Jeder von uns hat einen Schutzengel.
Sie schweben nicht auf einer Wolke. Sie blicken nicht auf uns hinab.
Sie sind in unserer Nähe. Ob wir es spüren, oder nicht.
Sie begleiten uns auf jedem Schritt.
Wir können sie nicht sehen, aber sie sind immer da.
Kapitel 1
Ich drückte meinen Kopf so fest gegen die Scheibe, dass er wehtat. Durch meinen warmen Atem war sie stark beschlagen und ich malte kleine Kreise darauf.
Es war mitten im November und sehr kalt. Zum Glück war ich erkältet und roch deshalb nicht so viel von dem eklig modrigen Geruch des Schulbusses.
Müde schloss ich die Augen. Im Hintergrund hörte ich Mrs.Davis reden.
„So meine Lieben. Wir sind schon fast da, also vergesst eure Sachen nicht im Bus!“
Wie ich diese Frau hasste. Nicht nur, weil sie seit Wochen mit mir umging, wie mit einer Porzellanpuppe, sondern weil sie mich dazu gezwungen hatte, zu diesem bescheuerten Klassenausflug mitzufahren. Sie war der Meinung, es könnte uns allen gut tun, wenn wir vor den Winterferien noch etwas Schönes miteinander unternehmen würden. Bei den Worten gut tun hatte sie mir einen bestimmten Blick zugeworfen- nach dem Motto „findest du nicht auch?“
Verdammt nochmal. Ich wusste schon selbst, was gut für mich war. Dazu brauchte ich diese Psychotante nicht… und schon gar nicht wenn sie mit ihrer säuselnden Stimme ankam, die ihr Beileid für mich ausdrücken sollte. Ich wollte meine Vergangenheit endlich hinter mir lassen. Sie war keine weitere Träne mehr wert. Die Erinnerungen an sie schmerzten zu sehr… und deshalb war meine Vergangenheit ein Thema, das für mich und für andere tabu war.
Der alte Schulbus hielt mitten in der Pampa. Ich schnappte mir meine Tasche und meinen iPod und drängelte mich an allen anderen vorbei nach draußen. Niemand, den ich anrempelte beschwerte sich. Sie schienen mir sogar aus dem Weg zu gehen und freiwillig Platz zu machen. Niemand wollte etwas mit dem Psycho zu tun haben. Mrs.Davis stieg zuletzt aus und noch bevor sie den Mund aufmachen konnte, um zu erzählen, was für einen wundervollen Tag wir haben würden, steckte ich mir die Hörer meines iPods in die Ohren und drehte voll auf.
I walk this empty street
on the Boulevard of Broken Dreams…
Ich sah mich um. Wir waren auf einem Rastplatz, auf dem sich ein paar alte Holztische und Mülleimer befanden. Dahinter befand sich der Wald, dessen Nadelbäume von einer dünnen Schneeschicht bedeckt waren. Es sah aus, wie in einem Traumland. Langsam ging ich auf die Waldlichtung zu und entfernte mich von der Gruppe ohne mich umzusehen. Sie hätten es nicht gemerkt , wenn ich nicht da gewesen wäre… und wenn doch, dann wäre es ihnen egal gewesen.
Mein heißer Atem war sehr deutlich als eine Art weißer Rauch in der kalten Luft erkennbar. Ich erinnerte mich daran, wie ich als Kind immer den weißen Rauch beobachtet hatte und mir einen Stock in den Mund gesteckt hatte, damit es so aussah, als würde ich wie die Erwachsenen rauchen.
Ich lief immer weiter in den Wald, bis ich ein Ende erkennen konnte. Das Licht strahlte durch die Bäume. Es war so gell, dass ich völlig geblendet wurde. Trotzdem lief ich immer schneller darauf zu, bis ich darin verschwand.
Ich hörte die Stimmen von kleinen Kindern, wie sie lachten. Das eine Mädchen war etwas größer und hatte blonde Haare. In dem Licht sah sie aus wie Engel. Sie kitzelte das kleinere Mädchen mit den rötlichen Haaren. Sie kreischte laut auf und zappelte wild umher. Bei dem Anblick musste ich grinsen. Mir viel auf, dass dies mein erstes Grinsen seit langem war. Aber es verging genauso schnell wie es gekommen war, als sich das blonde Mädchen zu mir umdrehte und mir ihr Gesicht zeigte.
Es war meine Schwester. Sie blickte mir tief in die Augen und auch ihr Lächeln verschwand. Ihre Blicken wechselten hin und her. Zuerst sah sie mich an, dann das kleine Mädchen neben sich, dann wieder mich. Ihre Miene verfinsterte sich. Sie stolperte einen Schritt rückwärts, als ich einen auf sie zumachte. Dann drehte sie sich um und rannte davon. „Nein, Clary bleib stehen, bitte!“ Ich rannte ihr hinterher so schnell ich konnte. Doch ich kam nicht von der Stelle. Ich stürzte zu Boden und meine Hände gruben sich in den Schnee. Jemand legte mir die Hand auf meine Schulter, sodass ich zusammenzuckte und mich umdrehte. Vor mir stand das kleinere Mädchen, mit den roten Haaren. Sie hatte Sommersprossen und kleine Grübchen. Im selben Moment hoben wir unsere Hände und verschränkten sie miteinander und da erkannte ich- sie war ich.
Es war als würde ich in einen Spiegel schauen, den Spiegel meiner Vergangenheit.
Und mit diesem Spiegel kamen auch die Erinnerungen:
Damals war ich zwölf Jahre alt und lebte mit meiner Familie fernab von der Stadt. Die Gegend in dem sich unser großes Haus befand war ruhig, fast schon gespenstisch. Hinter unserem Haus befand sich ein großer See in dem Clary und ich immer an heißen Sommertagen badeten. Manchmal nahmen wir unseren Hund Jack mit ins Wasser. Leider hatten keine Verwandten, zu denen wir oft Kontakt hatten…nur Tante Jill besuchte uns mit ihrer Familie an bestimmten Feiertagen. Wir waren auch ohne Großeltern aufgewachsen, nur mit unseren Eltern. Damals hatte es uns nicht gewundert warum wir keine große Familie hatten oder warum wir nicht in der Stadt wohnten. Jeden Tag kam dafür Tess, unsere Privatlehrerin, für ein paar Stunden vorbei und unterrichtete uns, weil die Schule in der Stadt zu weit weg war und der Schulbus nicht bei uns vorbeifuhr. Tess war selbst noch jung (an die 25 Jahre), hatte lange braune Locken und gehörte obendrauf auch irgendwie zur Familie. Manchmal blieb sie nach den Unterrichtsstunden länger und ging mit uns zum See.
Clary war damals vierzehn Jahre alt und so langsam hatte sie das Bedürfnis andere Menschen kennen zu lernen und nahm unsere Wohnsituation nicht mehr lange hin. Nach langem Diskutieren entschieden unsere Eltern, dass es für uns besser wäre, mehr mit gleichaltrigen Kindern zusammen zu sein. Darauf folgte prompt der Umzug und die Einschulung. Clary und ich waren sehr gut in der Schule und fanden auch schnell neue Freunde, doch dadurch veränderte sich die Beziehung zwischen uns. Ich durfte nicht mehr dabei sein, wenn sie mit ihren Freundinnen etwas unternahm… ich schien ihr peinlich zu sein.
Als ich fünfzehn war machten wir eines Tages einen Familienausflug- und das war der Tag an dem sich mein Leben erst richtig veränderte. Wir fuhren mit dem Auto auf einer engen Landstraße. Mein Vater saß am Steuer, meine Mutter daneben und ich redete mit Clary auf der Rückbank. Auf einmal unterbrach uns ein lautes Hupen und ich sah nur noch kurz wie ein gigantischer LKW auf uns zuraste. Dann gab es einen lauten Knall und ich verlor das Bewusstsein.
Eine Woche später erwachte ich im Krankenhaus aus dem Koma und erblickte Tess, wie sie meine Hand hielt. Wir schauten uns in die Augen und als sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, wusste ich, dass es jetzt nur noch sie und mich gab.
Seitdem wohnte ich bei Tess. Sie ließ es nicht zu, dass ich ins Waisenhaus abgeschoben wurde und bot dem Jugendamt an, meine Vormundschaft zu übernehmen. Leider hatte ich es ihr nicht sehr einfach gemacht. Bei der Beerdigung meiner Familie war ich nicht anwesend und auch danach wollte ich nicht über den Unfall reden, sondern habe mich jede Nacht in den Schlaf geweint. Nach einem Jahr war ich so abgehärtet, dass ich beschloss keine Träne mehr zu vergießen und dass ich außer Tess niemanden auf der Welt mehr nötig hatte. Deshalb wurde ich in der Schule zum Außenseiter und verlor alle meine Freunde. Kurz danach verstarb mein Hund Jack… der arme Kerl war so alt, dass er immer gegen die Wände gelaufen ist. Das Pech verfolgte mich auf Schritt und Tritt und ich konnte nichts dagegen machen.
Kapitel 2
Jetzt sah ich in mein Gesicht, als es noch elf Jahre alt und die Welt noch in Ordnung war.
Heute hatte meine Schwester mir den Rücken gekehrt und mich hier allein zurückgelassen… und noch immer konnte ich nicht verstehen, warum Gott mich nicht mit ihr gehen ließ. Mein anderes Ich verschwand und das grelle Licht bündelte sich. Jetzt erkannte ich, dass ein Junge vor mir stand. Oh mein Gott! Wie lange hatte er schon da gestanden… die ganze Zeit? Er sah mich direkt an und grinste. Mir wurde bewusst, dass ich wie ein Häufchen Elend im Schnee kniete und ihn bestimmt anstarrte wie ein Dackel. Schnell raffte ich mich zusammen und ich spürte, wie mir das Rot ins Gesicht schoss. Ich ärgerte mich darüber… warum musste ich auch rot werden? Normalerweise war es mir egal, was Leute über mich dachten. Also was war an diesem Jungen anders? Ich warf noch einen Blick auf ihn und da wusste ich es. Er war um die 1.80m und trotz seiner Kleidung konnte ich wetten, dass er ganz schön bemuskelt war. Er hatte ein leicht kantiges Gesicht, das zugleich sehr weich erschien. Er hatte haselnussbraune Augen und blonde gewellte Haare.
Kurz gesagt: Er sah aus, wie ein Engel ohne Flügel!
„Alles in Ordnung?“, fragte er mit aufrichtiger Sorge um mich. Ich war so perplex, dass ich erst die Worte in meinem Kopf ordnen musste. „Ja, alles klar.“
Jetzt grinste er so breit, dass ich seine Grübchen erkennen konnte. „Sah gerade aber nicht so aus..“, antwortete er überzeugt. Auf einmal wurde ich wütend. Machte er sich etwa über mich lustig? Wahrscheinlich war er ein genauso aufgeblasenes Arschloch, wie alle anderen auch. „Weißt du was? Der Psycho wird mit seinen Problemen schon alleine fertig!“, schnauzte ich ihn an, drehte ihm den Rücken zu und lief in die Richtung aus der ich gekommen war (oder zumindest glaubte gekommen zu sein). „Und wo genau glaubt dieser selbst ernannte Psycho hinzugehen?“ Ich hielt kurz an und überlegte was ich darauf erwidern konnte. Doch stattdessen hielt ich den Mund, machte kehrt und lief an ihm vorbei in die andere Richtung. Hinter mir hörte ich Schritte… oh nein, jetzt folgte er mir auch noch! „Du scheinst dich hier nicht gut auszukennen. Wo willst du eigentlich hin?“ Ich stoppte abrupt und er lief von hinten in mich hinein. Jetzt lagen wir beide im Schnee und ich konnte meinen Ohren kaum trauen, als der Typ auch noch anfing zu lachen. Ich wollte wütend sein, aber sein Lachen entlockte mir ein Grinsen. „Na sieh mal einer an… der Psycho kann ja doch lachen.“, scherzte er und boxte mir in die Seite, als wären wir alte Freunde. Die Situation war komisch und beängstigend zu gleich und ich beschloss auf seine vorherige Frage zu antworten. „Ich möchte eigentlich nur zurück zur Raststätte, wo meine Klasse ist.“ Er erhob sich und bot mir seine Hand an. Ich ergriff sie und er zog mich hoch. „Na gut, ich werde dich hinbringen.“ Zusammen liefen wir durch den Wald in Richtung Raststätte. „Ich bin übrigens Jace.“ Jace.. ein schöner Name, dachte ich mir. „Lilli.“, antwortete ich kurz und sah, dass wir schon angekommen waren. „Danke, Jace.“ „Kein Problem, Lilli… wir sehn uns!“, sagte er im Umdrehen und das mit einer bestimmten Sicherheit in seiner Stimme, als wäre er sich da ganz sicher.
Kapitel 3
Den Rest des Tages schlenderte ich der Klasse hinterher. Ich hörte einige Leute etwas über Jace tuscheln. „Hast du den Kerl gesehen, der sie wieder bei uns abgeliefert hat?“ „Ja aber Hallo. Diesen Hingucker konnte man ja wohl kaum übersehen! Was der wohl bei ihr zu suchen hatte?“ „Ach komm schon, selbst der muss bemerkt haben, dass sie ne Schraube locker hat. Deswegen hat er sie ja auch zurückgebracht. Was glaubst du wäre da gelaufen, wenn er sich für sie interessiert hätte?“ Das hinterhältige Kichern meiner ehemaligen besten Freundin Lora brachte mich in Verlegenheit. Hatte sie recht damit, dass wenn er sich für mich interessiert hätte, nicht zurückgebracht hätte? Nein, Jace schien ein anständiger Kerl zu sein. Deshalb hatte er mich zurückgebracht und nicht weil er mich loshaben wollte, oder? Schließlich war er mir hinterhergelaufen… stop mal! Ich schlug mir die Hand gegen die Stirn. Warum dachte ich überhaupt darüber nach… mir war es doch sonst so egal, was andere über mich redeten oder dachten. Da kommt ein gutaussehender Typ angerannt und ich ändere meine Einstellung? Das durfte ich nicht zulassen. Schließlich würde ich ihn nie wieder sehen, also war es total unnötig sich weiter den Kopf über ihn zu zerbrechen.
Mein Wochenende verlief relativ ruhig. Ich schnappte mir meinen Skizzenblock und begann draußen im Garten einige Zeichnungen anzufertigen. Tess sagte ich hätte großes Talent und sollte sogar Zeichenunterricht nehmen. Aber wahrscheinlich war es nur ein weiterer Versuch von ihr, mich aus meiner Isolierwand zu holen. Manchmal tat sie mir richtig leid, denn jeder ihre Versuche war zum Scheitern verurteilt. Wenn ich mit meinem Leben ohne Freunde zufrieden war, warum konnte sie es dann nicht sein? Am Nachmittag fuhren wir zum shoppen in die Stadt.
Tess‘ Großmutter feierte morgen ihren achtzigsten Geburtstag und ich versprach Tess sie dorthin zu begleiten. Leider bot mir mein Kleiderschrank keine große Auswahl an angemessener Kleidung und deshalb standen wir jetzt vor dem reinsten Shoppingparadies. Kleider weit und breit, soweit das Auge reicht. Nachdem ich glaubte mindestens zweihundert Stück gesehen zu haben, entschied ich mich zwei davon anzuprobieren. Das erste war etwa knielang und schwarz. Dunkel und schlicht, denn ich mochte es nicht aufzufallen. Ich präsentierte es Tess, doch diese war nicht sonderlich begeistert. „Warum ziehst du nicht mal das Rote an? Es passt bestimmt sehr gut zu deinem rötlichen Haar!“ Sie hielt es mir entgegen und ich zog widerwillig eine Schute. „Ich finde übrigens auch, dass du mal das Rote anprobieren solltest. Nicht dass du in dem schwarzen nicht umwerfend aussehen würdest, aber trotzdem.“, mischte Jace sich ein, der plötzlich hinter Tess aufgetaucht war. Tess sah mich deutlich irritiert an und ich versuchte die Situation aufzuklären. „Jace, das ist Tess, meine… meine…“ „Tante!“, stellte Tess sich selbst vor und reichte Jace die Hand. „Ähm ja, so ungefähr. Und Tess, das ist Jace. Er ist… naja… also er…“ „Wir haben uns gestern kennen gelernt“, vollendete Jace meinen Satz. Mein gestottere war mir etwas peinlich und als dann auch noch ein blondes wunderhübsches Mädchen hinter Jace auftauchte, vielen mir fast die Augen aus dem Kopf. Jace schien meinen Blick bemerkt zu haben. „Wenn wir gerade beim Vorstellen sind… das ist meine kleine Schwester Rachel.“ „Hey!“ Ihre Stimme war hoch und sanft und wieder musste ich an das Wort Engel denken. „Ach, und rot ist auch mein Favorit!“, fügte sie lächelnd hinzu und ich brauchte kurz um zu begreifen, dass sie das Kleid meinte.
Und damit war es so gut wie gekauft.
Am Sonntag trug ich endlich das rote Kleid. Der Geburtstag hatte mir Spaß gemacht, denn Tess‘ Großmutter war ziemlich unterhaltsam. Sie war eine liebenswürdige alte Frau im Rollstuhl die etwas in ihrer eigenen Welt zu leben schien. Mancher würde sagen, sie hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank, aber da hatten sie und ich ja einiges gemeinsam.
Die ganze Zeit musste ich an Jace denken. Rachel hatte mir gestern erzählt, dass sie ihn gezwungen hatte, sie beim Kleiderkaufen zu beraten. War das nicht ein riesen Zufall, dass wir uns gleich zweimal begegnet sind, oder eher Schicksal?
„Hallo? Erde an Lilli! Hörst du mir überhaupt zu?“ Tess riss mich mit ihrem wilden Armgefuchtel aus meinen Gedanken. „Nein, was hast du gesagt?“ Sie lächelte mich vielsagend an. „Du hast gerade an ihn gedacht oder? Sag mal, läuft da was?“ Ich rollte genervt die Augen, typisch Tess. „Quatsch, was soll da schon laufen. Wir kennen uns kaum. Gestern haben wir uns nur zufällig wiedergetroffen.“ Ich hörte die Unsicherheit in meiner Stimmte und Tess hatte sie bestimmt auch bemerkt. „Zufällig… soso. Sicher, dass er dich nicht stalked? Vielleicht versteckt er sich ja dort drüben hinter dem Busch, um dich dann rein zufällig ein drittes Mal wiederzusehen?“ Wir brachen in schallendes Gelächter aus. „Wow, du hast schon lange nicht mehr so viel gelacht, Lilli. Der Junge hat wohl irgendeinen Schalter bei dir umgelegt.“ Ich schüttelte ablehnend den Kopf. „Jetzt hör aber auf. Das hat überhaupt nichts mit Jace zu tun. Von mir aus kann der dort drüben hinter dem Busch festfrieren.“
Am nächsten Tag ging ich völlig unvorbereitet und unausgeschlafen zur Schule. Während der Busfahrt musste ich meinen iPod ganz laut aufdrehen, um nicht einzuschlafen. Im Klassenzimmer schlenderte ich ganz nach hinten zu meinem Einzeltisch. Das Zimmer füllte sich langsam und dann kam Mrs. Davis mit reichlicher Verspätung hineingelaufen. „Entschuldigt die Verspätung, Leute. Bitte legt eure Hausaufgaben vor, damit ich sie einsammeln kann.“
Oh nein, auch das noch. Die hatte ich absolut vergessen. Dabei waren es dieses Mal nur zwei einfache Gleichungen gewesen, die ich mit Sicherheit hätte schnell lösen können. Plötzlich klopfte es an der Tür und Jaces Schwester Rachel betrat den Raum.
„Entschuldigen sie die Verspätung, Mrs. Davis, aber ich bin neu hier und habe mich nicht zurecht gefunden. Ich müsste mit ihnen noch schnell zum Direktor, wenn das in Ordung ist?“
„Aber natürlich Liebes, ich komme sofort.“ Im Hinausgehen drehte sie sich noch schnell um. „Seid anständig Leute. Wir sind in wenigen Minuten wieder da.“
Nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, schnappte ich mir ein Blatt Papier und löste in Rekordzeit die Hausaufgaben. Puh, ich hatte ganz schön Glück gehabt. Aber was hatte den Rachel hier zu suchen gehabt. Kam sie zu mir in die Klasse? Sie musste ungefähr in meinem Alter sein. Aber das hatte ja zu bedeuten: Wenn sie hier war, dann war Jace auch hier! Vielleicht war er ja wirklich ein Stalker?!
„So, da wären wir wieder. Rachel, du kannst dich zu Lilli setzten … wenn du willst.“, bot Mrs. Davis ihr höflich an. „Gerne doch!“, antwortete Rachel und durchquerte das Klassenzimmer. Jeder Schüler drehte sich nach ihr um. Manche mit bemitleidenswerter Miene und andere mit gespannt abwartender. „Hey, so sieht man sich wieder.“, begrüßte ich sie freundlich. Die anderen Mitschüler machten große Augen und einigen stand der Mund offen. Ja, seht nur her… ich rede mit jemandem. Immerhin hatte Rachel mich nicht von Anfang an als verrückt abgestempelt.
„Ja, ich freu mich dich wiederzusehen. Hast du das rote Kleid getragen?“ Mrs. Davis ging durch den Raum und sammelte die Hausaufgaben ein. „Das hab ich… und ich bin echt froh, dass ich es gekauft habe. Es ist wundervoll!“ Mrs. Davis kam jetzt an unserem Tisch vorbei. „Von ihnen erwarte ich heute natürlich keine Hausaufgaben.“, erklärte sie an Rachel gewandt. „Klar doch.“, antwortete diese und ließ sich entspannt in die Stuhllehne fallen. Die Unterrichtsstunde verlief wie immer langweilig. Ab und zu machten Rachel und ich ein paar Witze oder lustige Bemerkungen zu Mrs. Davis und lachten kurz auf, worauf diese uns warnende Blicke zuwarf.
Kapitel 4
Eine Stunde nach der anderen Verstrich. Der eine Lehrer ging, der nächste kam und die Klasse war schon fast eingeschlafen, als das Pausensignal ertönte. Endlich Mittagessen! Mein Magen knurrte vor verlangen und so liefen Rachel und ich Seite an Seite zur Cafeteria. Rachel schien die neugierigen Blicke der anderen nicht zu bemerken- oder sie ignorierte sie einfach, so wie ich. Mir war aufgefallen, dass Rachel nicht die einzige neue Schülerin war. Ich erblickte fünf weitere Jungs, die ich nie zuvor auf unsere Schule gesehen hatte und normalerweise kannte hier jeder jeden. Das Reis-Risotto beruhigte meinen Magen und ich konnte mich etwas entspannen. „Also Rachel, wann seid ihr hergezogen?“ Sie schluckte noch schnell ihren letzten Bissen herunter. „Letzte Woche. Wir sind aber erst heute zur Schule. Du weißt schon- die Ausnutzung der Eingewöhnungsphase.“ „Hm ja, würde ich genauso machen… und wie gefällt es euch?“ Rachel schien gründlich über ihre Worte nachzudenken. „Da wo wir herkommen geht es wirklich ganz anders zu. Unser Vater hat eine neue Arbeitsstelle und deshalb mussten wir umziehen. Ich vermisse mein zu Hause. Es ist wortwörtlich himmlisch dort, aber der Umzug ist ja nicht für immer.“ „Wie lange bleibt ihr denn?“, fragte ich. „Nun ja, das hängt davon ab, wie lange es dauert, bis der Arbeitsauftrag erfüllt ist. Manchmal dauert es ein paar Monate, manchmal auch einige Jahre.“ Sie schien kein Problem damit zu haben und alles so hinzunehmen, wie es gerade kam.
„Was machen deine Eltern so? Reist ihr auch viel umher?“, konterte sie vorsichtig, als wüsste sie bereits die Antwort. „Nein, eher nicht. Meine Eltern und meine Schwester sind letztes Jahr bei einem Autounfall verstorben. Jetzt wohne ich bei Tess. Sie hast du ja schon kennengelernt.“ Es überraschte mich, wie emotionslos ich meine Geschichte beschreiben konnte. „Das tut mir wirklich leid für dich.“, sagte Rachel und damit war das Thema abgehakt. Draußen im Gang erblickte ich einmal kurz Jace, der mir zulächelte und dann mit ein paar Jungs aus der Stufe über uns verschwand. „Wie alt ist Jace eigentlich?“, fragte ich Rachel in einem möglichst unschuldigen Ton. „Er ist ein Jahr älter als ich, also siebzehn und er geht hier in die elfte Klasse.“
Ich nahm es nickend zur Kenntnis und zusammen schlenderten wir zurück zum Unterricht.
Die nächsten Tage unterhielten wir uns über Lehrer, Musik, Filme und sonstige Sachen über die sich Teenager so unterhalten. Nur über meine Familie redeten wir nicht mehr. Manchmal kam Jace in der Pause kurz vorbei und wir führten einen Small-talk. Nach zwei Wochen hatte ich mich so an die beiden gewöhnt, dass ich mir den Schulalltag ohne sie nicht mehr vorstellen konnte.
Freitag. Als heute das Läuten der Schulglocke, das Ende eines weiteren langweiligen Schultages bedeutete, und damit den Anfang vom Wochenende, ging ich noch einmal kurz hinüber zu den Schließfächern, um meinen Skizzenblock herauszunehmen. Auf dem Gang traf ich Jace. Er kam auf mich zu und mir fiel auf, dass dies das erste Mal seit langem sein würde, dass wir uns ohne Rachel unterhielten. „Na Lilli, wie war dein Tag?“, fragte er locker und lehnte sich gegen einen Spind, wodurch der mir automatisch den Weg versperrte. „Ganz in Ordnung. Soll das ein Verhör werden?“, fragte ich ihn und deutete auf seine Wegsperre. Er lachte kurz auf. „Nein ganz im Gegenteil. Ich versuche mich nur ganz ungebunden mit dir zu unterhalten.“, antwortete er und schenkte mir ein Lächeln, für das jedes Modell ihn getötet hätte. „Aha“, sagte ich lahm, „und dein Tag?“ Er tat so als müsste er lange überlegen. „Naja, wie immer. Ich habe unschuldige Menschen vorm Tod gerettet und die Welt vor dem Untergang bewahrt.“ „Na wenn’s weiter nichts ist.“, scherzte ich zurück. Er sah mich an und wurde wieder ein wenig ernster. „Um ehrlich zu sein wollte ich dich nur fragen, was du am Wochenende so vor hast.“, gestand er. „Dieses Wochenende habe ich nicht wirklich was vor, warum?“ „Wenn du willst kannst du morgen bei uns vorbei kommen. Unsere Eltern sind nicht da und wir haben Sturmfrei… was sagst du? Wir könnten uns ein paar Filme reinziehen oder in die Stadt fahren. Was immer du willst.“ Er legte fragend den Kopf etwas schief. „ Ja gerne. Ich gebe dir meine Handynummer… dann kannst du mich anrufen.“ Ich öffnete meinen Skizzenblock, blätterte ein paar Seiten vor, bis ich ein freies Blatt fand und kritzelte meine Nummer darauf. „Hier!“ Ich riss das Papier aus dem Block und reichte es ihm. „Danke. Sind die Zeichnungen von dir?“, fragte er überrascht und deutete auf meinen Block. „Ja, ich zeichne manchmal aus Langeweile.“, erklärte ich ihm kurz. „Ich sollte dann mal gehen, sonst verpasse ich den Bus.“, sagte ich und wollte mich an ihm vorbei drängeln. Jace machte einen Schritt zur Seite und versperrte mir erneut den Weg. „Ich nehme dich mit.“, sagte er bestimmt und griff nach meiner Hand. Wir hatten die Finger zwar nicht ineinander verschränkt und wahrscheinlich hatte er sie nur gepackt, damit ich ihm nicht davon laufen konnte, aber immerhin hielt er meine Hand! Die anderen Mädchen schauten mich hasserfüllt an und tuschelten. „Wieso willst du unbedingt, dass ich bei dir im Auto mitfahre?“, fragte ich ihn verwirrt. „Erstens: fahre ich nicht Auto sondern Motorrad und Zweitens: weiß ich aus sicherer Quelle, dass sich der Busfahrer heute ein paar Drinks gegönnt hat und deswegen lasse ich nicht zu, dass du zu diesem Vollidioten in den Bus steigst.“, antwortete er mit ruhiger Stimme. Ich hatte Angst vorm Motorrad fahren, aber ich antwortete ihm nicht. Stattdessen krallte ich mich die ganze Fahrt über mit ganzer Kraft an ihm fest (was bei seinem Tempo nicht unbegründet war).
Irgendwann spürte ich, dass wir langsamer wurden und schließlich vor meinem Haus hielten. Mit wackligen Beinen stieg ich ab. „Danke fürs Heimfahren, Jace.“, rief ich ihm zu und lief leicht wankend ins Haus.
Kapitel 5
In der Küche erwartete Tess mich bereits. „Das war doch wieder dieser Jace, stimmts?“ Ich lief zum Kühlschrank und fischte den Orangensaft im Tetra-Pack heraus. Dabei musste ich an die bescheuerte Werbung denken. Von wegen schützt die Umwelt und so weiter… „Lilli ich hab dich was gefragt.“, erinnerte Tess mich ungeduldig. „Jaja. Das war Jace. Er hat mich nach Hause gefahren, weil der Busfahrer betrunken war.“ Tess riss entsetzt die Augen auf. „Waaaas? Und wieso ist der nicht schon längest gefeuert?“ Ich zuckte die Achseln. „Was weiß ich… frag doch die Busargentur, wenn es dir so wichtig ist.“, erwiderte ich kalt und lief die Treppe hinauf, um mich in meinem Zimmer zu verdrücken. „Ach und übrigens, morgen gehe ich zu Rachel und Jace, nur dass du es weißt!“, rief ich ihr noch schnell hinterher.
Weil Ferien waren, hatte ich keine Eile meine Hausaufgaben zu erledigen. Sattdessen schaute ich den Rest des Tages fern oder zeichnete Tiere in meinen Skizzenheft und
nachts sang mich mein iPod mit „9 crimes“ endlich in den Schlaf.
„Lilli, hilf mir!“, schrie meine Mutter. Sie war von Dunkelheit umhüllt und ich konnte nicht zu ihr. „Lilli!“ Jetzt riefen auch meine Schwester und mein Vater nach mir. Die Tränen liefen mir über die Wangen und ich schluchzte laut auf, als die Dunkelheit Oberhand gewann und sie endgültig verschluckte. „Nein, lasst mich nicht allein!“, rief ich ihnen nach. Doch sie waren schon längst verschwunden.
Ich schrak aus meinem Bett auf. Mein Kopfkissen war von Schweiß und Tränen durchfeuchtet. Ein Blick auf den Wecker verriet mir, dass es drei Uhr in der Nacht war, aber ich stieg trotzdem unter die Dusche. Das kalte Wasser ließ meine Haut erschauern und machte meinen Kopf frei. Vorsichtig stieg ich aus der Dusche, denn ich war schon ein paar Mal hier ausgerutscht und hatte mir unsanft etwas angeschlagen. Ich wickelte mich in ein großes Handtuch und fing an meine Bettwäsche zu wechseln. Wann hörten diese Träume auf? So konnte das nicht ewig weitergehen… vielleicht war ich wirklich verrückt und brauchte dringend psychatrische Hilfe! Ich schnappte mir meinen Skizzenblock, um mich abzulenken. Zuerst zeichnete ich sinnlos irgendwelche Linien und Muster auf das Papier. Sie hatten keine Ordnung und sahen fast schon aus, wie eine alte Inschrift. Nach einer Weile kam ich mir dämlich vor, Kringel auf das Blatt zu zeichnen und begann dann auf einer frischen Seite einen Gorilla zu skizzieren. Ich hatte keine Ahnung warum, aber er war mir gerade so ins Gedächtnis gekommen. Plötzlich klingelte mein Handy. Ich schnappte es von Nachttisch und sah auf den Display- Unbekannter Anrufer. „Hallo?“, meldete ich mich. „Lilli? Hey hier ist Jace!“ „Oh, ähm, hey“, grüßte ich zurück und warf einen Blick auf die Uhr. Es war sechs Uhr morgens also war Jace bestimmt kein Morgenmuffel. „Entschuldige, dass ich dich so früh anrufe, aber ich konnte irgendwie nicht gut schlafen.“, versuchte er seinen Anruf zu erklären. „Schon in Ordnung, geht mir genauso. Ich habe schon begonnen Gorillas zu zeichnen.“, gestand ich ihm und er brach in schallendes Gelächter aus. „Oh Gorillas… wie einfallsreich.“ „Ja ich musste irgendwie an dich denken und dann kam mir die Idee.“, scherzte ich und hoffte ihn nicht zu sehr beleidigt zu haben. „Wie nett.“, antwortete er kurz. „Und wie siehts‘ aus wegen heute, kommst du?“, fügte er noch schnell hinzu. „Ja klar. So gegen zwölf? Wir könnten in der Stadt zu Mittag essen und uns später einen Film anschauen.“, schlug ich vor und er willigte zufrieden ein. „Also dann, bis später.“
-Fortsetzung folgt
Texte:
Alle Rechte liegen bei mir
Tag der Veröffentlichung: 16.06.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Meinen erster Roman hier widme ich all seinen Lesern <3