-3-7368-9587-4

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Chrissys Tagebuch Mit herzlichem Dank an meine Co-Autorin Julia S., die mir die Vorlage für diese atemberaubende Liebesgeschichte lieferte. Den Roman widme ich auch Thomas, der nicht den Mut fand, zu seiner Homosexualität zu stehen und mit siebzehn Jahren aus dem Leben schied.

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