Am Anfang konnte man nur den Schatten der Nacht erkennen. Wenn sich die eigenen Augen an die Dunkelheit gewöhnten, konnte man die Umrisse der Häuser sehen. Hoch ragten sie in den Winterhimmel; schwach hoben sie sich aus der Dunkelheit empor. Nicht ein Stern war zu sehen, aber das helle Licht des Vollmondes drang durch die Wolken hindurch. Ein Mann ging die verschneite Straße entlang. Schneeflocken fielen vom dunklen, kalten und wolkenverhangenem Himmel und landeten sacht auf der Straße. Seine Schritte waren nicht zielgerichtet, als wüsste er nicht, wohin er gehen sollte. Der lange Wintermantel, den er trug, flatterte im Wind. Nun lächelte er, aber nicht freundlich, sondern schmerzhaft, die tiefblauen Augen starr nach vorn gerichtet. Die Kälte machte ihm zu schaffen; grausam durchbohrte sie in seine blasse Haut. Plötzlich blieb er stehen. Der Mann sah die schlanke hochgewachsene Gestalt, die ihm gegenüberstand. „Du?“ Erstaunt hob er die Augenbrauen. „Ich dachte du bist in London...“ Vor Freude lachte er ihr zu. Doch die zierliche Frau antwortete nicht. Tränen rollten von ihren Wangen. Dann ging sie an ihm vorbei, ohne ihn auch nur zu beachten. Er lief hinter ihr her und rief ihren Namen. „Carol, bitte bleib stehen, hab ich was falsch gemacht oder irgendwas falsches gesagt?“ Seine eigene Frau erkannte ihn nicht; oder hatte Carol ihn nur nicht gesehen? Er stand doch eben direkt vor ihr! Nicht ein einziger Blick zurück zu ihm. Seit Tagen hatte er nichts von ihr gehört und nun war sie plötzlich wieder zurück aus London, hatte ihm nicht mal Bescheid gesagt. Traurig blieb er wegen seiner grade gewonnenen Erkenntnis stehen, das fahle Licht der nächsten Straßenlaterne ließ ihn erkennen, das sie weiterging, bis sie zu seinem Haus kam und hineinging. Die Tür klickte und er rannte zu dem Haus. Es war ein altes Gebäude mit mittelalterlichen Schnörkeln. Als er die Tür öffnete, fand er eine Unordnung vor, die ihm den Atem stocken ließ. So war er nicht vor einigen Stunden aus dem Haus gegangen! Der Boden stand voller Sachen. Alle seine persönlichen Gegenstände lagen verstreut herum. Carol lag auf dem Sofa und drückte ein T-Shirt von ihm an sich. „Bitte komm zurück! Wo bist du jetzt? Ich liebe dich doch!“ „ Ich bin hier!“ flüsterte er . Eigentlich hätte sie es hören müssen, sonst hatte Carol doch auch ein gutes Gehör... Keine Reaktion von ihr. Bald schlief sie ein; unruhig murmelte seine Frau immer wieder im Schlaf: „Bitte ... wo bist du? Ich hab Angst!“ Er legte sich auf den Boden, wollte schlafen. Doch er konnte nicht. Bis jetzt hatte er noch nie so eine erschreckende und unschöne Nacht erlebt.
Immer wieder musste er an ihre seltsame, verwirrende Äußerung denken. Schnell stand er auf und sah ihr beim Schlafen zu. Warum nur hatte sie Angst um ihn, fragte er sich verzweifelt. Er war doch hier! Er streichelte ihr über die tränennasse Wange. Blass schimmerte ihr Gesicht im Licht, das durch das große Fenster fiel. Die blonden langen Haare fielen ihr über das Gesicht und über die Schultern. Kurzentschlossen verließ er das Haus und ging die Straße herunter. Er dachte: „In einer Großstadt zu leben, kann ganz schön verrückt sein!“ Bis in den Morgen hinein lief er durch die Straßen und dachte nach. Was war nur geschehen? Er wusste es nicht. Voller Traurigkeit und Angst fasste er sich benommen an seinen Kopf.
Er kam zurück an sein Haus und erblickte Carol, die es verließ. „Es fühlt sich an als ob er hier wäre... aber das kann nicht sein!“ Mit gesengtem Kopf stapfte sie davon. Seine Augen wurden groß. „Ich BIN hier!“ rief er laut. „Ich verstehe gar nichts mehr.“ Nun konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten. Er weinte und warf sich auf die Straße, Gedanken wirbelten in seinem Kopf ohne Sinn und Verstand. „Ich bin doch hier... warum siehst du mich nicht?" Als der arme Mann den Kopf hob, war seine Carol weg. Das fühte sich bitter an. Sehr bitter sogar. Was war bloß passiert? Und warum nur? Den Grund würde er hoffenlich bald erfahren. Die Wahrheit wollte er wissen. Nichts anderes interessierte ihn noch. Stundenlang saß er so da. Seine Frau kam wieder, eine Freundin begleitete sie. Auch sie sah ihn nicht. „Anscheinend ist dein Mann jetzt schon eine Legende. Alle vermissen ihn sehr. Wo ist er denn nur? Hast du eine Ahnung, Carol?" Ihre erstickte Antwort konnte der Gesuchte nicht verstehen. „Ach Lisa, er taucht einfach nicht mehr auf. Seit drei Wochen! Vielleicht hat er die Stadt verlassen oder er lebt sogar nicht mehr. Das Letzte will ich nicht hoffen. Er ist doch mein Leben. Wir können nur hoffen!" brachte sie doch noch mühsam hervor. Thomas erstarrte. „Das kann nicht sein." hauchte er. Fassungslosigkeit machte sich in seinem Gesicht breit. War er möglicherweise schon gar nicht mehr am Leben? Er konnte und wollte es nicht glauben. Aber was dann? Ging er vielleicht ohne Seele durch die Welt? War dies möglich? Er wusste es nicht.
„Ich hab das Gefühl als wäre er immer noch hier..." meinte Carol bleich und verstört. „Du hältst mich doch nicht für verrückt, oder?" fragte die junge Frau ihre Freundin. Im selben Augenblick näherte sich ein Polizist den beiden Frauen. „Wer von ihnen ist Carol Wigmar?" fragte er und sah sie an. „Ich bin Frau Wigmar. Ist etwas passiert?" Voller Angst sah sie zu ihm. „Frau Wigmar, es tut mir leid ihnen mitteilen zu müssen, das wir ihren Mann Thomas Wigmar erfroren aufgefunden haben."
Nun wusste Thomas alles. Das Letzte, was er sah, war seine Frau, die weinend zusammenbrach. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und rannte davon. Von nun an, das wusste er sicher , hing seine Seele für immer an dieser Stadt, und niemand würde ihn je sehen.
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2009
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