Cover

Prolog

Seine Hand hielt ihre so fest er konnte, doch er spürte wie sie immer kälter wurde. Er strich ihr die losen Strähnen ihrer Haare aus dem Gesicht und spürte erst, dass er weinte, als seine Tränen auf ihre Wangen fielen.

Das hier war keine schöne Nacht zum Sterben.

Hinter sich hörte er ein Röcheln, doch er drehte sich nicht um. Es war ihm egal. Wenn Jeff ihn jetzt auch noch umbrachte, würde er sich nicht wehren.

Aber Jeff würde niemanden mehr umbringen. Sein Röcheln kam von dem Blut, seinem Blut, dass langsam seine Lungen füllte und ihn langsam erstickte. Als würde er ertrinken, ohne unter Wasser zu sein.

Wie lange saß er wohl auf dem kalten, nassen Waldboden, mit ihrem Kopf in seinem Schoß? Bis sein Körper taub, bis alle Tränen versiegt und jedes Geräusch verstummt war. Oder noch länger. Hinter den dicken Wolken kam ab und an der runde Mond zum Vorschein und leuchtete durch das dichte Blätterdach zu ihnen. Es war gespenstisch.

Und als zwischen ein paar Fichten eine Frau auftauchte, wusste er, dass sie dort hin gehörte. Sie trug ein seidenes Kleid in der Farbe des Mondlichts und ihre Haare waren so hell, dass sie ebenso silber wirkten. Und Lucas wusste, dass er zu ihr gehen musste.

„Wenn es nicht ab und an Menschen geben würde, die so lieben wie sie dich liebt, wäre die Welt hoffnungslos verloren.“ Die Stimme der Frau war nicht mehr als ein Rascheln der Blätter. Ein Geräusch, vom Wind hierher getragen. Und doch stand er auf und folgte ihrer Stimme, bis er selbst im Kegel des silbernen Mondlichts stand und wusste, dass er ebenso gespenstisch aussah, wie sie es tat. „Ich liebe sie genauso. Sie ist alles.“

Ein trauriges Lächeln schlich sich auf die zarten Züge der Frau, die kein Alter zu haben schien. „Ich weiß, Lou, deswegen bricht es mir ja auch das Herz.“

Er schüttelte den Kopf. „Sie ist nicht tot. Sie kann nicht tot sein. Ich brauche sie.“ Wie ein Mantra wiederholte er die Worte. Immer und immer wieder, doch als er sich umdrehte und zu ihrem leblosen Körper sehen wollte, war er verschwunden. Und Jeff mit ihr. Er wollte sich umdrehen und sie suchen, wollte durch den Wald rennen und jeder Spur folgen, doch die weiße Frau streckte ihre Hand aus und hielt ihn zurück. „Du musst nach Hause gehen, Lou. Deine Mutter wartet auf dich.“
Er sah in die dunklen Augen der Frau, die das einzig dunkle an ihr waren, und nickte langsam. „Meine Mutter“, wiederholte er nickend und fragte sich sogleich, wieso sich diese Worte so seltsam in seinem Mund anfühlten. „Sie liebt dich, Lou“, erklärte die Frau und er nickte erneut. Natürlich liebte sie ihn. Jede Mutter liebte ihr Kind. „Vergiss das nicht.“ Ihre Finger strichen hauchzart über seine Wange, dann verschwand sie. Aufgelöst im Licht des Mondes. Einen Moment da, im nächsten verschwunden. Und der Mond verschwand hinter der nächsten Wolke.

Er verwandelte sich. Auf sanften Pfoten umrandete er die Lichtung und obwohl er tief im inneren spürte, dass etwas fehlte, erinnerte er sich nicht mehr daran, was es war. Es war wichtig, aber es war auch weg.

Und dann lief er los, jagte durch den Wald und wusste, dass das erste, was er tat, wenn er sein Zuhause erreichte, seine Mutter zu umarmen, war.

 

Erstes Kapitel - Das Rudel

Einen Moment stand er einfach nur da, bewegte sich nicht. Dann blies er den Rauch in die Nachtluft, zog noch einmal an der Zigarette und schnippte sie dann auf die Straße. Als er sich abwandte, sprang sie aus dem Schatten auf ihn zu. „Lucas!“, rief sie.

Zögernd blieb er stehen und drehte sich zu ihr um. Misstrauen lag in seinem Blick. Mit der Lederjacke und den zerzausten Haaren sah er verwegen aus. Er machte keine Anstalten etwas zu sagen, stattdessen musterte er sie ganz genau.

„Ich möchte dem Rudel beitreten.“ Sie hob ihr Kinn an, sah ihn ernsthaft an, hoffte, dass er ihr schnell schlagendes Herz nicht falsch deutete.

Ein abfälliges Grinsen legte sich auf seine Lippen. „Sorry, keine Mädels in der Band.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ihr müsst eine Ausnahme machen.“

„Spielst du überhaupt ein Instrument?“ Ihr war klar, dass er nur so tat, als würde er ernsthaft darüber nachdenken. Sie verlor die Geduld.
„Ich rede nicht von Musik, verdammt!“

Er hob eine Augenbraue, sah sie fragen an. „Aha.“ Mehr sagte er nicht.

„Bist du der Rudelführer oder nicht?“
In einem Wimpernschlag schlug die Stimmung um und er wurde vom Musiker zum Raubtier. Schnell sah er sich um, dann packte er ihre Arme und schubste sie an eine Hauswand. Sie spürte die kalten, rauen Steine im Rücken, als ihr die Luft wegblieb, doch er ließ sie sich keinen Zentimeter bewegen. „Was willst du?“, knurrte er.

„Ich will ins Rudel. Das meine ich ernst.“ Sie erkannte ihn nicht wieder. Er sah aus wie Lucas, doch die Kälte in seinem Blick, die Anspannung in seinen Muskeln und das Beben, dass durch seinen Körper ging, hatten nichts mehr gemein mit dem Mann, den sie liebte. „Ich erzähl dir gerne die ganze Geschichte, aber zuerst lässt du mich los.“

Seine Kiefermuskeln traten deutlich hervor. Sie konnte sehen, wie seine Nasenflügel bebten, als er tief einatmete. „Ich werde dich fressen“, sagte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Du bist nicht gerade mein Typ, aber ich werde wohl eine Ausnahme machen.“

Sie war sich nicht sicher, ob er bluffte, aber sie musste es einfach wagen. „Wirst du nicht. Du hast dich auch ohne das Opferbringen unter Kontrolle.“
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Als sie das kurze Zögern registrierte, riss sie sich los. „Bring mich zu den anderen.“
„Ganz sicher nicht.“ Er schien sich wieder unter Kontrolle zu haben. Lässig verschränkte er die Arme vor der Brust und sah sie so herausfordernd an als wolle er sagen: Probier's doch!

Ihn so zu sehen tat verdammt weh. Nichts wollte sie lieber als sich in seine Arme zu werfen, zu weinen und ihm zu sagen, dass sie ihn liebte. Es war schwer zu akzeptieren, dass er zwar aussah wie ihr Lucas, es aber nicht war. Das einzige was sie stark bleiben ließ, war die Hoffnung, dass er ohne die ganze Schuld und den Selbsthass glücklicher war und dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, als sie ihre Magie eingetauscht hat. Sie erinnerte sich noch ganz genau an Hekates mitleidigen Blick als sie sie fragte, ob sie sich sicher war. Und ihre feste Stimme, als sie der Göttin mit Ja antwortete. Auch heute war sie sich noch sicher.

Sams Blick glitt nach oben, sie sah zwischen den Häuserdächern den Mond. Ihm war seit gestern ein kleines Stück verloren gegangen. Der Kreis war nicht mehr voll. Ob seine Magie trotzdem ausreichen würde? Tief in ihrer Brust spürte sie die Liebe, die mehr wehtat als dass sie sie glücklich machte. „Ich frage mich, Lucas, wie gut du dich unter Kontrolle hast.“

Sie machte einen Schritt direkt auf ihn zu. „Und ich frage mich, wie verschwiegen du sein kannst.“ Ein weiterer Schritt in seine Richtung. „Hältst du dich für ein Monster?“
Er grinste. „Ich bin dein schlimmster Albtraum.“

„Das glaube ich dir nicht“, sagte sie.

„Was glaubst du dann?“
„Ich glaube, dass du ein besserer Rudelführer bist, als du selbst vermutest. Und dass du zweifelst, ob ich nicht vielleicht doch die Wahrheit sage.“

Seine Augen funkelten wütend. Sie war ihm also zu nah gekommen. Drei Schritte trennten sie noch, das war seine Grenze. Wahrscheinlich reichte eine Gewichtsverlagerung damit er explodierte. „Es gibt keine Mädchen, die zu uns gehören.“
Belustigt stellte sie fest, dass er immer noch drum herum redete, statt es einfach auszusprechen. „Gestern war Vollmond, und mein achtzehnter Geburtstag.“
Ganz leicht bewegte sich sein Kopf zur Seite. „Glückwunsch“, knurrte er.

Sie wagte es einfach. Jede Faser ihres Körpers war zum zerreißen gespannt, jeder Muskel zog sich zusammen. Sie war erstaunt, wie stark sie über Nacht geworden war. Die übliche Tollpatschigkeit war einfach verschwunden. Anscheinend war das Hekates Art, sie für ihre Heldentat zu belohnen. Oder sie hatte einfach Mitleid mit ihr gehabt.

Sie brachte den Schritt nicht zu Ende, als es ihn schon von den Füßen riss. Unglaublich schnell hatte er sich verwandelt und setzte zum Sprung an. Sam sprang zur Seite, warf sich auf den Boden und dann hatte auch sie sich verwandelt. Er merkte es zu spät, konnte seinen Sprung nicht mehr abbremsen und knallte mit voller Wucht gegen sie. Zusammen schlitterten sie einige Meter über den Boden, dann sprang Sam schnell wieder auf ihre Pfoten, schüttelte sich kurz und kauerte sich schon knurrend vor ihn, während er sich erst wieder auf die Beine kämpfte. Sie war vielleicht nicht stark, aber sie war schnell. Und sie liebte das Geräusch ihres Knurrens. Es klang genauso bedrohlich wie das jedes anderen Wolfes. Adrenalin rauschte durch ihre Adern und sie hatte das Gefühl, sich noch nie besser gefühlt zu haben.

Lucas stand einfach vor ihr und musterte sie. Sie sah die Klarheit in seinem Blick und war sich sicher, dass er keine Blackouts hatte. Er war der Wolf, der er immer versucht hatte zu sein.

Und dann stand er plötzlich als Mann wieder vor ihr, fuhr sich durch die Haare und sie konnte die Unsicherheit förmlich riechen, die ihn umgab. Sie verwandelte sich auch zurück, allerdings lange nicht so elegant wie er. Es raubte ihr den Atem und sie stolperte, fing sich nur schwer wieder und musste sich an der Hauswand abstützen. Na toll, das hatte sie sich einfacher vorgestellt.

„Verdammt!“, keuchte er ebenfalls atemlos, „du hast dich gestern erst verwandelt?“
Sie nickte. Seine Wut schien verraucht zu sein.

„Komm“, sagte er und sie folgte ihm schnell durch die schwere Metalltür. Der Keller sah völlig anders aus. Der Raum war kleiner, darüber prangte ein Schild auf dem „Backstage“ stand, mehrere Sofas waren in der Ecke zu einem Kreis aufgestellt. Im vorderen Bereich, das wusste Sam von den Schildern draußen, war jetzt ein Club mit einer Bühne, wo „The Pack“ einmal die Woche spielte. Sie entdeckte seine Gitarre, die ihren eigenen Platz auf der Couch zu haben schien.

Jemand stieß einen anerkennenden Pfiff aus, als sie näher kamen. Sam sah, dass es Mike war. „Das wäre dann schon Nummer Drei heute.“ Er klatschte in die Hände.

„Halt die Klappe“, fuhr Lucas ihn an. Sam sah ihm an, wie angespannt er war. Sie ging an einem Spiegel vorbei und sah sie kurz so, wie die anderen sie sehen mussten: Zerzauste Haare, keuchend. Es war eindeutig, was sie dachten. Sam konnte nichts dagegen tun, dass ihr die Röte in die Wangen stieg.

„Sam?“, fragte Matt ungläubig und stand auf.
„Hinsetzen“, fauchte Lucas sofort. Matt setzte sich, auch wenn er dabei wütend aussah.

Lucas blieb vor dem Kreis stehen, verschränkte die Arme und sah Sam an, als hätte er es sich doch anders überlegt und wolle sie auf der Stelle verspeisen.

Ihr war es egal. Sie wandte sich den Jungs zu. Mike, John und Matt. Als sie ihren Bruder ansah, legte sich ein bitterer Geschmack auf ihre Zunge, aber sie schluckte ihn schnell herunter und lächelte. „Hey Leute, ich bin Sam.“
„Hallo Sam“, begrüßte Mike sie herzlich. Er stand auf, ignorierte gekonnt Lucas bösen Blick. Als er Sam die Hand schüttelte, ließ er sie nicht los sondern zog sie neben sich auf die Couch. „Also Sam, dann erzähl uns doch mal wie du es geschafft hast, unseren Luke so aus der Fassung zu bringen.“

Sam sah ihn lächelnd an. Mike war immer noch Mike. „Ich glaube, ich habe sein Weltbild zerrüttet.“

Lucas setzte sich endlich hin, stütze die Ellbogen auf seine Oberschenkel und legte sein Gesicht in seine Hände. Er seufzte deutlich hörbar und so, als müsse er sich zusammenreißen, um nicht auszurasten.

„Hat sie das, Luke?“, fragte Mike. Er schien sich in seiner Rolle als Moderator deutlich wohl zu fühlen, während John und Matt aussahen, als wollen sie am liebsten im Erdboden versinken.

Lucas atmete tief ein, bevor er in dem bedrohlichsten Ton, den Sam je gehört hatte, sagte: „Mike, ich raste gleich...“, aber Mike unterbrach ihn einfach: „Wir führen gerade ein sehr interessantes Gespräch und entweder beteiligst du dich vernünftig daran oder du lässt es ganz.“

Sam musste unwillkürlich lächeln. Lucas warf ihr einen Blick zu, der sie hätte töten können, doch das war ihr egal.

„Also“, fuhr Mike fort, „fangen wir mit etwas leichtem an. Ist sie deine Nummer Drei heute, Luke?“
„Ich hab keinen Bock auf dieses...“

Wieder unterbrach Mike ihn: „Ist sie oder ist sie nicht?“
„Nein“, zischte Lucas.

Mike nickte zufrieden. „Gut, das erklärt deine Gereiztheit. Hast du ihn abblitzen lassen, Sam?“

„Nein“, entfuhr es ihr etwas zu schnell, woraufhin Lucas eine Augenbraue hob.

„So, und was ist dann euer Problem?“, fragte Mike.

„Sam hatte gestern Geburtstag. Sie ist achtzehn geworden. Und sie ist ein Wolf“, erklärte Lucas, erleichtert, endlich einmal zu Wort kommen zu können.
Es herrschte ungläubiges Schweigen. Matt starrte sie mit offenem Mund an, John sah eher feindselig aus und Mike sah aus als würde er darauf warten, dass sie ihm erzählte, dass Lucas einen Witz gemacht hatte.

„Er hat Recht“, gab sie zu und war plötzlich etwas verlegen. Es herrschte Totenstille. Sam nutzte die Zeit um sich umzusehen. Der Kellerraum sah besser aus, nicht mehr wie das Geheimversteck einer Gang. Es gab eine Bar, die in Neonlicht leuchtete. An den Wänden hingen Poster anderer Bands, der Boden war dunkler Granit, in einer Ecke stand eine riesige Anlage. Alles sah teuer aus. Das Beste vom Besten. Also hatte Lucas vollen Zugriff auf das Konto seiner Eltern. Wahrscheinlich hatte er auch den Porsche, den Pool im Keller und eine Sammlung von Gitarren.

Es war John, der seine Stimme als erstes wiederfand und Lucas fragend ansah. „Aber wie geht das?“

Lucas schüttelte den Kopf.

Sam merkte, dass Matt sie ansah und versuchte, ihren Blick aufzufangen, aber sie ignorierte ihn. „Es ist doch egal, wie. Fakt ist, ich kann mich in einen Wolf verwandeln. Also entweder nehmt ihr mich in euer Rudel auf oder ich ziehe nachts alleine durch die Straßen. Vielleicht werde ich erwischt, vielleicht töte ich jemanden, weil ich Blackouts habe. Vielleicht rutscht mir auch irgendwann einmal aus, dass ich euch kenne.“

Lucas sprang auf. Von einer Sekunde auf die andere war er wieder das Raubtier und Sam sah das Zittern, als er seine Hände zu Fäusten ballte. Zwischen ihnen war nicht mehr als der Tisch. „Du versuchst mir zu drohen?“
„Beruhig dich, Lucas“, sagte Mike.
„Ich will dich überzeugen.“ Sam sah zu ihm auf. Sie wollte aufstehen, aber ihr war bewusste, dass sie so oder so in der Rangordnung unter ihm war, also sollte sie sich auch so verhalten.

„Ganz schön mutig hier eine so große Klappe zu haben, umgeben von vier Wölfen. Ich muss nur mit dem Finger schnippen und sie würden dich zerfleischen. Du würdest diesen Keller in einer Millionen Einzelteile verlassen.“ Noch immer pumpte das Adrenalin durch seine Adern und Sam genoss es, ihn so zu reizen. Sie hörte nicht auf ihn herausfordernd anzusehen und auch ihr Körper bebte.

„Lucas, bitte, reiß dich zusammen. Wieso sollten wir ihr was tun?“ Mike war immer noch darauf bedacht die Situation zu retten, Sam wusste, dass es aussichtslos war. Sie würde sich nicht beruhigen und Lucas auch nicht. Dafür kochten gerade viel zu viele Emotionen in ihr hoch. Sie war sauer auf ihn, weil er sich an nichts erinnerte. Sie war sauer auf Matt, weil er hier saß als wäre nichts gewesen, als hätte er sie nicht verraten und als wäre er nicht gestorben. Und sie war stinksauer auf sich, weil sie Lucas ansah und ihr Herz sich überschlug.

„Ich habe keine Angst vor dir, Luke.“ Ganz langsam stand sie auf und schüttelte Mikes Hand ab, mit der er sie zurückhalten wollte.

„Solltest du aber.“ Er grinste, weil er wusste, was kommen würde.
Matt war stocksteif. „Bitte zerfleisch sie nicht, Luke, bitte.“

Sam sah Lucas ganz ruhig an. Sie sah sein überhebliches, zufriedenes Grinsen. Sah wie er versuchte, möglichste lässig zu wirken, damit sie seine Anspannung nicht bemerkte. Und sie sah, dass er wusste, wie überlegen er ihr war. Und er unterschätzte sie. Sam hatte ihn schon oft kämpfen sehen. Sie wusste, dass er ihre Schwächen auslotete und dann blitzschnell zubiss. Und er biss nie in die Beine.

Sie ging an Mike vorbei, dann verwandelte sie sich. Die anderen schnappten nach Luft, Lucas lächelte zufrieden, als hätte er den Kampf bereits gewonnen.

Sam kauerte sich zusammen, duckte sich, bereit zum Sprung, sobald Lucas sich auch verwandelte. Doch dann überraschte er sie. „Was, wenn ich mich nicht verwandle? Was machst du dann? Du wirst mich doch nicht so angreifen, oder?“ Sein herausfordernder Blick ließ sie Knurren. Er legte den Kopf schief und grinste.

„Egal was für ein Talent du zu haben scheinst, ohne Disziplin und Übung wird es dir nicht helfen. Alleine würdest du es nicht schaffen. Du solltest mich auf Knien anflehe, statt leere Drohungen auszusprechen.“
Sam war kurz verunsichert. Sie überlegte, sie zurückzuverwandeln, doch dann würde sie wie ein impulsiver Idiot aussehen. Und wenn sie einfach ging? So bekam sie die Tür nicht auf. Sie hasste ihn und er wusste das, sonst würde er nicht so siegessicher grinsen. „So wie es aussieht, muss ich dir Marnieren beibringen.“

Und dann hatte er sich so schnell verwandelt, dass sie es erst merkte, als er seine Zähne in ihre Seite grub. Sie quietschte auf, war kurz zu überrascht um zu reagieren, dann schnappte auch sie nach ihm und schmeckte sein Fell in ihrem Maul. Er ließ sich nichts anmerken. Seine Zähne gruben sich tief in ihr Fleisch, dann ließ er plötzlich los, rammte sie mit vollem Gewicht und riss ihr den Boden unter den Füßen weg.

Sie knallte auf den Rücken und schlitterte einen Meter weiter, dann war er schon über ihr, die Zähne direkt an ihrer Kehle. Sie spürte den Schmerz, er war schwer zu ignorieren und überdeckte alles, und doch gab sie nicht auf, sondern knurrte. Ihr Knurren riss sie aus ihrer Benommenheit. Sie schnappte nach ihm und kurz kämpften ihre Schnauzen miteinander, dann spürte sie, wie einer ihrer Zähne seine Haut aufschlitzte und sie schmeckte Blut.

Er knurrte so bedrohlich, dass sie erschauderte.

Der kurze Moment der Klarheit, der sie aus dem Blutrausch holte, ließ sie den Schmerz um so deutlicher spüren. Er flammte in ihr auf und sie konnte nichts dagegen tun, dass sie sich zurückverwandelte. Ihre Hand griff zu der Wunde und sie spürte Blut zwischen ihren Fingern. Ihr Gesicht war dem Boden zugewandt und sie hatte die Augen zusammengekniffen. Der Schmerz ließ sie alles vergessen. Wäre er nicht gewesen, hätte sie wahrscheinlich geweint und wäre davongelaufen, doch sie konnte sich nicht rühren.

„Steh auf“, befahl Lucas ihr. Sie reagierte nicht. Ob sie wohl verbluten würde? Sie traute sich nicht die Wunde anzusehen.

Jemand griff nach ihrer Hand und zog sie hoch. Erst als sie stand, merkte sie, dass es Matt war. „Komm mit“, sagte er sanft, legte ihr einen Arm um die Taillie und führte sie aus dem Raum. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Lucas über der Spüle lehnte, dann wandte sie den Blick schnell wieder ab.

Matt führte sie in ein Bad und wies sie an, sich auf die Waschmaschine zu setzten. Mit seiner Hilfe gelang es ihr. Das erste Mal sah sie an sich herunter. Ihr Shirt war zerrissen und ein großer Blutfleck darauf, doch es war lange nicht so viel wie sie vermutet hatte. Es tat unendlich weh, aber es war nicht mehr als ein einfacher Biss. Genauso gut hätte er ihr Fleisch herausbeißen können. Oder sie töten. Darüber dachte sie lieber nicht nach.

Matt zog ihr vorsichtig das Shirt über den Kopf und begann dann, das Blut mit einem Lappen abzuwischen.

„Wie lange weißt du es schon, Matt?“, fragte sie ihn.
Er sah sie nicht an. „Was weiß ich?“

Sie schnaubte. „Du brauchst mir nichts vormachen. Ich weiß, dass du mit Dad gesprochen hast. Wieso hast du mir nichts davon gesagt?“

„Bitte Sam, ich wusste nicht...“

Sie unterbrach ihn. „Natürlich wusstest du es!“
Seine Hände zitterten etwas, doch das war ihr nur recht. Sollte er sich schlecht fühlen, so wie sie sich gefühlt hatte als sie erfuhr, dass der Junge, der seit dem Kindergarten ihr bester Freund war und in den sie lange Zeit verliebt gewesen war, eigentlich ihr Bruder und ein Werwolf war.

„Woher weißt du es?“ Endlich sah er sie an und sie sah unendliche Traurigkeit und Reue in seinen Augen. Die Augen, die auch ihr Vater hatte.

„Unwichtig“, erwiderte sie. Er kramte aus einer Schublade ein riesiges Pflaster und klebte es über ihre Wunder. So wie sie vorbereitet waren und so routiniert wie Matt war, mussten solche Wunde öfter vorkommen. Sam erinnerte sich an Lucas Bein, das völlig zerfetzt gewesen war. Ein Wunder, dass keine Sehne gerissen war. Da hatte sie ihn das erste Mal außer Fassung gesehen und über seine Lippen war damals kein einziger Schmerzlaut gekommen. Zumindest bis zu dem Punkt an dem ihre Mutter die Wunde desinfiziert hatte.

„Lass uns den anderen nichts davon sagen, okay?“ Matt sah sie besorgt an, während er den Lappen wusch.

„Ich bin mir sicher, dass Lucas es schon weiß.“

Er sah sie mit hochgezogener Augenbraue an.
„Er hat es bestimmt gerochen“, erklärte sie schulterzuckend.
„Was ist nur mit dir passiert, Sam?“ Er fuhr sich durch die blonde Haare. Sam wollte ihn in den Arm nehmen, doch sie schaffte es nicht. Auch wenn das nicht der Matt war, der sie verraten hatte, fühlte es sich dennoch komisch an. Vielleicht würde dieser Matt es ebenso tun? Wann hatte er sich so verändert und aufgehört ihr bester Freund zu sein? „Ich bin groß geworden, Matt, genau wie du.“ Sie war überrascht wie hart ihre Stimme klang. Sie rutschte von der Waschmaschine und stand auf.

„Das kannst du anziehen“, sagte er und reichte ihr ein Shirt. Sie zog es über. Es war ihr egal. Ihr war alles egal. Sie wäre auch in Unterwäsche gegangen.

Sie ging durch den Flur und sah, dass es geradeaus in den Club ging. Links war der Backstageraum. Rechts führte eine Treppe nach oben.

Es war merkwürdig. Die Tatsache, dass Lucas Mutter noch lebte, hatte dafür gesorgt dass er die Band weiterführte und auch, dass er einen eigenen Club hatte.

Sie hörte Matts Schritte hinter sich und bog links ab. Mike saß noch auf seinem Platz auf der Couch, John war verschwunden und Lucas saß auf einem Barhocker, hielt sich ein Kühlpack vor die Lippe und starrte gedankenverloren ins Licht.

„Alles in Ordnung?“, fragte Mike flüsternd. Sam nickte. Sie wollte noch etwas sagen, doch Mike zeigte ihr schnell, dass sie leise sein sollte. Sie ging zu ihm und setzte sich neben ihn.
„Er denkt nach“, erklärte er ihr und nickte in Lucas Richtung.

Matt kam rein und nahm sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Dann lehnte er sich an die Bar und ließ den Blick schweifen.

„Hast du was auf den Schädel bekommen, Luke?“
„Sei still“, antwortete er eher genervt als wirklich böse. „Denk lieber mal darüber nach wie du uns erklärst, dass du eine Schwester hast.“

Matt sog scharf die Luft ein, Sam warf ihm einen Ich-habs-dir-doch-gesagt-Blick zu und Mike sah sie mit schief gelegtem Kopf an. „Ihr seid euch aber nicht ähnlich.“
„Auf jeden Fall kann Sam besser kämpfen“, sagte Lucas. Sie alle sahen ihn überrascht an, doch er tat, als würde er es nicht bemerkten. „Und sie jammert nicht“, fügte Mike hinzu und sah kurz auf Sams Bauch. Das Blut war durch das Pflaster und das Shirt gesickert.

Lucas folgte Mikes Blick und kurz begegneten sich seiner und Sams. Sie sah keine Reue darin, aber auch keinen Stolz. Wie sie wusste, dass er sich nicht dafür entschuldigen würde, so wusste er, dass sie sich ihm nicht unterworfen hatte.

Sam dachte darüber nach, dass sie hätte sterben können und doch wusste sie, dass sie es dennoch nicht getan hätte. Matt und John haben sich ihm ganz sicher unterworfen, bei Mike war sie sich nicht sicher.

Das zwischen den beiden war mehr als die Beziehung unter Rudelmitgliedern. Mike war einer der wenigen, der ihm die Stirn bieten konnte und der es auch tat. Er war ruhiger, ausgeglichener und weniger impulsiv, nicht so verwöhnt und auch nicht so unkontrolliert und er war Lucas bester Freund. Sam musste die beiden nur ansehen und sie wusste, dass sich in dem Punkt nichts geändert hatte.

Lucas legte das Kühlpack weg und sie sah sofort die angeschwollene Lippe und den Schnitt, den einer ihrer Zähne hinterlassen hatte. „Sexy, oder?“ Er hatte ihren Blick gespürt und sah sie jetzt herausfordernd an. „Geht so“, erwiderte sie, auch wenn sie am liebsten Ja geschrien hätte. Mike kicherte.

„Wenn du willst kann ich dir noch ein blaues Auge verpassen, dann kommst du noch besser bei den Mädels an. Kannst ihnen eine spannende Story darüber auftischen, wie du allein gegen zehn Männer gekämpft und gewonnen hast. Oder gegen einen Grizzly.“
Lucas warf ihr nur einen kurzen, amüsierten Blick zu, in dem er ihr ganz klar zu verstehen gab, dass sie es nur seiner Gnade zu danken hatte, dass sie noch lebte.

Matt warf sich eine Hand vors Gesicht, weil er wohl nicht glauben konnte, dass seine Schwester eine so große Klappe bekommen hatte.

Mike kicherte immer noch. „Ganz ehrlich, Sam, ich mag dich.“
Sie grinste ihn an. „Irgendeiner muss ihm doch sagen, dass er nicht der tollste Hecht im Teich ist, oder?“

„Ich glaube, dafür ist es schon zu spät.“ Mike zuckte nur mit den Schultern und grinste sie schief an. Sam spürte, wie ihre Muskeln sich entspannten. In Mike schien sie einen Verbündeten gefunden zu haben. Sie würde das ganze schon hinbekommen. Lucas blieb weiterhin ein Arschloch und sie würde es schaffen, dass er nicht mehr war als ihr Rudelführer. Matt würde einfach nur ihr Bruder sein. Es gab jetzt keine Probleme mehr. Ihr Leben würde vollkommen einfach sein, bis auf die Tatsache, dass sie sich in einen Wolf verwandelte. Aber das war noch das normalste.

„Es ist spät, Sam, soll ich dich nach Hause bringen?“ Matt hatte sich von der Bar abgestoßen und stand vor ihr.

Sie wollte ihm gerade sagen, dass sie gut auf sich selbst aufpassen konnte, doch dann dachte sie daran, dass es eine gute Gelegenheit wäre, sich mit ihm zu unterhalten und sie nickte.

Zweites Kapitel - Coole Kids

„Tanzen?“, fragte sie skeptisch und sah ihren Bruder misstrauisch an. „Du willst, dass ich tanzen gehe?“ 

„Mit mir natürlich. Also eigentlich mit uns allen. Das ist doch eine gute Gelegenheit uns alle besser kennenzulernen.“ Seine Stimme war wie immer purer Sonnenschein. Matt strahlte Freude aus, mit seinem Dauerlächeln und den strahlend blauen Augen. Aber Sam konnte spüren, dass dieses Lächeln etwas anderes überdecken sollte. „Außerdem kann sich niemand von euch verwandeln, wenn der Laden voll ist.“

Sie kniff die Augen zusammen und starrte ihn böse an. „Darum geht es also. Du hast Angst, dass ich die Kontrolle verliere. Dass ich vielleicht Amok laufe.“

Beschwichtigend legte er ihr einen Arm um die Schultern. Sie roch ihren besten Freund, ein Geruch, der ihr vertraut war und ihr Sicherheit versprach. Und sie roch den Wolf, der sich hinter dem hübschen Gesicht versteckte. „Komm einfach mit, Sam. Lass uns einen schönen Abend haben. Bestimmt werden auch ein paar Leute aus der Schule da sein.“

Widerwillig nickte sie. Er hatte Recht. Sie konnte die Wände ihres Zimmers nicht mehr ertragen und es war Zeit, dass sie sich den anderen stellte. Und wenn Lucas sie wieder fortscheuchte, dann würde sie es eben nächstes Mal wieder versuchen. Irgendwann würde er sie schon aufnehmen.

 

In hohen Schuhen, kurzen Shorts und einem weißen Oberteil klopfte sie an die schwere Eisentür. Sie hoffte, dass man es hören würde.

Einen Moment dauerte es, dann wurde die Tür aufgemacht. John trat beiseite, murmelte „Hi Sam“ und ließ sie durch. Er sah sich irgendeine Doku an, ansonsten schienen alle im Club zu sein.

Sie warf noch einen kurzen Blick in den Spiegel, dann verließ sie den Backstagebereich.
Und rannte im dunklen Flur fast in jemanden rein. Sie erkannte Lucas an seiner Stimme bevor sie ihn sah. „Mach doch die Augen auf“, fluchte er.
Sam brauchte eine Sekunde um sich zu sammeln, dann erkannte sie, dass er nicht alleine war. „Ekelhaft, nehmt euch ein Zimmer.“ Sie ignorierte die Blicke der beiden und ging schnell weiter. Lucas, wie er irgendein Mädchen ableckte, gehörte eindeutig nicht zu ihrer Definition von einem schönen Abend.

Sie stieß die Tür zum Club auf und war froh, in einer dunklen Ecke zu stehen. Von da aus verschaffte sie sich einen kurzen Überblick. Die Tanzfläche war brechend voll, auf der Bühne stand ein DJ mit seinem Pult, die Leute an der Bar hatten alle Hände voll zu tun und Matt konnte sie nirgendwo entdecken. Dafür sah sie drei Mädels aus ihrer Klasse. Sie atmete kurz tief ein und bahnte sich dann einen Weg zu ihnen.

„Sam!“, rief Magret aufgeregt und umarmte sie. Kira schloss sich ihr an, nur Abbey war nicht nach einer fröhlichen Begrüßung.
Sam machte sich von den beiden los und ging zu ihrer Freundin. „Ich weiß, ich war in letzter Zeit eine grauenhafte Freundin, aber gib mir eine Chance und ich mache es wieder gut.“

Abbey lächelte zögernd. „Du weißt, dass ich dir nicht böse sein kann.“ Dann schlang sie doch ihre Arme um sie.
Für Sam fühlte sie sich an wie eine federleichte, wunderschöne Elfe. Sie hatte ihr kupferrotes Haare in sanften Locken herunterhängen, was ihr Gesicht noch viel puppenhafter wirken ließ. „Es gibt hier drei Männer, die für dich Tabu sind, verstanden?“

„Drei?“, fragte Abbey erstaunt. Sie sah neugierig aus, aber nicht wütend. „Willst du mir vielleicht etwas erklären?“
„Nicht so wie du denkst“, lachte Sam. „Also, Nummer eins ist Matt.“
Abbey nickte. Das schien für sie nichts neues zu sein.

„Nummer zwei ist Mike und Nummer drei Lucas. Also: Finger weg, okay?“

„Nur wenn du sie mir vorstellst.“ Abbey grinste.

Sam wollte verneinen, als sich ein Arm um ihre Hüften legte. „Hallo, einsame Wölfin“, raunte Mike ihr zu. Sie roch Alkohol in seinem Atem, doch sie konnte nicht sagen, wie viel er getrunken hatte. Seit ihre Nase so sensibel war, war es schwierig eine leichte Note von Gestank zu unterscheiden.

„Hi Mike“, begrüßte sie ihn und sah Abbey an. Diese lächelte wissend. Unter Mädels klappte diese Art der stummen Kommunikation immer noch am besten. Sam kam es wie eine Ewigkeit vor, seit sie das letzte Mal nur was mit den Mädels gemacht hatte.

Mike schien Abbey gar nicht wahrzunehmen. „Matt meinte, du würdest im letzten Moment absagen. Ich habe gesagt, dass du kommst. Also habe ich die Wette gewonnen.“

„Ihr habt gewettet?“, fragte Sam und versuchte sich von ihm loszumachen, doch sein Griff wurde stärker.

Matt tauchte neben Abbey auf, reichte ihr kommentarlos ein Getränk und stieß mit ihr an. Und dann war da plötzlich Lucas, der zuerst Mike ein Glas in die Hand drückte, dann Sam. Er selbst streckte sein Glas in die Mitte, die anderen stießen mit ihm an. Sam sah Abbeys große Augen, als sie die drei Männer in dem bunten Licht musterte. Sie wirkten so unwirklich.

Und Sam spürte seinen Blick, als sie das Glas an ihre Lippen hob. Ihre Nasenflügel bebten und sie roch etwas, das da nicht hingehörte. Schnell griff sie nach Lucas Glas, bevor er zu trinken ansetzten konnte, und sie gab ihm im Gegenzug ihr Glas.

Mike jubelte. „Sam, du machst mich zu einem reichen Mann.“

Wütend starrte sie Lucas an. „Ich bin kein Testobjekt“, zischte sie.
Seine blauen Augen funkelten herausfordernd und er beugte sich vor, damit nur sie ihn hören konnte. „Mein Club. Mein Rudel. Meine Regeln.“ Dann verschwand er in der Menge.

Abbey sah sie fragend an, doch Sam zuckte nur mit den Schultern. Versuchte, gelassen zu wirken. „Auf einen schönen Abend“, sagte sie und stieß noch einmal an, dieses Mal mit dem Glas ohne K.O. Tropfen.

 

„Und jetzt erzählst du mir, vorher du Lucas Madden kennst.“ Trotz des Alkohols war Abbeys Stimme fest. Sie hatten sich in eine ruhige Ecke geflüchtet, als eines der Sofas frei wurde. Sam musste unbedingt einen Moment die hohen Schuhe ausziehen. Und sie sollte besser aufhören zu trinken.

Sie wusste nicht, wie spät es war, aber es kam ihr vor, als hätten sie bereits die ganze Nacht getanzt. „Er und Matt sind befreundet.“

Überrascht hob Abbey eine Augenbraue. „Ich wusste gar nicht, dass du und Matt noch Freunde seid.“
„Wir sind seit dem Kindergarten befreundet. Das hört ja nicht auf, nur weil wir uns eine Zeit lang nicht gesehen haben.“
Verständnisvoll nickte die Rothaarige, doch überzeugt schien sie nicht. „Also du und Matt, jetzt?“
„So ein Quatsch“, sagte Sam sofort. Abbey wusste nicht, dass Matt ihr Bruder war, aber auch so konnte Sam sich nicht mehr vorstellen, je in ihn verliebt gewesen zu sein. Auch das schien Ewigkeiten her zu sein.

„Also du und Mike? Oder ist es Lucas?“
Sam schüttelte den Kopf. „So ist es wirklich nicht, Abbey.“
Aber Abbey lachte nur ihr glockenhelles Lachen und Sam wusste, dass sie sowieso dachte, was sie wollte. „Ehrlich gesagt hätte ich das nie von dir gedacht, Samantha. Letzte Woche warst du noch Sam, und jetzt hängst du mit den coolen Kids rum. Ich beneide dich fast schon.“
„Ich bin immer noch Sam“, murmelte sie als Antwort.

„Ja, aber jetzt bist du die coole Sam.“ Abbey grinste sie an.

Sam erschrak darüber, wie oberflächlich ihre Freundin doch war. Wieso nur hatte sie das früher nie bemerkt? Abbey interessierte sich für ihr Spiegelbild und für die gutaussehenden Jungs. Alles war darüber hinausging, war ihr zu langweilig. Schnell zog Sam ihre Schuhe wieder an und stand auf. „Weißt du was, Bee, gerade ist mir eingefallen, warum ich in letzter Zeit so eine schlechte Freundin war: Ich bin einfach zu cool für dich.“ Und damit rauschte Sam davon.

Weit kam sie nicht, als Marcel ihr den Weg versperrte. In Mathe saßen sie am selben Tisch und teilten oft ihre Hausaufgaben miteinander. Das bedeutete, Marcel ließ sie vor der Stunde abschreiben.
„Hi Sam.“ Er nahm sie in den Arm als wären sie mehr als Tischnachbarn, doch Sam machte das im Moment nichts aus. „Wie geht’s?“

Um ihm zu antworten musste sie über die Musik hinweg schreien. So laut es auch war, der DJ wusste, was er tat. Für Sam war es keine Überraschung. Sie war sich sicher, dass Lucas selbst aussuchte, wer hier auflegte und sie wusste, dass er einen exzellenten Musikgeschmack hatte.

„Verzieh dich, du Würstchen.“ Wenn man vom Teufel sprach, dachte Sam grimmig. Er war aus dem Nichts aufgetaucht und bedachte Marcel mit einem wütenden Blick. Die Muskeln in seinem Kiefer waren angespannt und traten hervor, der Ausdruck auf seinem Gesicht war mehr als gereizt. Sam konnte hinter seiner Haut den Wolf sehen, der mit gesträubtem Nackenfell und gefletschten Zähnen knurrte.

„Wie bitte?“ Marcel erwiderte Lucas Blick unbeeindruckt. Sam stellte fest, dass sie gleich groß waren und als Marcel die Arme verschränkte, sah sie, dass auch seine muskulös waren. In der Schule war er einfach der nette Typ aus Mathe. „Sollen wir das draußen klären?“, fragte er und wusste nicht, worauf er sich wirklich einließ.

Lucas grinste, als hätte er einen Witz gemacht. Es war kein ehrliches Grinsen und seine Augen funkelten noch immer voller kaltem Zorn. „Ich habe nicht vor dich zu verprügeln. Zumindest nicht wenn du jetzt abhaust.“

Marcel wollte etwas sagen, doch Sam legte eine Hand auf seinen Arm und lenkte seine Aufmerksamkeit so auf sich. „Geh einfach, Marcel“, bat sie ihn leise. Naja, so leise, wie das in einem lauten Club möglich war.

Er musterte sie kurz und schien dann zu dem Entschluss zu kommen, dass sie es nicht wert war, denn ohne ein Wort des Abschieds stampfte er davon.

„Spinnst du?“, fuhr sie Lucas an, sobald Marcel verschwunden war.

Er sah sie mit kalten Augen an. „Fordere mich nicht heraus, Sam. Mein Spiel. Finde dich damit ab oder geh.

Wenn er versuchte sie abzuschrecken, war er zwar überzeugend, aber nicht genug. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, während er sie ganz genau beobachtete. Dann stellte sie sich auf ihre Zehenspitzen, bis ihre Lippen an seinem Ohr waren. Plötzlich fiel es ihr leicht ebenso berechnend und kalt zu sein. „Dein Spiel, aber ich bin nicht deine Spielfigur. Diese Runde geht vielleicht an dich, noch ist es aber nicht entschieden. Pass auf, dass du den Einsatz nicht verpasst.“

Adrenalin pumpte durch ihre Adern, als sie sich abwandte. Voller Genugtuung hörte sie, wie er tief einatmete und kurz rechnete sie damit, er würde sie davon abhalten einfach zu gehen. Und wenn es nur darum ging das letzte Wort zu haben. Doch anscheinend hatte sie es tatsächlich geschafft, ihn sprachlos zu machen.

Drittes Kapitel - Fliegen

Es fühlte sich an als könnte sie fliegen. Sie schloss die Augen und ließ die Musik durch ihren Körper fließen. Ihr Körper bewegte sich von ganz allein. Sie konnte alles um sich herum spüren ohne wirklich etwas zu sehen. Als wären ihre Füße Teil des Bodens und gleichzeitig einen Meter weit davon entfernt. Sie roch alles und gleichzeitig konnte sie die Gerüche nicht zuordnen. Und sie hörte jede einzige Note in der Musik, jeden Trommelschlag, einfach alles. Sie konnte die Musik in tausende Einzelteile zerlegen und doch das, was sie zusammenhielt, fühlen. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nie so frei gefühlt, so vollkommen und ganz.

Für einen Augenblick war alles vergessen. Sie war einfach, ohne Sam zu sein. Es gab kein Drama, keinen Horror. Keine zerrüttete Familie. Keine Vergangenheit. Nur Musik.

Sie spürte ja nicht einmal die Menschen um sich herum. Mittlerweile war die Tanzfläche leer genug um zu tanzen, ohne jemand anderem dabei auf die Füße zu treten. Es musste schon sehr spät sein, oder früh, je nachdem.

Hinter ihren geschlossenen Lidern tanzten Lichtpunkte.

Und dann riss sie jemand herum, packte nach ihrer Schulter. Sie wollte wütend werden, doch als sie die Augen öffnete, sah sie Lucas und ihre Worte blieben ihr im Hals stecken.

Er sah sie voller Hass an. „Mitkommen“, knurrte er nur und zog sie hinter sich her. Es war erstaunlich wie die noch tanzenden Leute unwillkürlich eine Schneise bildeten, um ihn durchzulassen. Weil er der Besitzer war oder weil sie das Raubtier spüren konnten. Vielleicht auch eine Mischung aus beidem.
An der Tür angekommen, riss er sie auf und schubste Sam vor sich in die Dunkelheit. Noch bevor die Tür wieder zufiel, brüllte er los. „Hast du den Verstand verloren? Nicht genug, dass du dich und uns in Gefahr bringst, hast du ungefähr 200 Leben aufs Spiel gesetzt, darunter auch das deiner Freundinnen.“ Jetzt, wo die Musik nur noch leise durch die geschlossene Tür drang, war seine Stimme so laut, dass ihr Schädel dröhnte.

Sie wusste überhaupt nicht wovon er sprach. „Ich hab nichts...“, versuchte sie sich zu verteidigen, doch er unterbrach sie und kam ihr immer näher. In der Dunkelheit sah sie nur seinen Umriss.

„Du warst gerade kurz davor dich in einem brechend vollen Club zu verwandeln und jetzt widerspreche mir nicht“, sagte er, noch bevor sie überhaupt den Mund geöffnet hatte. Sie wollte nur sagen, dass der Club lange nicht mehr brechend voll war, aber das war wahrscheinlich nicht der Punkt. „Du glaubst vielleicht, dass du dich unter Kontrolle hast, aber das stimmt nicht. Du lässt dich von deinen Gefühlen überrollen, trinkst leichtsinnig Alkohol und verschwendest nicht einen Gedanken an die Konsequenzen.“

Er kam immer näher und ihr blieb nichts als nach hinten auszuweichen.

War das dieses Hochgefühl gewesen? Die Grenze? Und hatte er möglicherweise Recht? Sie hatte ihn noch nie annähernd so wütend gewesen. Selbst als er erfahren hatte, dass nicht er sondern sein Cousin seine Mutter ermordet hatte, war er nicht so ausgerastet und doch schien er gerade nicht davor zu sein sich zu verwandeln. Wie schaffte er das? Wie konnte es sein, dass er sich so gut unter Kontrolle hatte?

Direkt neben Sam wurde die Tür aufgerissen und Licht flutete den Flur. Einen Moment war sie geblendet.

„Warum schreist du hier so rum, Lucas?“, fragte Mike und blickte genervt zu seinem Rudelführer.
„Ich verabschiede mich nur gerade von Sam. Sie hat nämlich beschlossen nie wieder hier herzukommen.“ Lucas Stimme war so eisig, dass Sam zitterte. Sie spürte, wie ihre Unterlippe bebte.

„Was?“, fragte Mike empört und sah Sam fragend an. Diese schüttelte nur den Kopf. „Er hat Recht“, bestätigte sie leise, mit brüchiger Stimme und stürmte dann an Lucas vorbei, zurück in den Club und durch die tanzende Menge bis zum Ausgang.

 

 

Was ist passiert, Lucas?“ Mike sah ihn wütend an. So wütend hatte er seinen besten Freund schon lange nicht mehr gesehen. Normalerweise blieb er immer ruhig, ertrug die Katastrophen, die Lucas heraufbeschwor, bis sie abebbten und auch dann warf er ihm selten etwas vor.

Sie hat sich fast verwandelt. Mitten im Club. Wenn ich es nicht gesehen hätte, kannst du dir vorstellen was hätte passieren können?“
Mike kniff die Augen zusammen und funkelte ihn an. „Und da jagst du sie fort?“
„Sie ist eine Gefahr.“
„Nein, sie braucht Hilfe.“
Lucas schob trotzig die Unterlippe vor. Er hasste es, wenn Mike sein Urteilsvermögen in Frage stellte.
„Was auch immer du gegen sie hast, leg das nur für eine Sekunde beiseite und denk darüber nach wie du dich gefühlt hast. Wie wäre es für dich gewesen, aufzuwachen und festzustellen, dass es nicht nur Monster gibt, sondern du auch noch eins davon bist! Sie ist alleine, hat Angst und keine Ahnung, was sie machen soll. Was sie braucht ist jemand, der ihr beibringt, wie sie sich unter Kontrolle hält. Keiner der sie dafür fertigmacht. Ich erinnere mich noch sehr gut daran wie oft du mich ohne Vorwarnung angegriffen hast, nur weil dir irgendetwas gerade nicht gepasst hat.“

Lucas verschränkte die Arme vor der Brust. Ihm war klar, dass er sich wie ein trotziges Kind benahm, aber Mike träumte auch nicht seit einer Woche so komische Dinge wie er.

Verdammt, Lucas, sie ist nicht nur ein Werwolf und gerade einmal achtzehn Jahre alt, sondern auch ein Mädchen. Hast du einmal darüber nachgedacht was ihr alles zustoßen könnte?“ Mike war gut darin, große Reden zu schwingen. „Los, wir müssen sie finden.“

Lucas schüttelte den Kopf. Dann sah er Sams traurigen und enttäuschten Blick, als er sie rausgeworfen hatte. Die Überraschung als er sie von den Tanzfläche gezerrt hatte. Der Mut, als sie sich ihm gestellt hatte und die Tatsache, dass sie, obwohl sie mit Schmerzen am Boden gelegen hatte, sich ihm nicht unterworfen hatte. „Na gut“, sagte er dann und ging an Mike vorbei. Er legte sein Handy auf die Bar, steckte dafür den Autoschlüssel ein.

Hast du eine Ahnung, wo wir anfangen?“, fragte er Mike.

Dieser schüttelte den Kopf. „Sie könnte überall sein.“

Hier“, er warf ihm seinen Autoschlüssel zu. „Finde heraus wo sie wohnt und fahr die Straße ab. Ich finde dich schon.“ Dann öffnete Lucas die Tür und sprang in die Dunkelheit. Als er auf vier Pfoten landete, atmete er tief ein, dann rannte er los. Er hielt sich in den Schatten, doch die Straßen waren leer. Er kam nicht weit, bis er einen anderen Wolf roch, doch es war nicht Sams Geruch. Und dann wurde ihm klar, was ihr wirklich alles passieren konnte und er rannte los.

Viertes Kapitel - Pest und Cholera

Als sie aus dem Zug ausstieg, bemerkte sie sofort, dass noch jemand ausgestiegen war. Ihr schlug kalter Wind entgegen und sie ging mit hastigen Schritten den Bahngleis entlang, als der Zug an ihr vorbeiraste und sie für kurze Zeit nichts außer dem Rauschen hörte. Sie wusste auch so, dass Schritte hinter ihr waren.

Schnell ging sie die Treppe zur Unterführung hinunter, bog dann links ab und wollte die Treppe auf der anderen Seite wieder nach oben nehmen, als der Mann sie eingeholt hatte. Er griff nach ihrem Arm und zog sie herum. Sie geriet ins Straucheln und musste sich mit einer Hand am Geländer festhalten.

Ihr Herz schlug schnell, zu schnell, aber sie konnte an nichts anderes denken als an die Gefahr, in der sie sich befand. Niemand hatte ihr gesagt, dass auch der Wolf vor Angst gelähmt sein konnte.

In der Dunkelheit konnte sie das Gesicht des Mannes nicht genau erkennen, aber sie roch seinen fauligen Atem, als er sie an die Wand presste und sagte: „Ich liebe es, anderen ihr Spielzeug wegzunehmen.“
Ihr lief es eiskalt den Rücken herunter. Das war also das Schicksal, das ihr ins Gesicht spukte. Dafür, dass sie es geschafft hatte, dass Jeff sie nicht umbrachte, stand nun der andere, der sie hatte tot sehen wollte, vor ihr und hatte sie wieder zwischen seine Finger bekommen, obgleich er nicht wusste, dass sich die Geschichte wiederholte. Jetzt konnte Sam keine Märtyrerin sein. Sie konnte ihr Leben nicht für das eines anderen eintauschen, konnte die Geschichte nicht ändern. Das Schicksal war grausam, ebenso wie Hekate. Sam konnte sie beinah vor sich sehen, wie sie ihr langes Haar zurückwarf und eisig lachte. Immer noch waren ihre Muskeln wie gelähmt. Es war gar nicht daran zu denken sich zu verwandeln und selbst wenn, wäre sie Greg weit unterlegen. Sie konnte nur hoffen, dass es schnell ging. Er sah aus als hätte er zu viel Anabolika genommen. Wahrscheinlich konnte er ihr mit zwei Fingern das Genick brechen.

Aber Greg machte keine Anstalten, ihr etwas anzutun. Stattdessen legte er den Kopf schief als würde er lauschen. Dann ließ er sie los und drehte sich um. Unten am Treppenabsatz stand jemand. Für einen winzigen Augenblick hoffte Sam, es wäre Lucas, der ihr hinterher gekommen war. Doch es war Mikes Stimme. „Verschwinde.“

Greg knurrte, machte einen Schritt auf Mike zu, blieb dann jedoch stehen und drehte den Kopf. Erst sah er Sam an, dann nach weiter oben. Sam folgte seinem Blick. Oben auf der Treppe konnte sie die Umrisse einer weiteren Gestalt erkennen. Für alles andere war es zu dunkel. Greg knurrte wieder, dann machte er einen Schritt nach oben. Ihm war bewusst, dass er sich für eine Richtung entscheiden musste.

Sam sah nicht mehr als einen Schatten, der die Treppen mit nur einem Sprung bewältigte, Greg dabei von den Füßen riss, ihm damit die Entscheidung abnahm und mit ihm nach unten polterte. Auch Greg hatte sich nun verwandelt, doch statt zu kämpfen machte er sich los und floh so schnell er konnte zurück in den Tunnel.

Mike und Lucas standen nebeneinander und sahen erwartungsvoll zu Sam hoch.

„Was macht ihr hier?“, fragte sie schniefend. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie weinte.

Mike antwortete zuerst: „Na was wohl? Wir retten dir deinen süßen Hintern.“

Sam schüttelte ungläubig den Kopf. Lucas hatte sich unmissverständlich ausgedrückt, als er sie weggejagt hatte.

„Wir lassen kein Rudelmitglied im Stich.“ Seine Stimme jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Vor Erleichterung schluchzte sie und schämte sich sogleich für ihre Schwäche. Und dann waren da starke Arme, die sie an sich rissen. Es war Mike.

Als er sie losließ, spürte Sam seine Hand noch einen Moment länger auf ihrem Rücken. Es war tröstend.

Dann sahen sich die beiden Männer an. Wortlos hielt sich jeder eine Hand hinter den Rücken, zählte lautlos bis drei und dann trafen ihre Hände sich. Die von Lucas formte einen Stein, Mikes ein Blatt Papier.

Sam konnte gar nicht glauben, dass sie tatsächlich Stein, Schere, Papier spielten. Sie war gerade fast ermordet worden und sie spielten!

Mike grinste, während Lucas die Lippen aufeinander presste und schmollte. In einer anderen Welt hätten sich zwei Männer darum gestritten, wer das Mädchen nach Hause brachte.

Nur standen vor ihr zwei Wölfe, die die Jagd liebten und keinen Kampf scheuten. Mike verwandelte sich und rannte los. Lucas sah ihm sehnsuchtsvoll nach. In dieser Welt war es nichts als eine Last, Sam nach Hause zu bringen.

„Ich kann auch alleine gehen“, sagte sie. Ihre Stimme war noch immer brüchig. Sie wollte nicht mit ihm allein sein. Zu groß war ihre Angst, dass er sie wieder anschreien würde oder noch schlimmer, dass sie sich schämte.

„Komm schon“, sagte er ohne auf ihre Aussage einzugehen und streckte ihr seine Hand entgegen. „Lass uns gehen.“
Sie schniefte, wischte sich über die Augen und griff dann nach seiner Hand. Vielleicht war das das einzige Friedensangebot, das sie bekommen würde.

Am Straßenrand parkte der rote Porsche, Licht brannte und der Motor brummte leise vor sich hin. Mike hatte es eilig gehabt. Sams Hände zitterten, als sie die Tür öffnete und als sie den vertrauten Geruch der Ledersitze einatmete, erschauderte sie.

Lucas fuhr rasant an, dann drehte er sich zu ihr um. „Wo muss ich hin?“
Eine Welt, in der er nicht wusste, wo sie wohnte, war eine traurige Welt. Sie nannte ihm die Adresse, ließ den Kopf nach hinten sinken und schloss die Augen. Musik erfüllte den Raum und sie musste die Augen nicht öffnen um den Knopf zu finden, um sie wieder verstummen zu lassen.

„Magst du den Song nicht?“, fragte er, während er viel zu schnell fuhr.

„Doch, ich liebe diesen Song.“

„Aber?“

„Ehrlich, Lucas, du brauchst jetzt nicht den Netten spielen. Mir geht es gut, du hast mir deutlich gesagt, wie du zu mir stehst und auch damit komme ich klar. Fahr mich einfach nur nach Hause.“

Er seufzte. „Vielleicht habe ich etwas voreilig gehandelt.“

Sie öffnete die Augen und sah ihn misstrauisch an. Er schien nicht vorzuhaben noch etwas zu sagen. Sie sah durch die Windschutzscheibe und plötzlich wurde ihr klar, dass ihr Leben ganz sicher nie wieder normal sein würde. Es gab immer noch Leute, die sie jagen würden. Sie war alleine in einer Welt, zu der sonst nur Männer Zugang hatten.

Sie konnte spüren, wie er sie immer wieder ansah. Sie wollte ihm sagen, dass er sich auf die Straße konzentrieren sollte, doch ihre Zunge war taub. Sie konnte nichts weiter tun als nach vorne durch die Scheibe zu sehen und doch nichts wahrzunehmen als ein paar Lichter. Ampeln, Laternen, erhellte Fenster, Werbereklamen. Es war ihr egal.
Irgendwo in ihrem Hinterkopf bekam sie zwar mit, dass er die Richtung änderte, irgendetwas sagte und aus der Stadt rausfuhr, statt zu ihr nach Hause, aber auch das war ihr egal. Als er auf die Autobahn fuhr und kurz darauf wieder hinunter, kannte sie den Weg. Die Geschichte wiederholte sich. War es genau das? Wiederholte sie sich wirklich? Und würde es wieder eine Tragödie sein? Mittlerweile glaubte sie fest daran, dass es besser gewesen wäre zu sterben. Sie konnte das alles nicht ein weiteres Mal durchstehen.
Der Wagen rauschte durch den Wald, bis ohne Vorwarnung das große Haus vor ihnen aufragte.
Er hielt vor dem Eingang an, sprang heraus und öffnete ihr die Autotür.
Als sie keine Anstalten machte sich zu rühren, packte er ihren Arm und zog sie heraus. Mit einer Hand an ihrem Rücken schob er sie vor sich her, in das Haus rein und direkt ins Wohnzimmer.
Als sie auf der Couch saß, erinnerte sie sich nicht mehr daran die Schuhe und die Jacke ausgezogen zu haben.
Hinter sich hörte sie Lucas leise Stimme.
„Ich glaube, sie steht unter Schock. Komm einfach her.“
Eine Pause.
„Was soll ich denn machen?“
Wieder Stille. Sam stellte fest, dass er telefonierte.
„Ich kann das nicht, Matt.“ Verzweiflung. Als er das nächste Mal sprach, hörte er sich wütend an. „Beweg deinen Arsch hier her.“
Er musste nicht laut werden, um angsteinflößend zu sein. Unwillkürlich zuckte Sam zusammen und legte ihre Stirn auf ihre angewinkelten Knie.
Greg würde sie finden und töten. Hekate hatte sie reingelegt. Sam hatte sich nur zwischen Pest und Cholera entscheiden können. Am Ende gab es keine bessere Alternative.
Sam spürte eine Hand auf ihrer Schulter, war aber zu schwach um aufzusehen.
Erst als ein Schluchzen sich ihre Kehle hoch kämpfte, bemerkte sie, dass sie weinte. Sie schnappt nach Luft und hatte das Gefühl zu ersticken, als sich plötzlich ein Arm um sie legte. Kurz darauf spürte sie, wie er sie an sich drückte. Sie spürte die Wärme, die von seinem Körper ausging und irgendwie schaffte er es, die Kälte ein wenig zu vertreiben, die sich in ihren Knochen festgesetzt hatte.
„Ich werde sterben“, murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu ihm.
„Nein, das werde ich nicht zulassen.“ Seine Stimme war voller Entschlossenheit. Mit einem Mal spürte sie ihren Körper wieder und lehnte sich ein Stückchen zurück, um ihn ansehen zu können.
Sie sah den besorgten Ausdruck auf seinem Gesicht und die kleinen Falten auf der gerunzelten Stirn. Das Strahlen seiner blauen Augen. Die kleinen Stoppeln, die dem Bogen seines Kiefers folgten.
Zu sterben wäre nicht besser gewesen. Sie hatte ihre Entscheidung für ihn getroffen und sie würde es wieder tun. Ihn glücklich zu sehen, nicht mehr voller Selbsthass und Reue, entschädigte sie für alle das, was sie ertragen musste.
Einen Augenblick genoss sie noch seine Nähe, vergaß kurz in welcher Realität sie sich befand, dann rückte sie von ihm ab, wischte sich die Tränen von der Wange und sah sich um. Es sah genauso aus wie sie es kannte. Nur war es viel aufgeräumter und frisch geputzt.
„Versuch ein wenig zu schlafen.“ Er stand auf.
Sie vermied es ihn anzusehen und nickte stattdessen. Dann krächzte sie ein Dankeschön. Sie hörte seine Schritte auf der Treppe, das ihr so vertraute Knarren der vorletzten Stufe, dann eine Tür, die leise geschlossen wurde. Und dann war sie alleine, obwohl er sich im gleichen Haus befand. Es fühlte sich so falsch an, in seinem Haus zu sein aber nicht in seinen Armen. Sie griff nach der Wolldecke und deckte sich damit zu, rutschte auf der großen Couch zurecht und versuchte zu schlafen. Morgen würde sie sich weitere Gedanken machen können.

Zum ersten Mal an diesem Abend war sie froh, Alkohol getrunken zu haben, denn er ließ sie schnell einschlafen, auch wenn er das seltsame Gefühl in ihrem Magen nicht vertreiben konnte.

Fünftes Kapitel - Schöne neue Welt

„Aufwachen, Sam.“
Sie schreckte hoch, versuchte sich zu erinnern was passiert war und wo sie war. Dann kam alles auf einen Schlag zurück: Greg, der Angriff. Lucas, seine Umarmung.
„Es ist noch früh, aber ich denke du willst zur Schule gehen oder?“
Sie sah auf und zu Lucas, der sich an die Kante der Couch gesetzt hatte und sie ansah. Er sah frisch geduscht aus.
Die Schule war das letzte an das sie gedacht hatte, aber ein wenig Normalität würde ihr sicherlich gut tun, also nickte sie.
Er setzte sie direkt vor dem Haupteingang ab, doch bevor sie aussteigen konnte, hielt er sie zurück. „Wir sollten es vielleicht für uns behalten, wo du deine Nacht verbracht hast.“

Zu perplex um wirklich darüber nachzudenken, nickte sie und sagte „bis später“. Erst als er schon weg war, kam die Überraschung, dass es stimmte. Sie würden sich sehen, wenn sie später in den Club kam.
Sam betrat den Klassenraum einige Minuten vor Unterrichtsbeginn. Abbey fing sie ab bevor sie nach hinten gehen konnte. „Marvin hat erzählt, Lucas Madden hat ihm aus dem Club geworfen, nur weil er sich mit dir unterhalten wollte. Erzähl.“ Ihr Gesicht strahlte vor Neugierde. War ihr Streit etwa so schnell vergessen? War es bei den coolen Kids so, dass man schreckliche Dinge sagen konnte und die Leute das einfach tolerierten? Wenn ja, dann wollte sie nicht dazugehören.
Sie schüttelte den Kopf. „Da gibt es nichts zu erzählen.“
Langsam spürte Sam, wie noch mehr im Klassenraum sie interessiert beobachteten.
„Er ist ein ganz normaler Typ wie jeder andere. Hör auf von ihm zu sprechen als wäre er ein Gott.“ Und damit log sie ihrer ehemals besten Freundin direkt ins Gesicht. Lucas war so weit von normal entfernt wie nur möglich und keineswegs wie andere.
Sie gab Abbey keine Möglichkeit noch etwas dazu zu sagen und machte sich stattdessen auf den Weg zu ihrem Platz.
Und da saß er, als wäre er nie weg gewesen und strahlte sie an. Sein Grinsen erwärmte ihr Herz und sie schloss ihre Arme um ihn.
„Hier“, er reichte ihr eine Tasche und sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Du rettest meinen Tag.“
Sie hatte ihm eine Nachricht geschrieben, ob er bei ihr zu Hause vorbeifahren und ihr ein paar Sachen mitbringen könnte. Darunter ein Pullover und Turnschuhe. Matt besaß schon seit Jahren einen eigenen Schlüssel.

Schnell schlüpfte sie aus den High Heels. Matt fragte nicht, wo sie geschlafen hatte, wenn sie doch ganz offensichtlich nicht zu Hause gewesen war und Sam war froh, ihn nicht anlügen zu müssen.

Sam setze sich und war froh, als er ihr auch noch einen Block und einen Stift zuschob. Der Mathelehrer betrat den Raum.

„Du hast nie bemerkt, wie ich dich angesehen habe, oder? Tag für Tag.“ Sie kämpfte gegen die Tränen an. Ihre Stimme war so leise und versagte immer wieder. Woher der Gedanke auf einmal gekommen war, wusste sie nicht, aber sie hatte das Gefühl es nicht auch nur einen einzigen Tag länger für sich behalten zu können. Jahrelang war sie in ihren besten Freund verliebt gewesen.
„Ich habe es bemerkt“, antworte er flüsternd und mit ehrlichen Bedauern, „nur ging es einfach nicht.“
„Ich weiß“, flüsterte sie und stellte fest, wie sich ein Loch in ihrem Herzen schloss. Es war tatsächlich okay. Sie fühlte sich nicht mehr betrogen. „Es wäre nur schön gewesen, wenn du es mir gesagt hättest.“
Matt sah sie erstaunt an, die Lippen ein wenig geöffnet. „Es tut mir leid“, flüsterte er fast lautlos und sie nickte, bevor sie ihre Hand ausstreckte und ihre Finger unter dem Tisch mit seinen verschränkte. Der Schmerz in ihrer Brust ließ nach und sie war froh, ihren Bruder und ihren besten Freund wiederzuhaben.

Sam konnte tatsächlich lachen, als sie gemeinsam durch die Straßen spazierten. Sie unterhielten sich über alte Witze, die sie vor langer Zeit gemacht hatten und schmunzelten über die Dinge, die sie als Kinder angestellt hatten. Einmal hatten sie den Teppichboden in Sams Kinderzimmer mit Kreide bemalt und anschließend zwei Stunden lang geschrubbt.

Ein anderes Mal hatten sie sogar Hochzeit gespielt und mit winzigen Papierschnipseln als Konfetti um sich geworfen.
Als sie am Club ankamen, fühlte sich ihr Herz leicht an und ihre Wangen schmerzten von dem Dauergrinsen auf ihrem Gesicht.
Matt hielt ihr die Tür auf und sie lächelte ihm dankbar zu, bevor sie hindurchging.
Sie sah John wie immer auf der Couch sitzen, die PlayStation wie immer an. Mike saß auf einem der Barhocker und drehte sich gelangweilt im Kreis und Lucas lehnte an der Metalltür, die zum Club führte. Er starrte auf sein Handy und schien sie nicht zu bemerken.
Mike stand auf und riss Sam bei einer Umarmung von den Füßen. Er drehte sie und sie lachte. „Ich bin froh, dass es dir gut geht.“
„Mike, Matt: Fuß. John, Sam: bleib.“ Lucas hatte das Handy weggelegt und ging zur Tür. Er sah sie nicht einmal an.
„Was ist denn mit dem los?“, murmelte sie. Mike grinste. „Wahrscheinlich ist er eifersüchtig.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Sam sagte ihm nicht, dass es dafür keinen Grund gab, schließlich hatte Lucas sie ebenso im Arm gehalten. Die Tatsache das bisher kein Spruch darüber gefallen war, dass sie bei ihm übernachtet hatte, sagte ihr, dass er wirklich nicht vorhatte es jemandem zu erzählt hatte.
„Ich will mit!“, sagte sie, als Mike sie losließ und an Lucas vorbei durch die Tür ging.
Lucas drehte sich nicht einmal um, als er antwortete: „Lass die Erwachsenen das mal regeln.“
Ein Tennisball lag in ihrer Reichweite, sie griff danach und schleuderte ihn ihm entgegen. Er musste sich nicht einmal zu ihr drehen um dem Ball auszuweichen. Er ließ ihn einfach an der nächsten Wand abprallen und fing ihn dann lässig mit einer Hand auf. Dann wandte er sich ihr zu und sein Ausdruck war gleichermaßen ein Grinsen und ein Zähnefletschen. Er warf ihr den Ball zu, langsam, sodass sie ihn fangen konnte, und ging. Und sie blieb eine Weile mit Gänsehaut am ganzen Körper stehen.

Im Fernsehen lief eine Dokumentation über schwarze Löcher, die John so intensiv verfolgte, dass Sam das Gefühl hatte, alleine zu sein. Sie nahm ihre Schulsachen, setzte sich an die Bar und begann damit, all die Hausaufgaben zu erledigen, die sie so lange schon aufgeschoben hatte. Es war mehr, als sie gedacht hatte, aber sie erinnerte sich noch gut genug an den Stoff, um alles zu erledigen. Am Ende war sie nach drei Stunden fertig und packte ihre Sachen wieder zusammen. Sie nahm sich eine Coladose aus dem Kühlschrank, spülte ein paar Gläser ab und wischte sogar mit einem Lappen über den Tresen. Nicht, dass das nötig wäre. Alles war blitze blank. Warum beschäftigte sie sich überhaupt? Wieso hatte sie das Gefühl, auf irgendetwas zu warten? Sie schulterte ihre Tasche, warf einen kurzen Blick zu John, der ihr keine Beachtung schenkte, und ging zur Tür. Als sie die Klinke hinunterdrückte, passierte nichts. Sie versuchte es erneut, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Sie drehte sich zu John. „Warum ist die Tür abgeschlossen?“
„Damit du nicht abhaust“, antwortete er und sie schnappte nach Luft. „Was?“

Das erste Mal sah er vom Bildschirm zu ihr und seine grünen Augen blitzen amüsiert. „Ist dir etwa noch nicht aufgefallen, dass du 24 Stunden lang bewacht wirst?“

Wütend knirschte sie mit den Zähnen. Wenn sie zurück dachte, war tatsächlich einer von ihnen bei ihr gewesen. Nur deswegen war Matt in der Schule gewesen und nur deswegen hatte Lucas sie bei sich übernachten lassen. Wahrscheinlich war es nicht einmal so, dass sie auf sie aufpassten, sondern sie benutzten sie als Lockvogel. Beruhigender Gedanke, dachte sie zynisch.
„Verrat aber bitte niemandem, dass ich es dir gesagt habe. Tu so, als wärst du selbst drauf gekommen.“ Schon sah er wieder auf den Fernseher.

Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte mit ihm darüber zu diskutieren. Sie warf ihre Tasche auf den Boden, setzte sich wieder auf einen Barhocker und begann „A brave new world“ zu lesen. Ihre Englischlehrerin hatte erst an diesem Tag das Buch ausgeteilt, die Aufgaben dazu würden erst in der nächsten Woche verteilt werden, doch Sam wusste bereits, was zu tun war. Sie hatte den Aufsatz schon einmal geschrieben und damals war es Lucas gewesen, der ihr geholfen hatte. Da hatte sie erfahren, dass seine Mutter aus Irland kam und er zweisprachig aufgewachsen war. Also begann sie, das Buch zu lesen. Was anderes blieb ihr ja nicht übrig.

Im vierten Kapitel angekommen, verstand sie nichts mehr. Sie blätterte zum nächsten Kapitel weiter, als sie hörte, wie die Tür aufgeschlossen und geöffnet wurde. Nur schwer widerstand sie dem Drang, aufzuspringen und denjenigen anzufallen, der als erstes durch die Tür tritt. Lucas warf seinen Schlüssel demonstrativ direkt neben Sam auf den Tresen und als sie ihn wütend anfunkelte, ignorierte er es. Stattdessen sah er über ihre Schulter auf das Buch in ihren Händen und war ihr dabei so nah, dass sie ihn riechen konnte. Und gleichzeitig zeigte er ihr damit, dass er nicht die geringste Angst vor ihr hatte. Wieso sollte er auch?
„Kannst du mir das erklären?“, fragte sie, als sie sah, wie seine Augen den unteren Teil der Seite scannten. Und sie konnte spüren, wie er sich kurz verspannte und dann gespielt gelassen ausatmete. Sie hatte vergessen, dass dieser Lucas ihr nie erzählt hatte, dass Englisch seine Muttersprache war. Aber würde er wirklich so viel in ihre Frage hineininterpretieren?
„Die veranstalten eine Orgie um Ford herbeizurufen“, sagte er trocken, wandte sich sofort ab und Sam atmete erleichtert aus. Einem Kreuzverhör hätte sie nicht standhalten können. Nicht heute.

„Ich will nach Hause.“

„Geh doch“, sagte Lucas, als gerade die Tür geöffnet wurde und Mike hereinkam. „Wo ist Matt?“, fragte er an seinen Rudelführer gewandt, während Sam endgültig ihre Sachen einpackte.

„Nach Hause. Irgendwas mit seiner Mutter“, antwortete Lucas schulterzuckend. Sam sah ihn nur im Augenwinkel, ging in Richtung Tür und verabschiedete sich mit einem „Bis dann.“ Sie war erstaunt, dass niemand sie aufhielt und keiner darauf bestand sie zu begleiten. War es möglich, dass John sie nur verunsichern wollte? Vielleicht war Lucas doch einfach nur nett zu ihr gewesen, wahrscheinlich weil er ihr nicht zugetraut hatte, es alleine in ihr eigenes Bett zu schaffen. Wenn sie ehrlich war, hatte er mit seiner Vermutung sogar Recht gehabt. Wie konnte sie das nur so aus der Bahn werfen? Sie war doch vorher schon auf den Gedanken gekommen, dass Hekate sie betrogen hatte, wieso war ihr dann nicht in den Sinn gekommen, dass es Greg noch immer auf sie abgesehen hatte? Nur warum? Was wollte er von ihr, nun da sie nicht mehr die Magie der Zweitgeborenen in sich hatte? Die Legende besagt, dass ein Wolf, der das Zweitgeborene Kind eines anderen Wolfes opferte, über einen Teil von Hekates Magie erhielt und damit seine Verwandlung unter vollster Kontrolle hatte. Deswegen hatten Jeff und Greg sie opfern wollen und genau diese Magie hatte Sam eingetauscht, um ihr Leben zu retten und ihre Liebe war der Preis gewesen, um Lucas Mutter zurückzuholen. Lucas Mutter, die ebenfalls die Zweitgeborene war. Hatte Lucas sich vielleicht deswegen so gut unter Kontrolle, weil er quasi die doppelte Ladung an Wolfsblut abbekommen hatte? Oder war es am Ende einfach so, dass die Legende Quatsch war und Hekate das nur einfädelte, um ihre Macht zu erhalten?

So in Gedanken versunken kam es Sam vor als wäre erst eine Minute vergangen, als sie vor ihrer Wohnungstür stand. Sie war überrascht, als sie eintrat ihre Mutter mit einem Kochlöffel in der Hand in der Küche stehen zu sehen.

„Hallo mein Schatz“, trällerte sie und obwohl sie müde aussah, lächelte sie glücklich.

Sam zog ihre Schuhe aus, warf ihre Schultasche neben die Couch und umarmte ihre Mutter. Sie hatten sich zwei Tage nicht gesehen, weil sie wie so oft Überstunden im Krankenhaus gemacht hatte.

„Ich habe morgen frei, vielleicht können wir beide ja mal wieder etwas unternehmen. Was hältst du von einem Stadtbummel und anschließendem Eisessen?“

Sam hasste es, ihre Mutter anzulügen, aber eine Shoppingtour war wirklich nichts, was sie gebrauchen konnte. „Morgen hab ich mich schon mit Matt verabredet. Tut mir Leid, Mama.“
„Schade, mein Schatz, aber dann beim nächsten Mal wieder.“ Sie strich ihrer Tochter durch die Haare und wandte sich dann wieder der Tomatensauce zu, die in einem kleinen Topf köchelte.

„Klar“, antwortete Sam und holte aus dem Schrank zwei Teller heraus.

Verstohlen musterte sie ihre Mutter, die in letzter Zeit abgenommen hatte. Der Pulli hing lose an ihren knochigen Schultern herunter und auch ihre Wangen waren etwas eingefallen. Nichts, was auf den ersten Blick auffiel, aber Sam kannte sie und so vielen ihr auch die Augenringe auf. „Ich mach den Rest, setzt dich schon mal“, sagte sie, nahm ihr den Löffel ab und schob sie sanft zur Seite. Dankbar lächelnd nickte ihre Mutter, nahm eine Flasche Sprudel aus dem Kühlschrank und zwei Gläser und setzte sich damit an den kleinen Tisch in der Essecke. Sam goss die Nudeln ab, verteilte die Portionen und streute frisch geriebenen Parmesan über das dampfende Essen. Es duftete herrlich.

„Du solltest deinen freien Tag morgen genießen, Mama. Am Wochenende putze ich die Wohnung und mach die Wäsche. Ruh du dich aus oder geh mal wieder zum Friseur.“

Sofort griff ihre Mutter zu ihren blonden Haaren, die ihr mittlerweile bis zum Kinn reichten. Sie lachte ein wenig über sich selbst. „Ja, die haben es wirklich mal wieder nötig.“

Sam bestand darauf, den Abwasch zu übernehmen und nahm sich vor, demnächst mit ihrem Vater zu sprechen. Es musste doch irgendwie möglich sein ihre Mutter dazu zu bringe sein Geld anzunehmen. Sie war viel zu stolz, bestand darauf selbst alle Rechnungen, Versicherungen und das Auto zu bezahlen. Alles war ihr Vater bezahlte war Sams Taschengeld, von dem ihre Mutter nicht einen Cent annahm, wenn Sam es ihr anbot.

Als Sam ins Wohnzimmer ging, war ihre Mutter auf der Couch schon eingeschlafen. Im Bad sah sie in den Spiegel und fragte sich, wie sie nur über ihre Mutter hatte urteilen können, wo sie doch selbst wie der Tod persönlich aussah. Sie war blass und hatte die gleichen Augenringe und auch eine heiße Dusche konnte nichts dagegen unternehmen. Vielleicht würde einer gute Portion Schlaf ihr weiterhelfen.

Doch als sie im Bett lag und an die Decke starrte, obwohl sie nichts als Dunkelheit sah, war sie hellwach. Immer wieder dachte sie an Hekate und an Greg. Dann an ihre überarbeitete Mutter. An ihr Leben, dass irgendwie nicht mehr das ihre war. An ihren Vater, mit dem sie irgendwann über all das würde reden müssen. Sie dachte daran, wie einfach es war, mit Mike zu scherzen und wie kompliziert Lucas einfach nur anzusehen. Würde sich daran je etwas ändern?

Und als wüteten nicht schon genug Gedanken in ihrem Kopf, die ihr das Einschlafen schwer machten, gab ihr Handy einen kurzen Laut von sich. Sie tastete mit ihrer Hand danach und fand es halb unter ihrem Kopfkissen. Als sie die Nachricht öffnete, sah sie zuerst nur eine unbekannte Nummer. Wir gehen morgen früh laufen. 5:30. Luke. Und ihr Herz stolperte, als sie die Worte las. Immer und immer wieder. Und jedes Mal formte ihr Mund seinen Namen. Dann fiel ihr Blick auf die Uhrzeit oben auf dem Display und sie schrieb schnell zurück. Das ist in fünf Stunden.

Er hatte es ausgestellt, dass sie sehen konnte, wann er zuletzt online war und nachdem sie einige Herzschläge lang auf das Handy gestarrt hatte, legte sie es weg. Er würde ganz sicher nicht antworten. Woher hatte er überhaupt ihre Nummer?
Gerade als sie die Augen schloss, klingelte es erneut und hektisch griff sie danach, als wäre es eine Bombe, die in die Luft ging, wenn sie zu lange brauchte. „ja“ war alles was er schrieb. Sie war ihm also weder Großschreibung noch Satzzeichen wert. Gut zu wissen. Zähneknirschend stellte sie den Wecker, schaltete das Handy auf lautlos und legte es zur Seite. An Einschlafen war noch immer nicht zu denken. Ihr Herz raste weiter. Wie konnte eine einfache Nachricht von ihm so etwas bei ihr auslösen? Sie benahm sich ja wie ein kleines, dämliches Mädchen. Das durfte so nicht weitergehen. Sie musste ihre Gefühle in den Griff bekommen und aufhören ständig über ihn nachzudenken. Zwischen ihr und ihm gab es nichts. Sie entschied, lange genug getrauert zu haben und von nun an darauf zu pfeifen, was er von ihr hielt. Er war sowieso ein Idiot.

 

Sechstes Kapitel - Dornröschen

Als Sams Wecker klingelte, fragte sie sich kurz, warum um Himmelswillen er sie mitten in der Nacht weckte. Dann fiel ihr Lucas ein und sie hievte sich stöhnend aus dem Bett. Sie wollte lieber nicht herausfinden, was er tat, wenn sie einfach nicht auftauchte. Aus ihrem Kleiderschrank nahm sie die Sachen heraus, die am ehesten an ein Laufoutfit erinnerten: Eine Leggings und ein dünner Windbreaker. Ihre Mutter schlief noch, also musste sie ihr nicht erklären woher der plötzliche Sinneswandel kam. Normalerweise stand Sport bei ihr auf einer Stufe mit Magen-Darm-Grippe.

Lucas Porsche parkte im Halteverbot und der Motor brummte im Leerlauf leise vor sich hin. Als Sam die Tür öffnete und damit das Licht anging, sah er nicht einmal auf.

„Und wie hast du dir das jetzt vorgestellt?“, fragte sie ohne einzusteigen. „Soll ich einmal um den Block laufen?“ Sie kam nicht drum herum zu schmollen und die Arme vor der Brust zu verschränken.
Er tat ihr wie immer nicht den Gefallen einfach zu antworten. „Steig ein.“
„Yes, Coach“, trällerte sie. Ihr einziges Ziel: sich nicht die Laune von ihm verderben lassen. Ein ziemlich hochgestecktes Ziel, wenn man bedachte, dass es halb sechs am Morgen war und die Sonne nicht einmal aufging.
Bevor er losfuhr, stellte er die Kliometeranzeige zurück. Ob er wohl ein Fahrtenbuch führen musste?
Sport war in der Schule nicht unbedingt Sams Lieblingsfach gewesen, aber sie bezweifelte, dass der Unterricht auch nur im Entferntesten mit dem zu tun hatte, was Lucas mit ihr vorhatte. Vielleicht bestand ja die Möglichkeit, dass sie Gefallen daran fand, vor allem wenn sie ihre neuen Kräfte nutzen konnte.
„Weißt du, wo die Halle deines Vaters ist?“, fragte er und riss sie damit aus ihren Gedanken. Sie sah auf und nickte.
„Gut, komm nach der Schule dahin.“
Er fuhr den Wagen an den Straßenrand. 
Sie hatten ihren Stadtteil verlassen und standen etwas außerhalb zwischen mehreren Einfamilenhäusern und Doppelhaushälften mit gepflegten Vorgärten und eigenen Garagen. Hinter den meisten Fenstern war das Licht erloschen. Sam stieg aus um sich umzusehen und zu erraten, was er vorhatte. Hätte sie das Summen des elektrischen Fensterhebers beachtet, wäre sie vielleicht hinter seinen Plan gekommen, doch dafür war es zu spät sobald die Beifahrertür hinter ihr zufiel.
„Wenn du vor der Schule noch duschen gehen willst, solltest du dich beeilen.“
Er ließ ihr keine Zeit etwas zu sagen, als er anfuhr und Gas gab. Der Motor des roten Porsches heulte auf. Kurz überlegte sie ihm hinterherzulaufen, nur um ihn zu beschimpfen, doch damit würde sie ihm nur die Genugtuung geben, die er nicht verdient. „Arschloch!“, rief sie, auch wenn sie wusste, dass er sie längst nicht mehr hörte. Ihr blieb keine andere Wahl als loszulaufen.

 


Seine Schätzungen waren falsch. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit ihr Haus sehen konnte, hatte sie eine Viertelstunde Zeit bis sie wieder los musste um pünktlich zu sein. Bei jedem Schritt taten ihre Füße und ihre Knie weh und ein Ziehen in ihrer Lunge machte ihr das Atmen schwer. Das war die Rache ihres Körpers für all die versäumten Sportstunden. Sie hatte gedacht mit der Verwandlung käme auch mehr Kraft und Ausdauer. Für einen Wolf müsste es schließlich ein leichtes sein die paar Kilometer zu laufen, doch in ihrem Inneren regte sich nichts. Sie war so erschöpft, dass sie sogar daran glaubte sich die neue Kraft nur eingebildet zu haben. Mit zittrigen Fingern nahm sie den Schlüssel, der in ihrer Jackentasche bei jedem Schritt nervig geklimpert hatte, und steckte ihn ins Schloss.
Hinter sich hörte sie einen Motor starten, doch als sie sich umdrehte sah sie nur noch die Rücklichter im morgendlichen Verkehr verschwinden. Es könnten die eines Porsches sein, aber auch die eines LKWs.
Noch nie war es ihr so schwer gefallen die Treppenstufen zu überwinden. Ihre Beine waren weich wie Pudding und sie traute ihnen nicht mehr. Als sie in ihrem Zimmer stand und auf die Uhr sah, erschrak sie. Fünf Minuten. Die Zeit reichte um sich den Schweiß von der Stirn zu waschen und sich mit Deo einzusprühen. Dann schmiss sie wahllos ein paar Mappen in ihren Rucksack, pfefferte eine kurze Sporthose hinterher und schlüpfte wieder in ihre Schuhe. Vor Schmerz zuckte sie zusammen. Sie hatte mehr als eine Blase.
Als sie ihr Rad endlich aus dem Ständer geschoben hatte schwang sie sich darauf und trat so heftig in die Pedalen wie ihre Puddingbeine es zuließen.

 

Sam ergriff die ausgestreckte Hand des Polizisten und schüttelte sie. Sein Blick war freundlich, das Lächeln echt. Seine Züge waren nicht mehr die eines zynischen Mannes sondern die des liebenden Familienvaters und er hatte die gleichen Haare wie sein Sohn. „Und du willst ein wenig Selbstverteidigung lernen?“
Sie nickte eifrig. „Ein Mädchen aus meiner Stufe wurde fast vergewaltigt. Ich will mich einfach in so einer Situation wehren können.“ Die Lüge ging ihr so leicht über die Lippen, dass es sie schockierte und gleichzeitig stolz machte. Sie hatte ihren Vater nach der Schule angerufen und gesagt, dass sie kommen wollte um zu trainieren. Auf dem Weg dahin war ihr diese Lüge eingefallen.
Der Polizist nickte. Er schien es also geschluckt zu haben.
Sam sah sich in der Lagerhalle um, die noch genauso aussah wie in ihrer Erinnerung. Auch heute fielen die Strahlen der Nachmittagssonne schräg durch die Fenster und Staubkörner tanzten in dem Licht.
„Du kannst dich dahinten umziehen, Spätzchen.“ Ihr Vater zeigte auf eine der Türen auf der anderen Seite der Halle und Sam nickte kurz, bevor sie ihre Tasche schulterte und sich auf den Weg machte.
In kurzer Hose betrat sie wieder die Halle. Ihr Vater und der Polizist unterhielten sich noch immer, als die Tür aufschwang und jemand hereinkam. Sam spürte sofort, wie sich ihr Magen zusammenzog.
Seine Augen verengten sich als er sie sah. Er murmelte den beiden Vätern eine Begrüßung zu und kam auf sie zu.

„Lucas, wir haben uns gedacht, dass du Sam etwas helfen kannst.“ Überrascht sah sie ihren Vater an, der ihr aufmunternd zulächelte. Jetzt unterstütze er ihn auch noch dabei sie durch die Hölle zu schicken. Lucas grinste. Für die beiden Väter musste es freundlich wirken, doch sie erkannte das Zähnefletschen dahinter. Sie wollte Knurren, hielt sich aber zurück.

Ihr Vater kam näher, legte ihr einen Arm um die Schultern und lächelte ihr aufmunternd zu. „Lucas kann die viel besser helfen, als ich es könnte. Mit den Jahren bin ich ja doch etwas eingerostet.“ Diesen Teil ihrer Lüge musste Lucas ihm aufgetischt haben. Sie hatten also beide die Idee gehabt, die beiden Väter an der Nase herumzuführen.
Lucas grinste. „So ein Quatsch, Christian! Dein rechter Haken hat es immer noch in sich.“

Seit wann waren die beiden so vertraut mit einander? Sam beäugte ihren Vater misstrauisch, doch entweder merkte er es nicht oder er ignorierte es.

„Hör bloß auf zu schleimen, Luke.“ Tadelnd und gleichzeitig amüsiert sah er den Dunkelhaarigen an. „So, jetzt halte ich euch nicht weiter auf. Viel Spaß, Spätzchen.“

„Danke, Dad“, antwortete sie und als ihr Vater sich abwandte, spürte sie schon Lucas Blick. „Er ist wahrscheinlich ganz alleine auf die Idee gekommen, was?“, zischte sie ihm zu.
Lucas grinste breit. „Ja natürlich. Denkst du etwa ich wäre so manipulativ?“
„Ich denke, dass deine Bösartigkeit meine Vorstellungen weit übersteigt.“

Ein Lachen verließ seine Kehle, dass sie in einer anderen Situation zum schmelzen gebracht hätte, doch jetzt machte es sie nur wütend. „Los Rocky, lass es uns hinter uns bringen.“

Sie durchquerte den großen Raum. Noch immer konnte sie die Staubpartikel in der Sonne tanzen sehen. Der Boden war übersät mit Kerben und Schleifspuren.

„Die Halle hat schon bessere Zeiten gesehen“, erklärte er ihr sachlich.

„Ich mag das genau so wie es ist.“ Sie ging um die Trainingsgeräte herum bis zu dem Ring, dort kletterte sie die Stufe hoch und bückte sich zwischen den Seilen durch. Sie schloss die Augen. „Es ist fast so, als könnte man den Schweiß riechen und das Blut, die Siege und die Niederlagen. Das alles liegt hier förmlich in der Luft.“
Er war gerade dabei zu ihr hoch zu klettern, als er mitten in der Bewegung innehielt. Auf seinem Gesicht spiegelte sich Erstaunen.
„Was?“ Sie versucht ihre Unsicherheit mit einem Lächeln zu überspielen. Hatte sie etwas falsches gesagt?
Seine Antwort war ein Kopfschütteln, dann kletterte er hoch. „Da. Da-da-da. Da-da-daaaa“ begann er und jetzt war es an ihr ihn verwirrt anzusehen. Er ließ sich nicht beirren und machte weiter: „Da. Da-da-da. Da-da-daaaa.“
Sie erkannte das Lied und schüttelte lächelnd den Kopf während sie sich abwandte und den Blick schweifen ließ.
„Its the eye of the tiger its the thrill of a fight. Rising up to the challenge of a rival.“
Auch wenn seine Stimme leise war, ging sie ihr direkt unter die Haut. Bei jedem anderen hätte der Versuch dieses kraftvolle Lied zu singen eher Gelächter geerntet, doch Lucas musste seine Stimme nicht erheben um auszudrücken wofür der Song stand. Es ging nicht ums Kämpfen, sondern ums Aufstehen. Aufstehen, wenn man am Boden lag. Stolpern und weiterlaufen.
Sam schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter und sah stattdessen auf ihre Füße. Ihn anzusehen tat weh und wenn sie es weiterhin tat würde sie stolpern und es vielleicht nicht schaffen wieder aufzustehen.
„Was würde dein Vater wohl dazu sagen, wenn er wüsste, dass du dich verwandelt hast?“ Sein amüsierter Blick verspottete sie.
„Du darfst es ihm nicht sagen“, flehte sie sofort.
Er lächelte. „Keine Sorge, ich hatte nicht vor irgendetwas zu sagen. Ich bin der letzte der irgendwelche Ratschläge zur Vater-Kind-Beziehung geben sollte.“

Also hatte er auch in dieser Welt Probleme mit seinem Vater. Bei diesem Lucas konnte sie sich aber zu gut vorstellen, dass er nicht die Bester-Sohn-der-Welt-Medallie verdiente.
„Also Sam, schlag zu.“
Verwirrt sah sie ihn an. „Hä?“ Nicht unbedingt das intelligenteste, dass sie hätte von sich geben können.
„Schlag mich.“
„Ist das jetzt irgendeine ekelhafte Neigung von dir? Wirst du gerne geschlagen? Bist du ein Masochist?“
Sie war überrascht ihn leise lachen zu hören. „Komm schon, ich werde mich auch nicht wehren.“
„Ja, das sagst du jetzt und gleich habe ich eine gebrochene Nase.“
„Das passiert nicht. Kein Schlag ins Gesicht und keiner unter die Gürtellinie. Und jetzt mach schon.“
Sie sah ihn einen Moment lang an, dann ballte sie ihre Hand zur Faust und schlug ihm gegen die Schulter.
Er kicherte. „Was war das? Wolltest du eine Fliege verscheuchen?“
Sie versuchte es noch einmal. Auch dieses Mal war alles, was sie schaffte, ihn zum kichern zu bringen. Das war doch lächerlich. „Sollten wir keine Boxhandschuhe tragen?“
„Damit dein kläglicher Schlag noch mehr gedämpft wird?“
Wieder probierte sie es, versuchte sich zu erinnern wo wohl seine Nieren waren und schlug Geratewohl hinein. Alles was sie spürte waren Muskel so betonhart, dass er wahrscheinlich nicht einmal einen Tritt von ihr spüren würde. Ihre Hand hingegen tat weh.
„Der Sonnenaufgang heute morgen war wunderschön, oder? Ein Glück dass du ihn nicht verschlafen hast.“
Sie dachte gar nicht darüber nach was sie tat. Erst als der Schall der Ohrfeige nachhallte, erinnerte sie sich an die Regel, ihm nicht ins Gesicht zu schlagen. Im nächsten Moment bewegte er sich und sie schlug mit dem Rücken hart auf dem Boden auf. Die Luft wurde aus ihrer Lunge gedrückt und auch ihr Kopf knallte gegen die Bretter des Bodens.  Sie wusste nicht einmal, was er getan hatte um ihr so den Boden unter den Füßen wegzureißen.
„So viel zum Thema, dass du dich nicht wehrst“, murrte sie.
„Ich sagte nicht umsonst nicht ins Gesicht. Und jetzt steh auf.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich finde es schön hier unter. Hier bleib ich ne Weile liegen.“
„Steh auf“, knurrte er.

„Vergiss es“, antwortete sie so stur wie ein bockiges Kind.
Er trat neben sie und sah auf sie herab. „Steh auf oder ich trete zu.“ Sie spürte seinen Schuh an ihrer Seite. „Was glaubst du wie weh ein Tritt in die Niere tut.“
„Dir Eisklotz wahrscheinlich gar nicht“, antwortete sie zähneknirschend und verschwieg bewusst, dass sie zuvor versuchte hatte, seine zu treffen.
Er griff nach ihrem Arm und zog sie mit einem Ruck, der ihr fast die Schulter auskugelte, auf die Beine.
„Ich hasse dich“, spukte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Wäre schön wenn du deine Gefühle für mich unterdrücken und dich stattdessen auf deine Aufgabe konzentrieren könntest.“
Seine Worte taten mehr weh als ein Schlag je könnte. Sie taumelte einen Schritt zurück. Er hatte Recht, auch wenn er es nicht wusste. Sie machte einen schnellen Schritt nach vorne und schlug wieder dahin, wo sie seine Nieren vermutete.
„Verdammt“, zischte er und machte einen Schritt auf sie zu.
Verwirrt hielt sie inne, wollte sogar schon zurückweichen. Hatte sie es tatsächlich geschafft ihm weh zu tun? Doch er griff plötzlich nach dem Saum ihres Shirts und zog es hoch. Sie schnappte nach Luft und brauchte noch einen weiteren Moment um festzustellen, was er so intensiv betrachtete: die Bisswunde, die er ihr vor ein paar Tagen zugefügt hatte, blutete erneut.
Hektisch sah er sich im Raum um und schob sie dann vor sich her. Sam hatte überhaupt keine Zeit zu protestieren, als sie auch schon in der Kabine stand. Als er ihr dann auch noch das Shirt über den Kopf zog, reichte es ihr: „Spinnst du?“
„Halt die Klappe, außer du willst deinem Vater erklären warum mein Zahnabdruck deine Haut schmückt.“ Mit einem Ruck riss er das blutige Pflaster ab und sie keuchte vor Schmerz auf.
„Fang jetzt nicht an zu heulen.“
„Ich hab gedacht wir hätten sowas wie ultraschnelle Selbstheilungskräfte.“ Sie plapperte um sich von dem Schmerz abzulenken. 
„Der Biss eines Alphas heilt langsamer. Mein Speichel ist quasi Gift für dich.“
„Toll, hätte Mike mich dann nicht beißen können?“
Er hob kurz eine Augenbraue, doch das war auch schon die einzige Regung. „Als ob der seinem kleinen Schosshündchen weh tun würde.“
„Ich bin niemandes Hündchen.“
„Klar, Spätzchen“, sagte er und seine Stimme triefte vor Ironie. Sam konnte ein amüsiertes Blitzen in seinen Augen sehen. Schön, dass wenigstens einer Spaß hatte. 
„Nenn mich nicht so“, fauchte sie. Das war einfach nur ein Spitzname, den ihr Vater ihr gegeben hatte. Kein Grund sich über sie lustig zu machen. 
Er schien fertig damit zu sein ihre Wunde abzudrücken und als Sam nach unten sah, sah sie den Verband. Er warf ihr ein Shirt zu, dass sie sich flink überstreifte. Es war natürlich viel zu groß. Kurz verlor sie sich in dem Gefühl auf ihrer Haut und seinem Geruch in ihrer Nase, bis er sie mit einem „Gern geschehen“ wieder zurückholte.

„Du hast es fabriziert, du badest es wieder aus“ war Ihre Antwort. „Sind wir jetzt fertig für heute?“ Im Moment war sie noch zu wütend um wirklich Schmerz zu spüren, aber sie wusste, dass er zusammen mit der Erschöpfung tief in ihren Knochen steckte und sich melden würde sobald ihr Adrenalinspiegel absank. 

„Eigentlich war das das Aufwärmprogramm, aber“, ihr Blick brachte ihn zum innehalten und schmunzeln. „Schon gut, bevor ich gleich in Flammen aufgehe: ja, wir sind fertig.“ 
Sam atmete erleichtert aus und schulterte ihren Rucksack. 
„Soll ich dich mitnehmen?“, fragte er und das unterdrückte Lachen darin war deutlich zu hören.

„Nein danke“, zischte sie und ging zu ihrem Vater, der gerade irgendein Gerät einstellte. „Das ist doch nichts für mir, Paps. Außerdem muss ich noch einen Aufsatz schreiben. Sehen wir uns am Wochenende?“

„Klar, Spätzchen.“ Er lächelte. Weil Sam ihr ganzes Leben ehrlich zu ihm gewesen war, schien er ihr nun alles zu glauben. „Wenn du es dir anders überlegst, kannst du gerne jederzeit wiederkommen.“
„Danke“, sagte sie und war froh, als sie die Lagerhalle verließ und unter den bewölkten Himmel trat.


Sam war zum Duschen nach Hause gefahren und als sie am Club ankam pfefferte sie ihr Rad in die Ecke. Sie konnte das Teil nicht mehr sehen. Es gab keine Stelle mehr an ihrem Körper die nicht weh tat.
Die Tür war nicht verschlossen und als sie den Raum betrat, war nur Matt da, der sie herzlich begrüßte. Sie warf sich neben ihn auf die Couch, legte ihren Kopf an seine Schulter und schloss für einen kurzen Moment die Augen.
Als sie die Augen wieder öffnete brauchte sie einen Moment um sich zu orientieren. Matt  saß genau wie vorher neben ihr und sah auf den Fernseher, neben ihm war Mike und Lucas saß an der Bar. Und er musterte sie ganz genau. Sie fuhr sich mit einer Hand über den Mund. Hatte sie etwa gesabbert? Als sie den Blick hob und sie wieder dieses amüsierte Blitzen in seinen Augen entdeckte, wollte sie etwas nach ihm werfen, doch dann wurde sie sich wieder der Anwesenheit der anderen bewusst und begnügte sich stattdessen damit ihm in Gedanken den Tod zu wünschen. Das Blitzen wurde zu einem Leuchten, als hätte er ihren Gedanken gehört. Oder es war einfach zu leicht in ihrem Gesicht zu lesen.

„Dornröschen ist erwacht!“, rief Mike für Sams Geschmack ein wenig zu laut und lehnte sich zu ihr rüber, ohne Matts Protest Beachtung zu schenken.

„Dornröschen musste wachgeküsst werden“, antwortete Sam verschlafen.

Mike lachte. „Ich hab mich sofort bereit erklärt das zu erledigen, aber Matt hat mich nicht einmal neben dir sitzen lassen.“
Sie warf ihrem Bruder einen dankbaren Blick zu. Dieser antwortete mit einem schiefen Lächeln. In ihrem Magen rumorte es. So viele Jahre war sie in dieses Lächeln verliebt gewesen, wäre es wahrscheinlich heute noch, wenn sich nicht plötzlich ein schwarzer Wolf für sie in die Schusslinie gestellt hätte.

„Und jetzt verrate uns, Sam, wieso warst du so müde?“ Mikes Augen leuchteten vor Neugierde.

„Keine Ahnung, ich hab einfach heute Nacht kein Auge zu bekommen.“

Mike wandte den Blick noch immer nicht ab. „Wer hat dich denn so lange wach gehalten?“

Sie spürte, wie ihre Wangen eine rötliche Färbung annahmen. Sie wollte Lucas ansehen, hielt sich aber davon ab indem sie sich zu Mike beugte. „Du, Mike. Ich habe die ganze Nacht über dich nachgedacht.“

Sie musste Lucas nicht ansehen, um zu wissen, dass er sich über ihre Ausreden köstlich amüsierte. Verdammt, war das jetzt sein neues Hobby?

„Ich wusste es.“ Mike grinste selbstgefällig und doch wusste Sam, dass er es nicht ehrlich meinte. Mit ihm konnte man lachen, Blödsinn reden und musste keine Angst davor haben, dass er sie innerlich auslachte. Dafür war er viel zu ehrlich und so herrlich unkompliziert. Sie brauchte in ihrem Leben mehr Mike und weniger Lucas.

Siebtes Kapitel - Laufen

 


Wieder hielt er den Wagen am Straßenrand an. „Du glaubst nicht wirklich, dass ich auf diesen Trick wieder reinfalle, oder?" Zweifelnd sah sie ihn an. 
„Du denkst auch wieder nur schlechtes von mir“, antwortete er und er konnte die Enttäuschung nicht ganz übertönen. Also hatte er es tatsächlich gehofft.  
„Mistkerl“, murrte Sam leise. 
Er stieg aus, doch Sam blieb mit verschränkten Armen sitzen. Er öffnete ihre Tür und reichte ihr etwas. Sie starrte den Autoschlüssel verdutzt an. 
„Deine Versicherung. Verlier ihn nicht.“ 
„Das wäre doch eine gute Idee, dann musst du auch mal laufen.“
Er hob skeptisch eine Braue als wolle er sagen "meinst du das ernst?". Ja, sie merkte es selber. Ihm würde das sicher nichts ausmachen. Wahrscheinlich wäre er genauso schnell am Ziel wie mit dem Porsche. 
Zähneknirschend stieg sie aus, schlug die Tür fester zu als es nötig war und verschloss den Wagen. „Und jetzt?“

„Mitkommen.“ Mehr verriet er nicht, sondern stapfte los. Sie musste joggen um mitzuhalten. Erst als sie an einem verschlossenen Tor hielten, erkannte Sam, wo sie waren: Die Sportanlage. 
„Soll ich mein Sportabzeichen etwa nachholen?“ 
Er hob nur eine Augenbraue und sah dabei aus, als würde er an ihrer Zurechnungsfähigkeit zweifeln, dann schloss er das Tor auf. Es wunderte sie nicht einmal, dass er einen Schlüssel hatte.
Sie gingen durch den vorderen Bereich, vorbei an Tennisplätzen und Blumenbeeten. Dann betraten sie die Laufbahn, die sich um den Kunstrasenplatz wand. 
„Lauf los, Häschen.“
Zweifelnd sah sie ihn an. „Spinnst du?“
„Du wolltest, dass ich dir helfe. Also lauf los und wärm dich auf.“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich werde ganz bestimmt nicht hier im Kreis laufen, während du hier rumstehst und dich über mich lustig machst. Wahrscheinlich verschwindest du gleich wieder. Außerdem, was heißt hier ich wollte das? Das mit dem Training war doch deine Idee.“
„Du hast den Autoschlüssel“, erinnerte er sie und kommentierte den zweiten Teil ihrer Ansprache bewusst nicht.
„Ja, klar, super Versicherung. Als würde dich das davon abhalten zu gehen.“

„Ich lass mein Auto doch nicht mit dir allein. Das war ein Geburtstagsgeschenk meiner Großeltern.“ 
Ja, wirklich. Wie hätte sie nur kurz glauben können, dass er sein Auto alleine ließ? Wie dumm von ihr in dem Auto nicht mehr zu sehen als ein Haufen Blech. Auch wenn es ein schöner Haufen war. „Ich weiß“, murmelte sie und biss sich sofort auf die Lippe. 
„Was?“ Sie konnte spüren, dass er sofort aufhorchte, sich konzentrierte, aus ihr herausprügeln würde, was er wissen wollte. 
Er zweifelte auch so schon an ihr, sie durfte nicht beiläufig Dinge erwähnen, die sie nicht wissen durfte. „Na, dass du dein Auto nicht alleine lässt.“
Er fragte nicht nach, schien aber auch nicht überzeugt zu sein. 
Sam wandte sich ab und lief los. Sie wollte es nicht schlimmer machen. Jeder Muskel in ihrem Körper schmerzte. Bei jedem Schritt schien er nach einer Pause zu schreien, dabei hatte sie nicht einmal die ersten 400m geschafft. Sie keuchte, sah hinter Lucas die Sonne aufgehen und konzentrierte sich nur auf ihren Herzschlag. Sie würde ihm nicht die Genugtuung geben und aufhören. Sie würde einfach weiterlaufen.

Erst bei der dritten Runde hatte sie das Gefühl sich eingelaufen zu haben. Sie spürte, dass der Boden federte und nicht so hart war wie der Bürgersteig am Tag zuvor. 
Als Sam das sechste Mal an Lucas vorbeilief, rief er „das reicht“.
Sie joggte noch ein paar Meter weiter, wurde langsamer und schüttelte ihre Muskeln aus. Sie hatte es gespürt. Die Kraft, die durch ihre Adern pumpte und ihre Muskeln anfeuerte. Sam hatte sich angestrengt, doch war noch lange nicht an ihrem Limit angekommen. 
„Wenn du weiter läufst, hast du morgen den Muskelkater deines Lebens.“
Sie grinste. „Den hab ich heute schon.“
„Noch schlimmer, erklärte er. 
Sam konzentrierte sich nur darauf, ruhig zu atmen, als sie die Anlage verließen. Als er die Tür abgeschlossen hatte, spürte sie noch immer die Kraft durch ihren Körper strömen. 
„Wettrennen?“, fragte sie. Sie wollte weiterlaufen. 
Er sah sie wieder mit hochgezogener Augenbraue an. Verdammt, wollte er sie unbedingt neidisch machen, dass er so viel mit einer einzigen Regung sagen konnte? „Lauf schon mal vor.“ 
Er sah gelangweilt aus, aber sie würde nicht darauf hereinfallen. Sie lief los, lauschte, ob sie ihn hinter sich hörte. Nur Stille. Er hatte sie verarscht. Wahrscheinlich schlenderte er hinter ihr her, leise lachend. Sam konnte sein Auto vor sich sehen. Konnte man ein Wettrennen gegen sich selbst gewinnen?
Dann schoss ein schwarzer Blitz an ihr vorbei und bevor Sam reagieren konnte, verwandelte er sich direkt vor ihr. Ihr blieb keine Zeit um abzubremsen, doch wenn sie geglaubt hatte, dass die Wucht ihres Aufpralls ihn auch nur zum Straucheln hätte bringen können, hatte sie sich geirrt. Wie ein Fels blieb er stehen und hielt sie fest. Fast hätte sie gedacht, damit sie nicht stolperte, doch er ließ sie nicht wieder los und war ihr viel zu nah. „Egal was du vorhast, ich werde gewinnen“, raunte er ihr bedrohlich zu. Sam konnte nichts dagegen tun, dass sie Gänsehaut bekam. Als er sie endlich losließ, keuchte sie. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie die Luft angehalten hatte. 
Erst langsam taute ihr Körper auf, doch zu spät bemerkte sie, dass er ihr den Autoschlüssel bereits abgenommen und nun selbst in den Händen hielt. Sie stand immer noch da, als er mit quietschenden Reifen anfuhr. 

Achtes Kapitel - Spielzeug

Über die Musik hinweg konnte sie seine Stimme hören. Es war eher so, dass sie gar nicht weghören konnte. Als sie ihn am Rand der Tanzfläche entdeckte, gab ihr das einen Stich. Seine Stimme war so unglaublich sanft, so tief und verführerisch, und er setzte sie ganz bewusst ein. 

Sam konnte in dem Glitzern der Augen der Frau, die ihm gegenüberstand, sehen, dass sie keine Chance hatte. Sie schmolz wie Eis in der Wüste. Sie war hübsch, musste Sam zugeben, und bestimmt fünf Jahre älter als sie. Ihre Haare waren hochgesteckt und einige lose Strähnen fielen heraus. Außerdem war sie gertenschlank und trug ein Kleid, das genau das betonte. Und Lucas sang für sie, als wäre sie die einzige Frau auf der Welt, als gäb es für ihn nur noch sie. 
Na, beobachtest du den Balztanz?“
Sie erschrak, als Mike scheinbar aus dem Nichts auftauchte. Er lächelte freundlich. 
Ich höre eher zu.“
Zu schade, dass er weiß, was für eine Wirkung seine Stimme hat. Das macht es unerträglich.“ 
Sie nickte zustimmend. Grausam und wunderschön zugleich. Fast wie eine Meerjungfrau, die mit ihrem Gesang die Seemänner anlockte und sie dann im Wasser ertränkte.
Der Gesang verstummt und als Sam hinsah, wusste sie auch warum: er küsste seine neuste Eroberung, als wäre sie die Luft, die er zum Atmen brauchte. 
Er gibt ihr das Gefühl, etwas ganz besonderes zu sein, dabei spielt er nur mit ihr.“ 
Mike lachte leise. „Ich glaube nicht, dass es in dieser Stadt auch nur eine Frau gibt, die nicht weiß, worauf sie sich bei ihm einlässt. Du solltest also kein Mitleid mit ihr haben.“ 
Warum tut sie es dann?“ 
Für ihr Ego, Sam. Lucas nimmt nur die Hübschen. Seine Aufmerksamkeit ist für sie so etwas wie ein Sieg bei einem Schönheitswettbewerb.“ 
Sie nickte, als hätte sie verstanden, doch das tat sie nicht.

Ich persönlich finde es viel attraktiver, wenn die Frau gar nicht weiß, wie schön sie ist“, raunte er, als würde er zu sich selbst sprechen. 
Sam wandte den Blick von den sich Küssenden und sah zu Mike, der sie genau beobachtete. Und Sam spürte den Nebel aufsteigen, doch bevor er sie beeinflussen konnte, sah Mike weg. 
Hatte er etwa von ihr gesprochen? 
Du könntest das auch, oder?“
Fragend sah er sie an und sie erklärte es: „Na das.“ Sie wies mit einer Handbewegung in Lucas Richtung, „du könntest auch jeder Frau das Gefühl geben, etwas ganz besonderes zu sein, könntest ein genauso großer Frauenheld sein.“
Worauf willst du hinaus?“ Sein Blick hatte sich etwas verdüstert. 
Ich meine, wenn alle Frauen bereitwillig ihre Unschuld an ihn verlieren, wie soll er dann je lernen mit Enttäuschungen umzugehen?“ Vielleicht war ihr Gedankengang falsch und gemein und eigentlich sah es ihr gar nicht ähnlich, sich irgendwo einzumischen, aber irgendwie musste sie ihm seine Grenzen aufzeigen. Und ein klein wenig lag es daran, dass sie es nicht ertrug ihm dabei zuzusehen, wie er eine andere küsste.

Du willst mich benutzen, um ihm eins auszuwischen?“
Gerade wollte sie sich rechtfertigen, als sie das Grinsen auf seinem Gesicht sah: „Du bist wirklich böse, Sam.“
Sie grinste zurück. „Nicht halb so sehr wie er.“
Wenn ich es mache, schuldest du mir einen Kuss.“
Kurz zögerte sie, dann stimmte sie zu und schon machte Mike sich auf den Weg, während Sam das Schauspiel mit Genugtuung beobachtete.  

Hallo Luke, wer ist denn diese bezaubernde Frau an deiner Seite?“
Lucas sah auf. Sein Blick düster. Es war unmissverständlich, dass Mike sich verziehen sollte. 
Ich bin Monica“, antwortete die Frau mit heller Stimme. Mike nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss auf ihren Handrücken. Seine Augen fixierten ihre. Sie war wirklich zum Anbeißen. „Mike“, stellte er sich kurz vor. Die Frau erwiderte bereits sein Lächeln. 
Verschwinde“, zischte Lucas ihm zu, doch Mike tat, als hätte er nichts gehört. 
Eine Schönheit wie du gehört doch nicht hier in den Schatten.“ 
Ihr Lächeln wurde breiter und ihr Blick ein wenig glasig. Mike legte einen Arm um ihre Taille. „Magst du Champagner? Ich würde dir liebend gern etwas ausgeben, dass deiner Klasse entspricht.“
Monica nickte und Lucas knurrte, doch da hatte Mike sich bereits von ihm abgewandt und führte die Frau in Richtung Bar. Das war sogar leichter gewesen als er gedacht hatte. 

Was sollte das?“, fauchte Lucas, sobald der Club geschlossen hatte. Mike zuckte mit den Schultern und vermied es, Sam anzusehen, die sich zusammenreißen musste um nicht zu lachen. Und das bedeutete einiges, denn noch vor einer halben Minute hatte sie todmüde auf der Couch gehangen und versucht nicht einzuschlafen. Sie war noch lange nicht daran gewöhnt sich die Nächte in einem Club um die Ohren zu schlagen.
Ich wollte dich nur retten. Sie war bei weitem nicht hübsch genug.“
Lucas fletschte die Zähne. „Seit wann interessierst du dich für sowas? Außerdem war sie mit Abstand die schönste Frau hier.“
Nicht ganz“, antwortete Mike, zuckte erneut mit den Schultern. 
Hattest du wenigstens Spaß mit ihr?“
Ich hab sie in ein Taxi gesetzt, Luke. Sie war total betrunken.“ Jetzt klang Mike müde und fast schon gleichgültig.
Lucas richtete seinen Blick direkt auf Sam. Sie fröstelte sofort. „Fühlst du dich jetzt besser?“
Statt alles abzustreiten oder auf irgendeine Art und Weise erwachsen zu reagieren, sagte sie: „Du hast damit angefangen.“
Innerlich verfluchte sie ihr kindisches Verhalten, andererseits hatte er nichts anderes verdient.
Von dir hab ich echt mehr erwartet, Mike.“ Lucas klang wirklich enttäuscht, doch Mike schien das überhaupt nicht zu interessieren. Er grinste noch immer. „Wie glaubst du könnte ich diesen bezaubernden Augen etwas ausschlagen?“
Lucas schnaubte nur. Im Endeffekt hatte Sam bekommen was sie gewollt hatte: sie hatte ihm eins ausgewischt. Wieso nur fühlte sie sich auf einmal doch schuldig? Es war ja nicht so als hätte nicht direkt jemand anderes den Platz der hübschen Blondine eingenommen. 
Nimm ihn nicht ernst.“ Mike ließ sich neben Sam auf die Couch fallen. 
Er benimmt sich wie ein kleines Kind, dem wir das Spielzeug weggenommen haben.“ 
Das habt ihr ja auch. Sie war mein Lieblingsspielzeug.“
Mike lachte. „Du hättest sie einfach in die Ecke geworfen, nachdem du sie benutzt hast.“
Und ich hätte mich für immer an die schöne Zeit erinnert, die ich mit ihr hatte.“
Sam sah ihn herausfordernd an: „Und ist es schon mal vorgekommen, dass du mit einem Teil zwei mal gespielt hast?“
Er hob eine Augenbraue. „Das wäre ja langweilig.“

Sam schüttelte angewidert den Kopf. Wie hatte sie nur eine Sekunde daran denken können, ihn zu küssen?
Ich fahr nach Hause. Schließt ab wenn ihr geht.“ Und dann war Lucas weg.
Sam spürte Mikes Blick auf ihren Lippen. Seine Finger umschlossen ihr Kinn und drehten ihren Kopf in seine Richtung. „Zeit, deinen Einsatz einzulösen“, murmelte er direkt an ihren Lippen und dann küsste er sie. Erst war sie zu überrascht, dann erwiderte sie den Kuss zögernd. Seine Lippen fühlten sich gut an. Sehr gut. Weich. Seine warme Hand war an ihrer Wange. Er küsste sie nicht drängend, sondern zart. Als habe er Angst sie zu zerbrechen. Sam hatte das Gefühl, sich fallen zu lassen und sie wusste, dass er sie festhalten würde. Als er den Kuss beendete, war sie erstaunt, wie lange er gedauert hatte. Sein Blick war sanft und seine Augen eine Spur dunkler als sonst. Sie konnte darin Verlangen erkennen, und doch hielt er sich zurück. „Ich bring dich nach Hause.“
Sie nickte dankbar. Eigentlich wollte sie ihm sagen, dass sie alleine gehen könnte, doch dann erinnerte sie sich an das letzte Mal und war froh, dass er sie bis zu ihrer Haustür begleitete, sie zum Abschied in den Arm nahm und dann ganz leise verschwand, während sie die halbe Nacht in ihrem Zimmer an die Decke starrte und sich fragte, ob sie ihrem Gefühl überhaupt noch vertrauen konnte. 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 25.01.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für die Mutigen. Für die, die bereit sind, Opfer zu bringen. Und für die, die immer wieder aufstehen.

Nächste Seite
Seite 1 /